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Der Durchschnitt und der Einzelfall: Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie

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Abstract

Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis ist der Ausgangspunkt für eine kunsttherapeutische Forschung. In dem vorliegenden Band werden Grundlagen, Modelle und Beispiele der Dokumentation vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei Kriterien, die mit den spezifischen Bedingungen der kunsttherapeutischen Praxis einhergehen: Die Subjektivität kunsttherapeutischer Praxis, die individu- ellen Bedingungen der therapeutischen Begegnung und die anthropologischen Vorraussetzungen für therapeutisches Handeln. Der eigene Standpunkt, die ei- genen Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund werden damit wesentlicher Bestandteil einer kunsttherapeutischen Dokumen- tation. Damit kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen, sinnliche Faktoren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den Blick des Arztes erweitern, weil sie über die unmittelbar am pathologischen Be- fund orientierte Betrachtung hinausgehen.
Peter Sinapius
Der Durchschnitt und der Einzelfall:
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen
Statistik und Poesie
„Heute geht es darum, dass wir unsere
Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen,
mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu
fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein
Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk
zu entdecken. Noch weniger ist es unsere
Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk
herauszupressen, als darin enthalten ist.
Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt
zurückzuschneiden, damit die Sache selbst
zum Vorschein kommt.“ (Sontag 1982)
Zusammenfassung
Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis ist der Ausgangspunkt für eine
kunsttherapeutische Forschung. In dem vorliegenden Band werden Grundlagen,
Modelle und Beispiele der Dokumentation vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen
dabei Kriterien, die mit den spezifischen Bedingungen der kunsttherapeutischen
Praxis einhergehen: Die Subjektivität kunsttherapeutischer Praxis, die individu-
ellen Bedingungen der therapeutischen Begegnung und die anthropologischen
Vorraussetzungen für therapeutisches Handeln. Der eigene Standpunkt, die ei-
genen Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund
werden damit wesentlicher Bestandteil einer kunsttherapeutischen Dokumen-
tation. Damit kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen,
sinnliche Faktoren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den
Blick des Arztes erweitern, weil sie über die unmittelbar am pathologischen Be-
fund orientierte Betrachtung hinausgehen.
Das Dokument
Mit einem Dokument halte ich etwas fest, was sonst unwiderruflich verloren
wäre. Es gilt als Urkunde oder Beweis für einen Sachverhalt, für den es Zeugnis
ablegt. Für ein solches Dokument müssen Regeln gelten, die ihm die ent-
sprechende Überzeugungskraft verleihen.
Ein Dokument kann ein Insignum der Macht sein und Kraft eines Amtes einen
Umstand mit Brief und Siegel für gültig und rechtens erklären. Es kann ein
22 Peter Sinapius
Fundstück sein, das wir in einen gegebenen Kontext einordnen können. Ein Do-
kument kann ein Bericht sein, sofern er nachvollziehbar ist, d.h. an unsere Er-
fahrungen anschließt und die Informationen enthält, die ihn in einen gegebenen
Zusammenhang bringen. Es kann aber auch Daten enthalten, die sich auswerten
lassen. Sofern vergleichbare Dokumente und genügend Daten vorliegen, kann
daraus eine statistische Darstellung folgen. Und schließlich kann das Dokument
als Dokument durch sich selbst beweiskräftig sein, wenn das, was es behauptet,
das ist, was wir darin erkennen: Ein Gedicht, ein Bild oder eine improvisierte
Handlung, die dokumentiert sind, treten r nichts den Beweis an außer selber
ein Stück sinnlich erfahrbare Wirklichkeit zu sein. Sie liegen also im subjektiven
Erleben eines jeden Einzelnen. Einer Erzählung und einer Geschichte kann
wie bei jedem Kunstwerk - eine erkenntnisstiftende Kraft innewohnen, die über
das Besondere auf etwas Allgemeines verweist. Sie tut das in der Sprache der
Kunst1.
Die Spannbreite der Dokumentationsformen reicht folglich von der Statistik, die
Objektivität beansprucht, über den Bericht, der nachvollziehbar ist bis zu künst-
lerischen und ästhetischen Formen des Dokumentierens. Die eine Dokumen-
tation sucht nach ihren eigenen Grundsätzen subjektive Einflüsse weitgehend
auszuschalten, die andere ist auf das subjektive Erleben angewiesen und gewinnt
durch sich selbst und die Form ihrer Darstellung Evidenz.
Zwischen Statistik und Poesie
Wer sich forschend mit der Praxis der Kunsttherapie befasst, ist zu allererst auf
Dokumente aus der kunsttherapeutischen Praxis angewiesen, auf die er sich be-
ziehen kann. Das sind zunächst die Werke der Patienten, die sich aber ohne den
Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, nicht erschließen2. Der Zusammen-
hang mit dem individuellen Krankheitsgeschehen, den konstitutionellen, biogra-
fischen und psychosozialen Bedingungen, den Rahmenbedingungen und dem
spezifischen Setting, erschließt sich aus den Berichten oder Protokollen des
Kunsttherapeuten3, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen, die sie wissenschaft-
lich verwertbar machen.
Dazu gehört in erster Linie, dass sie sich in einen vorgegebenen Kontext ein-
ordnen lassen: Sie müssen den spezifischen Bedingungen kunsttherapeutischer
1 Reinhold Fäth und Paolo Knill gehen in diesem Band auf „subjektiv-künstlerische“ Formen
kunsttherapeutischer Dokumentation ein (art-based-research).
2 Um die Patientenbilder nachvollziehen zu können, bringt sie Thomas Staroszynski in seinem
Beitrag in einen Zusammenhang mit narrativen Formen der Dokumentation.
3 Auch wenn ich im Folgenden der Lesbarkeit wegen nur die männliche Form wähle, ist
ebenso die weibliche gemeint.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 23
Praxis gerecht werden, die sich über Bilder, die mit den ästhetischen Gestal-
tungen und Handlungen zwischen Therapeut und Patient verbunden sind, arti-
kuliert.
Eine Dokumentation kann ganz unterschiedliche Ziele verfolgen: Sie kann der
Selbstreflektion dienen und im Zusammenhang mit einer Supervision oder der
kunsttherapeutischen Selbsterfahrung im Rahmen der Ausbildung stehen4. Sie
kann als Mitteilung an den behandelnden oder nachbehandelnden Arzt gedacht
sein oder für die nachfolgende Forschung, in deren Rahmen Dokumente ge-
sammelt und ausgewertet werden5. Mit jeder dieser Möglichkeiten können ganz
unterschiedliche Fragestellungen einhergehen. Nicht zuletzt muss die Doku-
mentation von dem, an den sie gerichtet ist, verstanden werden können: Sie
muss nachvollziehbar sein.
Die Form, Methode oder Systematik, der eine Dokumentation folgt, hängt also
von unterschiedlichen Bedingungen ab: Sie muss sich im Einklang mit den Be-
dingungen kunsttherapeutischer Praxis befinden, sie muss der Fragestellung an-
gemessen sein und je nach Adressat innerhalb der eigenen Disziplin oder auch
interdisziplinär vermittelbar sein: Es geht um die Kongruenz zwischen For-
schungsgegenstand, Fragestellung, Ziel und Methode.
Herrscht zwischen diesen Faktoren keine Kongruenz, ist eine kunsttherapeuti-
sche Dokumentation für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar. Es ist bei-
spielsweise unsinnig, statistische Untersuchungsmethoden, die im Zusammen-
hang medizinischer Wirksamkeitsforschung einen Sinn machen, auf den Bereich
künstlerischer oder ästhetischer Fragestellungen anwenden zu wollen. Jemand,
der die kunsttherapeutische Praxis begründen will, hat nicht nur eine andere
Fragestellung, sondern auch ein anderes Ziel als jemand, dem es um die
Integration der Kunsttherapie in das Fallpauschalensystem im Zusammenhang
mit den Leitlinien für die Standards klinischer Versorgung geht (Kunzmann et
al. 2005). Dokumentationen, die im Zusammenhang mit der Evaluierung thera-
peutischer Verfahren im Rahmen der Gesundheitsversorgung stehen, folgen
vorgegebenen Erfassungskriterien und einer Forschungssprache aus einem be-
stimmten Bereich der medizinischen Forschung, der als „Goldstandard“ für alle
therapeutischen Verfahren festgelegt ist6. Ausgangspunkt für eine
kunsttherapeutische Dokumentation ist die kunsttherapeutische Praxis, die
4 Vergl. die Beiträge von Evelyne Golombek und Dagmar Wohler in diesem Band.
5 Kiene entwickelt in seinem Beitrag die Kriterien für kunsttherapeutische Dokumentationen,
die in einem Zusammenhang mit klinischen Forschungsvorhaben stehen.
6 Paolo Knill und Peter Petersen entwickeln vor diesem Hintergrund in diesem Buch
Gesichtspunkte für eine „Wissenschaftlichkeit“ kunsttherapeutischer Forschung.
24 Peter Sinapius
künstlerischen und ästhetischen Kriterien folgt, für die es keinen Standard gibt7.
Wir haben es in der Kunsttherapie mit Bildern und ihren vorikonographischen
Bedeutungen zu tun, die unter den subjektiven Bedingungen der therapeutischen
Beziehung entstehen: Der Therapeut ist als Subjekt ebenso an ihrer Entstehung
beteiligt wie der Patient. Dabei ist unter Bild mehr als das zu verstehen, was sich
in einer Gestalt, im Gemälde oder der Plastik manifestiert. Das Bild, um das es
in der Kunsttherapie geht, ist erst vollständig im Kontext der therapeutischen
Beziehung. Damit aber ist der Kunsttherapeut, der dokumentiert, Beteiligter an
dem Geschehen, von dem er spricht. Folglich schließt eine Dokumentation aus
der kunsttherapeutischen Praxis in der Regel die subjektiven Erfahrungen des
Kunsttherapeuten ein (Sinapius 2005, 163 ff).
Ohne eine Reflexion auf diese Bedingungen kunsttherapeutischer Praxis und die
Bedingungen des speziellen Forschungskontextes wird eine kunsttherapeutische
Dokumentation, bei der der Kunsttherapeut sowohl als Beteiligter als auch als
„Forscher“ eine Rolle spielt, weder kontrollierbar noch nachvollziehbar8.
Eine kunsttherapeutische Dokumentation, die ihren Blick auf die kunsttherapeu-
tische Praxis richtet, erfordert zunächst ein hohes Maß an Selbstreflexivität und
kontrollierter Subjektivität (Tüpker 2002): Der eigene Standpunkt, die eigenen
Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund sind
wesentliche Teile einer kunsttherapeutischen Dokumentation9, weil sich ohne sie
nicht das erschließt, was als ästhetische Mitteilung zwischen Therapeut und
Patient Bedeutung gewinnt.
Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis hat also andere Vorraussetzun-
gen als eine Dokumentation vor dem Hintergrund der Paradigmen evidenz-
basierter Forschung.
Der Durchschnitt und der Einzelfall
Wenn wir ein Gebilde objektiv beschreiben wollen, können wir es vermessen, es
wiegen, seine Temperatur feststellen, seine Materialität bestimmen usw. Wir
befassen uns mit dem Gebilde, indem wir Verhältnisse und Beziehungen zwi-
schen diesem Gebilde und anderen Dingen herstellen. Wenn wir feststellen, dass
7 vergl. Peter Petersen (2004): „Forschungsmethoden müssen dem Gegenstand der Forschung
gemäß sein – also dem Wesen künstlerischer Therapie angepasst – nicht umgekehrt…“
8 Ulrich Elbing spricht in seinem Beitrag von „Wissenschaft als Einheit von Erfahrung, Han-
deln und Kommunikation“.
9 Barbara Narr beschreibt in ihrem Beitrag die fehlende Reflexion auf die subjektiven
Bedingungen der Kunsttherapie: „Offizielle Forschung zur (heimlichen) Stärkung der eigenen
Subkultur“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 25
es 50 cm lang ist, ist unser Maßstab, mit dem wir es vergleichen, ein Zollstock.
Wenn wir sein Gewicht bestimmen, untersuchen wir seine Wirkung auf ein an-
deres Ding: Wir nehmen eine Waage und stellen fest, dass sich die Waage in
Bezug auf das Gebilde in einer ganz bestimmten Weise verhält. Bestimmen wir
seine Temperatur, untersuchen wir seine Wirkung auf einen Thermometer.
Wir vergleichen, bilden Verhältnisse zu anderen Dingen und ziehen Schlüsse
daraus. Was wir daraus schließen, nennen wir objektiv, weil wir vergleichbare
Situationen herstellen können.
Kennzeichnend für eine solche Annäherung an die Wirklichkeit ist, dass subjek-
tive Faktoren in der Betrachtung weitgehend ausgeschaltet werden. Was wir
messen, wiegen und zählen können, lässt sich also, wenn wir einen Maßstab ha-
ben, der es vergleichbar macht, in der Regel objektiv beschreiben. Das Maß an
Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit sind in diesem Fall die Parameter für
die wissenschaftliche Beweiskraft, die durch subjektive Einflüsse getrübt wür-
den.
Sobald wir sinnliche Qualitäten der Wahrnehmung wie z.B. Schmecken, Rie-
chen oder Fühlen in die Untersuchung einführen, um darzustellen, welche Be-
schaffenheit der entsprechende Gegenstand hat, schreiben wir ihnen dann eine
objektive Bedeutung zu, wenn unsere Wahrnehmungen mit denen Anderer über-
einstimmen (Interrater-Reliabilität).
In der Kunsttherapie fehlt uns ein Maß, das sie vergleichbar und objektiv be-
schreibbar macht. Wir haben es in der Kunsttherapie nicht nur mit sinnlichen
Qualitäten der Dinge oder Phänomene zu tun, sondern auch mit ihren psychi-
schen oder psychophysischen Wirkungen auf uns. Dann ist eine Farbe, eine
Form, ein Ton nicht nur ein außerhalb von uns liegendes beschreibbares Phäno-
men, sondern das Phänomen löst eine Reaktion in uns aus, die wir als
Mitteilungsqualität des Phänomens werten: Wir bringen es mit Affekten, die zu
Kategorien wie z.B. Zorn, Freude oder Trauer und damit zu dem Bereich der
nonverbalen Kommunikation zählen, in Verbindung (Sinapius 2005). Sie ma-
chen den vorikonographischen Bereich der Beschreibung eines Kunstwerkes
aus, der sich ausdrückt durch die spezifischen Konfigurationen von Farbe, Linie
oder Form (Panofsky 1975), durch den eine Farbe oder eine Linie den Charakter
einer mitteilenden Geste gewinnen. Ihre Bedeutung gewinnen sie vor dem Hin-
tergrund individueller Erfahrungen und Lebenskonzepte, Konventionen oder
milieuspezifischen Bedingungen. Nicht zufällig beschäftigen sich daher mehrere
Beiträge dieses Bandes mit der Frage der Subjektivität als Faktor kunstthera-
peutischer Forschung10.
10 vergl. die Beiträge von Fäth, Gruber, Knitsch, Knill und Narr in diesem Band.
26 Peter Sinapius
Medizin und Kunst
Die Kunsttherapie befindet sich an der Schnittstelle zweier von ihrer Herkunft
und ihrem Selbstverständnis her verschiedener Kulturen: Die am Krankheitsbild
orientierte medizinische Behandlung und die an ästhetischen Phänomenen der
Wahrnehmung und Ausdrucksbildung orientierte kunsttherapeutische Behand-
lung. An dieser Schnittstelle geht es nicht um die Vorherrschaft einer damit ver-
bundenen Forschungsmethodik, sondern um anthropologische Fragen, um das
Menschenbild, mit dem medizinisches und therapeutisches Handeln und die ihm
zu Grunde liegenden Konzepte einhergehen.
Im Rahmen einer Studie über die besonderen Bedingungen der Kunsttherapie im
klinischen Praxisfeld11 antwortete ein Mediziner auf die Frage: „Was würde
Ihnen fehlen, wenn es (an Ihrem Krankenhaus) die Kunsttherapie nicht gäbe?“:
„Es würde kalt und ausgedorrt im Krankenhaus werden. Es würde ein ganz we-
sentlicher Teil dessen, was den Patienten ausmacht…in den Hintergrund treten
… ich spüre, dass es auch für uns Ärzte mitunter, wenn wir genügend Zeit haben
uns auf diese Kunsttherapien einzulassen, eine unglaubliche Rückernährung ist
dadurch, dass auch Menschen im Haus arbeiten, die das eigentlich Gesunde
pflegen.“ Eine Ärztin beschrieb auf die gleiche Frage den Musiktherapeuten als
denjenigen, der „…das Ästhetische mit rein bringt, den Patienten mal eine
Blume vorbei bringt, oder mal einen Kristall ins Fenster hängt, damit sie dann
die Farben sehen können, die sich brechen.“
Es werden hier von der befragten Ärztin und dem befragten Arzt zwei wesentli-
che Aussagen über die Kunsttherapie gemacht:
1. Die Kunsttherapie bringt Wärme in das Krankenhaus und pflegt das eigentlich
Gesunde und
2. der Kunsttherapeut bringt das Ästhetische in das Krankenhaus als Handlung,
die sich an den Patienten richtet.
Es sind damit zwei Faktoren angesprochen, die zweifellos von Bedeutung sind,
wenn wir von der Wirkung der Kunsttherapie sprechen. Sie betreffen nicht nur
das, was die Kunsttherapeuten tun, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie
es tun: Die Blume oder der Kristall, die der Musiktherapeut mitbringt, mögen
für sich genommen belanglos erscheinen. Für sich genommen bringen sie noch
keine „Wärme“ in den Krankenhausalltag. Ihre Bedeutung gewinnen sie erst
durch die Umstände, die mit ihnen verbunden sind, in dem Augenblick, in dem
der Patient sie erhält: Das Wahrgenommenwerden und das Zugeneigt-sein. Sie
11 Das von Sept. 2005 Sept. 2006 laufende von der „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung
innovativer Projekte“ (AGIP) beim Land Niedersachsen geförderte Kopperationsprojekt zwi-
schen der Fachhochschule Ottersberg und dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke hatte
den Titel: „Berufsfeldspezifische Bedingungen der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 27
machen die Blume und den Kristall zum Inhalt einer ganz individuellen Be-
gegnung.
Eine kunsttherapeutische „Intervention“ bliebe ohne diese Faktoren des Wahr-
genommenwerdens und des Zugeneigt-seins wirkungslos. Ohne sie entstünde
kein Wärmeraum (Sinapius 2005), der eine Farbe zum Sprechen bringt oder ei-
nen Ton zur Mitteilung werden lässt, die der Andere ergreifen, durch die er sich
formulieren und äußern kann. Der Kunsttherapeut stellt nicht nur das Material
wie Farbe oder Ton zur Verfügung, er schafft vor allem einen individuellen
Raum, in dem das künstlerische Werk Teil einer ästhetischen Handlung wird,
die sich zwischen Therapeut und Patient vollzieht. Für den Bereich der ästheti-
schen Bildung hat Helga Kämpf-Jansen, inzwischen auch für die Kunsttherapie-
Forschung unüberhörbar, die These formuliert: „Ästhetische Arbeit bedarf eines
individuell erfahrenen Sinns“ (Kämpf-Jansen 2002). Indem die Kunsttherapie
Raum schafft für imaginative und intuitive Sinngebungen und Lösungsstrate-
gien, einen Beziehungsraum, in dem der Patient sinnliche Erfahrungen machen
und seine Potentiale (Möglichkeiten) entfalten kann, knüpft sie an fundamentale
Bedingungen von Entwicklung und Gesundheit an (Antonovsky 1997).
Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis darstellen wollen, stoßen wir so auf
Kategorien, die das Feld beschreiben, mit dem wir uns befassen: sinnliche Kate-
gorien der Erfahrung und Anschauung, menschliche Kategorien des Leidens und
der Anteilnahme und künstlerische Kategorien der Intuition und Gestaltung.
Neben der Phänomenologie und Wahrnehmungsforschung, anthropologischen
und psychologischen Konzepten und wissenschaftlichen Grundlagen der
Kunsttheorie und -philosophie haben wir es damit vor allem mit individuellen
Lebenskonzepten und Menschenbildern derjenigen zu tun, die in der Kunstthe-
rapie einander begegnen. Durch die Einbeziehung individueller Faktoren in eine
wissenschaftliche Darlegung und Handhabung der Kunsttherapie scheint man
sich aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu begeben, weil damit nicht wie in
anderen Bereichen reproduzierbare, vergleichbare oder statistisch verwertbare
Informationen einhergehen. Für eine wissenschaftliche Grundlegung der
Kunsttherapie ist es aber eher fragwürdig wesentliche Bedingungen kunstthera-
peutischen Handelns ausblenden zu wollen, damit der Gegenstand der wissen-
schaftlichen Untersuchung einer vorgegebenen Methode gerecht wird. Die Dar-
stellung von Subjektivität in der Kunsttherapie ist ein wesentlicher Ausgangs-
punkt für die Entwicklung von geeigneten Instrumenten zur Dokumentation für
eine Therapie, deren Erfolg wesentlich mit subjektiven Bedingungen, indivi-
duellen Einstellungen, Lebenskonzepten und Menschenbildern verbunden ist12.
12 Kriz weist im Zusammenhang mit der Vielfalt psychotherapeutischer Schulen darauf hin,
sie sei eine Widerspiegelung einer sinnvollen Heterogenität von Lebens“weisen“, d.h. Vorlie-
28 Peter Sinapius
Wir stoßen damit gleichzeitig auf den Bereich, der die Schnittstelle zwischen
kunsttherapeutischer und medizinischer Praxis ausmacht und eine gemeinsame
Perspektive auf die therapeutische Behandlung erlaubt: Sie folgt den indivi-
duellen Wahrnehmungen aus der Begegnung mit dem kranken Menschen und
führt zu individuellen Sinngebungen, Therapiekonzepten und Lösungsstrategien.
In ihrem Hintergrund stehen unterschiedliche Modelle, die das Verhältnis von
Gesundheit und Krankheit beschreiben (wie sie in diesem Band von Heinfried
Duncker beschrieben sind), anthropologische Grundannahmen, mit denen sich
Harald Gruber in seinem Beitrag befasst, psychosomatische und biopsycho-
soziale Konzepte, die die Krankheit als dynamisches Geschehen im Zusammen-
hang mit der Gesamtheit der menschlichen Konstitution auffassen und psycho-
soziale Bedingungen, durch die die Krankheit in soziale und soziokulturelle Zu-
sammenhänge gelangt (z.B. von Uexküll / Wesiak 1988).
Damit verliert die vorrangige oder gar ausschließliche Zuordnung kunstthera-
peutischer Forschung zum medizinisch-klinischen Forschungsbereich und hier
vornehmlich zu quantitativen Methoden ihre Berechtigung. Dokumentationen,
die eine Grundlage für gemeinsame Behandlungsstrategien von medizinischer
und kunsttherapeutischer Behandlung bilden können, fokussieren nicht auf den
kranken Menschen als Symptomträger, sondern auf die Bedingungen der inter-
subjektiven Beziehung Therapeut – Patient13 und auf den Gesamtzusammenhang
menschlichen Erlebens, in dem die Krankheitssymptomatik steht.
Grundlage einer Dokumentation, die die subjektiven Bedingungen der therapeu-
tischen Beziehung, die mit der ästhetischen Handlung einhergehen, einschließt,
ist die Fähigkeit, auf das eigene Handeln zu reflektieren: Sie erfordert ein Be-
wusstsein für die Motive des eigenen Handelns, für das eigene Menschenbild
und die eigenen ästhetischen Sichtweisen. Der Beitrag von Barbara Narr in die-
sem Buch nimmt dazu pointiert Stellung und gibt einen entscheidenden Hin-
weis: „Die poetische Annäherung an einen kunsttherapeutischen Prozess muss
also einen reflektierenden Anteil erhalten“. Dabei schließt die Reflektion auf das
eigene Handeln ein Bewusstsein für subjektive, biographische, soziokulturelle,
anthropologische oder philosophische Voraussetzungen, mit denen die thera-
peutische Handlung zu tun hat, ein.
ben, Fähigkeiten, Interessen, Lebenswegen, Menschenbildern etc., sowohl seitens der Be-
handler wie auch der Behandelten. (Kriz 2000)
13 vergl. David Aldridge (2002): Was wirentwickeln müssen ist eine Möglichkeit, das
Kunstwerk selber so darzustellen, wie es im therapeutischen Kontext erscheint.“ In: „Musik-
therapie – eine Erzählperspektive“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 29
Resümee
Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis begründen wollen, treffen wir auf Be-
dingungen, an die wir kein äußeres Maß herantragen können, da wir es mit
individuellen, intersubjektiven Verhältnissen zu tun haben. Wir berühren damit
aber auch einen Bereich, der zwischen Medizin und Kunst liegt und den Blick
hinausführt über die unmittelbar am pathologischen Befund orientierte Behand-
lung.
Es gibt verschiedene Arten sich ein Bild zu machen. Der Arzt, der sich mittels
Exploration, Anamnese und Untersuchung ein Bild von einer Krankheit macht,
hat zunächst einen anderen Blick als der Kunsttherapeut, der sich mit ästhetisch-
bildnerischen Phänomenen beschäftigt. Inhalt kunsttherapeutischer Praxis ist
bildnerisches Gestalten. Die bildnerischen Phänomene erschließen sich erst vor
dem Hintergrund der individuellen Begegnung zwischen Therapeut und Patient,
in deren Rahmen eine ästhetische Handlung ihre Bedeutung gewinnt. Damit
kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen, sinnliche Fakto-
ren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den Blick des Arztes
erweitern um die relativen und multifaktoriellen Bedingungen, die mit einer
Krankheit verbunden sind vorausgesetzt der Kunsttherapeut findet eine Mög-
lichkeit der Dokumentation, die die subjektiven und jeweils individuellen Be-
dingungen der kunsttherapeutischen Praxis einschließt.
Literatur
Antonovsky A. (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen:
Dgvt-Verlag
David Aldridge (2002): Musiktherapie – eine Erzählperspektive. In: Petersen, P. (2002): For-
schungsmethoden künstlerischer Therapien, Stuttgart: Maier. 136 f.
Kämpf-Jansen, H. (2002): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissen-
schaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon
Kriz, J. (2000): Perspektiven zur „Wissenschaftlichkeit“ von Psychotherapie. In: Hermer,
Matthias (Hrsg.): „Psychotherapeutische Perspektiven am Ende des 21. Jahrhunderts“,
Tübingen: Dgvt-Verlag
Kunzmann, B./ Aldridge D. et al. (2005): Gesetzlicher Rahmen des Fallpauschalengesetzes –
Qualitätssicherung und Erfassung psychosozialer Leistungen. In: Zschr. für Musik-, Tanz-
und Kunsttherapie Jg. 16, 2/ 2005. 87-94
30 Peter Sinapius
Panofsky, E. (1975): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts).
Köln: Du Mont
Petersen, P. (2004): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien unter Berücksichtigung
von Wirksamkeitsstudien – Aufruf zu Besinnung auf die eigenen Quellen, S. 60 in: Henn, W.
und Gruber H. (2004). Kunsttherapie in der Onkologie / Grundlagen, Forschungsprojekte,
Praxisberichte. Köln: Richter
Sinapius, P. (2005): Therapie als Bild Das Bild als Therapie / Grundlagen einer künstleri-
schen Therapie. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Sontag, S. (1982): Kunst und Antikunst / 24 literarische Analysen. S. 21, Frankfurt am Main:
Fischer
Tüpker, R. (2002): Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden For-
schungsparadigma. In: Petersen, P. (Hrsg.): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien.
Stuttgart/ Berlin: Mayer. 95-109
Von Uexküll T./ Wesick W. (1988): Theorie der Humanmedizin. München: Urban &
Schwarzenberg
Data
Sinapius_Publicationlist
Chapter
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In dem Artikel untersuche ich den Begriff „Bild“ unter 3 verschiedenen Aspekten: 1. Ich untersuche ihn anthropologisch. 2. Ich ordne ihn kunsthistorisch ein. 3. Ich stelle ihn in den Kontext der kunsttherapeutischen Praxis.
Article
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Im Rahmen einer einjährigen Studie der Fachhochschule Ottersberg und des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke wurden die spezifischen Bedingungen der Kunsttherapie im Krankenhaus und die wichtigsten strukturellen und inhaltlichen Schnittstellen in der Kooperation zwischen Medizin und Kunsttherapie untersucht und Perspektiven für die Integration der Kunsttherapie in ein Versorgungskonzept aufgezeigt,für das unter dem Eindruck der gesundheitspolitischen Entwicklungen die Akut- und Krisenintervention einen immer größeren Stellenwert gewinnt. Bei der Studie handelte es sich um eine kombinierte qualitative und quantitative Studie mit qualitativem Schwerpunkt. Ein wesentliches Ergebnis der Studie war, dass die Kunsttherapie zu einer umfassenden ärztlichen Diagnostik beitragen kann, indem sie die Wahrnehmungen der Ärzte um psychische und psychosoziale Faktoren erweitert. Die Studie zeigte aber auch, dass es vielfach an einer nachvollziehbaren und differenzierten Indikationsstellung für kunsttherapeutische Verfahren durch die Ärzte fehlt. Dies war sowohl auf strukturelle Mängel in der Besprechungskultur als auch auf inhaltliche Probleme bei der Dokumentation und Reflexion auf die kunsttherapeutische Praxis zurückzuführen. Ein differenzierter Blick auf die Beschreibungskriterien von Indikationen und die verschiedenen Ebenen kunsttherapeutischer Praxis öffnet eine neue Perspektive für die effektive Einbindung der Kunsttherapie in ein Gesamtbehandlungskonzept.
Presentation
Full-text available
The notion of the German word Bild occupies a central, mediating position between art and therapy. In the sense of "image," it touches upon psychological theories of the unconscious, as well as reception-aesthetic approaches in art theory. With the "Iconic Turn"-the turn from the word to the image-the term "image" is given a new meaning, which goes far beyond previous accounts of the effect and perception of images. It leads to the anthropology of pictorial creation. Prologue If I sit on a train and face the opposite direction that the train is travelling in, a strange phenomenon occurs: images pass that belong to the past. I am looking at where I was a few moments before. The journey is continually generating images of farms, woods, lakes, and mountains-places I have never been. I am passing through a foreign world without being part of it. This is a simple but basic experience: images are like foreign places, landmarks which I pass. These images are evidence only for me: I am creating an image. It only exists because I cannot be where it refers to. The purpose of my trip is not important at these moments. It is not about the "arrival"; it is about passing. I have a destination, but it is not of importance. I am a part of a story which would not be of any interest if its end were the decisive moment. The images that I pass, sitting in the train, are transitory. They differ from that which we are used to calling "image" in relation to the artistic practice-the kind of image we can hang on the wall to look at. In my eyes, an understanding of the term "image" in the sense of a flat, durable object is not suitable for the description of the aesthetic phenomena, which we deal with in art and art therapy (Sinapius, 2005). It does not keep pace with the rapid spreading of the image as part
Article
Zusammenfassung. Kunsttherapie hat sich heute als spezifisches multimodales Angebot zur therapeutischen Behandlung von Essstörungen im klinischen Anwendungsfeld etabliert. Hier kommt sie vorwiegend im Gruppensetting zum Einsatz. Im Hinblick auf die weitere auch wissenschaftliche Anerkennung dieses Therapieverfahrens wird die stringente Verfolgung von insbesondere empirischer Forschung notwendig. Grundlegende Voraussetzung dafür ist die Erfassung des aktuellen Standes kunsttherapeutischer Literatur zur Behandlung von Essstörungen und die davon abgeleitete Formulierung des konkreten Forschungsbedarfes. Bedauerlicherweise beziehen sich die bisher vorliegenden Literaturübersichtsarbeiten auf teils sehr unterschiedliche Kategorien und Standards der Analyse, was dieses Vorhaben erheblich erschwert. Es fehlen sowohl systematische Analysen zur kunsttherapeutischen Literatur als auch die Aufarbeitung deren Qualität und Evidenz. Damit auch ältere Publikationen ihre Berücksichtigung finden können, muss eine spezielle Analysematrix entwickelt werden, die neben quantitativen Aspekten auch qualitative Analysestrategien enthält. Dieser Beitrag berichtet von den Ergebnissen einer solchen bibliometrischen Analyse, in der deutsch- und englischsprachige Literatur der Kunsttherapie bei Essstörungen (1970 – 2010) untersucht wurde. Sie versteht sich zugleich als exemplarische Analysestrategie. Innerhalb dieses Artikels liegt der Fokus auf der vergleichenden Betrachtung von Sprache und Publikationsmedium, was für eine systematische und historische Analyse bedeutsam erscheint.
Book
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Eine Kunst, die sich das Soziale zum Thema macht, führt an die Schnittstelle zwischen Kunst und Therapie. Sobald der therapeutische Raum als sozialer Raum ins Spiel kommt, gewinnt therapeutisches Handeln eine sozialkünstlerische Komponente. Der Blick wird über das gestaltete Objekt hinausgeführt auf die Bedingungen der therapeutischen Interaktion als Gegenstand der Gestaltung. Sie wird zum Teil einer Geschichte, an der Patient und Therapeut Anteil haben. Die Geschichten aus der kunsttherapeutischen Praxis, die der Autor erzählt, beschreiben den Raum, in dem zwischen Therapeut und Patient ein Bild entstehen kann: den intermediären Bereich. An die Stelle eines traumatisierenden Bildes vermag ein anderes zu treten: das erlebte Bild, zu dem die Therapie einen neuen, sinnstiftenden Zugang eröffnet.
Musiktherapie -eine Erzählperspektive
  • David Aldridge
David Aldridge (2002): Musiktherapie -eine Erzählperspektive. In: Petersen, P. (2002): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien, Stuttgart: Maier. 136 f.
Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden Forschungsparadigma
  • S Sontag
Sontag, S. (1982): Kunst und Antikunst / 24 literarische Analysen. S. 21, Frankfurt am Main: Fischer Tüpker, R. (2002): Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden Forschungsparadigma. In: Petersen, P. (Hrsg.): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien. Stuttgart/ Berlin: Mayer. 95-109