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Familien unter Generalverdacht. Präventionsmaßnahmen für Kinder unter sechs Jahren in Nordrhein-Westfalen (neue Praxis – Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik)

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Abstract

Die gesellschaftlichen Diskurse um den Förderbedarf („Bildungskindheit“) und Schutzbedarf („Risikokindheit“) von Kindern haben zu einem verstärkten Eingreifen des Staates in die Erziehung von Kindern unter sechs Jahren geführt. Die staatlichen Eingriffe und Maßnahmen folgen dabei einer Präventionslogik deren Ziel es ist, problematische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und so eine Basis für passende Interventionen zu schaffen. Der vorliegende Beitrag analysiert exemplarisch zwei Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen: das Kindervorsorge- und Früherkennungsprogramm und die medizinische Schuleingangsuntersuchung. Kennzeichen dieser Maßnahmen ist es, dass sie nicht auf ein individuelles Erziehungsversagen der Eltern reagieren, sondern flächendeckend auf alle Kinder angewandt werden. Für diese beiden Maßnahmen kommt die Analyse zu dem Schluss, dass sie die in sie gesetzten Ziele unzureichend erfüllen. Damit fehlt die Legitimation für die erheblichen Eingriffe des Staates in Erziehungsfragen von Familien und in die Persönlichkeitsrechte von Kindern und Eltern.
Knauf und Knauf: Familien unter Generalverdacht in: Neue Praxis 4/2018
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In: Neue Praxis 4/2018, S. 390-398
Preprint
Helen Knauf, Marcus Knauf
Familien unter Generalverdacht
Präventionsmaßnahmen für Kinder unter sechs Jahren in Nordrhein-Westfalen
Die gesellschaftlichen Diskurse um den Förderbedarf („Bildungskindheit“) und Schutzbedarf („Risikokindheit“)
von Kindern haben zu einem verstärkten Eingreifen des Staates in die Erziehung von Kindern unter sechs Jah-
ren geführt. Die staatlichen Eingriffe und Maßnahmen folgen dabei einer Präventionslogik deren Ziel es ist,
problematische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und so eine Basis für passende Interventionen zu schaf-
fen. Der vorliegende Beitrag analysiert exemplarisch zwei Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen: das Kinder-
vorsorge- und Früherkennungsprogramm und die medizinische Schuleingangsuntersuchung. Kennzeichen die-
ser Maßnahmen ist es, dass sie nicht auf ein individuelles Erziehungsversagen der Eltern reagieren, sondern
flächendeckend auf alle Kinder angewandt werden. Für diese beiden Maßnahmen kommt die Analyse zu
dem Schluss, dass sie die in sie gesetzten Ziele unzureichend erfüllen. Damit fehlt die Legitimation für die er-
heblichen Eingriffe des Staates in Erziehungsfragen von Familien und in die Persönlichkeitsrechte von Kindern
und Eltern.
Einleitung: Kindheit als hochsensible Phase
Kindheit wird heute als eine Phase besonderer Chancen und Potenziale verstanden, deren bestmögli-
che Nutzung eine positive Weichenstellung für den weiteren Lebensweg ermöglicht („Bildungskind-
heit“; Klinkhammer, 2014; Betz/Bischoff, 2018). Zugleich wird Kindheit als eine Lebensphase großer
Verletzlichkeit wahrgenommen, in der Kinder besonders schutzbedürftig und sensibel für Erschütte-
rungen und Störungen sind („Risikokindheit“; Dekker, 2009). Die Lebensphase Kindheit erscheint in
dieser Perspektive als besonders risikobehaftet, weshalb im englischen Sprachraum der Begriff „child-
hood at risk“ Verbreitung gefunden hat (Furedi, 2013). Die Verletzlichkeit von Kindern zeigt sich die-
sem Diskurs zufolge nicht nur in medizinischen Belangen, sondern auch in sozio-emotionaler Hin-
sicht. Verbunden mit dieser Argumentation ist der Befund, dass eine wachsende Zahl von Kindern als
gefährdet („at risk“) diagnostiziert wird, was vor allem auch auf eine Verschiebung der Wahrneh-
mung von Gefährdungen zurückgeführt wird (Dekker, 2009). Betz und Bischoff (2013: 76) verorten
das Reden über Kindheit innerhalb eines „Risikodiskurses“, der durch eine besondere Defizitorientie-
rung gekennzeichnet ist. Kinder werden dabei im Kontext verschiedener „Bedrohungsszenarien“ ge-
sehen (a.a.O.: 77); sie werden als potenzielle Opfer und deshalb Schutzbedürftige verstanden. Dies
bezieht sich zunächst auf Kinder, die besonderen Risikofaktoren ausgesetzt sind (z. B. Armut, Bil-
dungsferne, fehlende deutsche Sprachkenntnisse); „potentiell wird diese Konstruktion aber auch auf
alle Kinder angewandt“ (a.a.O.: 76).
Besonders beigetragen zur Etablierung des Paradigmas der Risikokindheit hat die Berichterstattung in
den Medien über einzelne Fälle von Kindesmissbrauch oder Kindeswohlgefährdung (z. B. Fegert/Zie-
genhain/Fangerau, 2010; Biesel, 2011; Brandhorst, 2015). Diese Berichterstattung hat zu einer starken
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Emotionalisierung bis hin zu moralischer Panik („moral panics“; Thompson, 1998) in der Bevölkerung
geführt, die Kinder verstärkt Gefahren ausgesetzt sieht.
Aufgrund der besonderen Bedeutung der Kindheit und der potenziellen Bedrohung dieser Phase wird
eine besondere Verantwortung des Staates für jedes einzelne Kind festgelegt. Die Politik reagierte
durch die Initiierung von Maßnahmen, die einen besseren Schutz von Kindern gewährleisten sollen.
Dabei beschreitet sie zwei Wege: Zum einen wurden Gesetze erlassen, die Maßnahmen bei einer
konkreten Gefährdung von Kindern vorsehen. So verpflichtet das 2012 in Kraft getretene Bundeskin-
derschutzgesetz (BKiSchG) bestimmte Berufsgruppen (Fachkräfte, Ärzte etc.) eine Gefährdungsein-
schätzung vornehmen, wenn „gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreu-
ten Kindes oder Jugendlichen“ vorliegen. Zum anderen werden Maßnahmen verpflichtend, die alle
Kinder als potenziell gefährdet betrachten (z. B. die in diesem Beitrag betrachteten Maßnahmen).
Diese Maßnahmen folgen prinzipiell einer Präventionslogik, nach der man sich erhofft, dass ein früh-
zeitiges Feststellen von Fehlentwicklung ein besonders effektives Entgegenwirken ermöglicht (Ziegler,
2016).
Fragestellung: Sind die Eingriffe des Staates angemessen?
Der vorliegende Beitrag setzt sich damit auseinander, inwieweit die staatlichen Eingriffe hinsichtlich
ihrer (potenziellen) Einschränkungen von Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten legitim bzw.
grundsätzlich angemessen sind, d. h., inwiefern der Nutzen die negativen Auswirkungen (Aufwand,
Einschränkung von Rechten) rechtfertigt. Dabei wird u. a. an die Arbeiten von Kelle ( Kelle/Seehaus,
2010; Kelle, 2011) und Bollig (2010; 2013) angeknüpft, die die normierende und normalisierende
Wirkung der pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik kulturanalytisch untersucht haben. Anders als dort
liegt der Schwerpunkt dieses Beitrags nicht auf einer Analyse der diagnostischen Prozesse, sondern
auf der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Staat und Eltern, wie es in den untersuchten Maßnah-
men zum Ausdruck kommt. Diese Bewertung erfolgt auf Basis der Analyse von zwei für Kinder unter
sechs Jahren etablierten staatlichen Maßnahmen bzw. Programmen: Kindervorsorge- und Früherken-
nungsprogramme sowie Schuleingangsuntersuchungen. Beide Maßnahmen finden sich (bis auf wenige
Ausnahmen) in allen Bundesländern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018); da ihre Ausge-
staltung sich im Detail von Bundesland zu Bundesland unterscheidet, werden im Folgenden die Maß-
nahmen in Nordrhein-Westfalen als größtes Bundesland exemplarisch betrachtet. Die Maßnahmen
werden einzeln beschrieben und danach beurteilt, ob sie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen.
Ziel des Beitrages ist es, den allgemeinen und theoretischen Diskurs der Sozialen Arbeit über Präven-
tion mit der Analyse und Bewertung konkreter Maßnahmen in einer Gesamtschau zu verbinden.
Kindervorsorge- und Früherkennungsprogramme
Seit 1971 werden Eltern in Deutschland regelmäßige medizinische Früherkennungsuntersuchungen
für Säuglinge und Kinder angeboten (Schmidt, 2016). Ab 2005 wurde die Verbindlichkeit des freiwilli-
gen Angebots in allen Bundesländern erhöht. Auslöser waren zum einen mehrere spektakuläre Fälle
von Kindeswohlgefährdung, die nach allgemeiner Auffassung durch ein frühzeitiges Erkennen der
Problemsituation hätten verhindert werden können. Zum anderen wurden Zahlen veröffentlicht, die
verdeutlichen, dass 3 % der Kinder keine und 16 % nur einen Teil der Untersuchungen nutzen, wobei
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insbesondere Kinder aus Ostdeutschland, Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und aus ar-
men Familien den Untersuchungen fernblieben (Robert-Koch-Institut, 2006). Beide Befunde wurden
miteinander zu einer Lösungsstrategie verknüpft: Es sollte eine höhere Teilnahme an den Untersu-
chungen erreicht werden; diese erhöhte Quote sollte zugleich sicherstellen, dass Fälle von Kindes-
wohlgefährdung aufgedeckt werden. Unter Berufung auf das Kindeswohl wurde deshalb 2006 in ei-
nem Beschluss des Bundesrates eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen ge-
fordert. In der entsprechenden Stellungnahme der Bundesregierung wird festgestellt, dass „die Nicht-
teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen ein Indiz dafür sein kann, dass Eltern der ihnen ob-
liegenden Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachkommen“ (Bundesregierung, 2006). Eine Untersu-
chungspflicht, so heißt es weiter, wird „aus verfassungsrechtlichen und grundsätzlichen Erwägungen
zwar verworfen, zugleich wird in dem Papier eine Untersuchungspflicht unter der Ägide der Bundes-
länder für „möglich“ gehalten. Ein gleiches gilt für ein „verbindliches Einladungswesen“, dessen Einfüh-
rung durch die Länder von der Bundesregierung begrüßt werde (ebd.). In der Folge wurden in 13
Bundesländern Verfahren eingeführt, die die Teilnahme der Kinder an den Untersuchungen verbes-
sern sollten, die so genannten Kindervorsorge- und Früherkennungsprogramme; lediglich in Sachsen-
Anhalt, Baden-Württemberg und Bayern gibt es kein solches Programm (Hock et al., 2013).
Die entscheidende Grundlage für die Identifikation nichtteilnehmender Kinder ist die Meldung der
von ihnen durchgeführte Untersuchungen durch die Kinderärzte. Die Kinderärzte in Nordrhein-
Westfalen sind z. B. sind durch das Heilberufsgesetz verpflichtet, alle Kinder zu melden, die diese Un-
tersuchungen durchführen 27 Abs. 3 ÖGDG NRW und § 32a Heilberufsgesetz). In NRW werden
diese Daten mit den Daten der Meldeämter abgeglichen. Durch dieses aufwändige Verfahren lassen
sich die Kinder identifizieren, die nicht an den Untersuchungen teilgenommen haben; für diesen Ab-
gleich ist die „Zentrale Stelle Gesunde Kindheit“ zuständig. Eltern, die mit ihren Kindern nicht zu ei-
ner Untersuchung erschienen sind, werden schriftlich an die Untersuchung erinnert. Weisen die El-
tern innerhalb einer Frist von drei bzw. sechs Wochen der Zentralen Stelle Gesunde Kindheit nicht
nach, dass die Untersuchung erfolgt ist, werden die Daten an die Kommune weitergegeben, in der
das Kind gemeldet ist (Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, 2018). Die Kommunen be-
auftragen daraufhin in der Regel das Jugendamt damit, entsprechende Maßnahmen einzuleiten (z. B.
Hausbesuche bei den Familien).
Eine systematische Evaluation der Programme auf Bundesebene gibt es nicht (Hock et al., 2013). Die
mittelfristige Entwicklung der Teilnahmequoten an Früherkennungsuntersuchungen zeigt zwar eine
steigende Tendenz (Rattay et al., 2014), die Ursachen sind jedoch unklar. Maßgeblich können hierfür
tatsächlich die Erinnerungsprogramme der Bundesländer sein, ebenso kann der Grund aber auch in
einer besseren Informationspolitik und der Aufnahme der Früherkennungsuntersuchungen in die Bo-
nusprogramme der Krankenkassen liegen (ebd.). Neben der allgemeinen Anhebung der Teilnahme an
den Früherkennungsuntersuchungen ist es jedoch auch ein Ziel, Kinder mit massiven Entwicklungs-
rückständen oder Fälle von Kindeswohlgefährdung zu identifizieren, die an anderer Stelle nicht auffal-
len. Zwar liegt keine Evaluation der Programme auf Bundesebene vor, jedoch wurde in Nordrhein-
Westfalen eine vom zuständigen Sozialministerium beauftragte Evaluation des Programms durchge-
führt (Köhler et al., 2011). Grundlage der Evaluation war eine Stichprobe von 26 000 Familien, die im
Rahmen des Programms als auffällig identifiziert wurden, weil sie an einer oder mehreren Untersu-
chungen nicht teilgenommen hatten. Dabei konnten insgesamt vier Fälle von Kindeswohlgefährdung
entdeckt werden („Indizfunktion der Kindeswohlgefährdung“; a.a.O.: 3). Diese wurden jedoch als
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weniger massiv bewertet, so dass die erkannten Probleme mit Hilfe von Beratung behoben werden
konnten; alle anderen erfassten Fälle waren den Behörden bereits bekannt. Zur Durchführung des
Programmes fielen zu dieser Zeit Kosten von 4,1 bis 4,3 Millionen Euro pro Jahr an (Kosten in den
Arztpraxen, Kosten derZentralen Stelle Gesunde Kindheit"; Köhler et al., 2011); daneben geht das
Ministerium davon aus, dass bei den Jugendämtern 30 Vollzeitstellen in Anspruch genommen werden,
hierzu werden jedoch keine Kosten genannt (ebd.). Auf dieser Basis lassen sich Gesamtkosten von
mindestens 20 Mio. Euro pro Jahr abschätzen. Die in die Evaluierung einbezogenen Stakeholder
(Ärzte, kommunale Spitzenverbände, Landesjugendämter) kommen zu dem Schluss, dass die ange-
wandte Praxis nicht angemessen sei (MfGEPA, 2012): Das Verfahren sei nicht „geeignet, erforderlich
und verhältnismäßig“, Kindeswohlgefährdungen aufzudecken Sie plädieren vielmehr dafür, die „in den
Jugendämtern gebundenen personellen Ressourcen besser für den Ausbau Früher Hilfen im Rahmen
des Bundeskinderschutzgesetzes einzusetzen(a.a.O.: 5).
Neben der Bewertung von Nutzen und Kosten ist in der Evaluation von Köhler et al. (2011) auch ein
Rechtsgutachten enthalten, das zu dem Ergebnis kommt, dass „die einschlägigen Rechtsvorschriften in
Nordrhein-Westfalen nicht geeignet [sind], nicht erforderlich und nicht verhältnismäßig mit Blick auf
das zweite Ziel ‚Identifizierung zusätzlicher Verdachtsfälle auf Kindeswohlgefährdung‘. Sie sind inso-
weit verfassungswidrig.“ (Wabnitz, 2011: 81). Gleichzeitig wurde das Zustandekommen des Gesetzes
über den Verordnungsweg als verfassungswidrig bewertet (Wesentlichkeitstheorie des BVerfG).
Auch der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung weist darauf hin, dass die Gesetzeslage
in Nordrhein-Westfalen verfassungswidrig ist (BMFSFJ, 2013). Trotz dieser insgesamt sehr kritischen
Beurteilung des Programms kam die damalige Landesregierung zu dem Schluss, an dem Programm
grundsätzlich festhalten zu wollen (MfGEPA, 2012).
Anfragen bei Kommunen, dem Landeszentrum Gesundheit (LZG) dem Landesjugendamt in Münster
und dem Ministerium zeichneten auch drei Jahre nach der Evaluation ein ähnliches Bild. In fast 33 000
Fällen wurde 2014 der Sanktionsmechanismus (zunächst in Form eines Erinnerungsschreibens durch
Jugendämter) ausgelöst; je nach Untersuchung waren ca. 15 % der Eltern von Kindern im entspre-
chenden Alter in NRW davon betroffen (Gärtner 2015a). Für die Stadt Bielefeld mit ihren ca. 330
000 Einwohnern berichtet der Leiter des Jugendamtes, dass man keine einzige Kindeswohlgefähr-
dunghat feststellen können und zieht den Schluss, zumindest auf Hausbesuche zukünftig verzichten
zu wollen (ebd.). Das Landesjugendamt Münster wird damit zitiert, dass „die Verordnung in Bezug auf
das Kindeswohl ‚nichts gebracht (habe) außer Arbeit‘. Es sei zudem fragwürdig, eine freiwillige Unter-
suchung mit einem solchen Kontrollsystem zu überziehen und derart viele Eltern unter Generalver-
dacht zu stellen(ebd.). Gleichzeitig berichtet Gärtner (2015b), dass das Ministerium auf eine Anfrage
mitgeteilt habe, an der Regelung festhalten zu wollen. Begründet wird dies damit, dass Kindeswohlge-
fährdungen erkannt werden könnten und es eine „nachweisliche“ Erhöhung der Teilnahmequoten
der Kinder an den Vorsorgeuntersuchungen gäbe (ebd.). Genau dieser Einschätzung wird jedoch von
fachlicher Seite widersprochen: Kindler und Sann (2011: 7) weisen darauf hin, dass die Untersuchun-
gen „weder ein Screening auf psychosoziale Risiken [beinhalten] noch weisen sie eine gesicherte Aus-
sagekraft beim Erkennen früher Regulations-, Verhaltens- und Interaktionsstörungen auf, die für die
Genese von Vernachlässigung beziehungsweise Misshandlung besonders wichtig sind.“ Deshalb „dürf-
ten eventuelle Kinderschutzeffekte verbindlicher Einladungssysteme sehr begrenzt sein“ (ebd.). Insge-
samt, so kann man die bislang vorgebrachte Evaluation und Kritik zusammenfassen, stehen hier Auf-
wand und Nutzen in einem sehr ungünstigen Verhältnis zueinander.
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Schuleingangsuntersuchungen
In allen Bundesländern werden vor Beginn der Schulpflicht von den Gesundheitsämtern Reihenunter-
suchungen aller Kinder durchgeführt, bei denen der körperliche und geistige Entwicklungsstand der
Kinder erfasst werden soll. Die Untersuchung verbindet mehrere Ziele: Auf Ebene des einzelnen Kin-
des soll ein eventueller Unterstützungs- und Förderbedarf diagnostiziert werden (individualdiagnosti-
sches Ziel; Wattjes et al., 2018); auf gesamtgesellschaftlicher Ebene soll die Totalerhebung zum Ge-
sundheitsstand eines Altersjahrgangs zu umfassenden statistischen Daten führen (epidemiologisches
Ziel; Kelle, 2011). In 14 von 16 Bundesländern werden diese Untersuchungen verpflichtend gehand-
habt; in Bayern und Niedersachsen liegt die Entscheidung bei der das Kind aufnehmenden Schule
(Fachbereich IX Gesundheit, 2006). Die Verpflichtung ergibt sich durch die jeweiligen Schulgesetze
der Länder, wobei die Rechtsgrundlagen in den Bundesländern teilweise nicht eindeutig und auch um-
stritten sind (ebd.).
Bereits seit den 1990er Jahren gibt es eine umfangreiche Kritik an der Schuleingangsuntersuchung
(vgl. hierzu ausführlich Wattjes, 2018). In jüngerer Zeit zeigte Kelle (2011) anhand einer empirischen
Untersuchung, dass sich gerade aus der Kombination individualdiagnostischer und epidemiologischer
Zielsetzungen Widersprüche ergeben, die zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Bereits 1996
schlugen Hurrelmann und Palentien deshalb vor, die Reihenuntersuchungen durch Untersuchungen
mit repräsentativen Stichproben zu ersetzen, um Kosten und Nutzen in ein angemesseneres Verhält-
nis zu setzen (Hurrelmann/Palentien, 1996). Wattjes et al. (2018: 310) diskutieren, ob die in die Schu-
leingangsuntersuchungen fließenden „Ressourcen nicht zielführender im Sinne der Kindergesundheit
eingesetzt werden sollten“.
Eine umfassende Evaluation des Nutzens und der Verhältnismäßigkeit der Schuleingangsuntersuchung
hat bislang nicht stattgefunden. So liegen auch keine Daten vor, welcher Aufwand mit den Schulein-
gangsuntersuchungen verbunden ist. Daher soll an dieser Stelle eine Abschätzung des Aufwands er-
folgen. Ausgehend von einer vorgesehenen Untersuchungszeit von mindestens 60 Minuten (laut Stan-
dardschreiben des Gesundheitsamts Bielefeld; plus Vor- und Nachbereitung) ergibt sich bei dem ak-
tuellen Geburtsjahrgang in NRW von ca. 170.000 Kindern landesweit ein Arbeitszeitaufwand von
überschlägig ca. 200 Vollzeitstellen für Schulärztinnen und Schulärzte. Kalkuliert man die Vollkosten
mit 200.000 Euro pro Stelle und Jahr bei Einbeziehung einer zugehörigen Administration inklusive
Gemeinkosten, dann ergeben sich Kosten von 40 Mio. Euro pro Jahr für die Kommunen in Nord-
rhein-Westfalen; selbst bei einem sehr konservativen Ansatz von 100.000 Euro pro Stelle und Jahr,
lägen die Kosten bei 20 Mio. Euro pro Jahr. Hinzu kommt der Zeitaufwand, der für die Eltern ent-
steht, die ihre Kinder zu der Untersuchung begleiten (Arbeitsausfall etc.). Neben diesen materiellen
Kosten ist auch zu berücksichtigen, dass die Schuleingangsuntersuchungen mit Belastungen und Ängs-
ten in den Familien verbunden sein können.
Diesem monetären und emotionalen Aufwand ist der erzielte Nutzen gegenüberzustellen. Dazu sind
die beiden Ziele der Schuleingangsuntersuchung zu bewerten: das individualdiagnostische Ziel und das
Ziel, gesundheitsstatistische Daten zu gewinnen. Die Ergebnisse von Kelle (2011) zeigen systemati-
sche Messfehler bei der Beurteilung und deuten darauf hin, dass die Reliabilität und Validität der er-
hobenen Daten zumindest fraglich ist und „zu statistischen Ungenauigkeiten und diagnostischen Rele-
vanzverschiebungen führt, die für eine seriöse Gesundheitsberichterstattung, aber auch für adäquate
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Fördermaßnahmen Probleme aufwirft.“ (a.a.O.: 260). Sowohl für die individuelle Diagnostik als auch
für die Erhebung statistischer Daten erscheint die Schuleingangsuntersuchung insofern als unzuläng-
lich. Wattjes et al. (2018) geben zu bedenken, dass sich durch die zunehmende Migration und die An-
forderungen durch Inklusion veränderte Rahmenbedingungen ergeben, die insbesondere die Aussage-
kraft der durch die Untersuchung gewonnenen gesundheitsstatistischen Daten fraglich erscheinen
lässt. Für die Umsetzung des Vorschlags, Untersuchungen mit repräsentativen Stichproben durchzu-
führen (Hurrelmann/Palentien, 1996; s.o.) bietet die Gesundheitsberichterstattung des Bundes mitt-
lerweile eine Basis. Sie erfolgt federführend durch das Robert-Koch-Institut, das mit den regelmäßig
durchgeführten „Studien zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KIGGS) seit
2006 belastbare Zahlen zum Gesundheitszustand von Kindern zur Verfügung stellt (zuletzt Frank et
al., 2018).
Diskussion
Die beiden beschriebenen staatlich veranlassten Maßnahmen haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie
folgen einer Präventionslogik, deren Ziel es ist, problematische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen
und so eine Basis für passende Interventionen zu schaffen. Dabei werden alle Kinder alsRisikosub-
jektebehandelt, denn die Prävention „richtet sich nicht direkt auf ein Problem als solches, sondern
auf die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens“ (Ziegler, 2016: 249). Deshalb werden alle Kinder einer
Prüfung und Vermessung unterzogen, auch wenn es für die deutliche Mehrheit keine Hinweise auf ein
Risiko (hinsichtlich ihrer kognitiven, sozialen und motorischen Entwicklung) gibt. Die staatlichen Ein-
griffe bestehen also nicht in einer Reaktion auf individuelles Erziehungsversagen der Eltern, sondern
die Intervention wird flächendeckend auf alle Kinder angewandt. Damit deutet sich eine Verschiebung
des Verhältnisses von Individuum und Staat an, bei dem die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein
eigenes Handeln bzw. die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder an einen umfassend fürsorgenden
Staat übergeht, der prinzipiell immer aktiv ist. Buschhorn (2018: 798) konstatiert eine „(notorische)
Defensiv- und Defizitorientierung der Präventionsabsicht“. Dieses grundsätzliche Prinzip der Defizito-
rientierung stellt alle Kinder bzw. Familien unter den Verdacht der Fehlentwicklung (Holthusen et al.,
2011). Um eine sich daraus ergebende stigmatisierende Wirkung, wie sie Ziegler (2016) benennt, zu
vermeiden, bezieht man alle Kinder und Familien in die Prävention mit ein. Daher beziehen sich die
beiden beschriebenen Maßnahmen auf alle Kinder bzw. Familien und nicht auf zuvor definierte „Risi-
kofälle“. Mit diesem egalitären Ansatz scheint die Gefahr der Stigmatisierung (Holthusen et al., 2011)
zunächst abgewendet zu sein; der Preis besteht jedoch darin, dass alle Kinder bzw. Familien unter ei-
nen Generalverdacht gestellt werden.
Das Prinzip der Prävention greift die in der Einleitung beschriebene Vorstellung der Risikokindheit
auf, nach der das grundsätzlich als unfertig und schwach wahrgenommene Kind des besonderen
Schutzes bedarf. Die gerade in Diskussionen über den Kinderschutz zum Ausdruck kommende mora-
lische Panik (Klein et al., 2018) erzeugt einen besonderen Handlungsdruck, dem der Staat durch Kon-
trolle nachkommt. In der traditionellen Sichtweise sind es die Eltern, die diesen Schutz sicherstellen;
die hier diskutierten Beispiele zeigen jedoch, dass Eltern der verantwortliche Umgang mit dieser Auf-
gabe nicht (mehr) grundsätzlich zugetraut wird, sondern der Eingriff staatlicher Stellen für notwendig
gehalten wird. So findet ein Perspektivenwechsel von Hilfe bei konkretem Versagen im Einzelfall zur
Konstruktion eines grundsätzlich hilfebedürftigen Kindes und auch einer grundsätzlich
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hilfebedürftigen Familie statt. Die Neujustierung des Sozialen für die Felder der Sozialen Arbeit deu-
tet Marks (2018) als Ausdruck einer neuen Verhältnissetzung der bisherigen wohlfahrtsstaatlichen
Gouvernementalität (mit Verweis auf Kessl, 2011). Diese Deutung wird insbesondere auch dadurch
erhärtet, dass der Staat trotz fundierter, langanhaltender und massiver Kritik an den analysierten
Maßnahmen beharrlich festhält.
Für die in diesem Beitrag beschriebenen Maßnahmen zeigt sich, dass sie die in sie gesetzten Erwar-
tungen nicht oder im Sinne von Ressourceneffizienz unzureichend erfüllen. Der Begriff der Ressour-
ceneffizienz wird hierbei auch ökonomisch verstanden, denn er verweist auf die prinzipielle Begrenzt-
heit der zur Verfügung stehenden Mittel. Dabei wird deutlich, dass in diesen Maßnahmen Mittel fehl-
allokiert werden. Sie fließen in ein Diagnose- und Kontrollsystem und fehlen damit zur Unterstützung
der Hilfsbedürftigen. Spitzt man die Kritik weiter zu, dann können die Präventionsmaßnahmen auch
als Mittel gesehen werden, um tatsächlich bestehende Ungleichheitsverhältnisse zu verschleiern und
die gezielte Verbesserung ungünstiger und prekärer Lebenssituationen von Familien zu verhindern.
Geht man davon aus, dass die Maßnahmen ihre Ziele nicht erreichen, fehlt den Präventionsmaßnah-
men die Legitimation für die erheblichen Eingriffe des Staates in Erziehungsfragen von Familien und in
die Persönlichkeitsrechte von Kindern und Eltern. Der Erziehungsauftrag der Eltern leitet sich aus
Artikel 6 (2) des Grundgesetztes ab, der den Eltern das vorrangige Recht der Pflege und Erziehung
ihrer Kinder zuerkennt; nur bei erheblicher Kindeswohlgefährdung ist ein staatlicher Eingriff legiti-
miert. Artikel 6 GG wird durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt;
dem Staat wird darin lediglich ein Wächteramt zugewiesen (z. B. BVerfG 1968). Da die beschriebe-
nen Maßnahmen die in sie gesteckten Ziele nicht erfüllen, sind die Maßnahmen verfassungsrechtlich
problematisch. Wie oben schon zitiert, verwendet das Rechtsgutachten zur Kontrolle der nordrhein-
westfälischen Vorsorgeuntersuchungen (Wabnitz, 2011: 81) hier explizit den Begriff „verfassungswid-
rig“. Zu diesem Urteil kommt das Rechtsgutachten, weil „die Rechtsvorschriften … nicht geeignet,
nicht erforderlich und nicht verhältnismäßig mit Blick auf das angestrebte Ziel sind(s. o.). Beurteilt
man auch die Schuluntersuchung danach, ob sie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist, so
stellt sich vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag erfolgten Analyse die Frage, ob man sie nicht
ebenso als verfassungswidrig beurteilen muss, wie es das Rechtsgutachten in Bezug auf die nordrhein-
westfälischen Vorsorgeuntersuchungen tut.
Während Artikel 6 GG den Erziehungsauftrag zuerst bei den Eltern sieht und den Staat auf sein
Wächteramt beschränkt, so definiert Artikel 7 (1) GG einen staatlichen Erziehungsauftrag, der das
Schulwesen unter die Aufsicht des Staates stellt. Der Staat ist in Bezug auf die Schule nicht mehr auf
sein Wächteramt beschränkt; der elterliche und staatliche Erziehungsauftrag sind gleichgestellt (Bun-
desverfassungsgericht, 2008). Mit dem Schuleintritt von Kindern erlangt der Staat damit umfassen-
dere Erziehungsrechte. Der staatliche Eingriff in die Erziehung schon vor Eintritt der Schulpflicht mit
dem 6. Geburtstag kann deshalb auch so gedeutet werden, dass die Prinzipien der Institution Schule
zunehmend auf jüngere Kinder ausgedehnt werden. Dieser Prozess wird durch die zunehmende Insti-
tutionalisierung im Zuge des Ausbaus der Betreuung von Kindertageseinrichtungen befördert. Die
Forderung der OECD (2017) nach einer stärken Verschmelzung vorschulischen und schulischen Ler-
nens durch die Herstellung von Kontinuität in pädagogischer, curricularer und personeller Hinsicht
zeigt, dass eine systematische Differenzierung zwischen Kindern in der Schule und Kindern in Kinder-
tageseinrichtungen (wie sie im deutschen Verfassungsrecht angelegt ist, s. o.) in Frage gestellt wird.
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Schuleingangsuntersuchung und Vorsorgeprogramme sind zwei Beispiele für die Bedeutung nicht nur
einer präventiven, sondern auch einer diagnostischen Logik. Diese bislang üblicherweise in der Medi-
zin und Psychologie angewandten Prinzipien und Methoden gewinnen auch in der Pädagogik an Be-
deutung. So zeigt sich etwa an der Einführung von Sprachstandserhebungen bei allen Kindern vor der
Einschulung in acht Bundesländern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018), dass das medi-
zinische bzw. psychologische Vorgehen mit seiner Präventivlogik auch Einzug in die Bildungsarbeit in
Kindertageseinrichtungen hält. Dies kann als Einleitung eines Wandels verstanden werden, bei dem
die Neudefinition der Kindertageseinrichtung als Bildungseinrichtung mit der Notwendigkeit einer
bereichsspezifischen Individualdiagnostik verknüpft wird. Die Sprachstandsdiagnostik ist dabei bei-
spielhaft zu sehen für die zunehmende Anwendung diagnostischer Verfahren in Kindertageseinrich-
tungen, wie sie auch im „Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertagesein-
richtungenvorgesehen sind, wo die systematische Beobachtung zur Identifikation von Stärken und
Schwächen in den einzelnen Bildungsbereichen angestrebt wird (JMK/KMK, 2004: 5).
Der Beitrag hat gezeigt, dass die Sichtweise auf Kindheit als Risikokindheit zur Etablierung einer Prä-
ventionslogik geführt hat. Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass diese Präventionslogik zur Errei-
chung der Ziele, für die sie gedacht sind, ungeeignet ist. Es ist überraschend, warum trotz der von
Experten und Stakeholdern vorgebrachten massiven Einwände an den beschriebenen Maßnahmen
festgehalten wird. Die Ursachen hierfür sind unklar. Ein Grund mag darin liegen, dass der Verweis auf
gefährdete Kinder eine besondere Bedrohungswirkung entfaltet, so dass dieses Bedrohungsszenario
einer rationalen und unterschiedliche Rechtsgüter differenziert gegeneinander abwägenden Auseinan-
dersetzung im Weg steht. Eine Diskussion über die Legitimation staatlicher Eingriffe in Erziehungsfra-
gen von Familien würde angesichts der aufkommenden moralischen Panik als nicht angemessen emp-
funden. Zum anderen gibt es natürlich auch Nutznießer der Maßnahmen. Dies sind zum Beispiel nie-
dergelassene Kinderärzte, deren Patienten zu Vorsorgeuntersuchungen motiviert werden; das sind
Verlage, die Testverfahren veröffentlichen, aber ebenso ist es die Wissenschaft, für die die Auseinan-
dersetzung mit solchen Diagnoseverfahren ein Hauptarbeitsgebiet geworden ist.
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Literatur
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keit der Vorsorgeuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls (BR-Drs. 56/06). Berlin
Bundesverfassungsgericht. 2008: Gleichordnung des staatlichen Erziehungsauftrags in der Schule und des elterlichen Erzie-
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Chapter
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Im Handlungsfeld Förderung der Erziehung in der Familie werden sehr vielfältige und heterogene Unterstützungssettings – von Angeboten zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz über Beratungen in konkreten Belastungssituationen bis hin zu stationären Hilfen – in pluralen Strukturen subsumiert. Der Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes entsprechend, präventive Angebote der in den Fokus zu rücken und gesetzlich zu verankern, widmet das SGB VIII den Leistungen zur ressourcenorientierten Förderung, zum Aufbau von Kompetenzen für die eigenverantwortliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zur Entlastung von Familien – im Vorfeld der Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) – mit den §§ 16 bis 21 SGB VIII einen eigenen Abschnitt.
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In diesem Beitrag bildet das Verfassungsrecht die Quelle für die Untersuchung einer gesellschaftlichen Konstruktion des Typus Kind. In Anlehnung an Alfred Schütz (1971) werden Recht und Gesetz als institutionalisierte Konstruktionen von gesellschaftlich bewährten Verhaltensmustern verstanden. Daran anknüpfend wird im folgenden Text aufgezeigt, dass über die verfassungsrechtliche Konstruktion des Kindes als Grundrechtsträger mit besonderer Hilfs- und Schutzbedürftigkeit ein Paternalismus sowie weitreichende Bestimmungsbefugnisse durch Eltern und Staat legitimiert werden. Diese und weitere Konstruktionen des Verfassungsrechts werden mit den Befunden aus der Kindheitssoziologie und -forschung diskutiert. Abschließend werden die Möglichkeiten und Herausforderungen für die Praktiken und Praxen des sozialpädagogischen Kinderschutzes resümiert, deren demokratische Legitimität auf der verfassungsrechtlichen Ordnung beruht.
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Zusammenfassung In Deutschland wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Untersuchung der Schulanfänger, die Schuleingangsuntersuchung, etabliert. Lag zunächst der Fokus auf dem Ausschluss von Infektionserkrankungen und Gesundheitsproblemen, die den Schulbesuch erschweren könnten bzw. sich im Lauf des Schulbesuchs verschlechtern könnten, trat Mitte des 20. Jahrhunderts das Konzept der Schulreife in den Vordergrund. Dabei wurden unterschiedliche „Schulreife-Konzepte“ angewandt, die inzwischen wieder verlassen wurden, da sie einer Evaluation nicht standhielten. Inzwischen wurde auch das Konzept der „Schulreife“ durch das Konzept der „Schulfähigkeit“ ersetzt. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern mit welchen Hilfen und welcher Förderung ein Kind einzuschulen ist. Heute umfasst die Schuleingangsuntersuchung in praktisch allen Bundesländern neben einer Anamnese die Erfassung des Vorsorge- und des Impfstatus, einen Seh- und Hörtest sowie als besonderen Schwerpunkt die Beurteilung der Entwicklung der Kinder und des individuellen Förderbedarfs– insbesondere im Bereich der Visuomotorik, der Kognition und der Sprache. In fast allen Bundesländern macht die Schuleingangsuntersuchung einen Großteil der Arbeit des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes aus und bindet erhebliche Ressourcen. In der vorliegenden Arbeit wird dies kritisch diskutiert und ein Diskurs angeregt, ob diese Ressourcen nicht zielführender im Sinne der Kindergesundheit eingesetzt werden sollten angesichts geänderter gesellschaftlicher Bedingungen wie der in vielen Bundesländern verpflichtenden Wahrnehmung der Kinder-Vorsorgeuntersuchungen, der Zunahme von Seiteneinsteigenden aus anderen Ländern, insbesondere auch von Asylsuchenden, oder der Inklusion mit Schließung der Förderschulen und den damit verbundenen großen Herausforderungen in den Regelschulen.
Chapter
Mit der Konkretisierung des staatlichen Kinderschutzauftrags im Jahr 2005 (§ 8a SGB VIII) ging nicht nur ein Organisationswandel der Hilfen hin zu multiprofessioneller Zusammenarbeit (z.B. Frühe Hilfen, NZFH 2017) einher, sondern auch ein Funktionswandel hin zu mehr Kontrolle von Eltern (z.B. Chassé 2008). Zeitgleich wird in der Debatte um die ‚neue Unterschicht‘ unter Bezug auf Kinderschutz und Kindeswohl gerade das Handeln von Eltern zum Dreh- und Angelpunkt von Skandalisierungen und Moralisierungen, die nicht selten mit der Forderung stärkerer präventiver Sicherheits- bzw. Beobachtungs- und Kontrollmaßnahmen einhergehen (Richter u.a. 2009).
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Gegenwärtig sind markante Veränderungen in der öffentlich verantworteten Bildung, Betreuung und Erziehung von (kleinen) Kindern in Deutschland und europaweit beobachtbar wie z. B. der massive Ausbau des Betreuungssystems und eine steigende Zahl an Hilfs- und Förderangeboten für Eltern. Diese Veränderungen sind Phänomene des Sozialinvestitionsstaats, dessen Ziel Investitionen in das Humankapital sind, welches möglichst früh aktiviert und genutzt werden soll. Damit rückt auch die (frühe) Kindheit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und bildungs- und sozialpolitischen Handelns. Die EDUCARE-Studie fokussiert in diesem Kontext die bildungsbezogenen Vorstellungen ‚guter‘ Kindheit aus der Perspektive unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, von frühpädagogischen Fachkräften, Lehrkräften, Eltern und Kindern. Zugleich werden gegenwärtige Leitbilder ‚guter‘ Kindheit im politischen Feld untersucht. Dabei wird ‚Kindheit‘ als veränderliches gesellschaftliches Muster und als Diskurs verstanden. Der Beitrag beantwortet die Frage, wie sich Leitbilder einer ‚guten‘ Kindheit in bundespolitischen Regierungsdokumenten konstituieren und welche Erwartungen, Handlungsaufforderungen und Aufgaben sich mit diesen Leitbildern einerseits für Kinder und andererseits für Erwachsene (Fach- und Lehrkräfte sowie Eltern) verknüpfen. Im Ergebnis lassen sich zehn unterschiedliche, aber miteinander verschränkte Leitbilder rekonstruieren, die einen gesamtgesellschaftlichen, wünschenswerten Zukunftshorizont darstellen. Fünf dieser Leitbilder werden im Beitrag vorgestellt. Ein zentraler Befund ist, dass politische Strategien immer auf Erwachsene gerichtet sind, Kinder haben keine eigenständige Position als Kinder. Sie sind Objekte politischen und pädagogischen Handelns.
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Die These, die in diesem Beitrag im Kontext der Themenstellung des gesamten Bandes zur Diskussion gestellt wird, lautet: In den vergangenen Jahren ist für den Bereich der Straf- wie Sozialisationsleistungen eine neue Strafbereitschaft (Punitivität) zu beobachten (vgl. Wacquant 2009) – allerdings ist diese neue Punitivität kein Phänomen, das objektivistisch als Realität der „mehr, härtere(n) oder längere(n) Strafen“ (Heinz 2011: 14) gefasst werden kann. So erkenntnisreich die empirische Überprüfung gestiegener Strafmaßnahmen ist, wie sie beispielsweise Wolfgang Heinz (2011: 27) in seinen Überlegungen jüngst in der Neuen Kriminalpolitik zu der Einschätzung gebracht hat, dass es sich bei der „zunehmenden Punitivität“ um einen „zwar dem Zeitgeist entsprechenden, empirisch aber nicht hinreichend belegten Mythos“ handelt, so verkürzt bleibt eine solche Analyse auch. Denn eine derartige Einschätzung macht doch allzu leicht übersehen, dass für die Bestimmung des Grades und der Gestalt gegenwärtiger Strafbereitschaft nicht ausschließlich die Steigerungstendenz von Anzeige- und Inhaftierungsraten fokussiert werden sollte.
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Der Präventionsbegriff hat für die Pädagogik, die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik einen besonderen Reiz. Er lässt sich als Synonym für eine Praxis verstehen, die mit einem sensiblen Blick gegenüber problematischen Entwicklungen bemüht ist, frühzeitig die „richtigen“ und „notwendigen“ Reaktionen zu veranlassen. Für Prävention zu sein, heißt zunächst einmal gegen problematische, unerfreuliche, ungerechte oder einfach schlechte Entwicklungen zu sein, unabhängig davon, ob es sich dabei um Armut oder Karies, Terrorismus oder Ladendiebstahl handelt. Da sich nun alles zum Schlechten hin entwickeln kann—und auch unabhängig davon Vorsicht immer klüger und verantwortungsvoller erscheint als Nachsicht -, hat derjenige, der „mehr Prävention“ fordert, sachlich wie moralisch zunächst immer Recht.