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Hauptaufsatz
1
BauingenieurBand 92, November 2017
Labor- und Feldversuche zur realitätsnahen Beurteilung der
Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Spannbetonbrücken
O. Fischer, N. Schramm, S. Gehrlein
Zusammenfassung Aufgrund der ansteigenden Verkehrslasten
und der Fortschreibung der Nachweisformate für die Bauwerkswi-
derstände ergeben sich bei der Nachrechnung bestehender Brü-
ckenbauwerke mit aktuellen Regelwerken in vielen Fällen teilweise
große rechnerische Defizite, vor allem in Bezug auf den Nachweis
einer ausreichenden Querkrafttragfähigkeit. Während eine Berück-
sichtigung von Reserven bei der Planung von neuen Bauwerken
sinnvoll ist und nur zu moderaten Zusatzkosten führt, ergeben sich
dadurch im Bestand in der Regel aufwendige Ertüchtigungsmaß-
nahmen und Behinderungen des vorhandenen Verkehrs. Für die
Nachrechnung und Beurteilung bestehender Brückenbauwerke
kommt daher wirklichkeitsnahen Ansätzen und Modellen für Ein-
wirkungen und Widerstände erhebliche Bedeutung zu. Der vorlie-
gende Beitrag gibt zunächst einen Überblick zu rechnerischen
Nachweisen im Bestand, geht dann auf besondere Fragestellungen
und zu berücksichtigende Einflüsse bei der Formulierung wirklich-
keitsnaher Nachweismodelle für die Querkraft ein und stellt aktuel-
le experimentelle Forschungsvorhaben im Labor und in situ an rea-
len Bauwerken vor.
Abstract Due to increasing traffic loads and a constant updating
of the design requirements on the resistance side, a recalculation of
existing concrete bridges according to current standards often re-
sults in calculatory structural deficits, especially with regard to a
sufficient shear capacity. Whereas allowing of reserves in the be-
aring capacity is reasonable for the design of new structures and
usually leads to moderate additional costs, this often produces cost-
ly rehabilitation measures and traffic obstruction for building rede-
velopment. Therefore realistic design approaches and models both
for the load and resistance side have a significant importance for
the recalculation and assessment of existing bridge constructions.
This paper initially gives an overview of verifications for the rede-
sign of bridges, then discusses special demands and certain influen-
ces for the formulation of realistic design models for the shear resis-
tance and finally presents current experimental investigations in the
laboratory and in-situ on real bridge structures.
Laboratory and field tests for a
realistic assessment of the shear capacity of
existing prestressed concrete bridges
1 Einleitung
Für einen hochentwickelten Wirtschaftsstandort wie
Deutschland besitzt die Verkehrsinfrastruktur zur Sicher-
stellung von Mobilität, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit
und Lebensqualität eine ganz wesentliche Bedeutung. Die
kritischen Punkte im Straßen- und Eisenbahnnetznetz sind
dabei meist die Ingenieur- und Brückenbauwerke, bei de-
nen Nutzungseinschränkungen oder gar -ausfälle erhebli-
che Konsequenzen nach sich ziehen können. Aus diesem
Grund hat der dauerhafte Erhalt der uneingeschränkten
Funktionalität und Sicherheit dieser Bauwerke eine hohe
Priorität. Allein der Brückenbestand im Zuge der Bundes-
fernstraßen stellt ein Anlagevermögen von etwa 45 Mrd.
Euro dar und umfasst insgesamt mehr als 39 000 Brücken
und etwa 51 000 Teilbauwerke. Hiervon wurden bezogen
auf die Brückenfläche 87,3 % in Stahl- und Spannbetonbau-
weise errichtet, größtenteils in den 1960er Jahren bis
1980er Jahren. So sind mittlerweile mehr als 65 % der be-
stehenden Bauwerke älter als 30 Jahre, davon wiederum
ein Großteil älter als 50 Jahre.
Aufgrund dieser Altersstruktur und des allgemeinen Bau-
werkszustands, des stetig ansteigenden Verkehrsaufkom-
mens und durch die Fortschreibung der Nachweisformate
lassen sich die meisten bestehenden Brückenbauwerke auf
Grundlage der aktuellen Normen und Regelwerke nicht
mehr nachweisen. Zudem besitzen einerseits einige Bau-
werke aus den früheren Jahren der damals jungen Spann-
betonbauweise zum Teil systematische Schwachstellen
(u. a. Koppelfugen, sensitiver Spannstahl), andererseits be-
stehen bedingt durch die damals allgemeine Tendenz zu
materialminimierten Entwürfen kaum Tragreserven für
veränderte Randbedingungen.
Werden bestehende Brücken auf Grundlage aktueller Re-
gelwerke oder auch gemäß der 2011 eingeführten Nach-
rechnungsrichtlinie (NRR) [1] (bzw. deren 1. Ergänzung [2])
nachgerechnet, so ergeben sich oftmals signifikante rech-
nerische Defizite, insbesondere beim Nachweis der erfor-
derlichen Querkraftbewehrung [3]. So zeigte sich im Rah-
men eines BASt Forschungsvorhabens [4] (Beurteilung der
Nachrechnung von insgesamt 146 Betonbrücken, davon 126
Spannbeton), dass sich nur etwa 20 % der Bauwerke in den
Stufen 1 und 2 der NRR nachweisen lassen (davon lediglich
2,7 % in Stufe 1) und bei etwa 2/3 der Brücken starke (d. h.
Überschreitung 9 50 % bei mindestens einem Nachweis)
oder massive Defizite (Überschreitung > 100 %) vorliegen.
Auf Grundlage dieser Ergebnisse würden in vielen Fällen
zumindest weitergehende Untersuchungen (z. B. gemäß
Stufen 3, 4 der NRR) oder aber Verstärkungsmaßnahmen
sowie Ersatzneubauten erforderlich. Wie in [4] dargestellt,
liegen die rechnerischen Defizite mit 56,5 % aller Bauwer-
ke insbesondere beim Querkraftnachweis für die Brücken-
längsträger, 23,5 % aller Bauwerke weisen dabei massive
Defizite auf (Bild 1, links). Der Nachweis einer ausreichen-
den Querkrafttragfähigkeit zeigt dabei eine direkte Abhän-
gigkeit vom Brückenalter und dem Stand der Normung. So
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Oliver Fischer
oliver.fischer@tum.de, Tel. 089 289 23038
Nicholas Schramm, M.Sc.
nicholas.schramm@tum.de, Tel. 089 289 23081
Sebastian Gehrlein, M.Sc.
sebastian.gehrlein@tum.de, Tel. 089 289 23275
Technische Universität München
Lehrstuhl für Massivbau
Theresienstraße 90, 80333 München
Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen wissenschaftlich
begutachteten und freigegebenen Fachaufsatz („reviewed paper“). X633 Schramm
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ergeben sich bei den vor 1966 hergestellten Spannbeton-
brücken aufgrund der damals in DIN 4227 : 1953 noch feh-
lenden systematischen Forderung einer Mindestbewehrung
bei fast 90 % der Überbauten große rechnerische Quer-
kraftdefizite, während bei nach 1980 hergestellten Bauwer-
ken deutlich weniger Defizite feststellbar sind und diese im
Falle einer Überschreitung auch nur vergleichsweise ge-
ring ausfallen (< 20 %), Bild 1 (rechts).
Die ermittelten rechnerischen Defizite sind jedoch kritisch
zu hinterfragen, da bisherige Untersuchungen (z. B. [5], [6],
[7], [8], [9], [10]) zeigen, dass diese Brückenbauwerke oft-
mals über erhebliche Reserven hinsichtlich der Querkraft-
tragfähigkeit verfügen. Darüber hinaus wiesen Bestands-
brücken bei der Brückenprüfung trotz rechnerischer Defi-
zite nur selten ausgeprägte Schubrisse auf und es ist bisher
in Deutschland kein Querkraftversagen einer Massivbrücke
im Endzustand bekannt. Viele Be-
standsbauwerke lassen sich auch
deshalb nicht nachweisen, weil der
Schwerverkehr seit deren Fertigstel-
lung dramatisch zugenommen hat
und die für eine robuste Neubaupla-
nung konzipierten Regelwerke deut-
lich erhöhte Anforderungen stellen.
Was bei Neubauten sinnvoll und ver-
gleichsweise günstig zu haben ist,
führt im Bestand im Regelfall zu auf-
wendigen Maßnahmen und damit zu
erheblichen Kosten und meist auch
entsprechenden Behinderungen des
laufenden Verkehrs. Um den tatsäch-
lichen Zustand und die Tragsicher-
heit bestehender Brückenbauwerke
zutreffend beurteilen zu können,
sind daher angepasste verfeinerte
Nachweisformate ([11], [12], [13], [14]
[15], [16]) erforderlich, die unter Bei-
behaltung des Sicherheitsniveaus
das Tragverhalten sowie die Einwir-
kungen aus dem Verkehr möglichst
wirklichkeitsnah abbilden. Hierzu
laufen derzeit am Lehrstuhl für Mas-
sivbau der Technischen Universität
München (TUM) eine Reihe von For-
schungsvorhaben sowohl in Bezug
auf die Entwicklung strecken- und
objektspezifischer Einwirkungsmo-
delle ([17], [18]), als auch zur Be-
schreibung der Widerstandsseite
(Gegenstand der vorliegenden Veröf-
fentlichung). Durch die Formulie-
rung wirklichkeitsnaher Modelle für
Einwirkungen und Widerstände
kann der tatsächliche Auslastungs-
grad von bestehenden Bauwerken
wesentlich besser beurteilt werden.
Damit gelingt in vielen Fällen eine
deutliche Verlängerung der Nut-
zungs- und Lebensdauer unserer In-
genieurbauwerke und die Erforder-
nis aufwendiger Ertüchtigungs- und
Verstärkungsmaßnahmen kann deut-
lich reduziert werden [19].
Trotz langjähriger nationaler und internationaler For-
schungsaktivitäten stellt die zutreffende Beschreibung der
Querkrafttragfähigkeit auch derzeit noch ein zentrales The-
ma wissenschaftlicher Untersuchungen dar und ist weiter
Gegenstand diverser aktueller Forschungsvorhaben. Bis
heute konnte noch kein allgemein gültiges sowie individu-
ell anwendbares Nachweiskonzept für die Querkrafttragfä-
higkeit formuliert werden [20]. Grund hierfür mag womög-
lich sein, dass die entwickelten Modelle jeweils an be-
stimmte Randbedingungen geknüpft sind und die Anwen-
dungsgrenzen der jeweiligen Modelle aufgrund verschie-
denster Einflussfaktoren auf die Querkrafttragfähigkeit
(Bild 2) meist schnell erreicht sind.
Wenngleich die wesentlichen Mechanismen zur Abtragung
der Querkraft und der Interaktion der Querkraft- und Bie-
gebeanspruchung im Zustand II weitestgehend bekannt
Bild 1. Anteil der Spannbetonbrücken mit Querkraftdefiziten bei Nachrechnung bis Stufe 2: geringe Defizite (1),
9 10 % (2), 9 20 % (3), 9 50 % (4), > 100 % (5); Defizite und Intensität in Abhängigkeit des Brückenalters
(rechts), aus [3]
Fig. 1. Percentage of prestressed concrete bridges with a deficit of the shear capacity for a reanalysis up to level 2:
small deficits (1), 9 10 % (2), 9 20 % (3), 9 50 % (4), > 100 % (5); deficits and intensity dependent on the age of
the bridge structure (right), according to [3]
Bild 2. Einflussfaktoren auf die Querkrafttragfähigkeit
Fig. 2. Influencing factors on the shear capacity
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sind, ergeben sich dennoch erhebli-
che Schwierigkeiten, diese Mecha-
nismen oder deren quantitative Bei-
träge zum Gesamttragverhalten für
die unterschiedlichen in Bild 2 dar-
gestellten Parameter zu verifizieren.
Somit sind – insbesondere für spe-
zielle Effekte der Querkrafttragfähig-
keit – weiterführende theoretische
und experimentelle Untersuchungen
erforderlich, um das vorhandene Er-
fahrungsspektrum zu erweitern und
verfeinerte Bemessungsansätze zu
entwickeln.
2 Aktuelle Forschungsvorhaben
2.1 Anrechenbarkeit nicht mehr
zugelassener Bügelformen
Bei der Nachrechnung und Beurtei-
lung zahlreicher bestehender Brückenbauwerke hat sich
gezeigt, dass früher oftmals Bewehrungsformen (v. a. Quer-
kraftbewehrung) verwendet wurden, die heutzutage vorlie-
gende Konstruktions- und Bewehrungsregeln nicht mehr
erfüllen [21]. So konnten in der Praxis bei älteren Massiv-
brücken eine Reihe von Abweichungen von den geforder-
ten Randbedingungen der konstruktiven Durchbildung von
Bügelbewehrung beobachtet werden. Häufig wurden Steck-
bügel verwendet, die nicht geschlossen sind und keine End-
haken aufweisen. Diese Bügel wurden in Bereichen mit ho-
her Querkraftbeanspruchung lediglich als Gurtanschluss-
bewehrung von oben eingesteckt und reichen nicht über
die gesamte Querschnittshöhe. Der effektive Beitrag dieser
Bewehrungsform zur Abtragung von Hauptzugspannungen
und damit die Anrechenbarkeit im Nachweis sind somit
fraglich. Ein weiteres häufiges Detail sind geschlossene Bü-
gel, die nur eine geringe Übergreifungslänge aufweisen.
Nicht zuletzt wurden teilweise auch einseitig offene Bügel
verwendet, die zwar meist in den Gurten durch Querbe-
wehrung geschlossen wurden, jedoch gerade Stabenden
aufweisen und damit ebenfalls die aktuellen Anforderun-
gen an die konstruktive Durchbildung nicht mehr erfüllen.
Diese „veralteten“ Arten der Bügelbewehrung dürfen bei
der Ermittlung der Querkrafttragfähigkeit nach der aktuel-
len Nachrechnungsrichtlinie bisher nicht in Ansatz ge-
bracht werden. Diesbezüglich soll anhand von experimen-
tellen Untersuchungen geklärt werden, inwieweit die aktu-
ell gültigen Bemessungsmodelle für die vorliegenden Be-
wehrungsformen tauglich sind und welche Unterschiede
sich in der Tragwirkung einstellen, oder inwieweit solche
nicht mehr zulässigen Bewehrungen bei der Brückennach-
rechnung berücksichtigt werden dürfen. Diese Untersu-
chungen sind Teil eines Forschungsvorhabens zur Beurtei-
lung der Querkraft- und Torsionstragfähigkeit von Brücken
im Bestand im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen
[22].
2.2 Feldversuche „Saalebrücke Hammelburg“
Um die vergleichsweise kleinmaßstäblichen Laborversu-
che (u. a. in Bezug auf Spannweite und Konstruktionshöhe,
Abschnitt 3.1) zur Querkrafttragfähigkeit zu validieren, sind
Großbelastungsversuche an realen Spannbetonbrücken es-
senziell und können wertvolle zusätzliche Erkenntnisse bei
der Formulierung wirklichkeitsnaher Nachweisformate lie-
fern. Die wenigen bisher durchgeführten in situ Versuche
mit Laststeigerung bis zum Erreichen der Grenztragfähig-
keit wurden entweder an vorgespannten Fertigteilen oder
an Einfeldträgern sowie im Endauflagerbereich durchlau-
fender Ortbetonbrücken durchgeführt ([23], [24]). Es fehlen
jedoch entsprechende experimentelle Untersuchungen im
Stützenbereich von Durchlaufträgern und damit an Stellen,
wo sich die Beanspruchungen aus großen Querkräften und
großen (negativen) Biegemomenten überlagern. Um diese
Lücke zu schließen, werden derzeit durch den Lehrstuhl
für Massivbau der TUM an der Saalebrücke in Hammelburg
umfangreiche weggesteuerte Belastungsversuche an einer
7-feldrigen Spannbetonbrücke im Zuge ihres Rückbaus
durchgeführt. Ausführliche Erläuterungen zum Bauwerk,
zur konzipierten Belastungseinrichtung und dem Versuchs-
programm sowie zur messtechnischen Begleitung der
Großversuche finden sich in Abschnitt 4.
3 Querkraftversuche unter
Anwendung der Substrukturtechnik
3.1 Allgemeines
Bis auf wenige Ausnahmen weisen die in der Literatur vor-
handenen Querkraftversuche, insbesondere im Hinblick
auf Nachweise im Brückenbau, wenig realitätsnahe Quer-
schnittswerte auf, was nicht zuletzt auf den damit einherge-
henden enormen Aufwand bei der Versuchsdurchführung,
der Herstellung und der Handhabung von großformatigen
Versuchskörpern zurückzuführen ist. Darüber hinaus fällt
auf, dass nur sehr wenige Versuche zum Querkrafttragver-
halten von Durchlaufträgern vorliegen (u. a. [6], [7], [10],
[26]).
In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, lediglich den
Teilbereich eines zu untersuchenden Systems zu betrach-
ten, der von besonderem Interesse oder maßgebend für das
Querkraftversagen ist. Dieser Versagensbereich, zum Bei-
spiel der Bereich an der Zwischenstütze eines Durchlauf-
trägers, wo ein kritischer Schubriss erwartet wird, muss
hierzu durch eine entsprechende Systemreduktion vom Ge-
samtsystem herausgelöst werden. Dieser Ansatz, der auch
als Substrukturtechnik bekannt ist, findet in der numeri-
schen Simulation von statischen und dynamischen Vorgän-
Bild 3. Versuchsanlage für die Prüfung von Durchlaufträger-Teilsystemen nach dem Prinzip der „Substrukturtech-
nik“ (Computeranimation)
Fig. 3. Experimental setup for a testing of continuous girder-subsystems according to the principle of the “sub-
structure technique” (computer animation)
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gen oftmals Anwendung. Die Interaktion des herausgelös-
ten Teilbereichs mit der Gesamtstruktur wird dabei über ei-
ne entsprechende Wahl der Rand- und Übergangsbedin-
gungen berücksichtigt. Somit ist es möglich, die Größe der
Prüfkörper entsprechend zu reduzieren und dennoch groß-
formatige Bauteile (z. B. große Durchlaufträger) realitäts-
nah zu prüfen. Insgesamt kann folglich eine größere Anzahl
an Versuchen bei klar definierten Randbedingungen durch-
geführt und auch die Größe des Messbereichs reduziert
werden.
3.2 Neuartiger Versuchsstand zur
Untersuchung von Teilsystemen
Dem Prinzip der Substrukturtechnik folgend und auf voran-
gegangene Untersuchungen [27], [28] aufbauend, wurde
am Lehrstuhl für Massivbau der TUM ein neuartiger Ver-
suchsstand für die experimentelle Untersuchung von vor-
gespannten Balkenelementen (Bild 3) entwickelt und reali-
siert; eine der Erstanwendungen war unter anderem das
Verbundforschungsprojekt [22].
Als Randbedingungen sind (geometrisch) maximale Kon-
struktionshöhen von 1,80 m, Querschnittsbreiten von 1,30 m
sowie Kapazitäten für die Lastaufbringung von 3,3 MNm für
das maximale Biegemoment und 3,2 MN für die maximale
Querkraft definiert. Zudem ist der Versuchsstand so konzi-
piert, dass sowohl eine Prüfung von Trägern mit Vorspan-
nung im sofortigen als auch im nachträglichen Verbund so-
wie eine Überlagerung mit Torsion, die Untersuchung der
Querkrafttragfähigkeit bei schiefer Biegung und auch die
Aufbringung einer zyklischen Belastung grundsätzlich
möglich sind.
Die Einleitung der Biegemomente erfolgt über vier einzeln
servohydraulisch ansteuerbare, doppelwirkende Hydrau-
likzylinder mit einer maximalen Druckkraft von je 1,6 MN,
respektive einer Zugkraft von je 1,1 MN, wobei das Moment
über ein Kräftepaar aus jeweils zwei Druck- und Zugkräf-
ten aufgebracht wird. Durch die einzelne Ansteuerung der
jeweiligen Zylinder und die Möglichkeit der Querverdre-
hung der Radialgelenklager an den Augen der Pressen, ist
es zum Beispiel auch möglich, eine Querbiegung auf den
Prüfling aufzubringen. Bei beidseitiger Lasteinleitung sor-
gen starre Reaktionsstäbe am anderen Bauteilende für das
Momentengleichgewicht und zwei Rollenlager für das
Gleichgewicht der vertikalen Kräfte. Durch diese Anord-
nung lässt sich eine nahezu beliebige Interaktionen von
Moment und Querkraft im Trägerelement simulieren. Mas-
sive Stahlplatten mit eingefrästen Schubnocken dienen der
Einleitung von Biegemomenten und Querkräften. Die Ver-
ankerung der schlaffen Bewehrung und der Spannglieder
sowie -litzen erfolgt über drei herausnehmbare Passteile
mit entsprechenden Bohrungen.
Die Steuerung der Versuchsanlage sowie die Messdatener-
fassung wurde auf Basis der Programmierumgebung Lab-
VIEW (National Instruments) eigens entwickelt. Durch die
Anordnung der sechs hydraulischen Achsen und die Ausbil-
dung der Anschlüsse mit Radial-Gelenklagern sind grund-
sätzlich alle räumlichen Freiheitsgrade in globalen und lo-
kalen Koordinatensystemen einzeln regelbar. Die Regelung
berechnet zunächst die zugehörigen Transformationen und
daraus die jeweiligen Sollwerte der Zylinderwege nach
dem Prinzip der Trilateration zur exakten Positionsbestim-
mung in Echtzeit. Zur Rückführung von Ist-Werten der re-
sultierenden Schnitt- und Weggrößen für die Regelung die-
nen insgesamt 20 Weg- und Kraftsensoren. Durch die drei-
dimensionale Beweglichkeit der Lasteinleitungsplatte las-
sen sich herstellbedingte Imperfektionen des Prüfkörpers
ausgleichen. Für die vorliegenden Querkraftversuche wird
die aus den Vertikalanteilen der Hydraulikzylinder resultie-
rende Querkraft als Regelgröße verwendet und die Normal-
kraft sowie Torsion im Träger ausgeregelt.
3.3 Versuchsträgergeometrie und Materialeigenschaften
Um die Beanspruchungsverhältnisse im Bereich neben der
Zwischenstütze eines Durchlaufträgersystems abzubilden,
werden die zu untersuchenden Trägerelemente jeweils
durch eine konstante Querkraft sowie ein linear veränderli-
ches Biegemoment mit Nullpunkt in Trägermitte bean-
sprucht.
Die Länge der Trägerelemente beträgt in den aktuellen Ver-
suchen 3,50 m. Als Querschnitt wird ein Rechteckquer-
schnitt mit einer Querschnittshöhe von 80 cm und einer
Breite von 25 cm im Regelbereich (= Prüfbereich) gewählt.
Im Bereich der beidseitigen Lasteinleitung werden die Trä-
gerelemente über eine Länge von 45 cm linear auf eine
Querschnittsbreite von 50 cm aufgeweitet, wobei trapezför-
mige Schubnocken (vergleichbar mit einer Fuge im Seg-
mentbrückenbau) in einem Raster von 100 mm die passge-
naue Verbindung mit der Lasteinleitungsplatte herstellen.
Die Elemente werden jeweils mit zwei parabelförmigen
Spanngliedern (3 Litzen, Nenndurchmesser 15,2 mm) mit
einem Normalkraftanteil der Vorspannung von 2,5 MPa be-
zogen auf die Betonquerschnittsfläche vorgespannt. Als
Längsbewehrung wurden analog zu [26] für alle Prüflinge
oben und unten symmetrisch sechs Stäbe @ 25 in zwei La-
gen gewählt. Für die neun geplanten Versuche soll lediglich
die Form der Bügelbewehrung variiert werden. Insgesamt
werden dabei fünf verschiedene Konstellationen unter-
sucht: Referenzträger ohne sowie mit konventionellen Bü-
geln (nach aktuellem Regelwerk), zweiteilige Steckbügel
mit reduzierter Übergreifungslänge, einseitig offene Bügel
und Steckbügel als Zulagebewehrung im Stützbereich. Alle
Versuchsträger bestehen aus Normalbeton der Festigkeits-
klasse C 30/37.
3.4 Messtechnik
Zur kontinuierlichen Erfassung der Beanspruchungsver-
hältnisse und des Tragverhaltens während des Versuchs
kommt in den Untersuchungen eine sehr umfangreiche
Messtechnik zum Einsatz. In allen Versuchen werden
Translationen und Rotationen an der Lasteinleitungsplatte
in allen Raumrichtungen mittels sechs Wegaufnehmern an
den einzelnen Hydraulikzylindern, einem Seilzugaufneh-
mer zur Verschiebungsmessung in Querrichtung sowie ei-
nem einachsigen Inklinometer zum zusätzlichen Abgleich
der Plattenhauptrotation gemessen. Zudem werden die im
Plattenanschnitt aufgebrachten Schnittgrößen durch Diffe-
renzdruckmessung aus zwölf Drucksensoren der Hydrau-
likzylinder rückgerechnet.
Darüber hinaus wird für ein etwa 90 cm breites Messfeld
ein optisches Messsystem (GOM) eingesetzt, welches die
Messung von Formänderungen sowie des Riss- und Verfor-
mungsverhaltens des Trägers ermöglicht. Die Dehnung in
der Bügelbewehrung (falls vorhanden) und der Längsbe-
wehrung werden mittels Dehnmessstreifen (DMS) sowie
mithilfe von faseroptischer Messtechnik erfasst. Durch die
faseroptische Messung können die Dehnungen entlang ei-
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BauingenieurBand 92, November 2017
nes Bügels kontinuierlich über den Bügelschenkel gemes-
sen werden. An den Bügeln werden jeweils ein Sensor für
faseroptische Messungen sowie insgesamt bis zu 63 DMS je
Versuch appliziert. Die Dehnung der Längsbewehrung wird
über acht konventionelle DMS gemessen.
3.5 Bisherige Versuchsergebnisse
3.5.1 Allgemeines
Um die Vergleichbarkeit der Ergeb-
nisse an Durchlaufträger-Teilsyste-
men mit ganzen Systemen zu über-
prüfen und so den neuen Versuchs-
stand zu validieren, wurde im Rah-
men des BASt-Projekts [22] ein direkt
vergleichbarer Referenzversuch zu
einem an der RWTH Aachen geprüf-
ten 12 m langen Durchlaufträger
(Zweifeldträger mit zwei Einzellas-
ten) durchgeführt. Erste vergleichen-
de Auswertungen zeigen bis auf zu
erwartende Unterschiede hinsicht-
lich der Lasteinleitung eine sehr gute
Übereinstimmung bezüglich des Ni-
veaus der Bruchlast sowie der Riss-
bildung.
Die nachfolgenden Ergebnisse stel-
len lediglich einen Auszug von bishe-
rigen Versuchen dar.
3.5.2 Querkrafttragverhalten
Bild 4 zeigt die aufgebrachte Quer-
kraft in Abhängigkeit der vertikalen
Verformung für drei ausgewählte
Versuche ohne Bügelbewehrung
(V1), mit konventionellen Bügeln
@ 6/25 (V 2) und oben offenen Bügeln
@ 6/25 (V 4). Hierbei wird der vertika-
le Weg als der resultierende Pressen-
hub in Vertikalrichtung bezeichnet
und beinhaltet somit gegebenenfalls elastische Verformun-
gen sowie Schlupfanteile der Versuchsapparatur.
Der Versuchsträger mit konventioneller geschlossener Bü-
gelbewehrung erreichte eine Versagenslast von 681 kN, wo-
hingegen der Prüfling ohne eine Bügelbewehrung bei einer
Last von lediglich 569 kN zu Bruch ging. Bei Vernachlässi-
gung der geringfügig unterschiedlichen Betondruckfestig-
keiten betrug der Traganteil der Bügelbewehrung somit
112 kN also 16,5 %. Der Versuchsträger V 4 mit oben offenen
Bügeln erreichte eine Traglast von 619 kN und somit nur
circa 90 % der Bruchlast des Trägers mit geschlossener Bü-
gelbewehrung. Demzufolge reduzierte sich der Bügeltrag-
anteil auf etwa 55% im Vergleich zu den geschlossenen Bü-
geln, was sich dadurch begründen lässt, dass der kritische
Schubriss die Bügelschenkel zum Teil in Bereichen kreuzt,
in denen sich die Bügelkraft durch die verringerte Veranke-
rung nicht bis zur Streckgrenze aufbauen kann. Dieser star-
ke Abfall des Traganteils der Bügelbewehrung wurde auch
in vorangegangenen Untersuchungen beobachtet [29]. Das
Versagen trat bei allen bisher durchgeführten Versuchen
recht spröde auf, wobei die Bügel der bewehrten Träger,
welche durch den kritischen Schubriss gekreuzt wurden,
vollständig versagten oder abrissen.
3.5.3 Rissbild und Bauteilversagen
Als Bauteilversagen für den Träger ohne Schubbewehrung
stellte sich ein Biegeschubversagen ein. Der Träger mit Bü-
gelbewehrung versagte primär durch ein Zugversagen der
Querkraftbewehrung, wobei sich nach dem Fließen der Bü-
gelbewehrung ein sekundäres Biegeschubversagen und ein
Versagen in der Druckzone ausbildete. Zunächst entstan-
den Biege- sowie Biegeschubrisse am Querschnittsrand im
Bild 5. Entstehung des „kritischen Schubrisses“ durch Fortpflanzung aus einem Biegeriss am Trägerrand
Fig. 5. Development of the „critical shear crack“ by propagation of a bending crack from the beam edge
Bild 4. Last-Verformungs-Kurven der Versuche an Trägern ohne Bügelbewehrung
(V1), mit konventionellen Bügeln @ 6/25 (V2) und mit oben offenen Bügeln
@ 6/25 (V4)
Fig. 4. Load-deflection curves of the test on girders without stirrups (V1), with
conventional stirrups @ 6/25 (V2) and with open, straight-legged stirrups @ 6/25
(V4)
Bild 6. Vergleich der Rissbildung (Formänderungsarbeit aus fotooptischen Messungen) bei Erreichen der Höchst-
last für einen Träger V1 ohne Bügelbewehrung (linkes Teilbild), Träger V2 mit konventioneller, geschlossener
Bügelbewehrung (mittleres Teilbild) und Träger V4 mit oben offenen Bügeln und geraden Stabenden (rechtes
Teilbild)
Fig. 6. Comparison of the crack formation (strain energy from photooptical measurements) on attainment of the
maximal load for a girder V1 without stirrups (left part of the figure), girder V2 with conventional, closed stirrups
(part of the figure in the middle) and girder V4 with open, straight-legged stirrups (right part of the figure)
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Stützbereich des Trägers (Bild 5, linkes Teilbild), die sich
ab einer Laststufe von etwa 400 kN (Bild 5, mittleres und
rechtes Teilbild) weiter in den Träger fortpflanzten und
schließlich – aufgrund der schwachen Dimensionierung
der Bügelbewehrung – bei einer Last in der Größenord-
nung von 681 kN zum Fließen der Bügelbewehrung und so-
mit zum Versagen führten.
Ein Vergleich der sich einstellenden Rissbildung (Erreichen
der Höchstlast) für die unterschiedlichen Konstellationen
der Bügelbewehrung (Bild 6) zeigt, dass sich bei den bei-
den bügelbewehrten Trägern durch die rissverteilende Wir-
kung der Bewehrung insgesamt mehr Risse ausbilden als
beim unbewehrten Träger. Das sich einstellende Rissbild
für die beiden Träger mit Bügelbewehrung ist ähnlich, wo-
bei sich die Risse beim Träger mit offenen Bügeln am obe-
ren Bauteilrand (Zugzone; dort offene, gerade Stabenden)
die Risse weiter öffnen. Bild 7 zeigt das letztendliche Bruch-
bild des Trägers V 4 mit oben offenen Bügeln mit geraden
Stabenden.
3.5.4 Ergebnisse aus faseroptischen Messungen
Für die Träger mit Bügelbewehrung wurde der genaue
Dehnungsverlauf entlang der Bügelschenkel mithilfe von
faseroptischen Sensoren [30] erfasst. Bild 8 zeigt beispiel-
haft die im Versuch gemessene Dehnung entlang eines ver-
tikalen Bügelschenkels (konventioneller geschlossener Bü-
gel, @ 6 mm) im Stützbereich bei Erreichen der Streckgren-
ze. Der maßgebende Schubriss kreuzt die vertikalen Bügel-
schenkel hierbei auf einer Höhe von etwa 25 cm (ab Ober-
kante Bügel), was an der Dehnungsspitze in diesem Be-
reich ersichtlich wird. Im Bereich des unteren Rissufers
(Biegedruckzone) verankert sich die Zugkraft des Bügel-
schenkels bereits nach circa 22 cm und die Bügeldehnung
in der Druckzone fällt (mit einem nahezu linearen Verlauf)
fast vollständig ab. Die gemessene Verankerungslänge des
Bügelschenkels entspricht in etwa der Verankerungslänge
eines geraden Bewehrungsstabes nach Norm. Durch die
Rissbildung in der Biegezugzone im oberen Bereich des Bü-
gelschenkels und die Verankerung des vertikalen Bügel-
schenkels im horizontalen Bügelteil verbleibt die Dehnung
im Bügel auf einem Restniveau von etwa 20 % der Streck-
grenze.
4 Feldversuch
„Brücke Hammelburg“
4.1 Einleitung
Um vorhandene Laborversuche zur
Querkrafttragfähigkeit wirkungsvoll
zu ergänzen, werden derzeit an der
Saalebrücke bei Hammelburg um-
fangreiche Belastungsversuche an
einer 7-feldrigen Spannbetonbrücke
aus dem Jahr 1955 durchgeführt. Ins-
besondere aufgrund der gestreckten
Linienführung, der guten Zugäng-
lichkeit, der geringen Höhe über
Grund sowie des vorgesehenen ein-
fachen Rückbaukonzepts (von einer
Bild 8. Dehnungsverlauf entlang eines Bügelschenkels im Stützbereich bei Erreichen der Streckgrenze für einen
geschlossenen Querkraftbügel (linkes Teilbild); Bewehrungskorb mit umlaufenden Messfasern auf der Bügelbe-
wehrung (rechtes Teilbild)
Fig. 8. Course of strain along the vertical leg of a stirrup in the area of the intermediate support on attainment of
the yield strength for a conventional closed stirrup (left part of the figure); reinforcement cage with circumferential
fiberoptical measuring fibers on the stirrups (right part of the figure)
Bild 9. Brücke über die fränkische Saale bei Hammelburg, Lage (links); Querschnitt, Versuchsträger und Längssystem (rechts)
Fig. 9. Bridge Hammelburg (across Franconian Saale), situation (left); cross-section, loading girder and longitudinal view (right)
Bild 7. Bruchbild des Trägers V4 mit oben offenen Bügeln und geraden Staben-
den im Bereich der Mittelstütze
Fig. 7. Failure mode of girder V4 with open, straight-legged stirrups in the area of
the intermediate support
Hauptaufsatz
7
BauingenieurBand 92, November 2017
Baustraße neben der Bestandsbrü-
cke) erwies sich das Bauwerk als be-
sonders geeignet für experimentelle
Untersuchungen. Zudem war bereits
Ende 2016 unterstrom und in paral-
leler Lage zum Bestand der Ersatz-
neubau fertiggestellt und dem Ver-
kehr übergeben. Der Rückbau der
bestehenden Brücke lag damit nicht
mehr auf dem kritischen Weg und es
stand ausreichend Zeit zur Planung
und Durchführung der Versuche zur
Verfügung.
4.2 Beschreibung des Brückenbauwerks
Die Saalebrücke Hammelburg besitzt eine Gesamtlänge
von 163 m (Regelstützweite 24,60 m), der Überbau wurde in
Form eines dreistegigen Plattenbalkens (Konstruktionshö-
he 1,10 m) ausgeführt, dessen 70 cm breiten Stege sich im
Stützenbereich zu den Querträgern hin bis auf eine maxi-
male Breite von 120 cm aufweiten. Die Überbauherstellung
erfolgte auf bodengestütztem Traggerüst in zwei Bauab-
schnitten, die durch ein Gerbergelenk (neben dem Fluss-
feld) miteinander verbunden sind. An den beiden Pfeiler-
achsen des Gelenkfeldes ist die Brücke in Längsrichtung
gehalten, die restlichen Lager sind längsverschieblich aus-
geführt. Im Versuch wird isoliert nur der Mittelsteg be-
trachtet/belastet und dazu vorab durch Längsschnitte aus
dem Gesamtsystem herausgetrennt.
4.3 Versuchskonzept und Messtechnik
Um möglichst viele Ergebnisse zu erhalten, wird die Brü-
cke in insgesamt fünf Feldern (jeweils im Stützenbereich
des Durchlaufträgers; ohne das Flussfeld und das Feld mit
dem Gerbergelenk) weggesteuert bis zum Erreichen der je-
weiligen Traglast mit Hydraulikzylindern belastet, die sich
an einem steif ausgebildeten Stahl-Widerlagerträger ab-
stützen (Bild 10). Dieser luftdicht verschweißte 1,81 m hohe
Kastenträger wird an den Pfeilerachsen durch je vier Zug-
stangen (75 mm) nach unten direkt im Bereich der Brü-
ckenlager über Steckträger verankert (vorab waren hierzu
die vorhandenen Lager auszubauen und die Lagersockel
abzubrechen). Um dort ein entsprechendes Stützmoment
aufzubauen und die Rotation des Brückenträgers und vor
allem des Querträgers zu reduzieren, wurde der zentrisch
über dem zu prüfenden Mittelsteg angeordnete Belastungs-
träger um etwa 6,50 m ins benachbarte Brückenfeld verlän-
gert, damit dort eine zusätzliche Gegenkraft aufgebracht
werden kann. Die Hauptquerkraftbeanspruchung wird da-
bei über einen circa 4,0 m von der jeweiligen Pfeilerachse
entfernten Hydraulikzylinder eingeleitet, der über entspre-
chende Verformungsmessungen am Bauwerk gesteuert
wird. Zudem besteht die Möglichkeit, über vier kleinere
Einzelzylinder verteilte linienförmige Belastungen im Feld-
bereich des Brückenträgers aufzubringen.
Zum Verfahren der Belastungseinrichtung und als Kippsi-
cherung wird der Stahlträger in den Stützenachsen und an
zwei weiteren Stellen im belasteten Feld durch quer zur
Brücke angeordnete Fachwerkrahmen gehalten und zudem
längs und quer mit Seilen verspannt. Im Zuge der Entwick-
lung des Versuchskonzepts wurden am Brückenbauwerk
umfangreiche Voruntersuchungen durchgeführt (u. a. zu
Zug- und Druckfestigkeiten, dem E-Modul, der vorhande-
nen Vorspannung und zu Vorschädigungen) und es erfolgte
eine umfassende nicht-lineare Vorberechnung des zu be-
lastenden Trägers sowie eine systematische Analyse des
Gesamtsystems. Zudem wurden detaillierte Verfahrensan-
weisungen und Gefährdungsbeurteilungen beginnend von
der Anlieferung des Hauptträgers über den Versuchsaufbau
bis hin zur Durchführung der Belastungsversuche und den
anschließenden Rückbau der Belastungseinrichtung erar-
beitet. Die statischen Berechnungen sowohl zum Bauwerk
als auch für den Stahlbau wurden unabhängig durch Prüf-
ingenieure geprüft.
Die genaue Positionierung und das Verfahren des Trägers
in Brückenlängsrichtung (zwischen den einzelnen Versu-
Bild 10. Belastungsträger mit Aussteifungen, Rückhängungen an den Pfeilerachsen und Belastungszylindern (Prinzipskizze)
Fig. 10. Loading girder with frame, back anchoring at the pillar area and loading cylinders (schematic sketch)
Bild 11. Auflagerung auf Brückenkappen, Längsverschub (links); Aussteifung des Trägers (Mitte); Einbau Haupt-
zylinder (rechts)
Fig. 11. Position on the pavement, longitudinal relocation (left); frame construction (middle); main loading cylin-
der (right)
Bauingenieur Band 92, November 2017
Hauptaufsatz
8
chen) erfolgt über zwei hydraulische Pressen, die jeweils
mit Steckbolzen an Verschubschienen fixiert und nach je-
dem Einzelhub umgesetzt werden. Der Belastungsträger
stützt sich in diesem Zustand über die vier Queraussteifun-
gen und Querträger seitlich auf den Kappen der beiden
Randträger ab (als Absturzsicherung wurden Brückenkap-
pen und Geländer während der Versuche nicht rückgebaut,
es wurden vorbereitend lediglich der Asphaltbelag und die
Abdichtung bis auf den Konstruktionsbeton abgefräst). Die
längsverschiebliche Auflagerung des Systems erfolgt wäh-
rend des Verschubs über PTFE-Platten, Gleitbleche und
Schwerlastrollen. Da die genauere Untersuchung der kaum
torsionsbewehrten Randträger gezeigt hat, dass vor allem
im Bereich der unsymmetrischen Aufweitung der Stege zu
den Stützenachsen hin die auftretende Torsion nicht rech-
nerisch nachweisbar ist, wurde zur Sicherung der Bestand-
träger eine zusätzliche Torsionsaussteifung vorgesehen.
Vor Durchführung der Versuche wurde das Bauwerk um-
fassend mit Messtechnik bestückt. Hierbei kamen neben
konventionellen Messgebern (u. a. Wegaufnehmer, Kraft-
messdosen, DMS) umfangreiche faseroptische Sensoren
zum Einsatz, die in den hochbelasteten Bereichen zwischen
Hauptzylinder und Brückenpfeiler auf die Betonoberfläche
der Stege appliziert wurden und im Versuch kontinuierlich
eine hochpräzise Dehnungsmessung liefern können (Bild
12, links). Darüber hinaus erfolgte während der Belastung
eine Beobachtung der Rissentwicklung (und Rissbreite), so-
wohl mithilfe der eigenen kamerabasierten optischen
Messtechnik (GOM, lokale Bereiche) als auch größerflächig
geodätisch durch den Lehrstuhl für Geodäsie der TUM.
Hierbei wurden gleichzeitig perma-
nent die Globalverformungen der ge-
samten Brücke gemessen.
4.4 Erste Ergebnisse und Ausblick
Anfang August 2017 konnte der erste
Versuch in einem der Randfelder
(Seite Hammelburg) erfolgreich ab-
geschlossen werden. Durch das kom-
plexe und stufenweise Aufbringen
von Lasten in unterschiedlicher Grö-
ße und an verschiedenen Orten des
untersuchten Trägers konnte bei die-
sem Versuch das gewünschte Versa-
gen – ein Schubversagen im Stützen-
bereich (Bild 12, rechts) – gezielt
herbeigeführt werden. Wie die Aus-
wertung der ersten Messergebnisse
bestätigte, lag die Bruchlast dabei in
der, gemäß den vorab durchgeführ-
ten Berechnungen, erwarteten Grö-
ßenordnung.
Die detaillierte Auswertung der um-
fangreichen Messdaten erfolgt nach
Durchführung aller fünf Versuche
(ab September 2017). Weiterhin wer-
den auch zwei weitere Laborversu-
che mit dem unter Abschnitt 3 erläu-
terten Versuchsstand durchgeführt,
in denen die Verhältnisse der Saale-
brücke in Hammelburg möglichst ge-
nau nachgebildet werden. Damit soll
auch erreicht werden, dass der Sub-
struktur-Versuchsstand nicht nur mit anderen Laborversu-
chen, sondern auch mit experimentellen Untersuchungen
an realen Brückentragwerken abgeglichen und validiert
wird.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Im vorliegenden Beitrag wurde eine innovative Versuchs-
technik zur Prüfung von vorgespannten Balkenelementen
mithilfe der Substrukturtechnik vorgestellt und erste Ver-
suchsergebnisse für die Prüfung von Durchlaufträger-Teil-
systemen aus Normalbeton mit unterschiedlichen Bügelfor-
men diskutiert. Anhand erster Untersuchungen mit einem
neuen Versuchsstand konnte gezeigt werden, dass die An-
wendung des Prinzips der Substrukturtechnik für experi-
mentelle Untersuchungen sehr vielversprechende Ergeb-
nisse liefert und dass es möglich ist Versagensbereiche ei-
nes globalen Systems an sogenannten Substrukturen he-
rausgelöst zu betrachten. Es zeigte sich, dass sich der Bü-
geltraganteil bei Verwendung von oben offenen Bügeln mit
geraden Stabenden fast halbiert, da die Streckgrenze der
Bügel im Bereich des kreuzenden kritischen Schubrisses in
den randnahen Bereichen (Bereiche mit offenen Bügelen-
den und geraden Stabenden) nicht erreicht werden kann.
Darüber hinaus wurde über in-situ-Versuche an einer rea-
len Spannbetonbrücke berichtet und das Versuchskonzept
sowie der Aufbau der Versuchseinrichtung erläutert. Durch
Abgleich und Kalibrierung konventioneller Laborversuche
mit in-situ-Versuchen an realen Brückenbauwerken (Bild
13) werden die Grundlagen geschaffen, um mit dem neuen
Bild 12. Messtechnik im Versuchsfeld (links); Schubversagen im Stützenbereich bei Versuch 1 (rechts)
Fig. 12. Measuring technique at the testing area (left); shear failure in the support area (test 1, right)
Bild 13. Die Substrukturtechnik als zentrales Element auf dem Weg zu wirklichkeitsnahen Nachweisformaten
Fig. 13. The substructure technique as a central element on the way to realistic design requirements
Hauptaufsatz
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BauingenieurBand 92, November 2017
Versuchsstand verschiedene Tragmechanismen und Ein-
flussfaktoren systematisch zu analysieren und damit wirk-
lichkeitsnähere Modelle für die Nachrechnung von Brü-
cken zu formulieren. Zusätzliche Potenziale ergeben sich
durch die Möglichkeiten der Untersuchung einer Überlage-
rung mit Torsion, der Querkrafttragfähigkeit bei schiefer
Biegung oder auch der Aufbringung von zyklischen Belas-
tungen.
Danksagung
Unser besonderer Dank gilt dem Bundesministerium für Verkehr und digitale
Infrastruktur (BMVI) sowie der Obersten Baubehörde im bayerischen Staatsmi-
nisterium des Inneren für die Ermöglichung der Großbelastungsversuche an der
Saalebrücke in Hammelburg. Darüber hinaus bedanken wir uns vor allem auch
beim staatlichen Bauamt Schweinfurt für die hervorragende und stets kon-
struktive Zusammenarbeit, ohne die die Realisierung der Versuche so nicht
möglich gewesen wäre.
Zudem danken wir der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) für die Gewäh-
rung von Fördermitteln für das Verbundforschungsprojekt [22] zur Entwicklung
erweiterter Bemessungsansätze für Querkraft und Torsion.
Diesem Bericht liegen Teile der im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr
und digitale Infrastruktur, vertreten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen,
unter FE-Nr. 15.0591/2012/FRB durchgeführten Forschungsarbeit zugrunde.
Die Verantwortung für den Inhalt liegt allein beim Autor.
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