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Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken - eine kombinierte Längsschnitt-Querschnittstudie in der Grundschule

Authors:

Abstract

Basierend auf empirischen psychologischen und linguistischen Forschungsbefunden (Schründer-Lenzen, 2013) wird der Frage nachgegangen, ob der Unterricht nach verschiedenen Rechtschreibdidaktiken zu unterschiedlichen Lernleistungen im Verlauf der Grundschule führt. Die Rechtschreibleistungen von Grundschulkindern, die entweder mit einem systematischen Fibelansatz, dem freien Konzept Lesen durch Schreiben oder mit der Rechtschreibwerkstatt unterrichtet wurden, wurden analysiert, wobei letztere den Spracherfahrungsansatz verfolgen. Es interessierte ferner, ob sich zwischen den Didaktikgruppen die intrinsische Schreib- und Lesemotivation unterschied, da Vertreter des Spracherfahrungs-ansatzes hier einen Vorteil ihrer Methode gegenüber dem Fibelansatz postulieren.
Ergebnisse
Studie 1 Längsschnitt Rechtschreibleistung
Mittelwertsvergleiche der Phonologischen Bewusstheit und der
Buchstabenkenntnis zu Beginn der ersten Klasse offenbarten
signifikant höhere Vorkenntnisse der Lesen-durch-Schreiben-
Kinder in beiden Dimensionen. Varianzanalytisch ergaben sich
signifikante Haupteffekte der Phonologischen Bewusstheit
F(1, 277)=10,554, p<.001,η²partiell=.037, Buchstabenkenntnis
F(1, 277)=39,930,p<.001,η²partiell=.126 und der Didaktik
F(2, 277)=45,418, p<.001,η²partiell=.247. Die Familiensprache
wirkte sich nicht signifikant aus. Die Varianzanalysen und
anschließenden Post-hoc-Tests ergaben für die Fibelgruppe eine
signifikante Überlegenheit gegenüber den beiden anderen
Didaktikgruppen. Die längsschnittliche Analyse offenbarte, dass
die Fibelkinder bei allen 5 Messzeitpunkten der HSP signifikant
bessere Rechtschreibleistungen mit meist großem Effekt im
Vergleich zu den Gruppen erbrachten, die mit der Rechtschreib-
werkstatt oder der Lesen durch Schreiben Methode unterrichtet
worden waren. Rechtschreibwerkstatt- und Lesen-durch-
Schreiben-Kinder unterschieden sich zu keinem Zeitpunkt
signifikant in ihren Leistungen.
Studie 2 Querschnitt Rechtschreibleistung
Die querschnittlichen Analysen untermauern diesen Befund für
jeden der 7 Messzeitpunkte der HSP. Besonders die Kinder der
Rechtschreibwerkstattgruppe erzielten selten HSP-Werte im
oberen Quartil der Gesamtgruppe. Dagegen gehörten sie über-
proportional häufig zum unteren Quartil im Hinblick auf die Recht-
schreibleistung.
Studie 3 Querschnitte
Lese- und Schreibmotivation
Die Ergebnisse zur intrinsischen Schreib- und intrinsischen Lese-
motivation der Kinder unterschieden sich nicht signifikant zwi-
schen den 3 Gruppen.
Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken
eine kombinierte Längsschnitt-Querschnittstudie in der Grundschule
Tobias Kuhl & Una M. Röhr-Sendlmeier
Universität Bonn, Institut für Psychologie
Theorie
Basierend auf empirischen psychologischen
und linguistischen Forschungsbefunden
(Schründer-Lenzen, 2013) wird der Frage
nachgegangen, ob der Unterricht nach ver-
schiedenen Rechtschreibdidaktiken zu unter-
schiedlichen Lernleistungen im Verlauf der
Grundschule führt. Die Rechtschreibleistun-
gen von Grundschulkindern, die entweder
mit einem systematischen Fibelansatz,dem
freien Konzept Lesen durch Schreiben
oder mit der Rechtschreibwerkstatt
unterrichtet wurden, wurden analysiert,
wobei letztere den Spracherfahrungsansatz
verfolgen. Es interessierte ferner, ob sich
zwischen den Didaktikgruppen die intrin-
sische Schreib- und Lesemotivation unter-
schied, da Vertreter des Spracherfahrungs-
ansatzes hier einen Vorteil ihrer Methode
gegenüber dem Fibelansatz postulieren.
Methode
Insgesamt 3084 Grundschulkinder aus 12
Schulen in NRW nahmen an der Studie teil,
ein schriftliches Einverständnis wurde
eingeholt. Die Eltern erhielten darüber
hinaus einen Fragebogen zur Erfassung
demografischer Daten.
Studie 1 Längsschnitt
Rechtschreibleistung
Zu Beginn der ersten Klasse wurden
Schulanfängerinnen und -anfänger im
Hinblick auf ihre Phonologische Bewusstheit
und Buchstabenkenntnis mit dem „Rundgang
durch Hörhausen“ (Martschinke, Kirschhock
& Frank, 2008) einzeln getestet. Seit Ende
der ersten Klasse wurden halbjährlich die
Rechtschreibleistungen mithilfe der jeweils
altersgemäßen Version der „Hamburger-
Schreib-Probe“ (HSP, May, 2013) im Klas-
senverband erhoben. Von 8 getesteten
Kindern fehlten Angaben zur Familienspra-
che, weshalb sie aus der Längsschnittana-
lyse ausgeschlossen werden mussten. Somit
ergab sich eine Stichprobe von N1=284 mit
84 Fibelkindern, 79 Lesen-durch-Schreiben-
Kindern und 121 Rechtschreibwerkstatt-
kindern. Die Ergebnisse aus der HSP gingen
z-standardisiert in die ANCOVA mit Mess-
wiederholung ein, wobei die Phonologische
Bewusstheit, die Buchstabenkenntnis und
die Familiensprache als Kovariaten dienten,
um Vorerfahrungen zu kontrollieren.
Studie 2 Querschnitt
Rechtschreibleistung
Ergänzend wurden im querschnittlichen
Vergleich die HSP-Daten von anderen
N2=2800 Kindern der drei Didaktikgruppen
aus 7 Messzeitpunkten mit ANOVAs vergli-
chen: insgesamt 600 Fibelkinder, 432 Lesen-
durch-Schreiben-Kinder und 1768 Recht-
schreibwerkstattkinder.
Studie 3 Querschnitte
Lese- und Schreibmotivation
Zu je einem Messzeitpunkt wurden sowohl
die intrinsische Schreib- als auch die intrin-
sische Lesemotivation (teils angelehnt an
McElvany, Kortenbruck & Becker, 2008) der
Kinder auf 4-stufigen Likert-Skalen im
Anschluss an die HSP erfasst: insgesamt
493/390 Fibelkinder, 301/183 Lesen-durch-
Schreiben-Kinder und 1187/890 Recht-
schreibwerkstattkinder.
Diskussion
Die Ergebnisse beider Studien sprechen
deutlich für die Überlegenheit des Unter-
richts mit einem Fibelansatz. Nicht nur
waren die Rechtschreibleistungen der syste-
matisch angeleiteten Kinder besser als die
der anderen Didaktikgruppen, und zwar mit
überwiegend großem Effekt; sondern auch
die Streuung der Werte war in der Fibel-
gruppe weit geringer. Sehr viele Kinder
scheinen demnach von dieser Lehrmethode
zu profitieren, obwohl sie zu Beginn der
Schulzeit weniger Vorkenntnisse hatten als
die Lesen-durch-Schreiben-Kinder. Die in der
Studie ermittelten Ergebnisse der
Rechtschreibtestungen wurden aus ethi-
schen Gründen an die Schulen zurück-
gemeldet. Dies betrifft jedoch alle unter-
suchten Kinder gleichermaßen. Sowohl die
intrinsische Schreib- als auch die intrinsische
Lesemotivation der Fibelkinder waren jeweils
nicht geringer als die der Kinder, die nach
einem der beiden Spracherfahrungsansätze
unterrichtet worden waren. Die vorliegenden
Daten widerlegen die Grundannnahme des
Spracherfahrungsansatzes, ein frühes Korri-
gieren von Rechtschreibfehlern demotiviere
die Kinder, sich mit Schriftsprache ausein-
anderzusetzen.
Insgesamt kann basierend auf den Ergeb-
nissen dieser längsschnittlichen wie quer-
schnittlichen Analysen ein Rechtschreib-
unterricht mit den beiden Didaktiken des
Spracherfahrungsansatzes Lesen durch
Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt
nicht uneingeschränkt empfohlen werden.
Die Didaktik Rechtschreibwerkstatt führt bei
vielen Kindern in der vorliegenden Stich-
probe nachweislich zu besonders geringen
Rechtschreibleistungen.
Wünschenswert wäre die Durchführung einer
bundesweiten repräsentativen Längsschnitt-
analyse über die Auswirkungen ver-
schiedener Didaktiken auf die Rechtschreib-
leistungen von Kindern mit einem Test-
verfahren, welches die Betrachtung von
Lernkurven ermöglicht, um die vorliegenden
Ergebnisse noch besser absichern und
generalisieren zu können.
Literatur
Martschinke, S., Kirschhock, E. & Frank, A.
(2008). Der Rundgang durch Hörhausen.
Donauwörth: Auer.
May, P. (2013). Hamburger Schreib-Probe.
Stuttgart: Klett.
McElvany, N., Kortenbruck, M. & Becker,
M. (2008). Lesekompetenz und Lese-
motivation. Zeitschrift für Pädagogische
Psychologie, 22,207-209.
Schründer-Lenzen, A. (2013). Schrift-
spracherwerb. Wiesbaden: Springer.
Bundeskongress für Schulpsychologie
20.-22.9.2018 Frankfurt am Main
Entwicklungspsychologie und
Pädagogische Psychologie
Kaiser-Karl-Ring 9
53111 Bonn
Sekretariat Martina Gehlen
Tel. 0228/73-4269
Fax 0228/73-4639
mgehlen@uni-bonn.de
www.epp.uni-bonn.de
Bonn, 01.10.2018
UNIVERSITÄT BONN · Institut für Psychologie · 53111 Bonn
RHEINISCHE
FRIEDRICH-WILHELMS-
UNIVERSITÄT BONN
BONN
Prof. Dr. Una M. Röhr-Sendlmeier
Institut für Psychologie
Tobias Kuhl und Una M. Röhr-Sendlmeier
Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken
eine kombinierte ngsschnitt-Querschnittstudie in der
Grundschule
Unter dem obigen Titel wurden das Konzept und die Ergebnisse der empirischen Eva-
luation von drei unterschiedlichen Didaktiken in gebündelter Form auf der Bundes-
konferenz für Schulpsychologen am 21.09.2018 in Frankfurt als Poster vorgestellt und
diskutiert. Die nachfolgenden Ausführungen erläutern die Angaben auf dem Poster,
das beigefügt ist, und geben Aufschluss über Hintergründe und weitere Ergebnisse.
GEGENSTAND DER UNTERSUCHUNG
Viele Eltern machen sich große Sorgen, weil ihre Kinder auch im 3. und 4. Schuljahr
kaum die Regeln der Rechtschreibung beherrschen. Den Anstoß für die Studie gab die
Rektorin einer Grundschule mit ihrer Frage, welche Didaktik auf wissenschaftlich gesi-
cherter Basis für den Rechtschreibunterricht empfohlen werden könne. Das Ziel der
Studie war es, ein realistisches Abbild der Auswirkung dreier unterschiedlicher Didak-
tiken auf die Rechtschreibleistung von Grundschulkindern zu erhalten.
Ein Forscherteam der Abteilung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psycholo-
gie der Universität Bonn hat von 2013 bis 2017 die Rechtschreibleistungen von über
3000 Grundschulkindern aus NRW systematisch in einer Längsschnittstudie sowie
zusätzlich in einer Querschnittsuntersuchung erfasst. Die Kinder wurden mit einer von
drei Didaktiken unterrichtet. Die Schulen wurden per Zufall ausgewählt.
Das didaktische Leitmedium, das eine Schule wählt, bestimmt maßgeblich den Rah-
men des Unterrichtsgeschehens. Wenn Schulen Lesen durch Schreiben als Lehrme-
thode einsetzen, sollen die Kinder unter Zuhilfenahme einer Anlauttabelle viel frei
schreiben. Der individuelle Lernweg des Kindes hat Priorität. Schreibfehler werden
lange Zeit nicht korrigiert.
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Entwicklungspsychologie und
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Auch die Rechtschreibwerkstatt gibt den Kindern keine feste Abfolge einzelner Lern-
schritte vor, sondern stellt Materialien zur Verfügung, die die Kinder selbstständig in
individueller Reihenfolge und ohne zeitliche Vorgaben bearbeiten. Unterstützend
wird ein Anlautlineal eingesetzt. Abschreibübungen sind ein wichtiger Bestandteil
dieser Unterrichtsform. Die Kinder sollen ihre Fehler eigenständig korrigieren. Die
Lehrkraft steht ihnen beratend zur Seite.
Fibel-Lehrwerke basieren jeweils auf folgendem Grundprinzip: Die Rechtschreibung
wird strukturiert vom Einfachen zum Komplexen vermittelt. Fehler werden von An-
fang an korrigiert und als Lerngelegenheiten genutzt. Die Lehrkraft steht nicht nur für
Fragen zur Verfügung, sondern gestaltet den Unterricht aktiv in Form eines Lehrgangs
und orientiert sich hierbei an Lehrbuch und Arbeitsheft.
In den Schulen fand das Forscherteam bestätigt, dass die jeweils gewählte Didaktik
tatsächlich umgesetzt wurde. Feinheiten des Unterrichts, die von Lehrperson zu Lehr-
person variieren, waren nicht Gegenstand der Untersuchung. Die neuere pädago-
gisch-psychologische Forschung hat erkannt, dass weniger die Lehrerpersönlichkeit als
Merkmale der konzeptionellen Unterrichtsgestaltung mit den Schülerleistungen zu-
sammenhängen (siehe z.B. Hattie, Beywell & Zierer, 2014)
Ferner wurde untersucht, ob sich die drei Didaktikgruppen hinsichtlich ihrer Motivati-
on unterschieden, sich mit der Schriftsprache auseinanderzusetzen. Die Methoden
Lesen durch Schreiben und Rechtschreibwerkstatt proklamieren, dass ihre Ansätze zu
mehr Lese- und Schreibmotivation führen.
Die vorliegenden Studien wurden bewusst ohne Drittmittelgelder durchgeführt, um
sie unvoreingenommen und ganz ohne Verpflichtungen gegenüber Dritten durchfüh-
ren und auswerten zu können.
EMPIRISCHES DESIGN
1. Längsschnittstudie: Zu Beginn des 1. Schuljahrs wurden Kinder aus 18 Klassen im
Hinblick auf ihre Phonologische Bewusstheit und Buchstabenkenntnis mit dem stan-
dardisierten Rundgang durch Hörhausen (Martschinke, Kirschhock & Frank, 2008)
einzeln getestet. Phonologische Bewusstheit ist die Fähigkeit, Wörter in Einzellaute
und Silben zu segmentieren und diese zu neuen Wörtern zusammenzusetzen. Begin-
nend mit dem Ende der 1.Klasse wurden halbjährlich bis zum Ende der 3. Klasse die
Rechtschreibleistungen mithilfe der jeweils altersgemäßen Version des standardisier-
ten Diktats Hamburger-Schreib-Probe (HSP; May, 2013) im Klassenverband erhoben.
Vollständige Datensätze liegen von 284 Kindern vor. Die Phonologische Bewusstheit,
die Buchstabenkenntnis und die Familiensprache gingen in die Berechnungen ein, um
Vorerfahrungen statistisch zu kontrollieren.
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Entwicklungspsychologie und
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2. Querschnittstudie: In der zweiten Studie wurden ergänzend HSP-Daten von weite-
ren 2800 Erst - bis Viertklässlern in 142 Klassen erhoben.
3. Studie zur Schreib- und Lesemotivation: Zu je einem Messzeitpunkt wurde sowohl
die intrinsische Schreibmotivation als auch die intrinsische Lesemotivation der Kinder
mit einem Fragebogen (teils in Anlehnung an McElvany, Kortenbruck & Becker, 2008)
im Anschluss an die HSP erfasst.
LÄNGSSCHNITT- UND QUERSCHNITTSTUDIE
Nur eine Längsschnittstudie erlaubt sichere Aussagen über die Entwicklung von Kin-
dern. Dieselben Kinder werden über einen bestimmten Zeitraum hinweg wiederholt
getestet und es werden Unterschiede zwischen den Testungen berechnet. Längs-
schnittstudien sind besonders aufwändig in der Durchführung und deshalb sehr rar.
Die vorliegende Stichprobe umfasst ca. 300 Kinder, die sechsmal untersucht wurden.
Um nicht die Ergebnisse der naturgemäß eher kleineren Stichprobe einer Längs-
schnittstudie vorschnell zu generalisieren, sichert sich wissenschaftlich fundierte For-
schung dadurch ab, dass bei einer zusätzlichen größeren Stichprobe Kinder unter-
schiedlicher Klassenstufen im Querschnitt untersucht werden. Deshalb wurden zu-
sätzlich 2800 Kinder aus den ersten vier Jahrgangsstufen zum Schulhalbjahres- und
Schuljahresende untersucht. Sind die Ergebnisse beider Zugangsweisen vergleichbar,
kann man von gut abgesicherten Befunden sprechen.
MERKMALE DES ELTERNHAUSES
Die Bildungsnähe des Elternhauses wurde über das Vorwissen der Kinder kurz nach
der Einschulung erfasst. Die Vorkenntnisse sind ein sehr gutes Maß für die Bildungs-
nähe, weil bildungsnahe Eltern ihre Kinder bereits vor der Einschulung an Bildungsin-
halte heranführen. Diese Daten sind wesentlich reliabler und belastbarer als Selbst-
auskünfte der Eltern, weil sich hier häufig sozial erwünschte Antworttendenzen wie-
derfinden.
Die Lesen-durch-Schreiben-Kinder waren den anderen in ihren Vorkenntnissen kurz
nach der Einschulung überlegen; sie hatten also einen nicht zu vernachlässigenden
Startvorteil. Die Fibel-Kinder und die Rechtschreibwerkstatt-Kinder unterschieden sich
nicht signifikant voneinander. Analysen der Vorkenntnisse offenbarten Zusammen-
hänge mit den Rechtschreibleistungen bis ins 3. Schuljahr. Daher wurde das Vorwis-
sen in den Längsschnittauswertungen statistisch kontrolliert, so dass Aussagen zum
Unterschied im Kenntniszuwachs der Kinder im Verlauf der Grundschulzeit je nach
Didaktikgruppe losgelöst von den Startvoraussetzungen getroffen werden können.
Zur Einschätzung der sozio-ökonomischen Hintergründe der Kinder wurde eine in den
Wirtschaftswissenschaften etablierte Methode verwendet, bei der die Grundstücks-
preise als Hinweis auf die sozio-ökonomische Situation genommen werden. Die Quel-
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le war der Oberste Gutachterausschuss für Grundstückswerte im Land NRW. Die Le-
sen-durch-Schreiben-Kinder wohnten in deutlich teureren Schuleinzugsgebieten als
die anderen Gruppen.
ERGEBNISSE
Die Ergebnisse von Längs- und Querschnittstudie sprechen eindeutig für die Überle-
genheit des Unterrichts mit einem Fibel-Ansatz. In jeder Klassenstufe waren die
Rechtschreibleistungen der systematisch angeleiteten Kinder besser als die der ande-
ren beiden Didaktikgruppen, und zwar durchgängig mit bedeutsamen praxisrelevan-
ten Unterschieden. Zudem waren die Leistungsdifferenzen innerhalb der Fibel-Gruppe
deutlich kleiner. Die ganz überwiegende Mehrzahl dieser Kinder konnte demnach von
dieser Lehrmethode profitieren, obwohl sie zu Beginn der Schulzeit weniger Vor-
kenntnisse hatten als die Lesen-durch-Schreiben-Kinder. Dieser Befund zeigt sich auch
für Kinder mit nicht deutscher Familiensprache. In der Rechtschreibwerkstatt-Gruppe
gab es besonders viele Kinder mit sehr schlechten Rechtschreibleistungen.
Am Ende des 4. Schuljahrs machten Lesen durch Schreiben-Kinder 55% mehr Fehler
als die Fibel-Kinder. Bei den Kindern, die mit der Rechtschreibwerkstatt gelernt hat-
ten, waren es 105% mehr Fehler als bei den Fibel-Kindern.
Wären alle Didaktiken gleich gut, müssten sich die Kinder innerhalb jeder Didaktik-
gruppe gleichmäßig auf die Leistungsviertel der gesamten Stichprobe verteilen - je-
weils 25% in der besten und in der schlechtesten Gruppe, 50% in der Mitte. Tatsäch-
lich zeigt sich für die Viertklässler (insgesamt 947 Kinder): Die Fibel-Kinder lagen mit
42,1% weit stärker als erwartet im oberen Leistungsviertel; zur breiten Mitte gehör-
ten 47,6% von ihnen und deutlich seltener als erwartet lagen nur 10,3% im unteren
Quartil. Die Lesen-durch-Schreiben-Kinder gehörten zu 26,1% zum oberen Viertel, sie
lagen zu 53,9% in der Mitte und zu 20% in der Gruppe der Schlechtesten. Die Recht-
schreibwerkstatt-Kinder:gehörten mit 17% seltener als erwartet zur leistungsstärksten
Gruppe; 48,6% lagen in der Mitte. Häufiger als erwartet erbrachten 34,4 % von ihnen
Leistungen im leistungsschwächsten Quartil der Gesamtstichprobe der Viertklässler.
Sowohl die intrinsische Schreibmotivation als auch die intrinsische Lesemotivation der
Kinder waren über die drei Gruppen gleich. Die vorliegenden Daten widerlegen die
Annahme, ein frühes Korrigieren von Rechtschreibfehlern demotiviere die Kinder, sich
mit Schriftsprache auseinanderzusetzen.
Fazit
Die Ergebnisse der längsschnittlichen wie querschnittlichen Analysen von insgesamt
3084 Grundschulkindern sprechen deutlich für die Verwendung eines strukturierten
Ansatzes für den Rechtschreiberwerb vom Einfachen zum Komplexen mit unmittelba-
rer Korrektur von Fehlschreibungen, wie es Fibel-Didaktiken vorgeben.
RHEINISCHE
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Institut für Psychologie
Entwicklungspsychologie und
Pädagogische Psychologie
Literatur
Hattie, J., Beywel, W. & Zierer, K. (2014). Lernen sichtbar machen. 2. Aufl. Hohengeh-
ren: Schneider.
Martschinke, S., Kirschhock, E. & Frank, A. (2008). Der Rundgang durch Hörhausen.
Donauwörth: Auer.
May, P. (2013). Hamburger Schreib-Probe. Stuttgart: Klett.
McElvany, N., Kortenbruck, M. & Becker, M. (2008). Lesekompetenz und Lesemotiva-
tion. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 22, 207-209.
Die Autoren
Tobias Kuhl, M.Sc. ist Master der Psychologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Abteilung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie des Instituts für
Psychologie der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt betrifft die Wege des
Lernens im Grundschulalter, insbesondere den Rechtschreiberwerb nach unterschied-
lichen Didaktiken.
Prof. Dr. Una M. Röhr-Sendlmeier leitet seit 2002 die Abteilung Entwicklungspsycho-
logie und Pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie der Universität Bonn.
Sie ist Diplom-Psychologin, Erziehungswissenschaftlerin und Anglistin/Linguistin
(Staatsexamen). Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen die kognitive und sozial-
emotionale Entwicklung und das Lernen über die gesamte Lebensspanne.
... However, among poor spellers, there was a larger improvement in spelling performance following SI. In a newer study, Kuhl and Röhr-Sendlmeier (2018) assessed spelling in over 3000 children and found that SI outperformed LdS (and other methods) in spelling with medium to high effect sizes. This study controlled for factors such as letter-knowledge, phonological awareness and first language. ...
... This tendency was corroborated by a cross-sectional study with 2800 children that also demonstrated higher performance homogeneity among children in the SI group (Kuhl, 2020a). Importantly, Kuhl and Röhr-Sendlmeier (2018) additionally found that children's learning motivation was comparable for SI and LdS contradicting the common argument that LdS enhances communicative writing and motivation. Other studies have uncovered clearer disadvantages of LdS (Kirschhock, 2004;Sander, 2006;Schründer-Lenzen, 2013), but most found no substantial differences between the two methods (Brügelmann & Richter, 1994;Friedrich, 2010;Hüttis-Graf, 1998, pp. ...
... 3-9)), the LdS learner quickly catches up to the regular agent in both reading and writing. In contrast, longitudinal studies measuring learning progress up to the end of Grade 3 have consistently found significantly lower writing performance among learners exposed to LdS (Kuhl & Röhr-Sendlmeier, 2018). For the general population of pupils, LdS seems to have disadvantages in speed (and probably ease) of learning to read and spell, but has no or only minor consequences in the long runas long as correct spelling is eventually introduced after an initial phase of purely phonological error correction. ...
Article
Full-text available
In primary schools, Lesen durch Schreiben (LdS; “reading through writing”, known internationally as inventive spelling) is a prevalent didactic method of reading and spelling instruction. In LdS, pupils learn writing through prolonged inventive spelling, meaning that only phonological but not orthographic spelling errors are corrected. Rigorous studies of the effectiveness of LdS are scarce and have delivered inconsistent results, casting doubt on the suitability of LdS for primary school instruction. Empirical investigations of writing acquisition methods are time-consuming, costly, and are plagued by methodological evaluation difficulties, such as separating method effects from other instruction-related variables. In this work, we developed a computational framework (based on recurrent neural networks) for reading and writing acquisition. This framework enables us to extract and systematically investigate some core principles of writing acquisition methods. Focusing on two German corpora, we compared the behavior of learning agents trained using the LdS regime against agents trained using a classical, primer-based regime. Experimental results revealed that our LdS agents performed significantly worse than our primer agents in writing tasks and, to a lesser extent, in reading tasks. Our results show that the stereotypical spelling mistakes of children exposed to LdS can be replicated with neural network models. These mistakes arise naturally during writing acquisition for all learning agents but are either suppressed or reinforced depending on the learning regime. We examined the learned, internal representations of both agents and found deviations in the LdS agent that may have induced the amplified confusion of similar phonemes. While we focused on two German corpora, similar results can be expected for alphabetic languages with similar graphene-phoneme regularities. In sum, LdS does not exhibit benefits over standard instruction in our simulations. However, we urge caution in drawing immediate conclusions for human learners. Instead, our work presents a modest step towards the construction of a computational framework for writing and reading instructional methods that may inspire future research.
... m Programm "Lesen durch Schreiben" (Reichen, 2004) vorgenommen wird (bspw. Funke, 2014;Kuhl &R öhr-Sendlmeier, 2018;Steinig &B etzel, 2013). Eichler und Brügelmann (2013) stellen daher die Lehrperson in den Fokus, wenn es um den Erfolg eines didaktischen Ansatzes geht: "Für jede Methode gibt es Beispiele erfolgreichen Unterrichts. ...
Article
Full-text available
Das Grundwortschatzkonzept ist ein bedeutsamer didaktischer Ansatz im Erwerb von Rechtschreibkompetenzen. In jüngster Vergangenheit wurden in fast allen Bundesländern entsprechende Handreichungen mit Mindestwortschätzen veröffentlicht. Dieser Ansatz bietet den Lehrkräften viel Potenzial, für ihre Lerngruppe angepasste Unterrichts- und Förderangebote zu entwickeln. Ein Vergleich des Wortmaterials der jeweiligen Mindestwortschätze zeigt einerseits eine geringe Schnittmenge im Gesamtvergleich und andererseits fehlt eine empirische Überprüfung der Wortschwierigkeiten. In dieser Studie wurde daher ein Korpus von 539 Wörtern an N = 4091 Kindern erster bis vierter Klassen pilotiert. Mithilfe der Item-Response-Theorie wurden Itemparameter dieses Wortpools geschätzt, die erstmalig eine Wortauswahl auf Grundlage empirisch gewonnener Wortschwierigkeiten erlauben. Mittels Clusteranalysen wurden die für die Klassenstufen 1 und 2 bzw. 3 und 4 verschiedenen Schwierigkeitskategorien zugeordnet. Eine qualitative Beschreibung der ermittelten Itemcluster erfolgt hinsichtlich der zu korrekten Schreibung der enthaltenen Wörter zugrundeliegenden Rechtschreibprinzipien. Abschließend werden Implikationen für den Einsatz der Mindestwortschatzarbeit in der Schule dargelegt.
Chapter
‚Transfer‘ ist ein vielgestaltiger Begriff, aber im Zusammenhang mit dem Transfer von Forschungsergebnissen wird damit die Verbreitung (aktuellen) wissenschaftlichen Wissens in praktische Felder bezeichnet (vgl. Bromme, Prenzel & Jäger 2014; Prenzel 2010). Bei dieser Begriffsbestimmung stellen sich mehrere Fragen.
Article
In current debates the media, policy makers and scientists are aiming to identify factors explaining negative trends in the orthography competencies of German primary school students. Especially a concept making use of initial sound tables and the method “reading by writing“ is often identified as a core factor. However empirical studies backing these claims are rare and contradictory. Also very little is known about the actual use of initial sound tables in primary schools. In this article we provide an overview of empirical studies on the effectiveness of the use of initial sound tables and the concept “reading by writing“. We then present data from a short teacher survey on the use of initial sound tables in German classes, which was realized as an extension to the PIRLS 2016 and is therefore representative for German primary schools. According to this survey about 70 % of all Grade 4 learners of 2016 have been exposed to initial sound tables as part of their German lessons throughout primary school. About half of these learners were asked to work almost every lesson with these tables in their first one-half years of schooling. We also find that teachers who work with sound tables differ in their beliefs about when student’s spelling mistakes should be corrected. In addition we find that the majority of teachers report to combine the use of sound tables with other materials, such as basic readers. We argue especially this finding should guide future designs of studies aiming to compare the effectiveness of different methods as most of the current studies possibly wrongly assume a distinctive or at least dominant use of initial sound tables or basic readers.
Preprint
Full-text available
Ein kurzes Fazit vorweg: Es gibt heute zu viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die nicht gut genug lesen und schreiben können, um private, berufliche und öffentliche schriftsprachliche Aufgaben erfolgreich zu bewälti-gen. Dieses Problem zeigt sich aber auch schon vor 70, 50, 30 Jahren, und zwar in etwa gleicher Größenordnung - allerdings in einer Gesellschaft, deren Alltag weniger stark durch schriftsprachliche Anforderungen bestimmt war, so dass es nicht so auffällig war.
Preprint
Full-text available
A review (in German) of Zhao, Y. (2018): What works may hurt: Teachers College Press: New York. In short, Zhao's message is: Educational interventions do not only have linear effects. Their impact and outcomes must be assessed in a differentiated way by relating them to competing goals, taking unwanted side effects into account and considering the distribution of the effects depending on the context.
Article
Der Erwerb von Lesen und Schreiben ist Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Grundschulpädagogik und Fachdidaktik Deutsch berücksichtigen in ihrem Lehrangebot zum Schriftspracherwerb Kenntnisse aus der Sprachwissenschaft, der Psychologie und zunehmend auch von spezifischen Forschungsrichtungen wie der Spracherwerbsforschung, Deutsch als Zweitsprache und der Sonder- bzw. Inklusionspädagogik. Diesen interdisziplinären Blick auf das Thema Schriftspracherwerb nimmt das Buch auf und zwar in einer auch praxisorientierten Perspektive. Studienanfänger erhalten die notwendigen sprachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlagen für die Gestaltung von Lernprozessen im Anfangsunterricht, wobei Bezug genommen wird auf die verschiedenen methodischen Konzepte wie Fibellehrgänge, Spracherfahrungsansatz und das Konzept „Lesen durch Schreiben“. Diagnose und Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen und ein systematischer Überblick über die verschiedenen Konzepte aktueller Fibelprogramme bilden einen Schwerpunkt der Neuauflage. Der Inhalt Struktur und Merkmale der deutschen Schriftsprache • Phonologische Bewusstheit • Risikofaktoren für den Schriftspracherwerb • Verfahren der Sprachstandsfeststellung und vorschulische Maßnahmen zur Sprachförderung • Historische und entwicklungsorientierte Methoden des Anfangsunterrichts • Öffnung und Spezifizierung von Fibellehrgängen Die Zielgruppen · Studierende des Lehramts Primarstufe, des Unterrichtsfachs Deutsch · Studienreferendarinnen und –referendare · Fachseminarleiterinnen und Seminarleiter in der zweiten Phase der Lehrerbildung · Dozentinnen und Dozenten an Fachhochschulen für Sozialpädagogik · Lehrkräfte im Anfangsunterricht · Erzieherinnen und Erzieher Die Autorin Dr. Agi Schründer-Lenzen ist Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam.
Article
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Entwicklung der Lesekompetenz und der intrinsischen Lesemotivation in den Klassenstufen 3 bis 6 sowie den Zusammenhängen zwischen Kompetenz, Motivation und Leseverhalten. Hintergrund sind der Mangel an längsschnittlichen Analysen der Entwicklung der Konstrukte in dieser Altersgruppe in Deutschland, die unzureichende empirische Überprüfung theoretischer Wirkungsannahmen (zsf. Möller & Schiefele, 2004 ) und die berichteten Defizite in der Lesemotivation älterer Schüler (u. a. Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001 ). Die empirische Überprüfung erfolgt anhand der längsschnittlichen Daten des Berliner Leselängsschnitts der Klassenstufen 3 bis 6 mit Hilfe von Wachstumskurvenmodellen und autoregressiven Cross-lag Panel-Modellen. Die Ergebnisse bestätigen die erwartete gegenläufige Entwicklung von ansteigender Kompetenz und sich verringernder Motivation im Untersuchungszeitraum. Die Pfadanalysen weisen auf die wechselseitigen Einflüsse der drei Konstrukte im Quer- und Längsschnitt sowie auf einen indirekten Effekt der frühen Lesemotivation auf spätere Lesekompetenz vermittelt über das Leseverhalten hin. Die Lesekompetenz wird von der Motivation und dem Leseverhalten insgesamt jedoch in vergleichsweise geringem Umfang vorhergesagt, während umgekehrt beide Konstrukte auch von der Kompetenz beeinflusst werden. Implikationen für zukünftige Forschung und pädagogische Praxis werden diskutiert.
Der Rundgang durch Hörhausen
  • S Martschinke
  • E Kirschhock
  • A Frank
• Martschinke, S., Kirschhock, E. & Frank, A. (2008). Der Rundgang durch Hörhausen. Donauwörth: Auer.
Hamburger Schreib-Probe
  • P May
• May, P. (2013). Hamburger Schreib-Probe. Stuttgart: Klett.