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DER NEUGIER
AUF DER SPUR
VON CARL NAUGHTON, ISABEL DE PAOLI
UND TODD B. KASHDAN
Sonderdruck
aus der Ausgabe April 2018
DER NEUGIER
AUF DER SPUR
Lust auf Neues? Ist in
Unter nehmen eher unter -
entwickelt. Doch nun
gibt es ein Programm,
das Mitarbeiter kreativer
macht. Unternehmen
wie Merck und Porsche
Consulting haben es
ausprobiert – mit Erfolg.
VON CARL NAUGHTON, ISABEL DE PAOLI
UND TODD B. KASHDAN
STRATEGIEN
2HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2018
FOTO: GETTYIMAGES
APRIL 2018 HARVARD BUSINESS MANAGER 3
Diese Ergebnisse haben wir als Grundlage ge-
nommen, um ein Programm zu entwickeln, mit
dem sich die berufliche Neugier in Unternehmen
steigern lässt. Es besteht unter anderem aus evi-
denzbasierten Techniken der Kreativitätspsycho-
logie, dem Innovationsmanagement und der kog-
nitiven Verhaltenstherapie. Wir arbeiteten mit den
Führungskräften von drei Teams aus unterschied-
lichen Branchen zusammen, die diese Methoden
in einem sechsmonatigen sogenannten Lab Part-
nership Program implementierten.
Das Ziel war, zu erkunden, wie eine Stärkung
der beruflichen Neugier auf das Innovationsklima
und unternehmerisch relevante Ergebnisse wirkt.
Wir nutzten ein von uns entwickeltes Modell zur
Messung der beruflichen Neugier und der Innova-
tionskultur, um in jeder Gruppe einen indexierten
Ausgangswert zu bestimmen. Aufbauend auf den
individuellen Neugier- und Innovationsprofilen
der Teams, wählten wir aus einem Pool von 90
evidenzbasierten Interventionen diejenigen aus,
die nachweislich halfen, den jeweiligen Aspekt
der beruflichen Neugier zu stärken. Bis zum Ende
des Projektzeitraums überprüften wir dann regel-
mäßig mit wissenschaftlichen Methoden die Ent-
wicklung der Teilnehmer.
Bei den drei Teams handelte es sich um eine
Gruppe von sechs Managementberatern von Por-
sche Consulting aus Stuttgart, die ein Projekt in
der Luftfahrtbranche in Australien durchführten;
ein zehnköpfiges Team des Weizmann Institute of
Science in Israel, das für die Sicherheit der in den
zugehörigen Labors arbeitenden Forscher zu sor-
gen hatte; und 14 F&E-Mitarbeiter des deutschen
Chemie- und Pharmakonzerns Merck, die an
neuen Materialien zur Steigerung der Energieeffi-
zienz von LED-Lampen arbeiteten. (Zum Umgang
mit Neugier bei Merck siehe den Kasten „Merck:
ein neugieriges Unternehmen“ nächste Seite.)
Diese Gruppen sahen sich mit unterschied-
lichen Herausforderungen konfrontiert. Während
die Merck-Mitarbeiter von einer Innovationskul-
tur berichteten, die zu wenig Raum für Fehler ließ,
klagte das Team aus Israel über einen Mangel an
Zeit und strukturierter Unterstützung durch die
Gesamtorganisation. Die Berater von Porsche Con-
sulting wiederum hatten aufgrund strikter Pro-
jektabläufe wenig Freiraum für innovative Gedan-
ken. Die unterschiedlichen Anforderungen und
Arbeitsabläufe waren der Grund, warum wir ge-
zielt Techniken auswählen mussten, die zum je-
weiligen Team passten.
DIE VIER DIMENSIONEN
Lassen Sie uns zunächst definieren, was Neugier
eigentlich ausmacht. Unserer Forschung nach um-
fasst sie vier Dimensionen, die sich messen und
verändern lassen. Die erste ist Wissbegier de. Sie
beschreibt, wie jemand von sich aus nach neuen
und komplexen Informationen sucht und was ihn
STRATEGIEN KREATIVITÄT
Seit Jahren betonen Ma-
nager landauf, landab,
wie wichtig Inno -
vationen für die Zu-
kunft ihrer Unterneh-
men sind – selten mit Erfolg.
Entweder fehlt es an Zeit, sich
Neues auszudenken; den richti-
gen Methoden, um auf Ideen zu
kommen; oder hierarchische
Entscheidungsstrukturen führen
dazu, dass nur sichere, aber nicht
wirklich innovative Vorschläge eine
Chance erhalten. Auf diese Weise entsteht keine
Innovationskultur. Wir glauben, dass Unterneh-
men dafür eine Fähigkeit entwickeln müssen, die
sie viel zu lange vernachlässigt haben: Neugier.
Wir reden hier nicht nur von einem Wort,
sondern von einer Geisteshaltung, die Führungs-
kräfte in Unternehmen fördern müssen. Jüngere
wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass
neugierige Organisationen innovativer, produk -
tiver und erfolgreicher sind. So fand der Psycho-
loge Patrick Mussel von der Universität Würzburg
2012 in einer Studie heraus, dass die Leistung
von Mitarbeitern eines Automobilzulieferers stark
mit ihrer beruflichen Neugier zusammenhing. Die
Beratungsgesellschaft Braincheck, der einer der
Autoren angehört, übernahm die Messmethode
später in einer Feldstudie mit Mitarbeitern unter-
schiedlicher Unternehmen, um zu überprüfen, ob
Neugier auch mit Innovationskraft zusammen-
hängt. Und tatsächlich: Je höher ihre Punktzahl auf
der Neugierskala war, desto mehr und desto origi-
nellere Ideen entwickelten die Probanden.
In den vergangenen drei Jahren haben wir
gemeinsam nach Wegen gesucht, Neugier zu för-
dern. Wir wollten wissen: Aus welchen Kompo-
nenten besteht Neugier? Wie neugierig sind die
Mitarbeiter in Unternehmen? Und welche Ansätze
eignen sich, ihnen Lust auf Neues zu machen?
Der erste Schritt war eine gründliche Bestands-
aufnahme: 2016 veröffentlichten wir die Ergebnisse
von Umfragen unter rund 5000 Arbeitnehmern aus
16 Branchen in den USA, Deutschland und China in
unserer „Neugierstudie“. Eine Erkenntnis war, dass
Neugier oft gepredigt, aber nur selten gefördert
wird. Selbst Unternehmen, die auf Innovationen
angewiesen sind und viel Geld in Forschung und
Entwicklung stecken, unter binden die Lust am
Neuen mehr, als dass sie diese unterstützen. In den
USA sagten 65 Prozent der Arbeitnehmer, dass Neu-
gier unentbehrlich sei, um neue Ideen zu entwi-
ckeln. Aber fast der gleiche Prozentsatz gab an, dass
er sich nicht in der Lage fühlte, am Arbeitsplatz die
richtigen Fragen zu stellen. Und während 84 Pro-
zent erklärten, ihre Arbeitgeber ermutigten grund-
sätzlich zu Neugier, sagten 60 Prozent, dass dies in
der Praxis mit Hindernissen verbunden sei.
KOMPAKT
DAS PROBLEM
Menschen sind von Natur
aus neugierig. Doch in
Unternehmen wird ihnen
diese Wissbegierde
systematisch aberzogen.
Hierarchische Strukturen
führen dazu, dass in der
Regel nicht die innova -
tivs ten, sondern die
risikoärmsten Vorschläge
zum Zuge kommen. Es
fehlt an einer Geistes -
haltung, die Neugier nicht
nur zulässt, sondern
ausdrücklich fördert.
DIE LÖSUNG
Die Autoren haben ein
Programm entwickelt, mit
dem sich die berufliche
Neugier in Unternehmen
steigern lässt. Seine Wirk-
samkeit überprüften sie
mit drei Teams von Merck,
Porsche Consulting und
dem Weizmann Institute
of Science. Verschiedene
Techniken wie das „Lunch
and learn“-Format oder
die „Curiosity Cake
Challenge“ halfen den
Teams, ihre Neugier und
damit ihre Innovations -
kraft zu steigern.
4HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2018
dazu antreibt. Wissbegierige Menschen sind Ent-
decker. Ihr Beweggrund besteht darin, die An-
spannung zu reduzieren, die aus fehlendem Wis-
sen oder mangelhaftem Verständnis entsteht.
Dieser Treiber ist ausschlaggebend dafür, dass
jemand innovative Lösungen außerhalb seines
beruflichen Komfortbereichs findet – und genau
darum geht es: einen Blick über den Tellerrand zu
ermöglichen.
Wissbegierde allein reicht nicht aus. Sie müssen
auch bereit sein, unterschiedliche Perspektiven
einzunehmen und verschiedene Wege auszupro-
bieren, bevor Sie eine Idee oder Lösung abschlie-
ßend bewerten. Diese mentale Flexibilität nennen
wir Kreativität bei der Problemlösung. Sie ist die
zweite Dimension von beruflicher Neugier. Ihr
Wesen wird gut durch eine Aussage verdeutlicht,
die dem Erfinder Thomas Edison zugeschrieben
wird: „Ich habe 999 Wege gefunden, wie eine
Glühbirne nicht funktioniert.“
Edison war ein kreativer Einzelgänger. Heutzu-
tage bilden Unternehmen für Innovationsprozesse
globale Teams, in denen die Sichtweisen vieler
unterschiedlicher Menschen zusammenfließen.
Diese Art der Zusammenarbeit kann zu sehr viel
kreativeren Problemlösungen führen. Mit ihr ent-
stehen aber auch Probleme: In der Regel ergibt
sich ein Schlagabtausch um die bessere Idee. Sel-
ten werden gegensätzliche Vorstellungen vereint
oder als Basis für neue Denkansätze genutzt. Ma-
nager und ihre Teams müssen sich deshalb für an-
dere Perspektiven und widersprüchliche Informa-
tionen öffnen. Neugier am Arbeitsplatz benötigt
daher Offenheit für Ideen – die dritte Dimension.
Hochgradig neugierige Menschen übernehmen
mit Freude andere Denkmuster. Sie stürzen sich in
unbekannte Aktivitäten und beschäftigen sich
gern mit neuen Themen.
Wer kritische Fragen stellt, Widersprüche ak-
zeptiert und sich auf unbekanntes Terrain wagt,
wird die Herausforderungen aber nur bewältigen,
wenn er dabei über eine hohe Stresstoleranz ver-
fügt. Diese vierte Dimension beschreibt die Über-
zeugung, dass jemand in der Lage ist, mit Neuem,
Komplexem, Undurchsichtigem, Unerwartetem
oder Unbekanntem umzugehen. Dies ist nicht zu
unterschätzen. Die Untersuchungen im Merck-
Konzern ergaben: Die Stresstoleranz bestimmt, ob
eine Person ihrer Neugier auch maßgebliche Taten
folgen oder sich entmutigen lässt und weiter-
macht wie bisher.
DIE TECHNIKEN
Unser Programm hatte zum Ziel, dass sich alle
drei Teilnehmergruppen in allen vier Dimensio-
nen verbesserten. Auf Basis der zuvor beschrie-
benen Auswahlkriterien erhielten die Teamleiter
bei einem eintägigen Workshop ein maßge-
schneidertes Training, das sie in die Lage ver-
setzte, die gewählten Techniken mit ihren Mitar-
beitern anzuwenden. Später hatten sie stets die
Möglichkeit, bei Schwierigkeiten die Trainer zu
kontaktieren.
Um die Wissbegierde zu steigern, wählten wir
die Question Formulation Technique. Der Kern
ist: Anstatt mit einer Frage zu starten und direkt
nach Lösungen zu suchen, stellen Sie Mitarbeitern
ein Problem vor. Dann fordern Sie das Team auf,
so viele Fragen wie möglich dazu zu stellen. Die
Technik folgt vier Regeln: Sie bilden Gruppen von
drei bis fünf Mitarbeitern. Eine Person schreibt die
Fragen auf. Sie geben den Rahmen vor – entweder
„Zeit“ (etwa in zehn Minuten so viele Fragen wie
möglich zu sammeln) oder „Menge“ (beispiels-
weise 45 Fragen pro Team). Während die Teams
sammeln, sollten sie die Fragen weder diskutieren
noch beantworten. Zuerst nach Fragen statt nach
Antworten zu suchen hat den Vorteil, dass sich
eine Gruppe intensiv mit einem Themenfeld be-
schäftigt und Fragen stellt, die sonst nie aufkom-
men würden. Zudem entsteht eine Geisteshal-
tung, die das Suchen nach Informationen fördert
und so die Wissbegierde steigert.
Dem Merck-Team wurde in der Anwendung
dieser Methode bewusst, wie wichtig das Teilen
von Wissen und das Aufbrechen von Silodenken
im Unternehmen ist. Es entwickelte daher die
„CU-Lab Talks“ (Curiosity-Lab Talks), wobei sie
Kollegen zu Gesprächsrunden einluden, um Inno-
vationsthemen zu diskutieren und den Meinungs-
austausch zu fördern. Diese Initiative war nicht
Teil unseres Programms, sondern entstand aus
der Erkenntnis der Teammitglieder, dass Gruppen
bessere Einfälle haben, wenn sie externe Sicht -
weisen einbeziehen – eine Annahme, die die For-
schung empirisch bestätigt hat. Für uns war dies
ein erster Indikator für den Nutzen, den die Stei-
gerung der Neugierdimension bereits zu Beginn
des Projekts mit sich brachte.
MERCK: EIN NEUGIERIGES UNTERNEHMEN
„Neugier ist in unserer DNA verankert“ – so beschreibt sich der deutsche
Wissenschafts- und Technologiekonzern Merck ganz selbst bewusst. Doch der
Hang zur Entdecker freude ist mehr als ein Werbeclaim. Er ist eine Haltung, die
das ganze Unternehmen durchdringen soll. 2016 ging der Konzern damit an die
Öffentlichkeit, launchte mit #catchcurious eine globale Marken kampagne, um
vor allem Multiplikatoren anzusprechen. Zudem veröffent lichte Merck in
Zusammenarbeit mit Todd B. Kashdan, Koautor des vorliegenden Artikels, die
erste internationale Neugierstudie („Be curious – State of Curiosity Report
2016“). Sie brachte unter anderem ans Licht, dass sich gerade mal 20 Prozent
aller Arbeitnehmer selbst als neugierig bezeichnen würden. Herzstück der
Kampagne ist jedoch eine interaktive Onlineplattform (deutsch sprachige Ver -
sion: curiosity.merck.de), die mit einer Mischung aus Unterhaltung und
Informationen auf das Thema Neugier auf merksam machen will. Dazu gehört
auch ein wissenschaftlich fundierter Selbsttest in 3-D-Optik.
APRIL 2018 HARVARD BUSINESS MANAGER 5
Das Sicherheitsteam des Weizmann Institute
wiederum hatte mit der Question Formulation
Technique nach Einfällen für einen Notausgang
eines Labors gesucht, in dem die gleichen Bedin-
gungen herrschten wie auf dem Mars. Unter ande-
rem betrug die Temperatur minus 40 Grad. Was,
wenn die Tür blockiert wäre? Die Lösung des Teams
war eine kleine Nottür in der Eingangstür, die
ein eingeschlossener Mitarbeiter in umgekehrter
Richtung öffnen kann – „wie eine Minitür für Kat-
zen“, sagt der Leiter Paz Barnett. Er sagt, dass sein
Team ohne die Technik womöglich nie auf eine
solch kreative Lösung gekommen wäre.
Um die Offenheit für neue Ideen zu fördern,
identifizierten wir als beste Methode ein soge-
nanntes Lunch-and-learn-Format. Die Teams
luden dabei Querdenker aus ihren Unternehmen
oder von außerhalb zu einer gemeinsamen Mit-
tagspause ein. Die Eingeladenen hielten Impuls-
vorträge und diskutierten anschließend mit den
Teammitgliedern darüber, wie ihre Thesen mit der
jeweiligen Arbeit zusammenhingen.
Als zweite Methode in dieser Dimension wähl-
ten wir das asynchrone Brainwriting. Bei einer
Studie in einem Technologiekonzern waren mit
dieser Technik 35 Prozent mehr gute Ideen ent-
standen als bei normalem Brainstorming. Ihr be-
sonderer Vorteil besteht darin, dass die Teil -
nehmer nicht durch die laute Atmosphäre eines
traditionellen Brainstormings beim Ausarbeiten
von Ideen unterbrochen werden. Zunächst
schreibt eder für sich allein Vorschläge auf, wie er
ein bestehendes Problem lösen würde. Nach acht
Minuten reicht er seine Zettel an den nächsten
Teilnehmer weiter, der drei Minuten Zeit hat, die
Inhalte zu lesen und mit eigenen Gedanken zu
verknüpfen. Dies wiederholt sich zweimal. Da-
nach bespricht das Team die gesammelten Ideen
in der Gruppe.
In der Dimension „Kreativität bei der Problem-
lösung“ setzten wir eine Methode des Zukunfts -
instituts ein, einer in Frankfurt ansässigen For-
schungseinrichtung, die Megatrends in Wirtschaft
und Gesellschaft identifiziert. Bei der sogenann-
ten Cross-Innovation-Technik sollen Mitarbeiter
Ansätze wie den des „Cradle to Cradle“ aus dem
Megatrend Nachhaltigkeit auf ihre eigene Tätig-
keit übertragen. Sie arbeiten dabei mit Postern
und Karteikarten, auf denen verschiedene Bran-
chen- und Konsumtrends stehen. Die Berater von
Porsche Consulting entwickelten mit der Technik
eine Vision für die Zukunft der Luftfracht. Sie nah-
men das Ergebnis später in eine Präsentation vor
einem potenziellen Kunden auf, der sich in der an-
schließenden Diskussion beeindruckt zeigte.
Als weitere Methode in dieser Dimension ver-
schickten wir an alle Teams gemäß einem klaren
Zeitplan 24 Denkaufgaben. Es handelte sich um
Rätsel wie „Was bewegt sich, hat aber keine Beine;
STRATEGIEN KREATIVITÄT
74,4 68,2
Innovation
64,0 66,0
Neugier
65,0
91,0
Innovation
+21,7
+2,2
+2,0 -6,2
+26,0
+11,0
78,3
89,3
Innovation
67,5 69,7
Neugier
58,3
80,0
Neugier
Quelle: Umfrage Merck
MERCK
PORSCHE CONSULTING
WEIZMANN INSTITUTE
vorher
nachher
Bewertung von Neugier nach dem Merck-Umfrage-Index,
Bewertung von Innovation in Indexpunkten, nach
Selbsteinschätzung des jeweiligen Teams
WIE DREI TEAMS IHRE INNOVATI-
ONSKRAFT STEIGERTEN
Mit dem „Lab Partnership Program“ haben drei
Teams aus unterschiedlichen Branchen ihre be-
rufliche Neugier und damit auch ihre
Innovationskraft gesteigert. Allerdings sank der
Innovationswert beim F&E-Team von Merck
im Laufe des Programms, obwohl es dort
viele innovative Ansätze gab. Die Wissenschaft-
ler erklären dies mit einer kritischeren
Selbsteinschätzung der Mitarbeiter nach
Ende des Experiments.
6HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2018
Bei der „Curiosity Cake
Challenge“ backten alle im
Merck-Team einen Kuchen
mit Zutaten, die sie noch nie
benutzt hatten. Dann wurden
die Kuchen nach ihrem
Innovationsgrad bewertet.
was hat ein Bett, in dem man nicht schlafen
kann?“ (Lösung: ein Fluss). Mindestens die Hälfte
aller Teammitglieder sollte pro Woche eine solche
Aufgabe lösen. Die Merck-Mitarbeiter nutzten die
Rätsel bei jedem ihrer Innovationstreffen. Sie er-
weiterten dies um eine Curiosity Cake Challenge:
Jeder sollte einen Kuchen mit Zutaten backen, die
er zuvor noch nie benutzt hatte. Die ausgefal lens -
ten Kreationen wurden bei Teambesprechungen
probiert und nach ihrem Innovationsgrad bewer-
tet. Der Gewinn für die Organisation liegt auf der
Hand: Eine Innovationskultur entsteht nicht nur
dadurch, dass man Innovationsmethoden erlernt.
Entscheidend ist, dass die Mitarbeiter das Gefühl
haben, diese auch so einsetzen zu können, wie sie
ihnen am meisten nutzen.
In der Dimension Stresstoleranz wandten wir
zum einen eine Methode aus der kognitiven Ver-
haltenstherapie namens Chunking an. Dabei stellt
ein Coach Fragen, die ein Problem auf eine kon-
kretere („Was genau?“) oder allgemeinere Ebene
(„Was ist das größere Ziel?“) heben oder in einen
Kontext („Was gibt es noch?“) stellen. Das hilft
Mitarbeitern, aus eingefahrenen und Stress ver -
ursachenden Denkmustern auszubrechen. Zum
anderen nahmen wir ein Achtsamkeits programm
auf, welches das Search Inside Yourself Leader -
ship Institute entwickelt hat. Seit 2012 steht dieses
Programm Unternehmen und Einzelpersonen als
Training zur Verfügung. Inhalte sind unter ande-
rem Meditation, achtsames Laufen und achtsames
Atmen. Derartige Aktivitäten lenken den Fokus
auf den gegenwärtigen Moment, um die eigenen
Gefühle und Gedanken besser wahrnehmen zu
können. Zu dem Programm gehören auch Metho-
den, mit denen sich negative Gedanken stoppen
lassen. Die Teams von Merck und dem Weizmann
Institute lernten den Ansatz bei sechs zweistün -
FOTO: GETTYIMAGES
APRIL 2018 HARVARD BUSINESS MANAGER 7
Die Porsche-Berater sahen
anfangs wenig Sinn in
Meditation und Kreativi täts -
übungen. Nach sechs
Monaten hatte sich ihre
Einstellung jedoch am
deutlichsten gewandelt.
digen Onlineschulungen kennen; die Berater von
Porsche Consulting verbrachten einen halben Tag
mit einem Achtsamkeitstrainer.
DIE ERGEBNISSE
Für alle drei Teams erfassten wir, wie sich die Mit-
glieder in den vier Neugierdimensionen zu Beginn
und am Ende der sechsmonatigen Projektzeit
einschätzten. Außerdem erhoben wir, wie sich die
Innovationskultur in den Teams veränderte, um
zu überprüfen, ob eine Steigerung der Neugier tat-
sächlich zur Erhöhung der Innovationskraft führte
(siehe dazu den Kasten „Wie drei Teams ihre Inno-
vationskraft steigerten“ zwei Seiten zuvor).
Trotz der bereits beschriebenen Herausforde-
rungen für die Berater von Porsche Consulting
kletterten der Neugierindex (von 58,3 auf 80
Punkte) und der Innovationsindex (von 65 auf
91 Punkte) in den sechs Monaten im Vergleich zu
den anderen Teams am deutlichsten. Die Mit -
glieder berichteten von erheblichem Nutzen und
planen nun, einige Techniken bei künftigen Pro-
jekten einzusetzen, um beispielsweise Probleme
ihrer Kunden besser zu analysieren.
Beim Weizmann Institute of Science stieg der
Neugierindex von 67,5 auf 69,7 Punkte, der Inno-
vationsindex legte von 78,3 auf 89,3 Punkte zu.
Der Teamleiter erzählte uns, dass das Institut re-
gelmäßig einen Wettbewerb auslobt, zu dem alle
Mitarbeiter Innovationsideen beitragen können.
Die Mitglieder seines Teams reichten jetzt einen
Großteil der Beiträge ein. Er sagte auch, dass die
Angst vor Kritik nicht mehr so groß sei und seine
Mitarbeiter nun Ideen vortrügen, die sie zuvor nie
formuliert hätten.
Ähnliches berichtete das Merck-Team. Während
anfangs noch die Rede davon war, dass die Furcht,
Fehler zu machen, das Experimentieren behin-
FOTO: GETTYIMAGES
8HARVARD BUSINESS MANAGER APRIL 2018
dere, war in den Abschlussinterviews davon kaum
noch etwas zu spüren. Kurioserweise ging in
dieser Gruppe der Innovationsindex von 74,4 auf
68,2 Punkte zurück, während der Neugierindex
von 64 auf 66 Punkte stieg. Dem Teamleiter zu-
folge beurteilten die Mitarbeiter das Programm
sehr gut, zum Teil gar enthusiastisch. Zudem wa-
ren gerade bei Merck viele innovative Ansätze zu
beobachten; trotzdem fiel der Innovationswert.
Wie ist das zu erklären? Womöglich spielt die
Neubewertung der Situation eine Rolle. „Die
Mitarbeiter wissen erst durch das Programm, dass
sie noch sehr viel innovativer sein könnten“, sagt
Ingo Köhler, Leiter Forschung und Entwicklung
bei Merck im Bereich LED Lighting. „Die Labo -
ranten gehen jetzt auf die Laborleiter zu und
hinterfragen viel mehr als zuvor. Gleichzeitig
gehen sie kritischer mit sich selbst um, was sich
in ihrer Selbsteinschätzung widerspiegelt.“ Die
niedrigere Stress toleranz führt er auf Umstruk -
turierungen im Unternehmen zurück. Zudem
stimmt er mit seinem Kollegen vom Weizmann In-
stitute of Science überein, dass das Online-Acht-
samkeitsseminar nicht optimal gewesen sei: Eine
Schulung mit einem persönlichen Trainer vor Ort
– wie bei Porsche Consulting – wäre vermutlich
besser gewesen.
DIE LEHREN
Zwar umfasste unser Pilotprojekt nur drei Teams.
Doch wir sind überzeugt, dass wir daraus einige
generelle Lehren ziehen können, die sich mit den
Erkenntnissen aus unserer Studie und den Erfah-
rungen in unserer Arbeit decken.
1. Neugier erhöht die Innovationskraft. In allen
drei Gruppen gingen die Mitarbeiter Probleme auf
eine Weise an, die für sie Neuland war. Die Not -
ausgangstür für das Mars-Labor beim Weizmann
Institute oder die Einführung unternehmensinter-
ner Diskussionsrunden in der Merck-Forschung
sind Beispiele für innovative Problemlösungen.
2. Die Einstellung verändert sich durch Fähig-
keiten, nicht umgekehrt. Die meisten Menschen
gehen davon aus, dass man sich erst eine neue
Einstellung zulegen muss, bevor man neue Fähig-
keiten erlernen kann. Wir konnten die umge-
kehrte Abfolge zeigen: Wenn Menschen neue Fä-
higkeiten zielgerichtet und praxisnah trainieren,
verändert sich durch die Anwendung ihre Einstel-
lung. So standen viele Teilnehmer dem Programm
anfangs kritisch gegenüber. Doch nachdem sie
die Techniken im Arbeitsalltag genutzt hatten,
veränderte sich ihre Haltung. Deutlich zeigte sich
dies bei Porsche Consulting, wo anfängliche Skep-
sis erkennbar war. Die Berater sahen zunächst
wenig Sinn darin, Zeit mit Meditation oder Kreati-
vitätssessions zu verbringen. Nach sechs Monaten
war dieses Team jedoch dasjenige, in dem sich die
Einstellung am deutlichsten gewandelt hatte.
3. Neugier ist ansteckend. Sowohl bei Merck als
auch bei Porsche Consulting nutzen inzwischen
auch andere Teams einige unserer Neugier -
techniken. Die Kunde darüber verbreitete sich per
Mundpropaganda innerhalb der Unternehmen so-
wie, in einem Fall, durch den Wechsel eines Mit -
arbeiters in ein anderes Team. Wir beobachteten
also einen Transfereffekt in den Organisationen.
4. Je unkomplizierter die Anwendung, desto
größer die Akzeptanz. Zu Beginn hatten Mit -
arbeiter aller Teams die Sorge geäußert, dass die
Neugiertools ihre Arbeitsabläufe stören könnten,
und unsere Abschlussinterviews mit den Teamlei-
tern bestätigten, dass unkomplizierte Methoden
wie das asynchrone Brainwriting letztlich besser
angenommen worden waren.
5. Die Motivation der Führungskräfte ist ent-
scheidend. Einzelne Berater aus dem beruflich
besonders stark ausgelasteten Projektteam von
Porsche Consulting tendierten wegen zeitlicher
Engpässe zum Aussetzen des Neugierprogramms.
Doch der Teamleiter der Consultants überzeugte
seine Leute schnell, das Programm fortzusetzen.
Aus den guten Bewertungen, die dieses Team am
Ende abgab, lässt sich schlussfolgern, dass sich
das Weitermachen auch aus Mitarbeitersicht aus-
gezahlt hat. Die Arbeitsbelastung muss also kein
Grund sein, auf Techniken zur Steigerung von
Neugier zu verzichten – wenn die Führungskraft
motivationsstark ist und überzeugende Argu-
mente bereithält.
6. Die Methodik muss zum Arbeitsumfeld pas-
sen. Die Probleme mit den Onlineachtsamkeits-
trainings verdeutlichen, dass der unternehmens-
spezifische Kontext eine große Rolle spielt. Wer
neue Methoden einführen will, muss darauf
achten, dass die entsprechenden Räumlichkeiten,
IT-Systeme und Ausstattungen vorhanden sind.
FAZIT
In vielen Unternehmen ist eher Dienst nach
Vorschrift statt kreatives Ausprobieren zu beob-
achten. Das muss nicht sein. Unsere Ergebnisse
legen nahe, dass eine Kultur der Neugier entste-
hen kann, wenn Manager ihre Mitarbeiter entspre-
chend anleiten. Und sie können davon ausgehen,
dass dies die Innovationskraft ihrer Organisation
steigert.
Das Management von Merck ist davon über-
zeugt. Der Konzern hat eine Plattform mit entspre-
chenden Trainingstools entwickelt. Sie ist allen
Mitarbeitern zugänglich und soll die Organisation
insgesamt neugieriger und innovativer machen.
Wie wir aus der Psychologie wissen, sind Men-
schen von Natur aus neugierig. Im Arbeitsleben
wird ihnen dies oft aberzogen. Unternehmen,
die innovativer werden wollen, müssen einen an -
deren Weg gehen. Die Techniken dafür gibt es
bereits. © HBM 2018
AUTOREN
CARL NAUGHTON
ist einer der Gründer der
Unternehmensberatung
Braincheck und Autor
des Buchs „Neugier:
So schaffen Sie Lust auf
Neues und Veränderung“
(Econ 2016). Zudem
ist er Mitglied im Merck
Curiosity Council.
ISABEL DE PAOLI
ist Chief Strategy Officer
von Merck und verant -
wortet unter anderem
die Einheiten Innovation
und Digitalisierung.
TODD B. KASHDAN
ist Psychologieprofessor
an der George Mason
University im US-Bundes-
staat Virginia und
ebenfalls Mitglied des
Merck Curiosity Council.
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