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Peter Sinapius
Bilder der Sprache - Sprache der Bilder
Kriterien für die Qualität von Dokumentationen
künstlerisch therapeutischer Praxis
„Im Land der Blinden
ist der Einäugige nicht König,
sondern Zuschauer.“
(Clifford Geertz 1987)
Zusammenfassung
Die Verwendung bildhafter oder narrativer Darstellungen in der kunsttherapeuti-
schen Dokumentation knüpft an einen in den letzten Jahrzehnten interdisziplinär
geführten Diskurs in der Ethnologie, den Kultur-, Kunst- und Bildwissenschaf-
ten, den Sozialwissenschaften und der Philosophie an, der zu Paradigmenwech-
seln in diesen Disziplinen, sogenannten „cultural turns“, geführt und teilweise
in einem erweiterten Bildverständnis seinen Niederschlag gefunden hat. Die
Ausdehnung des Begriffes „Bild“ auf performative, sprachliche und andere Dar-
stellungen ermöglicht einen neuen Blick auf Formen der Beschreibung künstle-
rischer Prozesse.
In der Kunsttherapie geht es um Handlungen und Ereignisse, die im bildneri-
schen Werk ihre Spuren hinterlassen. Ein wesentliches Kriterium für die Quali-
tät einer schriftlichen Dokumentation der kunsttherapeutischen Praxis ist die
Kongruenz der Form der Darstellung mit den kontextuellen und interaktiven
Bedingungen der Situation, die sie zum Gegenstand hat. Eine Dokumentation
künstlerisch therapeutischer Praxis muss in der Lage sein Prozesse in ihrer situa-
tiven Evidenz zu erfassen und darzustellen, da sich die Bedeutung künstlerischer
und dialogischer Prozesse erst aus dem interaktiven Geschehen der konkreten
therapeutischen Situation erschließt. Dazu eignen sich sprachliche Darstellun-
gen, die Bilder erzeugen, um damit die komplexen und interaktiven Umstände
einer Situation zu rekonstruieren und Vorstellungen von den konkreten Bedin-
gungen künstlerisch therapeutischer Praxis zu vermitteln.
Um Anhaltspunkte für eine Beurteilung der Qualität von Dokumentationen
künstlerisch therapeutischer Praxis zu gewinnen und unter dem Gesichtspunkt,
ob sich die Form einer sprachlichen Darstellung mit den beschriebenen Situatio-
nen im Einklang befindet, entwickele ich am Beispiel einer Beschreibung mei-
ner eigenen kunsttherapeutischen Praxis Kriterien für die sprachliche Darstel-
lung kunsttherapeutischer Verläufe.
220 Peter Sinapius
1.
Der österreichische Künstler Erwin Wurm ist der Überzeugung, dass alles zur
Skulptur werden kann: Handlungen, geschriebene oder gezeichnete Anweisun-
gen oder Gedanken. Besucher seiner Ausstellungen bittet er, sich in „One Minu-
te Sculptures“ zu verwandeln. Er realisiert überraschende Objektbeziehungen,
indem er Besucher auffordert, in ungewöhnliche Beziehungen zu Alltagsgegen-
ständen zu treten. In „Keep a cool head“ stecken Ausstellungsbesucher ihren
Kopf in einen Kühlschrank, in einer „Outdoor Sculpture“ ragen aus einem Fens-
ter zwei Beine hervor. Die Szenen fotografiert er und hält sie so dokumentarisch
fest.
Die Skulpturen von Erwin Wurm bewegen sich an der Grenze zwischen Perfor-
mance und Bildhauerei, zwischen Inszenierung und Repräsentation. Die Bilder,
die sich vermitteln, sind mit Handlungen verbunden und diese Handlungen voll-
ziehen in den „One Minute Sculptures“ die Besucher selbst. Die Fotos, die er
davon macht, dokumentieren diese Situationen und ermöglichen es demjenigen,
der nicht dabei gewesen ist, sie nachzuvollziehen. Von klassischen Kunstwerken
unterscheiden sich die Inszenierungen solcher Bildgestaltungen in vielerlei Hin-
sicht: Die Bilder, die erzeugt werden, sind vorübergehender Natur und mit den
aktuellen Handlungen der Besucher verbunden. Bildrezeption und Bildprodukti-
on lassen sich nicht mehr ohne Weiteres trennen. Darüber hinaus wären die
Skulpturen von Erwin Wurm ohne die fotografische Dokumentation, die die Si-
tuationen als Momentaufnahme festhält, unwiederbringlich verloren – es sei
denn, das, was geschehen ist, wäre als Bericht überliefert. Entscheidend dafür,
ob sich das Geschehen rekonstruieren oder er-innern lässt, ist die (ästhetische)
Abb. 1: Outdoor Sculpture,
Appenzell, 1998
Abb. 2: Keep a cool head,
2003
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 221
Form der Dokumentation, die die Inszenierungen in ihrer Unmittelbarkeit nach-
vollziehbar macht.
Für die Fragestellung, wie sich Prozesse künstlerisch therapeutischer Praxis dar-
stellen lassen, ist sowohl das erweiterte Bildverständnis interessant, das mit den
Arbeiten von Erwin Wurm verbunden ist, als auch die Form ihrer Dokumentati-
on. Die Verknüpfung von einem künstlerischen Prozess und der Form seiner
Dokumentation, die die Situation als (fotografisches) Bild wieder zur Erschei-
nung bringt, ist aufschlussreich für die Frage, wie sich solche künstlerischen
Prozesse, mit denen wir es auch in der Kunsttherapie zu tun haben, dokumentie-
ren lassen. Die Dokumentation ist bei Erwin Wurm, wenn nicht gar Teil oder
Fortsetzung der künstlerischen Handlung, so doch im Einklang mit der künstle-
rischen Handlung, auf die sie sich bezieht. Der Kunst- und Bildbegriff, der hin-
ter den „One Minute Sculptures“ steht, bezieht die Handlung in die bildneri-
schen Darstellungen ein und wird durch die Dokumentation in eine neue (ästhe-
tische) Form überführt, in der sie sich vermittelt. Sie hat damit mit ähnlichen
Bedingungen zu tun wie eine Dokumentation aus der kunsttherapeutischen Pra-
xis, die ihren künstlerischen Gestaltungen und Handlungen gerecht werden soll.
In der Kunsttherapie geht es nicht nur um symbolische Repräsentationen (von
etwas), die sich im bildnerischen Werk manifestieren, sondern um Handlungen
und Ereignisse, die im bildnerischen Werk ihre Spuren hinterlassen. Wer also
seine kunsttherapeutische Praxis dokumentieren will, muss das bildnerische
Werk in den Kontext der Situation stellen, aus der es hervorgegangen ist. Die
Form der Dokumentation muss diese Situation in ihrer konkreten Bedeutung zu
erfassen, zu rekonstruieren und darzustellen vermögen. Dazu eignen sich Dar-
stellungen, die – wie die fotografischen Momentaufnahmen, die Erwin Wurms
Arbeiten dokumentieren – es möglich machen, die komplexen und interaktiven
Bedingungen der Situation wieder aufleben zu lassen, durch die sie unmittelbar
eine Bedeutung gewinnen.
Eine gängige Form der Dokumentation kunsttherapeutischer Prozesse ist die
sprachliche Darstellung, die als Bericht oder Erzählung die Vielschichtigkeit
und Komplexität interaktiver Prozesse nachvollziehbar macht. In der Ethnologie
haben sprachliche Darstellungen, die durchaus auch essayistischen Charakter
annehmen können, unter dem Begriff „Dichte Beschreibung“ Eingang gefunden
(Geertz 1987). Geertz bezeichnet ethnologische Schriften als Fiktionen „in dem
Sinn, dass sie „etwas Gemachtes“, etwas „Hergestelltes“ sind“ (Geertz 1987,
23). Eine Beschreibung gilt also nicht nur als Verweis auf Handlungen und Er-
eignisse, die sie zum Gegenstand hat, sie ist selber Handlung und Ereignis, in-
dem sie Wirklichkeit (re-) konstruiert.
In diesem Sinne geht es bei einer Dokumentation künstlerischer und dialogi-
scher Prozesse wie in künstlerischen Therapien nicht einfach um Fakten, son-
222 Peter Sinapius
dern um die Frage, ob die Form der Darstellung den kontextuellen und interakti-
ven Bedingungen ihres Gegenstandes gerecht wird. Wenn wir davon ausgehen,
dass Bilder aus einer künstlerisch therapeutischen Praxis nur durch die mit ihnen
verbundenen Handlungen und kontextuellen Bedingungen ihren Sinn gewinnen
(Sinapius 2006), müssten diese Bilder in ihrer situativen Evidenz in der sprach-
lichen Dokumentation wieder hervortreten.
Wenn die Kunsttherapeutin Elisabeth Wellendorf aus ihrer Praxis berichtet, er-
zählt sie Geschichten. Ihre Worte drücken keine nackten Sachverhalte aus, sie
erzeugen Bilder. Auch wenn es dabei um andere Menschen geht, sind ihre Be-
richte aus der Kunsttherapie immer auch Teil ihrer eigenen Geschichte (Wellen-
dorf 1999). Was sie erzählt nimmt manchmal poetische Züge an, um die „Bilder,
Geschichten, Farben, Formen, Gerüche, Klänge und Visionen“ aufzunehmen,
die eine therapeutische Begegnung ausmachen, und für die es keine „Theorieko-
ordinaten“ gibt. Dabei lässt „das Bedürfnis, etwas zu begreifen, manchmal den
schöpferischen Abstand schmelzen. Erkenntnis erfordert beides: den Raum, in
dem sich etwas entfalten und darstellen kann, und die tiefe innere Beteiligung,
die als Resonanz anklingt. Diese Möglichkeit scheint mir am ehesten in der
Form des Geschichtenerzählens gegeben zu sein, denn aus allem fügt sich Ge-
schichte und jeder hat seine eigene.“ (Wellendorf 1999, 10) An solchen Ge-
schichten entzünden sich Bilder, an denen der Leser eine unmittelbare Erfahrung
machen kann.
Damit rücken Dokumentationen aus der Kunsttherapie, die sich sprachlich-
bildhafter oder narrativer Formen bedienen, in die Nähe künstlerisch-
ästhetischer Gestaltungen. Sprachliche Darstellungen vermögen Bilder zu er-
zeugen, die eine Vorstellung von dialogischen und interaktiven Prozessen ver-
mitteln. Werden allerdings (Sprach-)Bilder in den Bereich wissenschaftlich-
sprachlicher Darstellungen eingeführt, spielt damit eine Darstellungsform eine
Rolle, die – auch wenn sie in der Kommunikationspsychologie als eine Seite
sprachlichen Ausdrucks hinreichend beschrieben ist (Watzlawick 2002) – über
die Sprache im Sinne einer konventionellen, wissenschaftlichen Fachterminolo-
gie hinauszugehen scheint: das Bild.
Bildnerischen Darstellungen ist eigen, dass das, was wir in ihnen sehen, nicht
das Faktische ist, sondern das Mögliche, das wir daran erfahren
1
. Damit eignen
sie sich zur Rekonstruktion von Handlungen und Situationen, besonders da, wo
es – wie in den künstlerischen Therapien – um ästhetische Prozesse und mensch-
liche Beziehungen geht. Geschichten aus der Therapie sind sprachliche Darstel-
lungen, die sich als Bild vermitteln. Sie ermöglichen Erfahrungen, die „Sinn
1
Ich nehme hierbei für sprachliche Bilder an, was für visuelle Bilder gilt: „Die Logik der Bil-
der basiert auf die eine oder andere Art auf einem Überhang: Das Faktische lässt sich als das,
was es ist, anders sehen.“ (Bredenkamp 2006, 43)
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 223
machen“ für den, der sie realisiert. „Wir haben als Wissenschaftler nicht die
Aufgabe“, so formuliert David Aldridge, „Geschichten mit Bedeutung zu bele-
gen, sondern die Bedeutung sich in der Realität manifestieren zu lassen.“ (Ald-
ridge 2002, 134-135)
„Ist das Bild immer visuell? Es kann auch
klanglich, das Guckloch kann auch sprachli-
cher Art sein: Ich kann mich in einen Satz
verlieben, der mir gesagt wurde: und nicht
nur deshalb, weil er mir etwas sagt, was
meine Begierde betrifft, sondern aufgrund
seiner syntaktischen Wendung (seines „Ho-
fes“), die in mir heimisch werden wird wie
eine Erinnerung.“
(Roland Barthes 1988)
2.
Wenn ich im Zusammenhang mit sprachlichen Darstellungen von Bild spreche,
ist das Bild nicht das Medium, sondern etwas, das sich uns durch die Sprache
erschließt. Das Bildverständnis, von dem ich dabei ausgehe, bezieht sich damit
nicht nur auf flächige, dauerhafte Gestaltungen wie Gemälde oder Fotografien,
sondern auf ästhetische Erfahrungen, die wir auch an Sprachgestaltungen, an
Gesten, Bewegungen, Inszenierungen, Metaphern oder Geschichten machen
können. Während sich das bildnerische Werk selber noch auf die Begriffe „Pro-
duktion“ und „Rezeption“ zurückführen lässt, handelt es sich hier um Ereignis-
se, die mit den Begriffen „Inszenierung“ und „ästhetische Erfahrung“ verbunden
sind.
Die Verwendung sprachlich-bildhafter oder narrativer Formen der Darstellung
in der wissenschaftlichen Dokumentation knüpft an einen in den letzten Jahr-
zehnten interdisziplinär geführten Diskurs in der Ethnologie, den Kultur-,
Kunst- und Bildwissenschaften, den Sozialwissenschaften und der Philosophie
an, der zu verschiedenen „Wenden“, so genannten „cultural turns“ und verschie-
denen Paradigmenwechseln in diesen Disziplinen geführt und in einem erweiter-
ten Bildverständnis seinen Niederschlag gefunden hat (Bachmann-Medick
2006). Die hier in manchen Disziplinen vollzogene Ausdehnung des Begriffes
„Bild“ auf performative, sprachliche und andere Darstellungen ermöglicht einen
neuen Blick auf Formen der Beschreibung künstlerischer Prozesse.
Die Erweiterung des Bildbegriffes erlaubt eine neue Sicht auf das Verhältnis
zwischen Bild und Sprache. Im Gegensatz zu einem erweiterten Bildbegriff hat
das Primat der Sprache gegenüber dem Bild eine lange Tradition und zeigt sich
in einem bis heute weit verbreiteten Bildverständnis (Bredenkamp 2006, 33),
das auch vor den Türen kunsttherapeutischer Ateliers keinen Halt macht: Spra-
224 Peter Sinapius
che gilt im Diskurs über Bilder oft noch als Mittel, das zu enthüllen, was sich im
Bild verborgen hat. In diesem Sinne wird das Bild als etwas aufgefasst, was
primär gesagt sein will: Es gilt als symbolische Repräsentation, die auf einen
Text verweist, der hinter dem Bild liegt und erschlossen werden soll. Nicht sel-
ten kommt einem solchen Verständnis alles Sinnliche, das mit einem Bild ver-
bunden ist, abhanden.
Eine sprachlich-bildhafte Form der Darstellung sucht dagegen gerade an dem
Sinnlichen anzuschließen, das in ästhetischen Darstellungen und Handlungen
erfahrbar wird. Sie befindet sich im Einklang mit dem, wovon sie handelt. Als
Geschichte oder Erzählung lässt sie das Bild, das sich durch sie vermittelt, in
einem neuen Kontext – dem der Sprache – wieder aufleben
2
.
Die besonderen Bedingungen kunsttherapeutischer Praxis eröffnen so eine Per-
spektive, die die wissenschaftliche Debatte über Bilder, ihre kulturellen, anthro-
pologischen und soziologischen Bezüge in einer Disziplin zusammenführen
kann. Die „cultural turns“ (Bachmann-Medick 2006) der jüngeren Zeit, die vom
„interpretive turn“ über den „iconic turn“ (Boehm 1994, Maar/Burda 2004 und
2006) bis hin zu dem „performative turn“ (Fischer-Lichte 2004) reichen, müssen
einem Kunsttherapeuten
3
wie ein Echo aus der eigenen kunsttherapeutischen
Praxis erscheinen. Die Kunsttherapie gewinnt damit nicht nur Bezugspunkte zu
anderen wissenschaftlichen Disziplinen, sie birgt auch das Potential selbst Be-
zugspunkt im wissenschaftlichen Diskurs über Bilder und das Sprechen über
Bilder zu sein.
Was wir zunächst über ein Bild sagen können, hat mit unserer Wahrnehmung
dessen zu tun, was wir betrachten. Der Sinn oder Bedeutungsgehalt eines Bildes
erschließt sich uns aus mehreren Faktoren, die unsere Wahrnehmung begleiten
(vgl. Huber 2004, Sachs-Hombach 2006). Sie ergeben sich aus vorgegebenen
Bildbedeutungen („das ist ein Baum“, „ein Mensch“ usw.), aus den unterschied-
lichen Bedingungen, unter denen das Bild uns erscheint (die Kritzelei eines Kin-
des erscheint unter anderen Bedingungen als das Kunstwerk im Museum) und
aus dem Kontext, auf den es verweist (eine mittelalterliche Darstellung des E-
vangeliums oder eine zeitgenössische Farbflächenmalerei haben verschiedene
kulturelle Hintergründe), aus Erfahrungen und Vorstellungen, die wir an das
Bild herantragen (Symbole, Metaphern, aber auch Erinnerungen und Assoziati-
2
„Wenn wir die Geschichten unseres Lebens erzählen, dann sind diese nicht beschaffen wie
konventionelle Forschungsberichte und nicht in der quantifizierten Sprache der Wissenschaft
abgefasst. Unser Leben lässt sich am besten in den dynamischen Abbildungen einer gelebten
Sprache beschreiben. Das Wesen der Sprache ist das der musikalischen Form, die den Inhalt
von Ideen übermittelt.“ (Aldridge 2002, 134 – 135)
3
Auch wenn ich im Folgenden der Lesbarkeit wegen nur die männliche Form wähle, ist eben-
so die weibliche gemeint.
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 225
onen) und nicht zuletzt aus ästhetischen Empfindungen, die wir damit verbin-
den.
In der Kunsttherapie treten noch zwei grundlegende Faktoren hinzu, die für un-
ser Verständnis von den dort entstandenen Bildern wesentlich sind und die mit
den besonderen Bedingungen kunsttherapeutischer Praxis zu tun haben: Die In-
teraktion zwischen Patient und Therapeut und das prozessuale und interaktive
Geschehen bildnerischen Gestaltens, in deren Kontext bildnerische Werke aus
der Kunsttherapie stehen
4
.
Bilder aus der kunsttherapeutischen Praxis sind zunächst gemalte oder irgend-
wie gestaltete Bilder, die im Zusammenhang mit den bildnerischen Äußerungen
des Patienten und der spezifischen therapeutischen Situation stehen. Diesen Zu-
sammenhang versucht eine kunsttherapeutische Dokumentation darzustellen.
Dokumentationen aus der kunsttherapeutischen Praxis sind aber nicht nur mit
den ausgesprochen vielschichtigen und komplexen Bedingungen der Bildrezep-
tion verbunden, sondern auch mit der Tatsache, dass der Kunsttherapeut, der aus
der Kunsttherapie berichtet, Teil der Situation ist, über die er berichtet (Sinapius
2007 b).
Damit haben es Darstellungen aus der Kunsttherapie mit ähnlichen Phänomenen
zu tun, wie Darstellungen aus der Kulturanthropologie, der Ethnologie oder qua-
litative Studien aus der Sozialforschung
5
, in denen – aus verschiedenen Perspek-
tiven – der interaktive und kontextuelle Charakter der Datenerhebung eine zent-
rale Rolle spielt.
In der Kulturanthropologie und Ethnologie vollzog sich in den 70er- und 80er
Jahren eine Wende, der sog. „interpretive turn“. Seine Protagonisten richten ihre
wissenschaftlichen Untersuchungen weniger auf die Gesetze, Strukturen und
4
Paolo Knill erläutert die Bedeutung des Mediums in der Therapie unter dem Begriff „Kris-
tallisationstheorie“: „Die Kristallisationstheorie ist grundsätzlich auf der phänomenologischen
Prämisse aufgebaut, dass in einer psychotherapeutischen Begegnung Sinnhaftigkeit, Sinn aus-
schließlich aus dem Material aufsteigt, welches zwischen dem Therapeuten/der Therapeutin
und dem Klienten/der Klientin erscheint, wenn sie miteinander in Beziehung treten. Theorien
von der Übertragung und der Gegenübertragung funktionieren unter einer ähnlichen Grund-
annahme; aber sie verwenden in der Regel nicht den künstlerischen Prozess als Mittel, Sinn
zu erhellen, wie das in der Intermodalen Kunst- und Ausdruckstherapie (IKT) der Fall ist.
Die Kristallisationstheorie interpretiert phänomenologisch in einer poiesis, welche der Kunst
eigen, immanent ist, das heißt in einer imaginativen, besonderen und prägnanten Sprache.
Interpretation wird dabei als Verdeutlichung in einer kunsteigenen Ausdrucksweise verstan-
den.“ (Knill 2004, 20 f.)
5
„Anders als bei quantitativer Forschung wird bei qualitativen Methoden die Kommunikation
des Forschers mit dem jeweiligen Feld und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil der
Erkenntnis, statt sie als Störvariable so weit wie möglich ausschließen zu wollen. Die Subjek-
tivität von Untersuchten und Untersuchern wird zum Bestandteil des Forschungsprozesses“
(Flick 2002, 19).
226 Peter Sinapius
Funktionen kultureller Systeme, als auf Situationen, die in Fallstudien und Mik-
roanalysen beschrieben werden. An die Stelle eines globalen Blicks auf den For-
schungsgegenstand treten Ereignisse, in denen der Forscher zum teilnehmenden
Beobachter wird. Dabei geht es nicht um die Beschreibung der Ereignisse an
sich, sondern um die Erfassung der ihnen eingeschriebenen, inkorporierten Be-
deutungen (Bachmann-Medick 2006). Die Vertreter des „interpretive turn“ hal-
ten dabei eine „objektive“ Beobachtung und Beschreibung kultureller Systeme
und das Sammeln „reiner Daten“ für unmöglich. Ausdrücklich schließt der „in-
terpretive turn“ performative Darstellungsweisen wie Handlungen, Ereignisse,
Bräuche oder Rituale mit ein, die im Prinzip als „Text“ gelesen werden können,
dem seine Bedeutung eingeschrieben ist. Im Zusammenhang mit dem „interpre-
tive turn“ wird der interaktive und kontextuelle Charakter einer Datenerhebung
grundsätzlich anerkannt und damit die Subjektivität, die mit Interpretationen und
Deutungen einhergeht.
Der „interpretive turn“ und der darauf folgende „performative turn“ schließen an
die Theorieentwicklung in der Sprachphilosophie an. John L. Austin entwickelte
bereits in den 60er Jahren eine handlungsbezogene Theorie, in der sprachliche
Akte nicht nur das Vermögen haben die Wirklichkeit darzustellen, sondern sie
auch hervorzubringen. Er bezeichnete sprachliche Äußerungen als „performa-
tiv“, wenn sie selbstreferentiell sind, also das bedeuten, was sie tun, und wenn
sie wirklichkeitskonstituierend sind, indem sie die soziale Wirklichkeit herstel-
len, von der sie sprechen (Fischer-Lichte 2004)
6
.
Hier schließt sich der Kreis zu den interpretativen Forschungsansätzen, die jede
sprachliche Darstellung von Wirklichkeit, gleich welcher kategoriellen, sprach-
lichen und rhetorischen Mittel sie sich bedient, nicht nur als Wirklichkeitsrefe-
renz, sondern selber als Konstruktion von Wirklichkeit auffassen.
Der „iconic turn“ (Boehm 1994, Maar/Burda 2004 und 2006) geht hier noch ei-
nen Schritt weiter, indem er als Gegenbewegung zum „linguistic turn“, für den
Text und Sprache die zentralen Erkenntnismittel waren, dem Bild Erkenntnis-
charakter zuspricht. Es geht nicht mehr darum, „Bilder zu verstehen, sondern die
Welt durch Bilder zu verstehen“ (Bachmann-Medick 2006, 349). Dabei geht es
ausdrücklich nicht nur um das Bild als ästhetisches Medium, sondern um die
ästhetische Erfahrung, die sich durch verschiedene Medien als Bild vermitteln
kann
7
.
6
„Sprechen“, so Erika Fischer-Lichte, kann „eine weltverändernde Kraft entbinden und
Transformationen bewirken“. Als Beispiele führt sie die Sätze an:„Das Schiff trägt von nun
an den Namen Queen Elizabeth“ oder „Frau X und Herr Y sind von nun an ein Ehepaar“.
Diese Sätze sagen nicht nur etwas aus, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der
sie sprechen (Fischer-Lichte 2004, 31).
7
vergl. u.a. Silvia Seja: “Der Handlungsbegriff in der Bild- und Kunstphilosophie“ (in: I.
Reichle et. al. 2007, 97 – 113)
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 227
Der Bildbegriff führt hier wie auch in unserem Zusammenhang über das Visuel-
le hinaus und betrifft auch die Art in Bildern zu sprechen. Bildhafte Darstellun-
gen sagen dabei nicht nur etwas aus über das, wovon sie sprechen, sondern auch
über den, der spricht. Die Darstellungen werden gewissermaßen selber zu Ereig-
nissen, an denen der Autor und der Leser beteiligt sind und gewinnen ihre Evi-
denz für den Leser, indem er sich „ein Bild“ macht.
Damit wird die Rezeption von bildhaften Darstellungen selber zu einem produk-
tiven, nachvollziehenden Akt, aus dem im weitesten Sinne Vorstellungen von
komplexen Situationen hervorgehen können.
„…die Sprachgestalt des Wissens kann dem Ge-
wußten selbst nie ganz äußerlich bleiben…“
(Peter Sloterdijk 2005)
3.
Werden in wissenschaftliche Arbeiten in diesem Sinne Bilder oder bildhafte
Darstellungen eingeführt, stellt sich die Frage, ob es Gesichtspunkte gibt, die
ihnen im wissenschaftlichen Diskurs Gewicht geben. Vor diesem Problem ste-
hen jedoch nicht nur Forschungsansätze, die interpretative und selbstreflexive
Verfahren der Dokumentation einbeziehen. Für jede wissenschaftlich-
sprachliche Äußerung gilt im Sinne des „interpretive turn“, sei sie nun abstrakt
oder erfahrungsgesättigt, dass sie das „Bild der Wirklichkeit selbst geradezu
prägt durch die Art und Weise der Beschreibung“ (Bachmann-Medick 2006,
155). Eine wissenschaftliche Darstellung muss sich folglich daran messen las-
sen, ob ihre Form dem Gegenstand gerecht wird, von dem sie handelt.
Grundsätzlich gehen interpretative oder bildhafte Darstellungen, die die kunst-
therapeutische Praxis dokumentieren, mit folgenden Bedingungen einher:
- Sie sind an der Praxis und an der unmittelbaren Erfahrung orientiert.
- Sie sind subjektiv. Der Beobachter, der sich ein Bild macht, ist gleichzeitig
Teilnehmer.
- Sie beziehen den Kontext, in dem etwas zu einer Erfahrung wird, in ihre Dar-
stellung ein.
- Die Form der Dokumentation ist den Erfahrungen angemessen, die darge-
stellt werden sollen.
Am Beispiel eines Ausschnitts aus einer Beschreibung meiner eigenen kunstthe-
rapeutischen Praxis möchte ich im Folgenden untersuchen, ob sich hieraus Kri-
terien für die Qualität kunsttherapeutischer Dokumentationen ableiten lassen.
228 Peter Sinapius
„Paul ist 6 Jahre alt und gerade in die erste Klasse gekommen. Seine Mutter
kommt verzweifelt auf mich zu, weil Paul sich überhaupt nicht in das Unter-
richtsgeschehen einzufügen vermag. Er ist frech und ungezogen, „fällt aus dem
Rahmen" und bringt damit den ganzen Unterricht durcheinander. Seine Lehre-
rin, die sich sehr um ihn bemüht, ist ratlos. Paul ist verzweifelt über sich selbst.
Die Mutter bittet mich also um meine Hilfe.
Paul kommt zur Kunsttherapie. Mir kommt ein kräftiger, großgewachsener und
lebhafter Bursche entgegen, dessen Augen leuchten und der über das ganze Ge-
sicht strahlt. Um ihn zu empfangen, habe ich im Therapieraum eine Kerze ange-
zündet und das Deckenlicht gelöscht. Es ist abends, dunkel und der Raum nur
vom Schein der Kerze erleuchtet. Vorsichtig und zögernd betritt Paul mit mir
zusammen den Therapieraum und ergreift instinktiv meine Hand. Wir gehen zur
Kerze und betrachten sie eine Weile. Ich erkläre ihm, dass das seine Kerze ist,
die nur für ihn leuchtet. Wir einigen uns darauf die Kerze erst am Ende der The-
rapiestunde wieder zu löschen und schalten das Deckenlicht ein. So beginnt im
folgenden halben Jahr jede Therapiestunde mit Paul.“ (Sinapius 2007 a, 145)
Was erfahren wir: Wir erfahren etwas über Paul, der im Unterricht frech und
ungezogen ist, über die Verzweiflung der Mutter und die Ratlosigkeit der Lehre-
rin. Wir erfahren etwas über den Eindruck, den Paul auf mich macht: ein strah-
lender und lebendiger Bursche. Wir erleben den Beginn der ersten Therapie-
stunde: In dem dunklen Therapieraum habe ich eine Kerze angezündet, Paul er-
greift schutzsuchend meine Hand und betritt mit mir vorsichtig den Therapie-
raum.
Nachvollziehbarkeit
Um aus einer sprachlichen Darstellung ein Bild über die kunsttherapeutische
Praxis zu gewinnen, muss sie zunächst nachvollziehbar sein
8
. Der Leser gewinnt
eine Vorstellung von der Situation.
Führen wir uns die Situation aus dem Protokoll über die erste Begegnung mit
Paul vor Augen: Was passiert, wenn wir in einen dunklen Raum treten, den wir
nicht kennen? Wir bewegen uns behutsam tastend hinein. Wir stürmen nicht in
ihn hinein wie auf ein offenes Fußballfeld, sondern wir betreten ihn vorsichtig.
Vielleicht finden wir die Situation unheimlich und suchen Schutz bei dem, der
mit uns eintritt. Das ist nachvollziehbar, weil das, was geschildert wird, an Er-
fahrungen anknüpft, die uns vertraut sind.
8
Tüpker stellt der Forderung nach Reproduzierbarkeit für den Gegenstandsbereich der kunst-
therapeutischen Forschung die Forderung nach Nachvollziehbarkeit gegenüber (Tüpker 2002,
97).
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 229
Dargestellt wird eine interaktive Handlung: Paul betritt mit mir zusammen vor-
sichtig den dunklen Raum und ergreift meine Hand. Ihre situative Evidenz ge-
winnt die beschriebene Handlung durch die kontextuellen Bedingungen, die der
Leser nachvollziehen kann. Dazu gehört das Wissen um die Ausgangsbedingun-
gen: Paul ist ein lebhafter Bursche, der in der Schule „aus dem Rahmen fällt“.
Die schulische Situation gerät außer Kontrolle. Die Bedingungen in der Thera-
pie gleichen einer Inszenierung, die einen Rahmen herstellt, der eine erste Be-
gegnung ermöglicht: Paul kommt zu sich und ich begegne Paul.
Es handelt sich um eine ganz konkrete Situation, in der sich zwei Menschen be-
gegnen. Dabei spielen nicht nur die äußeren Bedingungen eine Rolle, sondern
auch die innere Haltung, die ich einnehme und das Schutzbedürfnis von Paul,
das sich äußert: Paul ergreift meine Hand. Ohne meine seelische Präsenz würde
die Inszenierung zu Beginn der Therapie nicht funktionieren: Paul würde von
der Dunkelheit nicht aufgenommen, sondern zurückgewiesen. Erst vor dem Hin-
tergrund der hier dargestellten therapeutischen Beziehung wird therapeutisches
Handeln als individuelles Beziehungsgeschehen erlebbar. Eine Beschreibung,
wie die über meine erste Begegnung mit Paul, tritt für nichts den Beweis an. Sie
macht aber nachvollziehbar, was eine individuelle Interaktion im Rahmen der
Kunsttherapie ausmacht.
Nachvollzug hat etwas mit übereinstimmenden Erfahrungen zu tun. Wenn wir
etwas untersuchen, setzen wir uns selbst in ein Verhältnis zu dem, was wir be-
trachten: Indem wir etwas anheben, prüfen wir sein Gewicht, wir schätzen seine
Größe, wir fühlen, ob es warm oder kalt, weich oder hart ist. Wir prüfen die
Wirkung, die es auf uns hat, über unsere Sinneswahrnehmungen. Wir gelangen
zu einem subjektiven Urteil über die Beschaffenheit des Gebildes, solange wir
nicht sicher sein können, dass ein anderer dieselben sinnlichen Eindrücke hat
wie wir.
Wollen wir einem anderen einen Eindruck von unserer Empfindung angesichts
eines ihm unbekannten Gegenstandes vermitteln und beschreiben wie hart oder
weich dieser Gegenstand ist, können wir ein Bild benutzen, an das er mit seinen
Erfahrungen anknüpfen kann: hart wie Stein oder weich wie Gummi. Wir gehen
davon aus, dass er mit diesen Gegenständen ähnliche Erfahrungen gemacht hat.
Wir vermitteln ein Bild von dem, was sich uns mitgeteilt hat: Das, was wir be-
schreiben, verhält sich wie etwas anderes. Dieses Bild kann der andere mit sei-
nen eigenen Empfindungen in einen Zusammenhang bringen, weil er ähnliche
Erfahrungen gemacht hat wie wir. Je nachdem, wie lebendig und differenziert
wir unsere Erfahrungen beschreiben, desto präziser sind die Erfahrungen, die der
andere damit verbinden kann. Er kann es nachvollziehen, wenn er das, was be-
schrieben wird, in den Kontext eigener Erfahrungen eingliedern kann.
230 Peter Sinapius
In diesem Sinne geht es in dem Protokoll aus meiner kunsttherapeutischen Pra-
xis nicht um objektive Sachverhalte, sondern um Situationen, an die der Leser
mit seinen eigenen Erfahrungen anknüpfen kann: Es geht nicht um das was, es
geht um das, was einen Vergleich mit eigenen Erfahrungen ermöglicht. Etwas
verhält sich wie etwas anderes.
Vollständigkeit des Bildes
Wenn jemand sagt: „Paul ist hyperkinetisch“ oder „Paul ist unbeherrscht und
ungezogen“, urteilt er über das Verhalten von Paul und löst damit Vorurteile
aus, ohne ein Bild von der Situation wiederzugeben, die mit Pauls Verhalten in
einem Zusammenhang steht.
An einem Bild, wie es sich aus der oben angeführten Beschreibung ergibt, kann
der Leser dagegen selber eine Erfahrung machen: „Vorsichtig und zögernd
betritt Paul mit mir zusammen den Therapieraum und ergreift instinktiv meine
Hand“.
Im ersten Fall entsteht durch die Aussage der Eindruck, es gehe um Eigenschaf-
ten von Paul. Sie festigt ein Vorurteil, an das der Leser eigene Vorstellungen
und vielleicht Bilder knüpfen kann, die mit Paul gar nichts zu tun haben. Im
zweiten Fall wird eine Situation dargestellt, an der er und ich beteiligt sind. An
dieser Darstellung gewinnen wir ein Bild.
Das Bild, das sich als Vorstellung einstellt, wenn es heißt: „Paul ist ein ungezo-
gener und frecher Junge“, geht ihm sozusagen voraus und geht mit einem Urteil
einher, dass ihn zu charakterisieren scheint. Dem Bild fehlt etwas Entscheiden-
des: Es beschreibt nicht die Bedingungen der Wahrnehmung, unter denen es ent-
standen ist. Es fehlt der Maßstab oder Kontext, der zu dieser Aussage führt.
Wenn ich sage, ein Ding sei hart wie Stein, habe ich eine Bezugsgröße zur Be-
schreibung seiner Qualitäten eingeführt. Der Aussage „Das ungezogene Kind“
fehlt aber als Bezugsgröße ihr Hintergrund, um zu einem Bild von Paul zu füh-
ren, das mit der Situation in Übereinstimmung steht, in der es seinen Ursprung
hat. Der Hintergrund ist möglicherweise die Schulsituation und die Hilflosigkeit
der Lehrerin angesichts der Tatsache, dass sich Paul nicht in den schulischen
Alltag einzufügen vermag. Dieser Hintergrund tritt aber nicht als Teil der Aus-
sage in Erscheinung.
Ein einfaches Beispiel mag verdeutlichen, worum es geht. Wenn ich sage: „Ich
schrie, weil der Ofen heiß war“, erscheint das als eine absurde Situation. Dage-
gen erschließt sich uns ein Zusammenhang, wenn ich sage: „Der Ofen war so
heiß, dass ich vor Schmerzen schrie, als ich ihn berührte“. Damit sind die beiden
Seiten, die zu dem Bild führen, beschrieben: Der Ofen war heiß und ich weiß
davon, weil ich mich daran verbrannt habe. Der Aussage „Das ungezogene
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 231
Kind“ fehlt dagegen eine Seite, die es vollständig macht, um zu einem Bild zu
führen. In unserem Fall ist ein Bezugspunkt die Lehrerin und ihre Ratlosigkeit
oder Angst, ihre Wut, Unsicherheit oder Ungeduld.
Das Bild, das aus der Darstellung einer Situation hervorgeht, kann also offen-
sichtlich verflochten sein mit Umständen, die nicht die Qualität dessen unmittel-
bar zum Inhalt haben, was wir beschreiben, sondern die Reaktionen, die sie her-
vorrufen. Wenn uns ein Stein auf den Fuß fällt, empfinden wir Schmerz. Wenn
wir vor einer großen Kathedrale stehen, fühlen wir uns überwältigt. Wenn wir
von einem glühenden Sonnenuntergang sprechen, haben wir ein Bild vor uns,
das seelische Empfindungen weckt. Diese Empfindungen sind nicht immer ein-
deutig in Bezug auf die Qualitäten dessen, was wir beschreiben.
Wenn ich sage: „Spinat ekelt mich an“, muss ich nicht davon ausgehen, dass das
allen anderen genauso geht. Was ich sage, bringt nichts über die sinnliche Quali-
tät dessen zum Ausdruck, was mein Gegenstand ist. Es beschreibt eine Miss-
empfindung, die ich habe, wenn ich Spinat esse. Es geht nicht um den Ge-
genstand, sondern um mich. Meine Empfindung kann demzufolge das Bild des-
sen, was ich zu beschreiben suche, trüben. Es kann das Bild aber auch ebenso
klarer hervortreten lassen, wenn sich meine Empfindungen auf Qualitäten mei-
nes Gegenstandes beziehen: „Der Ofen war so heiß, dass ich vor Schmerzen
schrie, als ich ihn berührte“.
Wenn ich ein Bild hervorrufen will, das sich dem anderen mitteilt, kann ich
nicht umhin Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, die sich aus meinen Sin-
neseindrücken ergeben. Wie treffend sie aber den Gegenstand beschreiben, den
ich im Blick habe, hängt davon ab, wie stark sie mit seinen Qualitäten korres-
pondieren. Wenn ich schwitze, weil es so heiß ist, kann meine Empfindung mit
dem Wetter korrespondieren. Wenn mir vor Aufregung heiß ist, korrespondiert
meine Hitze nicht mit dem Wetter, sondern mit meiner Aufregung. Der Bezugs-
punkt des Bildes ist in dem einen Fall die sinnliche Erfahrung, die mir das Wet-
ter vermittelt, im anderen Fall ist der Bezugspunkt meine seelische Verfassung.
Ein Bild entspannt sich offenbar zwischen zwei Polen und kann mehr auf den
einen oder den anderen weisen: Das Bild entsteht zwischen sinnlichem Aus-
druck und psychischer Befindlichkeit. Die Darstellung einer Erfahrung kann ei-
nen sinnlichen, äußeren Ausdruck beschreiben, sie kann aber auch Ausdruck
innerpsychischen Erlebens sein, das sich an ihm entzündet. Das Bild entsteht
gewissermaßen zwischen diesen beiden Seiten. Es beschreibt die Beziehung
zwischen dem innerpsychischen Geschehen und den äußeren Bedingungen. Sei-
ne Schlüssigkeit hängt wesentlich davon ab, ob dieses Verhältnis durch das Bild,
das sich durch die Sprache mitteilt, sichtbar wird.
Ein Bild, das ich von einer Situation wiedergebe, ist folglich erst vollständig,
wenn aus seinem Kontext hervorgeht, worauf es verweist: Verweist die Hitze
232 Peter Sinapius
auf meine Aufregung oder auf das Wetter? Ist das Bild eine Projektionsfläche
für mein seelisches Erleben oder gibt es sinnliche Eindrücke wieder, die zu ei-
nem seelischen Erlebnis führen?
Jede Darstellung aus der kunsttherapeutischen Praxis berührt die Bedingungen
der Interaktion in der Therapie. Ein vollständiges Bild ergibt sich aus ihr erst,
wenn sie die Bezugspunkte, aus denen das Bild hervorgeht, einschließt.
Kongruenz von Inhalt und Sprache
Ein ärztlicher Befund über Paul könnte lauten: „Paul E., geb. 28.5.1988, Befund:
Konfliktgeladene Verhaltensweisen infolge neurotischer Fehlhaltungen …“.
Ein solcher Befund hat eine andere sinnliche Qualität als eine Darstellung vor
dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen mit Paul, wie ich sie eingangs
gegeben habe: „Mir kommt ein kräftiger, großgewachsener und lebhafter Bur-
sche entgegen, dessen Augen leuchten und der über das ganze Gesicht strahlt“.
Ich verwende, um einen Eindruck von dem Jungen zu vermitteln, erfahrungsna-
he Begriffe: „Bursche“, „leuchten“, „strahlen“. Damit entsteht kein patholo-
gisch-diagnostischer Befund, der erfahrungsferne Begriffe verwendet, sondern
ein durchaus lebendiges Bild, das in die Bedingungen einer ganz konkreten In-
teraktion einführt
9
.
Jede sprachliche Darstellung besitzt auch eine sinnliche Qualität, an der wir eine
Erfahrung machen: Die Darstellung kann spröde und trocken sein, sie kann die
Form eines Erlebnisberichts haben und eigene Erfahrungen wiedergeben oder
sie kann auch poetische Züge tragen. Der „objektive“ Befund beschreibt eine
andere therapeutische Beziehung als die, die meine kunsttherapeutische Praxis
bestimmt.
Ein Bericht besitzt eine eigene sinnliche Qualität, die in Übereinstimmung oder
im Gegensatz zu dem stehen kann, was er beschreibt. Es ist also nicht nur ent-
scheidend, was sich uns über die Darstellung mitteilt, sondern auch wie es sich
uns mitteilt: Nicht nur was wir sagen, sondern auch wie wir es zum Ausdruck
bringen, bestimmt das Bild, das die gewinnen, die uns zuhören
10
. Mithin ist ein
wesentliches Kriterium für einen Bricht aus der kunsttherapeutischen Praxis, ob
die Art und Weise, wie wir etwas sagen, kongruent ist mit dem, wovon wir spre-
chen.
9
Eine mögliche Differenzierung, die Geertz (Geertz 1987) für die Beschreibung kultureller
Systeme wählt, ist die Differenzierung in „erfahrungsnahe“ und „erfahrungsferne“ Begriffe.
Während beispielsweise „Liebe“ ein erfahrungsnaher Begriff ist, ist „Objektbeziehung“ ein
erfahrungsferner Begriff.
10
Rogers beschreibt dieses Verhältnis als Kongruenz von Erfahrung und Kommunikation
(Rogers 1973, 330).
Bilder der Sprache – Sprache der Bilder 233
4.
Eine kunsttherapeutische Dokumentation, die sich dem Leser über individuelle
Erfahrungen, über Vorstellungen und eine erlebnisgesättigte Sprache vermittelt,
erzeugt ein Bild von der kunsttherapeutischen Praxis als individuelles Bezie-
hungsgeschehen. Ihr Ziel ist nicht eine objektive Beschreibung therapeutischen
Handelns, die es herauslöst aus dem individuellen Kontext der therapeutischen
Situation, sondern die „Sichtbarmachung“ der situativen Evidenz, durch die the-
rapeutisches Handeln seine Begründung findet. Die Beschreibung erzeugt ein
Bild durch die Art wie sie etwas zur Sprache bringt.
In Hinblick darauf muss eine Dokumentation bestimmte Bedingungen erfüllen,
um mit der beschriebenen Situation in Übereinstimmung zu sein:
- Die Dokumentation muss nachvollziehbar sein. Der Leser muss die Erfah-
rungen, die beschrieben werden, in den Kontext eigener Erfahrungen einord-
nen können.
- Das Bild, das sich aus der Darstellung individueller Situationen ergibt, muss
vollständig sein. Das Bild ist erst vollständig, wenn sich aus seinem Kontext
erschließt, woraus es hervorgeht.
- Die Sprache der Dokumentation muss mit der Situation kongruent sein, auf
die sie verweist und die sie als Bild vermitteln will.
Diese Bedingungen korrespondieren mit Kernkompetenzen kunsttherapeuti-
schen Handelns:
- Die Bedingung, dass eine Dokumentation nachvollziehbar sein muss, korres-
pondiert mit der Fähigkeit des Kunsttherapeuten über Bilder zu kommunizie-
ren oder Bilder zu erzeugen, die mit ästhetischen Gestaltungen und Handlun-
gen verbunden sind.
- Die Vollständigkeit des Bildes in der kunsttherapeutischen Dokumentation
korrespondiert mit der Fähigkeit die Bilder, die in der Kunsttherapie entste-
hen, in ihrem Kontext und ihrem Bezug zu den verschiedenen Ebenen kunst-
therapeutischer Praxis wahrzunehmen.
- Die Kongruenz von Inhalt und Form in der dokumentierten Darstellung kor-
respondiert mit der notwendigen Kongruenz von Erfahrung, Gefühl und
Kommunikation in der kunsttherapeutischen Praxis.
Die hier beschriebene Form wissenschaftlichen Vorgehens hat eine Nähe zu
künstlerischen Gestaltungen, insofern sie sich über die Darstellung sinnlicher
Erfahrungen und Bilder vermittelt. Sie ist verwandt mit Forschungsmethoden
aus der interpretativen Ethnologie und Kulturwissenschaft bis hin zur qualitati-
ven Sozialforschung. Es geht um „das Gestalten von Wirklichkeit in der wissen-
schaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit“.
234 Peter Sinapius
Das Bild, mit dem wir uns beschäftigt haben, gewinnt wissenschaftliche Rele-
vanz, wenn es „als etwas erscheint für jemanden“ (Hildebrandt 1998, 12).
Das Bild, das sich aus einer Dokumentation vermittelt, ist wahr, wenn das, wo-
für es steht, das ist, was wir darin erkennen. So verstanden ist eine Dokumenta-
tion keine naturgetreue „Abbildung“ dessen, wovon sie handelt. Eine Erkenntnis
erschließt sich dem, der eine persönliche Erfahrung an dem Dokument macht: Er
macht sich ein Bild.
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Abbildungen
Abbildung 1: Erwin Wurm, Outdoor Sculpture, Appenzell, 1998: Deutsche Börse Group
Abbildung 2: Erwin Wurm, Keep a cool head, 2003: Museum Moderner Kunst Stiftung