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„Und wenn‘s geht, schau, dass es episch aussieht“ – Epische Strukturen im Fantasy Live-Rollenspiel

Authors:
doi:10.23963/cnp.2018.3.1.3
„Und wenn‘s geht, schau, dass es episch
aussieht“
Epische Strukturen im Fantasy Live-Rollenspiel
Sophia Mehrbrey*
This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License( CC BY4.0 )
Abstract
Live-action-role-play, short LARP, is an increasingly widespread hobby in Germany.
The aim is to slip into different roles together with other participants in order to play
and present a particular story. Even if the participants’ personal immersion is in the fo-
reground, it cannot be denied that most of them also attach importance to the reception
of their game by other participants. Therefore, an aesthetic component of the game is
indisputable. While the most obvious comparison here is with dramatic play, this article
aims to examine the structural and aesthetic similarities between the medieval epic and
the LARP.
Key words: aesthetic/aesthetics, character, con/convention, Conquest of Mythodea, re-
presentation, epic, community, history, society, hero, identity, culture, LARP/Live-
RPG, player
*Université de Rouen, Centre d’Études et de Recherche Éditer/Interpréter
sophia.mehrbrey@etu.univ-rouen.fr
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Colloquium: New Philologies ·Volume 3, Issue 1 (2018) Sophia Mehrbrey
Wie so oft in typischen Live Action Role-Playing (LARP) Plots ging es um Leben und
Tod. Würde es dem Erzmagier des Ordens des Stählernen Sterns nicht gelingen, den
Geist des dämonenhaften Wesens zurück in sieben Kerzen zu bannen, würde dieses
uns mit ziemlicher Sicherheit alle töten. Hoch beschäftigt mit der Vorbereitung seines
Rituals bat der Magier mich, ob ich mich darum kümmern könnte, im Hof des Guts-
hauses einen Kerzenleuchter mit sieben Kerzen vorzubereiten. Ich nickte. Also schickte
sich der Spieler des Magiers an, zu gehen. Doch dann drehte er sich noch einmal um, trat
an mich heran und fügte leise hinzu: „Und wenn’s geht, schau, dass es episch aussieht“.
Ein Satz wie jeder andere? Mit Sicherheit nicht. Das ästhetische Bewusstsein des Spielers
für die Gestaltung des Spiels ist hier wohl unverkennbar. Während der Charakter, von
dem das Überleben seines ganzen Ordens abhing, wohl keinen Gedanken an das äußere
Erscheinen des verwendeten Kerzenleuchters und daran, ob dieser auf rotem Samt oder
einem Jutesack steht, verschwendet haben dürfte, war es dem Spieler so wichtig, dass er
den Spielfluss trotz der steigenden Dramatik für einen Augenblick unterbrach, um mir
diese „Regieanweisung“ zukommen zu lassen.
Diese Szene aus einer der Conventions der Spielergruppe des Herzogtums Hohen-
bergen zeigt, dass Live-Rollenspieler nicht zwangsläufig nur um eine möglichst perfekte
Immersion, sondern auch um eine ästhetische, in diesem Fall epische, Komponente be-
müht sind. Dennoch wurde dem LARP eine ästhetische Qualität lange Zeit abgespro-
chen. So behauptet Bodo Jentzsch beispielsweise in seinem Artikel „Theater vs. LARP“,
dass „die meisten LARPer ihr Spiel nicht im Sinne eines Handwerkes verstehen, wel-
ches Kunst oder Ästhetik produziert“ (Jentzsch 2013, 78). Aus dem Interview mit ei-
nem einzelnen Live-Rollenspieler scheint der Autor schließen zu können, dass für die
Mehrzahl der LARPer „ästhetische Qualitäten in der Darstellung“ (Jentzsch 2013, 78)
wenig Bedeutung haben. Sicher, man spricht nicht ohne Grund vom Rollen- und nicht
vom Schauspiel. Der Rollenspieler richtet seine Darstellung nicht primär auf ein Publi-
kum aus, genauso wenig wie er einem rigiden Skript mit vorgeschriebenem Text und
Regieanweisungen folgt. Und dennoch kann man bei einer Vielzahl von Spielern beob-
achten, dass sie bei der Darstellung ihrer Charaktere sehr wohl ein starkes ästhetisches
Bewusstsein an den Tag legen.
Auch wenn viele Spieler nicht der Meinung sind mit ihrer Live-Rollenspiel Perfor-
mance einen künstlerischen Akt zu vollbringen, so schließt dies eine ästhetische Aus-
arbeitung der dargestellten Person keineswegs aus. Im Gegenteil kann man vielmehr
anführen, dass dem Live-Rollenspiel automatisch eine gewisse gestalterische Dimension
zu Grunde liegt, da die Darstellung eines Charakters immer in seiner Interaktion mit
anderen Charakteren entworfen wird und so jederzeit auf die Außenwirkung des Spiels
bedacht ist. Ganz gleich, ob dieses Abstimmen des Spiels auf die umstehenden, als Rezi-
pienten der Darstellung fungierenden Spieler, bewusst oder unbewusst geschieht, bleibt
sie ein essentieller Bestandteil des Live-Rollenspiels. So bilden die Mitspieler beim Live-
Rollenspiel einen essentiellen Bestandteil, wird doch die Darstellung meines Charakters
erst dann wirklich effektiv, wenn sie von mindestens einem anderen Spieler wahrge-
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nommen wird. Natürlich kann ein Spieler seinen Avatar ein Geheimnis hüten lassen,
doch auch das macht nur Sinn, wenn er zumindest Indizien, die auf dieses Geheim-
nis hindeuten, in seinem Spiel mit den anderen Teilnehmern platziert. Dazu kommt,
dass auch und gerade von Seiten der Organisatoren eine gewisse Inszenierung des Plots
stattfindet. So ist es gang und gäbe, dass sich Nicht-Spieler-Charaktere (NSCs) vor ih-
rem Auftritt genau überlegen, welche Wirkung sie erzielen wollen und durch welche
schauspielerischen Mittel und möglicherweise Effekte sie diese Wirkung erreichen kön-
nen. Oft werden zentrale Plot-Sequenzen ganz bewusst in Szene gesetzt. Das sogenannte
Time-Freeze ermöglicht es den Spielleitern beispielsweise den Handlungsfluss zu unter-
brechen, um dem Auftritt ihrer NSCs die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Für
einige Momente handlungsunfähig, werden die Spieler hier zu wirklichen Spielern. Auf
dem Conquest of Mythodea1werden die finalen Szenen eines Plots außerdem mit aufwen-
digen Lichteffekten und dramatischer Musik hinterlegt, teilweise sogar im Nachhinein
für die Kamera nachgespielt. Eine ästhetische Absicht ist dabei kaum mehr zu bestreiten.
Nun scheint es selbstverständlich, dass die Spieler bei ihrer Tätigkeit als „Autoren“
einer durch das Spiel erzählten Geschichte auf einen reichen Schatz an künstlerischen
Einflüssen zurückgreifen. Bewusste Modelle kommen im 21. Jahrhundert sicherlich häu-
fig aus der Filmbranche. Aber auch literarische Vorbilder beeinflussen nach wie vor die
Entwürfe der meisten Spielwelten. Noch immer bestimmt der Kampf gegen das Böse,
das Ausfechten großer Schlachten oder überschaubarer Kämpfe je nach Größe der
Veranstaltung gegen die Schergen mächtiger Dämonen, oder anderer Bösewichte die
LARP-Welt. Auch wenn immer mehr Veranstaltungen ihren Fokus auf weniger heroi-
sche Geschehnisse legen, bleibt das Streben nach dieser Form von Heldentum weiterhin
ein fester Bestandteil des Fantasy LARPs. Wie in der Literatur oder im Theater, so
kann man auch im Live-Rollenspiel verschiedene Register erkennen, die von der Par-
odie bis zum Pathos reichen. In ihrem Streben nach Heroik greifen die Spieler dabei oft
auf klassisch epische Muster zurück. In dem Bestreben, durch ihr Spiel eine möglichst
glorreiche Geschichte zu erschaffen, adaptieren die Spieler die Art der dargestellten Sze-
nen sowie auch die Modalitäten der Darstellung an sich. Ein lichter Paladin wird kaum
beim Feiern in einer zwielichtigen Spelunke anzutreffen sein, genauso wenig wie er vor
Aufregung stottern wird, wenn er seine Männer mit einer heroischen Ansprache in die
Schlacht führt (es sei denn, die Aufregung des Spielers selbst ist zu groß). Um die mög-
lichen Parallelen zwischen Live-Rollenspiel und dem mittelalterlichen Epos sichtbar zu
machen, werde ich zunächst die wichtigsten Charakteristika des letzteren rekapitulie-
ren, um anschließend zu diskutieren, wie diese sich im Fantasy LARP wiederspiegeln.
Hierzu werde ich in einem ersten Schritt den der LARP-Welt zu Grunde liegenden
Hintergrund wie auch das Setting verschiedener Conventions in Augenschein nehmen.
1Das Conquest of Mythodea ist eine Conreihe des Veranstalters Live Adventure, die seit 2003 existiert und
einmal jähr-lich im August stattfindet. Das fünftägige Fantasy-Event ist eines der größten LARPs welt-
weit, das an die 10000 Teil-nehmer versammelt. Für weitergehende Informationen, vgl. https://www.live-
adventure.de/de/
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Anschließend soll gezeigt werden, dass sich im Aufbau und Ablauf vieler Conventions
die Erzählstrukturen des mittelalterlichen Epos wiederfinden.
Das Epos zählt zu den ältesten literarischen Genres. Schon Aristoteles definiert es in
seinem Werk Poetik, jedoch ausschließlich in Bezug auf die Tragodia. Auch wenn die
von Aristoteles festgelegten Grundzüge bis heute als Richtlinien gelten, scheinen sie
schon lange ungenügend, um eine wissenschaftliche Definition des Genres aufzustel-
len. Insbesondere die Heterogenität eines Genres, das über Jahrhunderte hinweg und
in den meisten Kulturen einen festen Platz einnimmt, macht eine formal einheitliche
Definition äußerst schwierig. Jean-Marcel Paquette plädiert daher für eine Definition,
die weniger auf internen als vielmehr auf externen, das heißt anthropologischen Krite-
rien, aufbaut (Paquette 1988, 13ff.). Für den von uns angestellten Vergleich zwischen
dem mittelalterlichen Epos und dem Live-Rollenspiel erscheint eine derartige Definiti-
on umso operationeller, da sie sich nicht auf linguistische Charakteristika beschränkt.
Jean-Marcel Paquette erklärt zunächst, dass die spezifische Funktion des Epos darin be-
steht, einer bestimmten Kultur als Gründungstext zu dienen und dafür das Einheitsge-
fühl dieser kulturellen Gemeinschaft zu stärken und aufzuwerten. In diesem Sinne sei
das Epos „nicht nur eine Erzählung über die historischen Fundamente einer Kultur, es
ist selbst konstitutiv für diese Kultur“ (Paquette 1988, 22)2. Genau diese Eigenschaft
des Epos lässt sich wunderbar auf das LARP übertragen, in dem sie noch deutlicher
Gültigkeit erlangt. Denn während das Epos zum Gründungsmoment einer Kultur bei-
trägt indem es ein Einheitsgefühl durch das Aufarbeiten bereits vergangener Ereignisse
schafft, überschneiden sich im LARP Erzählen und historisches Ereignis. So gesehen ist
die „Entwicklung einer Gemeinschaft“ (Paquette 1988, 22) im LARP auch immer das
Erschaffen einer Spielerschaft.
Gleichzeitig markiert das Epos die Transition von Geschichtschreibung zum Fabulie-
ren. Freilich werden in der epischen Dichtung historische Ereignisse verarbeitet, nichts-
destotrotz „öffnet sie auch eine neue Phase der Entwicklung einer Gemeinschaft“ (Paquet-
te 1988, 22), in der die Fiktion die Aufgabe des Identifikationsprozesses übernimmt.
Laut Jean-Marcel Paquette besteht die Aufgabe des Epos also darin „die Geschichte in
seiner dramatischen Form darzustellen“ (Paquette 1988, 27). Nicht nur die dramatische
Ebene lässt sich gut in Bezug zum Live-Rollenspiel setzen. Auch die Kopräsenz von
Geschichtsschreibung und Fabulieren erscheint interessant. Anders als im Epos präsen-
tieren sich die beiden Formen jedoch nicht in „einem undefinierbaren Kampf“ (Paquette
1988, 27), sondern vielmehr in einer wechselwirkenden Einheit. Alles Spiel im LARP ist
Fiktion, gleichzeitig wird durch eben jene Fiktion neue, intradiegetisch tatsächliche Ge-
schichte geschaffen und erzählt. Weiterhin betont Jean-Marcel Paquette die Wichtigkeit
der Territorialisation, anthropologische Phase jedweder Kultur, die das in Besitznehmen
eines bestimmten Territoriums durch die Gemeinschaft beschreibt. So schließe das Epos
2Alle Zitate aus dem Französischen Original wurden von mir übersetzt.
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immer den Identifikationsprozess der Gruppe mit dem besiedelten Gebiet ab (Paquette
1988, 22). In seiner Funktion vorrangig auf eine Gemeinschaft als Ganzes ausgerichtet,
scheint auch der epische Held „seine Heldenhaftigkeit auf die Gesamtheit der Kollekti-
vität aus der er hervorgeht“ (Paquette 1988, 24) auszuweiten.
Nur sehr kurz möchte ich hier auf die linguistische Beschaffenheit des Epos eingehen,
da diese im LARP wenig bis gar keine Entsprechung findet. Entscheidend ist hier, dass
das Epos die erste künstlerische Schöpfung einer Gemeinschaft in ihrer eigenen Sprache
darstellt. Demzufolge zeichnet sich das Epos durch seinen „sprachlichen Archaismus“
aus (Paquette 1988, 25). Als Beispiel für den primitiven Charakter der epischen Sprache
führt Jean-Marcel Paquette unter anderem die reine Außenperspektive, mit der selbst
die inneren Motivationen der Protagonisten beschrieben werden, an und die zu einer „a-
psychologischen Darstellung der Handlung“( Paquette 1988, 25) führt. In diesem Punkt
divergiert das Epos logischerweise vom Live-Rollenspiel, in dem die Innenperspektive
jedes Spielers eine entscheidende Rolle spielt.
Was die typische Thematik des Epos betrifft, überrascht es nicht, dass für diese der
Krieg angeführt wird. Auch hierbei bezieht sich die dichterische Schaffung auf die Cha-
rakteristika der ihr zugrunde liegenden Gesellschaft, die durch und durch kriegerisch ist,
oder, um mit den Worten Hesiods zu sprechen dem „Zeitalter der Helden“ (Hesiod, in:
Paquette 1988, 26) entspricht. Dementsprechend baut das Epos auf einer konflikthaften
Struktur auf, die sich auf drei Niveaus dekliniert. Auf dem ersten Niveau spiegelt sich
die „große Polarisierung“ (Paquette 1988, 30f) wider, auf der das epische Universum wie
auch die reelle Gesellschaft aufbaut. Die antagonistischen Paare Christentum-Islam und
Griechen-Trojaner seien nur zwei Beispiele. Auf dem zweiten Niveau trägt sich der Kon-
flikt im Herzen der Gesellschaft aus, beispielsweise zwischen zwei Protagonisten, die
entgegengesetzte Positionen vertreten. Zuletzt sorgt eine Art Alter-Ego des Helden da-
für, den internen Konflikt des Helden zu verdeutlichen, der in einem „a-psychologischen
Universum“ (Paquette 1988, 30f) nur durch zwei getrennte Charaktere, die symbolisch
ein Bewusstsein formen, zum Ausdruck gebracht werden kann.
Während Jean-Marcel Paquette danach strebt, eine übergreifend gültige Definition für
die epische Dichtung herauszuarbeiten, beschäftigen sich viele Wissenschaftler vorran-
gig mit den Epen eines bestimmten Kulturraumes. Schon 1955 verfasste Jean Rychner
seinen Essay „La Chanson de Geste“, der sich gezielt mit der epischen Dichtung im
europäischen Raum auseinandersetzt und bis heute Gültigkeit bewahrt. Es erscheint
logisch, dass sich die Aussagen, die sich auf Texte beziehen, die im westeuropäischen
Mittelalter verfasst wurden, leichter auf das deutsche Fantasy-LARP übertragen lassen.
Deshalb möchte ich kurz auf die klassische Struktur des chanson de geste eingehen, die
Rychner am Ende seines Textes behandelt. Rychner betont hierbei, dass sich auch in
den niedergeschriebenen Manuskripten Spuren der ursprünglich mündlichen Tradition
dieser Epen finden. Demzufolge ist die Struktur der Handlung, wie auch der Sprache
dieser Heldenlieder, sehr repetitiv und gewissermaßen in einzelne Bausteine unterteilt,
die anschließend vom jongleur frei variiert werden konnten. Dies erleichterte das Ab-
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speichern der Erzählungen erheblich, doch auch in den schriftlich verfassten Varianten
wurde an dieser Struktur festgehalten. So unterscheidet Rychner zwischen Themen, also
den Leitlinien der Handlung, Motiven, die dazu dienen die einzelnen Themen genauer
auszuarbeiten, und Formeln, einer Art stereotypierter Phrasen (Rychner 1955, 126ff.).
Während sich die Formeln nur schwer auf das Live-Rollenspiel übertragen lassen, da der
Ausdruck hier jedem Spieler frei überlassen wird(obwohl ich durchaus verleitet bin, die
Vermutung anzustellen, dass auch hier viele Phrasen und Floskeln eine geradezu stereo-
typische Anwendung finden), kann man viele der Themen und Motive sehr einfach im
LARP wiederfinden.
Nachdem das Epos für unsere Zwecke ausreichend definiert wurde, möchte ich genauer
auf die Parallelen eingehen, die sich zwischen dem literarischen Genre und dem Live-
Rollenspiel ziehen lassen. In der von Jean-Marcel Paquette erarbeiteten Definition haben
wir gesehen, dass eine der Grundfunktionen des Epos darin besteht, einer Zivilisation
in ihrer Gründungsphase zu ermöglichen, sich kulturell als Einheit zu schaffen, indem
eine von außen eindringende Gefahr gebannt wird. Betrachtet man nun verschiedene
LARP-Kampagnen, so kann man feststellen, dass viele davon ebenfalls die Geschichte
eines Landes in seiner Gründungsphase beschreiben. Boltares IIV3zum Beispiel be-
schrieb den Versuch der einheimischen Elfen, die dämonische Invasion aufzuhalten,
während auf dem Conquest of Mythodea gleich ein ganzer Kontinent erobert, von den
Verfemten Elementen“ gereinigt, und eine neue Gesellschaft aufgebaut werden musste.
Die Ästhetik dieses „Gründungsmomentes“ ist natürlich extra- wie auch intradiegetisch
bedingt. Auf den Conventions des Conquest of Mythodea wurde tatsächlich innerhalb
der Diegese die Entstehung und Festigung einer neuen Kultur bespielt, da die Spieler
als Siedler, ähnlich der Besiedlung Amerikas, auf dem neuen Kontinent ankamen und
dort erst einmal eine neue Gesellschaft geformt werden musste. So musste zu Anfang
eine neue hierarchische Struktur herausgearbeitet werden, die sich über die Kampagne
hinweg erhält und weiter festigt. Entscheidend für die Identitätsbildung dieser neuen
Gesellschaft, wie auch der Spielerschaft war und ist natürlich die Bedrohung von außen.
Dieser Konflikt ist in entsprechenden LARP-Kampagnen wie dem Conquest of Mythodea
genau wie im Epos auf einer klaren, ideologisch stark vereinfachten Opposition zweier
Fraktionen aufgebaut. Ähnlich wie in vielen westeuropäischen Epen ist dieser Konflikt
auch im Conquest of Mythodea religiös bedingt. Der Gegensatz Gut Böse begründet
sich in diesem Sinne im Glauben. Während die Seite der Spieler weitestgehend den vier
Elementen folgt, stellen sich ihnen auf der Seite der Nicht-Spieler die Anhänger der vier
Anti-Elemente entgegen, die mit den Spielern um die Vorherrschaft auf dem Kontinent
streiten. Im Gegensatz zum literarischen Epos funktioniert diese Identitätsbildung aller-
dings von beiden Seiten aus, da auch die Fraktion der NSCs sich nach und nach durch die
3Boltares war eine vierteilige Fantasy-Conreihe des nicht-kommerziellen Veranstalters Unheil. Die Cons fan-
den von 2004 bis 2009 in Bayern statt.
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Abgrenzung von den Spielern als Einheit erschafft. Hierbei überwiegt generell der ex-
tradiegetische Faktor. Das heißt, dass sich die Teilnehmer mehr als NSC-Gemeinschaft,
als IT-Kultur4konstituieren. Allerdings lässt sich in den letzten Jahren eine Tendenz
hin zu einer stärker thematisierten und sich weiter festigenden IT-Zivilisation auch auf
Seiten der NSCs erkennen. Dies zeigt sich zum Beispiel im Trailer des Jahres 2015, der
die Ereignisse aus Sicht der NSC-Fraktion beschreibt5.
Am Beispiel des Conquest of Mythodea lässt sich auch leicht nachvollziehen, wie sich
im Live-Rollenspiel Fiktion und Geschichte überlagern. Jede Convention ist hier gleich-
zeitig Fabulieren, Fiktion, das heißt Erfinden einer Geschichte, die allerdings intradiege-
tisch zur historischen Realität wird, und das „Niederschreiben“ dieser Geschichte, also
Geschichtschreibung im weitesten Sinne. Der „Gründungsmoment“ ist hierbei in gewis-
ser Weise noch stärker als im Epos. Viele andere LARP-Kampagnen hingegen bauen auf
einem Hintergrund auf, in dem die entsprechende Kultur und Gesellschaft schon besteht
und auch schon über eine gewisse Geschichte verfügt. Dennoch muss sich auch hier die
Spielerschaft erst im Laufe der Veranstaltungen festigen. Abgesehen davon bleibt das
Phänomen einer äußeren Bedrohung, durch die sich die Gemeinschaft weiter als Ein-
heit bestärkt, oft bestehen. Am Beispiel der vierteiligen Kampagne Boltares kann man
sogar feststellen, dass die Gegenüberstellung Gut-Böse noch weiter vereinfacht wurde.
Die Bedrohung ging hier schlichtweg von einem Dämon und seinen Schergen aus, die
das Land überfallen wollten. Jedwede Nuance, jedwedes Sympathisieren mit den per
Definition bösen Kreaturen wird hier unmöglich, sodass die Abgrenzung und dadurch
auch der Identifikationsprozess mit der eigenen Gemeinschaft noch erleichtert werden.
In beiden Fällen, dem Conquest of Mythodea wie auch Boltares, aber auch in vielen ande-
ren LARP-Kampagnen, spielt das Land, in dem die Geschichte spielt eine entscheidende
Rolle. So sind viele Kampagnen schon nach eben dem Land benannt, in dem sie spielen,
das Phänomen der Territorialisation ist im LARP somit ebenso verankert wie im Epos.
Darüber hinaus lassen sich vor allen Dingen deutliche thematische Ähnlichkeiten zwi-
schen dem mittelalterlichen Epos und dem Live-Rollenspiel erkennen. Die mittelalterli-
che Prägung der Welt, die dem Fantasy-LARP zugrunde liegt, ist, auch wenn sich diese
inzwischen geographisch wie historisch stark erweitert hat, unbestreitbar. Zwar findet
man heutzutage von antiken Griechen bis zu Gangs, die sich an das 19. Jahrhundert an-
lehnen, fast alle vergangenen Epochen im Live-Rollenspiel vertreten, jedoch kann man
im gleichen Atemzug feststellen, dass die Spieler, die sich dem Kampf Gut gegen Bö-
se verpflichten, überwiegend mittelalterlich geprägte Hintergründe wählen. So ist die
4IT wird als Abkürzung für den Begriff intime verwendet, der alles beschreibt was im Spiel stattfindet,
beziehungsweise die Spielwelt betrifft. Im Gegensatz dazu bezeichnet outtime, kurz OT, alle der realen
Welt zugehörigen Aspekte.
5https://www.youtube.com/watch?v=kCIehY0bcNA, Live-Adventure veröffentlicht jedes Jahr einen Trai-
ler, der sich aus Aufnahmen der vergangenen Veranstaltung zusammensetzt und gleichzeitig die Handlung
dieser Convention resümiert.
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Mode des 18. Jahrhunderts vorrangig unter den Seefahrern verbreitet, während das 19.
Jahrhundert sich oft in Form von Straßengangs manifestiert, wie man sie zum Beispiel
in der Stadt des Conquest of Mythodea antrifft. In beiden Fällen handelt es sich bei diesen
Spielern um Gruppierungen, die das Schlachtfeld eher selten aufsuchen. Mit anderen
Worten, die Spieler, die, wenn wir beim Beispiel des Conquest of Mythodea bleiben, am
Haupt-Plot der Bekämpfung der verfemten Elemente mitarbeiten, orientieren sich in
der Regel an einer mittelalterlichen Welt im weitesten Sinne. Die allgemeine Vorstellung
einer solchen mittelalterlichen Welt ist wiederum, wenn auch oft unbewusst, stark mit
bestimmten epischen Erzählungen wie der Artussage oder dem Nibelungenlied verbun-
den. In verschiedensten literarischen wie auch kinematografischen Adaptionen wurden
jene Epen immer und immer wieder neu aufgegriffen und so bis ins 21. Jahrhundert
hinein vermittelt. Auf der anderen Seite darf man auch den Einfluss verschiedenster
Fantasy-Werke auf unser heutiges Bild des Mittelalters nicht vernachlässigen. Der Herr
der Ringe (Tolkien 1954-55) an erster Stelle, aber auch zahlreiche andere Fantasy-Werke
sind nicht nur ihrerseits als Epen angelegt, sondern inspirieren sich auch bei der Aus-
gestaltung der in der entsprechenden Welt anzutreffenden Kulturen an der Epoche des
Mittelalters. Da sich die LARP-Welt auch deutlich an verschiedene Fantasy-Werke an-
lehnt, wird die mittelalterlich-epische Prägung noch verstärkt.
Dadurch entsteht im Live-Rollenspiel eine epische Grundstimmung, die sich beispiels-
weise im Konzept des Heroischen zeigt genau wie das Epos ist das Live-Rollenspiel
ein ‚Zeitalter der Helden‘. Die Ähnlichkeiten zwischen dem literarischen Genre und
dem neuzeitlichen Hobby manifestieren sich hierbei schon in so einfachen Dingen wie
dem fast gänzlichen Ausblenden alltäglicher Tätigkeiten. Natürlich findet man Spieler-
gruppen, die großen Wert auf das gemeinsame, IT-taugliche Kochen legen, spätestens
beim Abspülen jedoch verlassen die meisten Spieler genau jene IT-Zone und nur selten
findet man Spieler, die einen ganz Abend mit Spinnen oder Nähen zubringen. Was im
Epos eine ästhetische Wahl ist, könnte man im LARP freilich damit begründen, dass
die Zeit auf den Conventions extrem begrenzt ist und das Hauptaugenmerk dadurch auf
die wichtigen Handlungen gelegt wird, dass gewissermaßen eine Hierarchisierung unter
den spielenswerten Sequenzen vorgenommen wird. Aber die Parallelen gehen weit über
den zu Großteilen fehlenden Alltag hinaus. So findet man im LARP häufig eine ähnliche
Konfliktstruktur wie sie weiter oben für das Epos beschrieben wurde. Wie auch im Epos
sind die Intrigen vieler LARPs um den Gegensatz Gut-Böse herum aufgebaut. Diese kla-
re Unterscheidung und Konfrontation zwischen der Partei des Helden und seinen Fein-
den, die durch das Aufkommen des Romans nach und nach aufgeweicht wurde, kann im
Live-Rollenspiel wieder zum Leben erweckt werden. Um die politische Korrektheit zu
wahren, werden hier allerdings meist keine Religionsgemeinschaften oder andere Ethni-
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en zum Feindbild erkoren, sondern Dämonen, Untote oder Anti-Elemente6, kurz Krea-
turen, bei denen auch der postmoderne Spieler keinerlei Skrupel haben muss, sie für
bedingungslos schlecht und daher vernichtenswert zu erklären. Ohne auf Einzelheiten
einzugehen, da hierzu eine detaillierte Fallstudie nötig wäre, möchte ich doch erwähnen,
dass auch das zweite Niveau, eine Art innergemeinschaftlicher Konflikt, nicht zwangs-
weise, aber durchaus häufig anzutreffen ist. Im LARP-Jargon hat sich dafür bereits ein
eigener Begriff entwickelt: das sogenannte Konfliktspiel beschreibt rein intragdiegetische
Auseinandersetzungen, die als eine Erhöhung der Spieltiefe, also der Immersion, gewer-
tet werden. Einzig das dritte Niveau, in dem der epische Held zur Thematisierung eines
inneren Konflikts mit einem Alter Ego konfrontiert wird, entfällt im LARP, da hier im
Gegenteil die psychologische Komponente des Spiels und der Spielerfahrung entschei-
dend ist. Innere Konflikte eines Helden werden demzufolge von jedem Spieler eigens
ausgetragen, wenn auch oft nach außen projiziert.
Auch auf mikrostruktureller Ebene lassen sich gewisse Gemeinsamkeiten zwischen dem
Epos und dem Live-Rollenspiel erkennen. Sicherlich sind LARP Conventions in ihrem
Aufbau und Ablauf sehr viel heterogener als eine epische Erzählung, dies trifft insbeson-
dere auf sogenannte Groß-Cons zu7. So wird es auf vielen Cons immer Spieler geben,
die ihre Zeit lieber auf Ambiente, Schurken- oder ausgeklügeltes Intrigenspiel verwen-
den. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der epische Kern weiterhin in vielen
Plots verankert ist und auch immer noch Spieler bewusst genau diesen epischen Aspekt
im LARP suchen. Betrachtet man die Trailer der einzelnen Conventions des Conquest
of Mythodea8, stellt man schnell fest, dass der Veranstalter den Akzent ganz klar auf die
epische Färbung legt. Das gesamte Stadtspiel mit seinen feuchtfröhlichen Tavernen und
seinen politischen Intrigen, das Seefahrerlager mit seinen rauschenden Festen werden
in diesen Trailern in wenigen Sekunden abgehandelt, ganz gleich ob es hunderte von
Spielern gibt, die ihr Spiel genau auf diese Bereiche beschränken. Die epische Ausrich-
6Die Anti-Elemente des Conquest of Mythodea bilden hier einen Sonderfall. Es handelt sich bei ihnen zwar um
eine Art Gegenteil des Elemente-Glaubens, die Anhänger dieser Anti-Elemente (Untotes Fleisch, Schwarzes
Eis, Pestilenz) sind aber nicht nur einfache Gläubige (das heißt Menschen, Elfen, Orks etc.), sondern selbst
anti-elementare Kreaturen, die deshalb von den meisten Spielern als bedingungslos böse eingestuft werden.
7Es gibt keine wirkliche Grenze, ab wann eine Convention im LARP-Jargon als Groß-Con bezeichnet wird,
als groben Richtwert kann man eine Teilnehmerzahl von mindestens 1000 Personen anführen, da ab dieser
Zahl ein logistischer Aufwand in professionellem Umfang nötig wird.
8Eine Auswahl an Trailern des letzten Jahrzehnts zeigt deutlich, dass diese als Werbespots und gleichzei-
tig als Vorschau für die kommenden Ereignisse angelegten Ausschnitte der vergangenen Veranstaltungen
immer wieder ähnliche Szenen reproduzieren. Hierbei werden Schlachten, Duelle, kriegerische Anspra-
chen, sowie Heldenprüfungen klar bevorzugt, oft begleitet von einer schicksalsschwangeren Stimme, die
die folgenschweren Ereignisse der letzten Veranstaltung zusammenfasst und Ausblicke auf die nicht weni-
ger imposante Zukunft bereithält.
Vgl.:
https://www.youtube.com/watch?v=qou_WTbo7ZY
https://www.youtube.com/watch?v=h_sUyEZVCP0
https://www.youtube.com/watch?v=QXHAVerDawQ
https://www.youtube.com/watch?v=jIEaqLOiQzI
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tung der Kampagne wird hier also schon von den Organisatoren ganz klar propagiert.
Darüber hinaus wird niemand abstreiten wollen, dass der gute Ritter oder Ordenskrie-
ger, der gegen die Mächte des Bösen in den Krieg zieht, nach wie vor ein verbreitetes
Spielkonzept darstellt. Und eben in diesem Kontext kann man vermehrt epische Muster
nachweisen. Wie ich weiter oben schon angemerkt habe, habe ich bei meinen Beobach-
tungen die sogenannten Formeln außen vorgelassen, und habe mich stattdessen auf die
Themen, vor allem aber auf die Motive konzentriert.
Was die Themen betrifft, gilt es zuerst anzuführen, dass der Plot eines Epos immer
um einen zentralen Helden herum strukturiert ist. Im Live-Rollenspiel hingegen agie-
ren immer mehrere Spieler mehr oder weniger gleichberechtigt neben- und miteinander.
Selbst wenn innerhalb einer Spielergruppe ein Spieler als Ritter, Prinz oder Paladin eine
zentrale Rolle einnimmt, so ist man in der Regel trotzdem darauf bedacht, alle Spieler
gleichermaßen ins Spiel mit einzubeziehen und ihnen nicht das Gefühl zu geben, bedeu-
tungslose Statisten zu sein. Dazu kommt, dass es auf den meisten Veranstaltungen, die
das Einladungscon9überschreiten, mehrere Spielergruppen gibt, demzufolge existieren
auch mehrere potenzielle Führungspersönlichkeiten. Die Themen im LARP sind also
weniger stark um einen Helden herum aufgebaut. Deshalb und auch da die meisten
Spieler ihre Charaktere in medias res im Erwachsenenalter ins Spiel einführen, entfal-
len Themen wie die Jugend des Helden. Gemeinsame Themen hingegen sind diejenigen,
die sich um Kriegs- oder Kampfhandlungen drehen, wie Kriegsvorbereitungen und die
Schlachten an sich, aber auch die schrittweise Ausbildung eines Helden und der damit
verbundene Aufstieg. Auch den Tod des Helden kann man als gemeinsames Thema an-
führen, da auch im LARP immer wieder Helden, das heißt Spielercharaktere, sterben
und durch ihren Tod vorübergehend in den Mittelpunkt des Spiels rücken.
Diese übergreifenden Themen sind, wie oben schon erwähnt, untergliedert in ein-
zelne Motive. Nicht alle dieser Motive lassen sich freilich gehäuft im klassischen Live-
Rollenspielszenario wiederfinden. Bei einer Vielzahl ist das jedoch der Fall. Zur besse-
ren Verständlichkeit habe ich die verschiedenen Motive, wie sie im LARP anzutreffen
sind, in drei Kategorien unterteilt. So werde ich als erstes von den Motiven sprechen,
die zum Vorantreiben der Geschichte oder auch schlichtweg zum Ambiente beitragen.
Klassische Beispiele hierfür sind das Entsenden von Unterhändlern, wie auch das Tagen
eines Kriegsrates, einem Bereich, in dem man wohl am ehesten auch im LARP immer
wiederkehrende Formeln ausmachen könnte. Daneben erwähnt Rychner das Motiv des
Traums oder der Vision, die dem Held Auskünfte über die Zukunft vermittelt. Tatsäch-
lich bedienen sich viele Spielleitungen dieses kommoden Mittels, um den Plot in eine
bestimmte Richtung zu lenken. Mit dem Motiv des Banketts befinden wir uns schließlich
9Einladungscons sind Veranstaltungen, die nicht öffentlich angekündigt werden. Nur ausgewählte Spieler
können sich dazu anmelden, weshalb die Teilnehmerzahl meist recht gering ist. Oft haben solche Cons
sehr viel höhere Ansprüche an die Homogenität der Spielwelt, sodass es häufig auch besser definierte hier-
archische Strukturen mit einer eindeutigen Spitze gibt, als dies bei öffentlich ausgeschriebenen Abenteuer-
oder Schlachtencons der Fall ist.
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an der Grenze zwischen Plot und Ambiente. Natürlich kann es während eines Festes-
sens zu diplomatischen Unterhaltungen kommen, vielmehr tragen diese im LARP aber
zu einer größeren Realitätsdichte der Spielwelt bei. Zusätzlich dazu gibt es Motive, die,
stark in den Kampfhandlungen verankert, vorrangig dazu dienen, die heroische Dimen-
sion des Spiels zu unterstreichen. Hierzu kann man beispielsweise das Mobilmachen der
Truppen, wie auch das Aufrüsten einzelner Ritter oder Paladine zählen. Aber auch der
Zweikampf zwischen zwei entscheidenden Figuren aus verfeindeten Lagern, aus militäri-
scher Sicht völlig realitätsfern, findet im Epos wie im LARP oft Anwendung. Sicherlich
tragen diese häufig auch dazu bei, den Plot voranzutreiben, da der Ausgang des Zwei-
kampfes mit weitreichenden Konsequenzen verbunden ist. Im Mittelpunkt steht hier
jedoch die heroische Inszenierung einzelner Charaktere. Diese kann verstärkt werden
durch das Einarbeiten von Gebeten oder Ritualen, die von den Spielern selbst meist
darauf ausgelegt sind, eine ‚epische‘ Wirkung zu generieren.
Um diese Kampfhandlungen herum, aber auch in anderen Szenen anzutreffen, gibt
es Motive, die das pathetische Moment des LARPs stark herausarbeiten. So intensivie-
ren sie vor allem die performative Komponente des Live-Rollenspiels. Wer nun denkt,
dass diese eher theatralische Seite nicht mit dem Epos vereinbar ist, dem kann man
entgegenhalten, dass schon im Namen des französischen chanson de geste eine gewisse
performative Dimension impliziert ist. Diese wurde zu Beginn, vor der Niederschrei-
bung jener epischen Erzählungen, durch den jongleur sichergestellt, der seine Erzählung
durch ein reichhaltiges Spiel lebhafter zu machen suchte. Zu diesen kann man zum Bei-
spiel die Beleidigungen und Drohungen vor oder während eines Kampfes oder einer
Schlacht zählen. Diese sind im Live-Rollenspiel gerade deshalb so beliebt, weil sie die
Immersion erhöhen indem sie die Dramatik des Moments bewusst anheizen. Ein Rol-
lenspieler wird freilich nie die gleiche Anspannung in Anbetracht eines bevorstehenden
Kampfes empfinden wie ein wirklicher Krieger. Das Anheizen der Stimmung vor dem
Kampf, aber auch die Ermutigung der Umstehenden während eines Zweikampfes bieten
hier eine gute Möglichkeit, die emotionale Einbindung der Spieler zu steigern. Auch das
lautstarke Klagen und Weinen wird im LARP gerne übernommen. In der Tat scheinen
plötzliche Tränenausbrüche immer mehr als Möglichkeit gewertet zu werden, die Inten-
sität des Spielerlebnisses, aber auch das eigene (schau-)spielerische Talent zum Ausdruck
zu bringen.
Schlussendlich stellt sich die Frage, ob, im 21. Jahrhundert angekommen, das Live-
Rollenspiel die gesellschaftliche Funktion des Epos übernehmen kann. Die politische
und soziologische Bedeutung des Epos für die Identitätsbildung einer Gemeinschaft
scheint heutzutage sekundär. Allerdings kann man zu bedenken geben, dass im Zeital-
ter der Postmoderne nationale Abgrenzungen, die unsere Identitätsbildung seit dem 19.
Jahrhundert prägen, beginnen zu verschwimmen. Ein neuer Identifikationsprozess ist
daher unumgänglich. Es stellt sich so die Frage, ob sich im Live-Rollenspiel ein episches
Grundbedürfnis des Menschen wiederfinden lässt, das genau in dem Moment wieder
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Colloquium: New Philologies ·Volume 3, Issue 1 (2018) Sophia Mehrbrey
relevant wird, da gefestigte Identifikationsmuster nach und nach aufweichen. Jedoch er-
leben wir im LARP eine Transposition des epischen Registers in eine Sekundärrealität,
die somit erneut einen Weg zur kulturellen Selbstdefinition und Katharsis öffnet. So er-
klärt die Elfenspielerin Nicole Busch in dem Dokumentarfilm Wochenendkrieger: „Der
Mensch sehnt sich ja doch nach irgendwas das größer ist als man selbst.“ (Geiger 2012a)
Chris Fano, NSC auf dem Conquest of Mythodea ergänzt, und das obwohl sie selbst einen
Charakter der verfemten Elemente darstellt : „Wir alle wollen irgendwie Helden sein,
[...] und im Live-Rollenspiel ist das einfacher.“ (Geiger 2012b) Ob und in wie fern das
Live-Rollenspiel die sozio-kulturelle Funktion des Epos erfüllen kann, sprengt jedoch
den Rahmen dieser Untersuchung. In ästhetischer Hinsicht aber scheinen die Parallelen
zwischen Epos und Live-Rollenspiel unbestreitbar.
Literatur
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punkt 2013, Hrsg. von Karsten Dombrowski, 75100. Braunschweig: Zauberfeder
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Geiger, Andreas. 2012a. „WOCHENENDKRIEGER | Trailer & Filmclips german deutsch [HD].“
Zugriff: 23. April 2018. https://www.youtube.com/watch?v=Ccms2_c12t0
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April 2018. https://www.youtube.com/watch?v=DsF5qveej_o
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Jedoch erleben wir im LARP eine Transposition des epischen Registers in eine Sekundärrealität, die somit erneut einen Weg zur kulturellen Selbstdefinition und Katharsis öffnet. So erklärt die Elfenspielerin Nicole Busch in dem Dokumentarfilm Wochenendkrieger
  • Wird
  • Da Gefestigte Identifikationsmuster Nach Und Nach Aufweichen
wird, da gefestigte Identifikationsmuster nach und nach aufweichen. Jedoch erleben wir im LARP eine Transposition des epischen Registers in eine Sekundärrealität, die somit erneut einen Weg zur kulturellen Selbstdefinition und Katharsis öffnet. So erklärt die Elfenspielerin Nicole Busch in dem Dokumentarfilm Wochenendkrieger: "Der Mensch sehnt sich ja doch nach irgendwas das größer ist als man selbst." (Geiger 2012a)
NSC auf dem Conquest of Mythodea ergänzt, und das obwohl sie selbst einen Charakter der verfemten Elemente darstellt
  • Chris Fano
Chris Fano, NSC auf dem Conquest of Mythodea ergänzt, und das obwohl sie selbst einen Charakter der verfemten Elemente darstellt : "Wir alle wollen irgendwie Helden sein,
La Chanson de Geste -Essai sur l'art épique des jongleurs
  • Jean Rychner
  • Rychner
Rychner, Jean Rychner. 1955. La Chanson de Geste -Essai sur l'art épique des jongleurs. Genève: Droz.
Der Herr der Ringe (1954-1955), aus dem Engl. von W. Krege. Stuttgart: Klett-Cotta
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Tolkien, J.R.R. 2016. Der Herr der Ringe (1954-1955), aus dem Engl. von W. Krege. Stuttgart: Klett-Cotta, "Hobbit Presse".
Wochenendkrieger-Trailer (Deutsch | German) | HD
  • Andreas Geiger
Geiger, Andreas. 2012b. "Wochenendkrieger-Trailer (Deutsch | German) | HD." Zugriff: 23. April 2018. https://www.youtube.com/watch?v=DsF5qveej_o
Ob und in wie fern das Live-Rollenspiel die sozio-kulturelle Funktion des Epos erfüllen kann, sprengt jedoch den Rahmen dieser Untersuchung
  • Chris Fano
Chris Fano, NSC auf dem Conquest of Mythodea ergänzt, und das obwohl sie selbst einen Charakter der verfemten Elemente darstellt : "Wir alle wollen irgendwie Helden sein, [...] und im Live-Rollenspiel ist das einfacher." (Geiger 2012b) Ob und in wie fern das Live-Rollenspiel die sozio-kulturelle Funktion des Epos erfüllen kann, sprengt jedoch den Rahmen dieser Untersuchung. In ästhetischer Hinsicht aber scheinen die Parallelen zwischen Epos und Live-Rollenspiel unbestreitbar.