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Zitierhinweis:
Sinapius, Peter; Ganß, Michael (2012): Grundlagen, Modelle und Beispiele
kunsttherapeutischer Dokumentation. Berlin: Peter Lang Verlag
Inhalt
Peter Petersen: Geleitwort .................................................................................... 7
Michael Ganß / Peter Sinapius: Vorwort ........................................................... 13
1. Beweismittel Dokumentation: Wirksamkeit, Evidenz, Evaluation.
Woran lässt sich die Kunsttherapie messen? ............................................ 19
Peter Sinapius: Der Durchschnitt und der Einzelfall: Kunsttherapeutische
Dokumentation zwischen Statistik und Poesie .............................................. 21
Peter Petersen: Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung
gestalten? – Lebensrückblick eines „Zwölfenders“ ....................................... 31
Paolo Knill: Was verändert die Kunst in der Therapie, und wie? ................. 57
Ruediger John: Kunst und Kunsttherapie / Milieuspezifische
Wirklichkeitskonstruktionen und systemische Definitionsunterschiede ....... 79
Heinfried Duncker: Salutogenetische Betrachtungen als Anforderungen
für neue Methoden in der Dokumentation ..................................................... 85
2. Dokumentation als Bild oder Metapher:
Wie künstlerisch darf Forschung sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 5
Reinhold J. Fäth: Zum Problem der Subjektivität praxisrelevanter
Kunsttherapieforschung ................................................................................. 97
Barbara Narr: „Rankende Anmerkungen zur „poetischen
Dokumentationsform“ kunsttherapeutischer Arbeiten“ ............................... 103
3. Kunst und Dokumentation: Gibt es eine Sprache der Kunst?
Über Begriff, Bild und Intuition . .. .. . .. .. . .. .. . .. . . .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. . .. 1 11
Klaus Flemming: Kunst als bildnerische Weltaneignung Metaphern
des Lebens - Methoden zum Über-Leben? .................................................. 113
6 Inhalt
Elisabeth Wellendorf: „Wie kommen die Bilder in den Kopf?“ ................. 119
Annika Niemann: Die Geste des Entscheidens oder Von der Gestaltung
des Zwischenraums ...................................................................................... 129
Ute Knoop: " Du siehst was, was ich (noch) nicht sehe" oder von der
Kunst die Perspektive zu wechseln .............................................................. 137
4. Bedingungen, Modelle und Beispiele kunsttherapeutischer
Dokumentation .. .. ... ... ... ... .. .. .. ... .. .. .. ... ... .. .. .. ... ... .. .. .. ... .. .. .. ... ... .. .. .. ... .. .. .. ... ... 145
H. Gruber / J.P. Rose: Künstlerische Therapien im Spannungsfeld
komplexer wissenschaftlicher Herausforderungen ...................................... 147
Ulrich Elbing: Die Rolle der Gestaltung von konkreten
Forschungskontexten für die Wissenschaftlichkeit
kunsttherapeutischer Dokumentation ........................................................... 161
Norbert Knitsch: Experten im deutschen Theater – eine kritische
Würdigung zur beruflichen Identität ............................................................ 173
Barbara Wichelhaus: Formative Evaluation in der
Kunsttherapieforschung ............................................................................... 179
Evelyne Golombek: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Dokumentieren“ / Therapiedokumentation - ein lebendiges
Reflexions- und Lerninstrument .................................................................. 187
Dagmar Wohler: Kunsttherapeutische Dokumentation hinsichtlich
kunsttherapeutischer Ausbildung und Selbsterfahrung ............................... 195
Gunver S. Kienle: Zur Verbesserung der Qualität von Einzelfall-
berichten und Fallserien in der onkologischen Behandlung –
Kriterien und Checkliste .............................................................................. 203
Thomas Staroszynski: Der Nachvollzug der Bildentstehung als
methodischer Ansatz zur Hypothesenbildung in kunsttherapeutischer
Forschung ..................................................................................................... 213
Eva Herborn: "Meine Bilder..." Aufzeichnung und Auswertung
von Gesprächen mit Rheumakranken und Krebskranken ............................ 225
Autorenverzeichnis ........................................................................................... 237
Peter Petersen
Geleitwort
Wissenschaft und Forschung künstleri-
scher Therapeuten gleichen einem Kristall,
der Licht und Wärme durchfluten lässt und
so neue Weltperspektiven eröffnet.
(nach Ekkard Weymann)
Aufruf zum Leben
Diesen Titel habe ich dem gleichnamigen Buch Carl Zuckmayers entnommen.
Er schrieb seinen Aufruf im Frühjahr 1942 aus seinem Zufluchtsort im US-Staat
Vermont, in der schwärzesten Stunde deutscher Schriftstelleremigranten, als
Hitlers Armeen den größten Teil Europas beherrschten und das Ende der euro-
päischen Zivilisation eingeläutet zu sein schien.
Im schlecht geredeten Zustand des gegenwärtigen Deutschland, wo das Ge-
spenst von Angst, Resignation, Kulturzerfall und Verlust der Solidarität neben
dem verführerischen Glitzerglanz der Reichen als eine gefährliche Illusion um-
herschleicht, verkündete jüngst Clemens Pornschlegel in der Süddeutschen Zei-
tung den „Abschied vom Fortschritt“.
Gemeint ist damit die in die Postmoderne mündende Euphorie der naturwissen-
schaftlichen, medizinischen und gesellschaftlichen Erfolge. Dieser Gipfelrausch
des Wohlstandes für alle ist nun der Ernüchterung gewichen. In der Er-
nüchterung können wieder Fragen nach Sinn und möglichen Zielen unseres
Menschenlebens und unserer globalen Verantwortung für den Kosmos gestellt
werden. Hier haben Künstlerische Therapien – natürlich ist Kunsttherapie ein
Teil von ihnen – Chancen und Herausforderung, zum Leben aufzurufen.
Denn im Gegensatz zu der von brutaler Ökonomisierung erdrückten klassischen
Medizin gehorchen Künstlerische Therapien bestimmten Wirkungsweisen:
Den Patienten zum eigenen körperlichen, seelischen und geistigen Tätig-
sein zu aktivieren
8 Peter Petersen
Den psychosomatischen Organismus zur Selbststeuerung (Selbstheilung)
anzuregen
Mit der Folge: Ökologische Ressourcen und ebenso finanzielle Mittel zu
schonen.
Dagegen lauten die Wirkungsweisen der klassischen Medizin:
Kranke Organe oder Funktionen auszuschalten (durch chirurgischen,
chemischen, physikalischen oder genetischen Eingriff)
Entgleiste Funktionen zu korrigieren (z. B. künstliche Befruchtung)
Fehlende oder kranke Organe, Substanzen und Funktionen zu ersetzen
(z. B. Organtransplantationen)
Diese Wirkungsweisen werden zunehmend unbezahlbarer.
Die Wirkungsweisen der klassischen Medizin werden in der Fachliteratur
(Hildebrandt bei Petersen 2000) als Kunstheilung (künstliche Therapien) mit
direkter Wirkung, dagegen die Wirkungsweisen der Künstlerischen Therapie als
natürliche Therapie mit indirekter Wirkung bezeichnet.
Die fundamental verschiedene Wirkungsweise Künstlerischer Therapien ist in
der gesundheitspolitischen Diskussion der Gegenwart überhaupt nicht erkannt.
Denn die stärkere Betonung natürlicher Therapien im oben genannten Sinn hätte
eine revolutionäre Umschichtung des gesamten Medizinsystems zur Folge. Man
denke nur daran, dass nach epidemiologischer Schätzung die Hälfte aller Krank-
heiten ein Produkt der modernen Medizin ist, beschönigend Nebenwirkungen
genannt.
Auch aus solchen Gründen kommt der Künstlerischen Therapie eine gewaltige
Aufgabe für die Zukunft zu, aber auch eine große Verantwortung.
Künstlerische Therapien haben die Kraft, nicht nur die Heilkunde, sondern auch
unsere Zivilisation neu zu durchdringen und wesentliche Anregungen für die
kulturelle Gestaltung zu geben. Gewiss, dies ist eine weittragende Vision. Je-
doch hat diese Vision ihre guten Gründe:
Sie knüpft an die abendländische Tradition einer umfassenden und
intensiven Heilkunde an.
Sie öffnet Tore für die Zukunft einer erneuerten Heilkunde, die unsere
Zivilisation wesentlich befruchten kann.
Geleitwort – Aufruf zum Leben 9
Wie ist das zu verstehen? Zunächst ein Blick auf die Traditionen. Die im 4.
Jahrhundert vor Christus entstandene so genannte hippokratische Medizin ließ
sich von drei Prinzipien leiten, die heute in den Künstlerischen Therapien wieder
zu Gültigkeit gelangen.
1. Die Heilkunde zeichnet sich durch behutsame Vorgehensweise aus. Unnötige,
zumal schädigende und gewaltsame Eingriffe wie in der klassischen moder-
nen Medizin mit massiven Nebenwirkungen werden vermieden. Ökologische
Schäden an Mensch oder Kosmos gibt es entweder nicht oder kaum. Heute so
genannte sanfte Technologien werden praktiziert.
2. Auf Grund der Sinneswahrnehmungen forscht der Therapeut und Arzt nach
ganz verschiedenartigen Ursachen, auch nach solchen seelisch-geistiger Art.
Die Betonung von Sinne und Sinnlichkeit wie in Bewegung, Musik, Tanz und
Malerei lässt auch die Seele und den Geist als wesentlich erscheinen.
3. Heilung ist ein Transformationsprozess von krankheitsimmanenten Phasen
(im Gegensatz zur modernen biotechnologischen Auffassung mechanischer
Abläufe). Dieser immanente Prozess wird gefördert und nicht abgeblockt.
Wesentlich ist das Prozessdenken.
4. Im Sinne dieses Denkens in Prozessen ist der Therapeut/Arzt für den Patien-
ten ein „Führer zum Unbekannten“; im Unbekannten wird das Offensein für
eine unkalkulierbare Zukunft angesprochen. Dabei erscheint das dialogische
Prinzip als Grundlage der therapeutischen Beziehung. Das steht im Gegensatz
zum definierten Zweck (z. B. von Arbeits- und Genussfähigkeit) oder einer
statistisch ermittelten Prognose der modernen biotechnischen Medizin.
5. Eine umfassende, philosophisch durchwirkte künstlerische Anthropologie ist
der Grundbestand der therapeutischen Ausbildung und der therapeu-
tischen/ärztlichen Kunst. Selbstbescheidung ist eine hervorragende Eigen-
schaft des Arztes/Therapeuten.
Dieses hippokratische Verständnis von ärztlichem/therapeutischem Handeln und
therapeutischer Haltung (Temkin 1971) hatte seine auch wissenschaftliche
Legitimation bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts. Dann verfiel es zunächst
der Verdrängung durch die Entwicklung der mechanistischen Naturwissen-
schaften und der so genannten naturwissenschaftlichen Medizin. Jedoch wurde
dieses hippokratische Verständnis am Ende des 19. Jahrhunderts zunächst durch
die Psychoanalyse Sigmund Freuds reaktiviert. Daran schloss sich eine intensive
Dynamik an, die in Künstlerischen Therapien ihren Ausdruck fand.
Ich hebe hier nochmals die drei für die Gegenwart Künstlerischer Therapien
wesentlichen Elemente hervor: Der unbedingte Respekt des Therapeuten für
10 Peter Petersen
seinen Patienten im therapeutischen Dialog; die ebenso unbedingte Anerken-
nung des sich selbst steuernden therapeutischen Prozesses zwischen Therapeut
und Patient; die intensivierte und erweiterte sinnliche Ästhetik. Diese drei Ele-
mente können die Lebenshaltung des künstlerischen Therapeuten bestimmen.
Ich betone die Worte: Therapie – es heißt ursprünglich begleiten und dienen
(nicht aber heilen oder mechanistisch eingreifen); und das Wort Patient: Er ist
der Leidende und Leiderfahrende.
In diesem Blick auf die abendländische Tradition lassen sich nicht nur Ent-
wicklungen unserer klassischen europäischen Künste aufnehmen. Diese Schau
ist ebenso offen für Entwicklungen von Konzepten aus Asien, Afrika und
Amerika. In den Künstlerischen Therapien haben wir im letzten Jahrhundert
diese glückliche Integration globaler Einflüsse erlebt.
Nicht zuletzt auch mit Blick auf die ökologische Herausforderung – die zynisch
schon in die Ecke der vollendeten Katastrophe geschoben wird – haben künst-
lerische Therapeuten angesichts der Ressourcenfreundlichkeit eine bisher viel zu
wenig erkannte und gesellschaftlich verbreitete Chance und Aufgabe. Außerdem
schult die unbedingte Achtung für die immer einmalige Person des Patienten in
seiner gegenwärtigen Situation für die notwendige Achtsamkeit gegenüber den
wesenhaften Phänomenen der Natur, die nicht manipulativ umgebogen werden
wollen – so wie die moderne Technik nur auf Ausbeutung der Natur getrimmt
ist.
Viel mehr ergeht durch die innere geistig-seelische Natur und die äußere kosmi-
sche Natur an uns der Ruf: „Die Schöpfung geht weiter – durch uns“ im Sinne
der Evolution des Kosmos (Petersen 1999), nicht nach dem Prinzip der mecha-
nistischen gewaltsamen Revolution, die allenthalben Destruktivität gebiert.
So ist die hier begonnene Buchreihe „Wissenschaftliche Grundlagen der Kunst-
therapie“ unbedingt notwendig. Die hier versammelten Aufsätze mit
glücklicherweise sehr verschiedenen Aspekten können uns auf eine offene Zu-
kunft blicken lassen.
Die Notwendigkeit wissenschaftlicher Durchdringung kunsttherapeutischer
Praxis haben künstlerische Therapeuten zum Glück inzwischen erkannt. Vor
allem hat man erkannt: Für Künstlerische Therapien gilt ein anderer Wissen-
schaftsbegriff, als er gegenwärtig die klassische Medizin beherrscht (Petersen
2002). Allerdings können künstlerische Therapeuten in ihren Begriffsbildungen
ohne weiteres auf dem Fundus von philosophischer Anthropologie, Phänome-
Geleitwort – Aufruf zum Leben 11
nologie und Tiefenpsychologie der vergangenen zwei Jahrhunderte fußen. Es
käme auch darauf an, diese Beziehungen neu zu reflektieren.
Ich wünsche dieser Reihe interessierte Leser und eine umfängliche Verbreitung
– nicht nur unter Fachleuten Künstlerischer Therapien, sondern auch unter auf-
geschlossenen und verantwortungsbewussten Zeitgenossen.
Hannover im Frühjahr 2006
Peter Petersen
Literatur
Petersen, Peter (1999): Die Schöpfung geht weiter – durch uns (Fortschritt und Evolution im
Lichte ökologischen Denkens). In: Einleitungsvortrag 4. Symposion Künstlerische Therapien
im Mai 1999 in Hannover. Manuskriptdruck erhältlich bei Peter Petersen, Forschungsinstitut
Petersen, Peter (2000): Der Therapeut als Künstler (Ein integrales Konzept von Künstleri-
scher Therapie und Psychotherapie) In: 4. Auflage. Stuttgart/Berlin: J. Mayer (bisher: 1. bis 3.
Auflage Paderborn: Junfermann 1987, 1989, 1994)
Petersen, Peter (2002): Forschungsmethoden Künstlerischer Therapien. Stuttgart: Mayer
Pornschlegel, Clemens (2006): Abschied vom Fortschritt (Kein Wunder, dass die theologi-
schen Fragen zurückkehren). In: Südd. Ztg. Nr. 47. 13
Temkin, Owsei (1971): Griechische Medizin als Wissenschaft und Handwerk. In: H. Flashar
(Hrsg.): Antike Medizin. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Zuckmayer, Carl (1976): Aufruf zum Leben. Frankfurt/Main: S. Fischer
Vorwort
Wer sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Kunsttherapie beschäftigt,
betrachtet das Dreieck zwischen Kunsttherapeut – Patient – Werk und berührt
damit verschiedene Ebenen, die in der kunsttherapeutischen Praxis eine Rolle
spielen: Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient als Ebene der verbalen
und nonverbalen Kommunikation, die Beziehung Patient – Werk, die den ästhe-
tischen Ausdruck und die ästhetische Wahrnehmung betrifft, und die Beziehung
zwischen Therapeut und Werk, die den Ausgangspunkt kunsttherapeutischer
Interventionen bildet. Damit stehen verschiedene wissenschaftliche Disziplinen
in Zusammenhang, die in Bezug auf eine kunsttherapeutische Theoriebildung
von Bedeutung sind: Die Psychologie, die Medizin, die Philosophie und Anthro-
pologie, die Ethnologie, rezeptionsästhetische Ansätze im Bereich der Phäno-
menologie, der Kunst- und Kulturwissenschaften sowie das Feld der Kommuni-
kations- und Sozialwissenschaften. Eine kunsttherapeutische Theoriebildung ist
aber mehr als die Summe dieser wissenschaftlichen Disziplinen, insofern sie
sich auf die kunsttherapeutische Praxis selber bezieht, für deren mehrdimensio-
nales und komplexes Geschehen sie eigene Darstellungen und Begründungen
entwickelt.
Die Reihe „Wissenschaftliche Grundlagen der Kunsttherapie“ soll einen Raum
bilden, in dem sich das vollziehen kann, ohne sich einer bestimmten Schule und
damit einhergehenden besonderen Interessen verpflichtet zu fühlen. Sie setzt da
an, wo die verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen zu einer gemeinsamen
Sprache führen, die Grundlage für eine wissenschaftliche Darstellung kunst-
therapeutische Praxis sein kann.
Der vorliegende erste Band „Grundlagen, Modelle und Beispiele kunsttherapeu-
tischer Dokumentation“ folgt einem Symposion, das im Herbst 2005 auf Initia-
tive und unter Mitwirkung mehrerer kunsttherapeutischer Ausbildungsstätten an
der Fachhochschule Ottersberg stattfand. Es hatte den Titel: „Der Durchschnitt
und der Einzelfall: Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und
Poesie“. Die Referate, die in drei verschiedenen Arbeitsgruppen gehalten und
diskutiert wurden, mündeten in Thesen, die im Plenum zusammengetragen wur-
den und neben dem mündlichen Austausch eine Grundlage für die weitere Ar-
beit an den Fragen des Symposions waren. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind
hier zusammengestellt.
Erweitert haben wir den Band um drei Beiträge, die nicht in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit dem Symposion stehen. Der Vortrag von Paolo Knill am
14.2.2006 in Ottersberg, der hier wiedergegeben ist, war als Nachklang zu die-
sem Symposion gedacht. Der Beitrag von Elisabeth Wellendorf ist die schrift-
liche Fassung eines Vortrages, den sie im Rahmen eines Workshops des Instituts
14 Michael Ganß / Peter Sinapius
für Kunsttherapie und Forschung der FH Ottersberg gehalten hat und der the-
matisch mit dem Thema des Symposions in Verbindung steht. Darüber hinaus
fanden wir es notwendig, in einen Band, der sich mit Modellen kunsttherapeuti-
scher Dokumentation befasst, einen Beitrag von Gunver S. Kienle aufzunehmen,
der die kunsttherapeutische Dokumentation in den Kontext klinisch-medizini-
scher Forschung stellt.
Es erschien uns sinnvoll einem wesentlichen Themenbereich des Symposions,
der einen Schwerpunkt kunsttherapeutischer Forschung ausmacht, einen eigenen
Band zu widmen. So werden einige Beiträge des Symposions ihre Würdigung in
einem weiteren Band dieser Reihe finden unter dem Titel: „Narrative und bildli-
che Grundlagen kunsttherapeutischer Forschung“.
In der Gliederung dieses Bandes folgen wir den Themenblöcken des Herbst-
symposions. Hinzugefügt haben wir das Kapitel: Bedingungen, Modelle und
Beispiele kunsttherapeutischer Dokumentation.
1. Beweismittel Dokumentation: Wirksamkeit, Evidenz, Evaluation? Woran
lässt sich die Kunsttherapie messen?
Unter diesem Titel sind hier Aufsätze zusammengestellt, die sich den
Grundlagen und Vorraussetzungen kunsttherapeutischer Dokumentation, dem
Wissenschaftsbegriff und methodischen Überlegungen widmen. Peter
Petersen verknüpft seinen Beitrag mit einem Rückblick auf 50 Jahre eigener
wissenschaftlicher Tätigkeit. Er führt die beiden polaren Formen der Doku-
mentation, die im Titel des Symposions genannt werden, die Statistik und die
Poesie, zusammen und lässt Goya dabei Pate stehen: „Der Schlaf der Ver-
nunft zeugt Ungeheuer. Aber vereinigt mit der Vernunft wird die träume-
rische Phantasie zur Mutter der Künste und all ihrer Wunderwerke“.
Paolo Knill beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Wissenschaftlichkeit,
Kunst und Therapie vor dem Hintergrund des Diskurses innerhalb der
„Schweizer Charta für Psychotherapie“, in der Psychotherapieverbände und
Ausbildungsinstitute eine gemeinsame Definition der Grundpositionen von
Psychotherapie erarbeiteten. Die Komplexität der kunsttherapeutischen Be-
ziehung und die mit der Kunsttherapie einhergehenden verschiedenen Wirk-
lichkeitskontexte erfordern über diese gemeinsamen Grundpositionen hinaus
besondere Parameter für die wissenschaftliche Forschung der kunsttherapeu-
tischen Praxis. Das Besondere künstlerischer Therapieverfahren formuliert
Paolo Knill in der Unterscheidung, nicht aber in der Abgrenzung von anderen
Therapierichtungen: Künstlerisches Handeln als „Brücke zwischen den
Wirklichkeiten: Es hat Traumweltcharakter, ist aber zugleich dinglich anwe-
send“.
Mit dem Begriff Kunsttherapie befindet man sich aber auch im Spannungs-
feld zweier unterschiedlicher Systeme: „Kunst“ als gesellschaftlich-kul-
Vorwort 15
turelles Kommunikationssystem und „Therapie“, wie Rüdiger John sich in
seinem Beitrag ausdrückt, „als Milieu mit eigenen Regeln und eigenem
Wertesystem“.
Und nicht zuletzt sieht man sich in diesem „Milieu“, wie Heinfried Duncker
zeigt, mit einem deterministischen Krankheitsbegriff konfrontiert, der über
die gesetzlichen Bedingungen der Versicherungs- und Erstattungspraxis be-
stimmend auf die medizinische Behandlungspraxis wirkt und in einem Ge-
gensatz steht zu dem, was Ausgangspunkt kunsttherapeutischer Therapien
ist: Entwicklung von Fähigkeiten, Förderung von Ressourcen und Erschlie-
ßung schöpferischer Potentiale. Dagegen würde ein Versorgungssystem, das
einem ganzheitlichen, salutogenetischen Verständnis von Gesundheit und
Krankheit folgt, künstlerische Therapieverfahren einschließen.
2. Dokumentation als Bild oder Metapher: Wie künstlerisch darf Forschung
sein?
Subjektivität ist eine Bedingung und Grundlage kunsttherapeutischer Praxis
und Dokumentation. Das bringt sie in einen Gegensatz zu Forderungen nach
Reproduzierbarkeit, Vergleichbarkeit und Objektivität, die mit wissenschaft-
lichen Paradigmen aus anderen Forschungsbereichen einhergehen. Würde
man die Darstellung der subjektiven Bedingungen, mit denen kunsttherapeu-
tisches Handeln verbunden ist, aus kunsttherapeutischen Dokumentationen
ausschließen, würde die kunsttherapeutische Forschung ihrem Gegenstand
nicht gerecht. Reinhold Fäth nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf
Forschungs- und Dokumentationsmethoden, deren Grundsätze sich in Über-
einstimmung mit der kunsttherapeutischen Praxis befinden. Für sie gelten
Kriterien wie Vollständigkeit, Kohärenz, interne Konsistenz oder die
Glaubwürdigkeit des Verfassers.
Ästhetische Vorlieben, erlernte Deutungsmuster und der eigene kulturelle
Kontext des Kunsttherapeuten, auf die Barbara Narr hinweist, sind unver-
meidlich Teil kunsttherapeutischer Interventionen. Ohne Reflexion auf diese
subjektiven Bedingungen, mit denen eine kunsttherapeutische Dokumen-
tation verbunden ist, können Dokumentationen zur Plattform der vermeintli-
chen Deutungshoheit der Therapeuten werden.
3. Kunst und Dokumentation: Gibt es eine Sprache der Kunst? Über Bild,
Begriff und Intuition.
Klaus Flemming beschreibt die „Kunst als bildnerische Weltaneignung“ und
bedient sich dabei einer metaphorischen Sprache, die die Nähe zu künstleri-
schen Ausdrucksformen sucht. Die Sprache der Kunst „geht mit ihrer Er-
scheinungsweise überein“ und erschließt sich nur durch Nachvollzug als
subjektive Erkenntnisleistung.
16 Michael Ganß / Peter Sinapius
Elisabeth Welledorf fragt, was es mit jenen inneren Bildern auf sich hat, die
Quelle von intuitivem und künstlerischem Handeln sind. In welchem Ver-
hältnis stehen sie zu unserem rationalen, auf wissenschaftlicher Erkenntnis
gründendem Wissen? Annika Niemann befasst sich mit dem Zwischenraum,
der zwischen den inneren Bildern und der äußeren Realität liegt und lenkt
den Blick auf die Entscheidungs- und Wahrnehmungsprozesse, die damit
einhergehen. Zwischen Idee und Handlung ist der Ort, an dem innere Bilder
zu schöpferischen Handlungen führen.
Damit geht einher, was wir Perspektivenwechsel nennen, ein Kriterium, das
kunsttherapeutischem und künstlerischem Handeln immanent ist. Denkt man
in diesem Zusammenhang an Platons „Höhlengleichnis“, merkt man wie sehr
man sich in der Nähe (kunst-) philosophischer und anthropologischer Fragen
bewegt. Ute Knoop stellt dar, wie sich durch einen so verstandenen Perspek-
tivenwechsel in der kunsttherapeutischen Praxis neue Spielräume erschlie-
ßen.
4. Bedingungen, Modelle und Beispiele kunsttherapeutischer Dokumentation
Zu den besonderen Bedingungen kunsttherapeutischer Forschung gehört ihr
ausgesprochen interdisziplinärer Charakter, der uns eben auch in die Nähe
philosophischer Fragestellungen führt. Harald Gruber stellt die kunstthera-
peutische Forschung in einen Zusammenhang zu philosophischen Theorien
über den „Erfahrungsraum“ Kunst und skizziert anschließend ein fachbe-
reichsübergreifendes Forschungsvorhaben, das die möglichen Wirkungen der
Künstlerischen Therapien zum Thema hat.
Zu den Bedingungen kunsttherapeutischen Dokumentierens zählen im Sinne
der „Einheit von Erfahrung, Handeln und Kommunikation“, auch die
Prozessgestaltung und die Rahmenbedingungen eines Forschungsprojektes.
Ulrich Elbing rückt damit die Gestaltung des Handlungsrahmens in den
Blick, der neben der Diskussion um Formen und Methoden der Dokumen-
tation, eine Vorraussetzung für die Wissenschaftlichkeit kunsttherapeutischer
Dokumentationen bildet.
Norbert Knitsch thematisiert den institutionellen Kontext, in dessen Rahmen
sich die kunsttherapeutische und theaterpädagogische Arbeit vollzieht. Ohne
eine Reflexion darauf bliebe eine Dokumentation unvollständig und wissen-
schaftlich fragwürdig.
Barbara Wichelhaus stellt ein Instrument zur formativen Evaluation der
Kunsttherapie vor, das sich auf die kunsttherapeutische Praxis bezieht und
insbesondere für kunsttherapeutische Konzepte und Verfahren geeignet ist,
die wissenschaftlich noch nicht ausgereift sind.
Vorwort 17
Konkrete Modelle zur Dokumentation entwickeln schließlich Evelyne
Golombek, Dagmar Wohler und Gunver S. Kienle. In Anlehnung an die
Methode der „Dynamischen Urteilsbildung“ von A. Bos skizziert Evelyne
Golombek ein Modell zur Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis im
Rahmen der Supervision. Dagmar Wohler entwickelt am Beispiel einer
Selbsterfahrungssequenz Kategorien für die Dokumentation im Rahmen der
kunsttherapeutischen Ausbildung. Und Gunver S. Kienle stellt für den Be-
reich der klinischen Forschung Kriterien und eine Checkliste zur Verbesse-
rung der Qualität von Einzelfallberichten und Fallserien in der onkologischen
Behandlung zusammen.
Beispiele kunsttherapeutischer Dokumentation führen uns in diesem Band in
zwei unterschiedliche Bereiche. Thomas Staroszynski macht den Kunstthera-
peuten zum Instrument seiner eigenen Forschung: Der „Nachvollzug der
Bildentstehung“, kombiniert mit einer Textanalyse der narrativen Dokumen-
tation, stellt einen möglichen Ansatz zur Hypothesenbildung für Einzelfall-
studien dar.
Wenn wir über unsere kunsttherapeutische Arbeit schreiben, berühren wir
immer auch die Integrität des Patienten. Aus einem individuellen Schicksal
wird ein Fall. Wenn die Patienten selber zu Wort kommen, ist das anders.
Eva Herborn bezieht die Patienten in die Dokumentation mit ein: Der Patient
als Experte.
Der vorliegende Band schließt also mit einem Aufsatz, der methodischen und
wissenschaftstheoretischen Überlegungen ein wesentliches Kriterium an die
Seite stellt: Die Würde des Anderen. Die kunsttherapeutische Dokumentation
berührt immer auch ethische Grundsätze therapeutischen Handelns. Peer de Smit
hat das auf dem Symposion in seinem Beitrag, der im nächsten Band erscheint,
so formuliert:
„Wer krank wird und Hilfe braucht, hat vielfach das Pech, zu einem Fall zu
werden. Er wird zum Gegenstand einer Fallbesprechung, zu der er nicht geladen
ist. Wer zum Fall geworden ist, trägt das Stigma derer, die aus der Norm fallen
oder gegen deren Regeln verstoßen. Man behandelt ihn sprachlich nicht viel an-
ders als einen Gesetzesbrecher oder Störfaktor, was kaum ohne Folgen bleiben
wird. Denn in der Art wie man über einen Menschen spricht, sagt man nicht nur
etwas aus, sondern berührt man ihn auch. Das hat mit Würde zu tun und Kultur.
Das hat mit Kunst und Poesie zu tun und - wer könnte daran zweifeln- auch mit
Therapie.“
Ein Buch wie dieses, das vorwiegend Beiträge von Kunsttherapeutinnen und
Kunsttherapeuten enthält, ist gewissermaßen selber ein Stück Dokumentation:
Es dokumentiert den Stand praxisorientierter Forschung in der Kunsttherapie,
18 Michael Ganß / Peter Sinapius
deren Material Dokumentationen aus der kunsttherapeutischen Praxis sind. Im
Mittelpunkt der Betrachtungen stehen dabei die besonderen Bedingungen, die
die kunsttherapeutische Praxis ausmachen. Natürlich ist mit diesem Buch nicht
alles gesagt, was dazu zu sagen wäre. Uns geht es nicht um Vollständigkeit,
sondern vielmehr um die Perspektive, aus der wir auf die kunsttherapeutische
Praxis blicken. Der Blick gehört dabei nicht nur dem bildnerischen Werk, son-
dern den individuellen Bedingungen, unter denen es entstanden ist. Dann aber
ist der forschende Kunsttherapeut selber Teil dessen, wovon er spricht. Dafür
ein Bewusstsein zu entwickeln ist Voraussetzung für eine Forschung, die eine
wissenschaftliche Grundlage der Kunsttherapie bilden soll.
An dieser Stelle sei allen Autorinnen und Autoren für ihre geduldige Mitarbeit
gedankt, Prof. Dr. Peter Petersen für seine Unterstützung für unser Projekt, Prof.
Dr. Hubert Spoerri für die gewissenhafte Durchsicht der Texte, Marion
Wendtland-Baumeister und Prof. Dr. Ralf Bolle für ihren Rat und ihr Engage-
ment beim Zustandekommen dieser Reihe, Mike Müller für die Gestaltung des
Einbandes und Sebastian Dannenberg für das Layout. Insbesondere danken wir
der Software AG-Stiftung, die durch die finanzielle Unterstützung des Herbst-
symposions und des Instituts für Kunsttherapie und Forschung der Fachhoch-
schule Ottersberg diese Publikation erst möglich gemacht hat.
Trotz aller Widrigkeiten, die solch ein Unternehmen mit sich bringt, ist für uns
leitend gewesen, was Elisabeth Wellendorf einmal formuliert hat: „Es gibt kei-
nen Weg – es sei denn Du gehst ihn“ (Wellendorf 1999).
Michael Ganß
Peter Sinapius
im Juli 2006
Literatur
Petersen, P. (2004): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien unter Berücksichtigung
von Wirksamkeitsstudien – Aufruf zu Besinnung auf die eigenen Quellen. In: Henn, W. und
Gruber H. (2004): Kunsttherapie in der Onkologie / Grundlagen, Forschungsprojekte, Praxis-
berichte, Köln: Richter. 60
Wellendorf, E. (1999): Es gibt keinen Weg, es sei denn, Du gehst ihn. Stuttgart: Mayer
1. Beweismittel Dokumentation:
Wirksamkeit, Evidenz, Evaluation.
Woran lässt sich die Kunsttherapie messen?
Peter Sinapius
Der Durchschnitt und der Einzelfall:
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen
Statistik und Poesie
„Heute geht es darum, dass wir unsere
Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen,
mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu
fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein
Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk
zu entdecken. Noch weniger ist es unsere
Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk
herauszupressen, als darin enthalten ist.
Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt
zurückzuschneiden, damit die Sache selbst
zum Vorschein kommt.“ (Sontag 1982)
Zusammenfassung
Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis ist der Ausgangspunkt für eine
kunsttherapeutische Forschung. In dem vorliegenden Band werden Grundlagen,
Modelle und Beispiele der Dokumentation vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen
dabei Kriterien, die mit den spezifischen Bedingungen der kunsttherapeutischen
Praxis einhergehen: Die Subjektivität kunsttherapeutischer Praxis, die individu-
ellen Bedingungen der therapeutischen Begegnung und die anthropologischen
Vorraussetzungen für therapeutisches Handeln. Der eigene Standpunkt, die ei-
genen Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund
werden damit wesentlicher Bestandteil einer kunsttherapeutischen Dokumen-
tation. Damit kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen,
sinnliche Faktoren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den
Blick des Arztes erweitern, weil sie über die unmittelbar am pathologischen Be-
fund orientierte Betrachtung hinausgehen.
Das Dokument
Mit einem Dokument halte ich etwas fest, was sonst unwiderruflich verloren
wäre. Es gilt als Urkunde oder Beweis für einen Sachverhalt, für den es Zeugnis
ablegt. Für ein solches Dokument müssen Regeln gelten, die ihm die ent-
sprechende Überzeugungskraft verleihen.
Ein Dokument kann ein Insignum der Macht sein und Kraft eines Amtes einen
Umstand mit Brief und Siegel für gültig und rechtens erklären. Es kann ein
22 Peter Sinapius
Fundstück sein, das wir in einen gegebenen Kontext einordnen können. Ein Do-
kument kann ein Bericht sein, sofern er nachvollziehbar ist, d.h. an unsere Er-
fahrungen anschließt und die Informationen enthält, die ihn in einen gegebenen
Zusammenhang bringen. Es kann aber auch Daten enthalten, die sich auswerten
lassen. Sofern vergleichbare Dokumente und genügend Daten vorliegen, kann
daraus eine statistische Darstellung folgen. Und schließlich kann das Dokument
als Dokument durch sich selbst beweiskräftig sein, wenn das, was es behauptet,
das ist, was wir darin erkennen: Ein Gedicht, ein Bild oder eine improvisierte
Handlung, die dokumentiert sind, treten für nichts den Beweis an außer selber
ein Stück sinnlich erfahrbare Wirklichkeit zu sein. Sie liegen also im subjektiven
Erleben eines jeden Einzelnen. Einer Erzählung und einer Geschichte kann –
wie bei jedem Kunstwerk - eine erkenntnisstiftende Kraft innewohnen, die über
das Besondere auf etwas Allgemeines verweist. Sie tut das in der Sprache der
Kunst1.
Die Spannbreite der Dokumentationsformen reicht folglich von der Statistik, die
Objektivität beansprucht, über den Bericht, der nachvollziehbar ist bis zu künst-
lerischen und ästhetischen Formen des Dokumentierens. Die eine Dokumen-
tation sucht nach ihren eigenen Grundsätzen subjektive Einflüsse weitgehend
auszuschalten, die andere ist auf das subjektive Erleben angewiesen und gewinnt
durch sich selbst und die Form ihrer Darstellung Evidenz.
Zwischen Statistik und Poesie
Wer sich forschend mit der Praxis der Kunsttherapie befasst, ist zu allererst auf
Dokumente aus der kunsttherapeutischen Praxis angewiesen, auf die er sich be-
ziehen kann. Das sind zunächst die Werke der Patienten, die sich aber ohne den
Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, nicht erschließen2. Der Zusammen-
hang mit dem individuellen Krankheitsgeschehen, den konstitutionellen, biogra-
fischen und psychosozialen Bedingungen, den Rahmenbedingungen und dem
spezifischen Setting, erschließt sich aus den Berichten oder Protokollen des
Kunsttherapeuten3, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen, die sie wissenschaft-
lich verwertbar machen.
Dazu gehört in erster Linie, dass sie sich in einen vorgegebenen Kontext ein-
ordnen lassen: Sie müssen den spezifischen Bedingungen kunsttherapeutischer
1 Reinhold Fäth und Paolo Knill gehen in diesem Band auf „subjektiv-künstlerische“ Formen
kunsttherapeutischer Dokumentation ein (art-based-research).
2 Um die Patientenbilder nachvollziehen zu können, bringt sie Thomas Staroszynski in seinem
Beitrag in einen Zusammenhang mit narrativen Formen der Dokumentation.
3 Auch wenn ich im Folgenden der Lesbarkeit wegen nur die männliche Form wähle, ist
ebenso die weibliche gemeint.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 23
Praxis gerecht werden, die sich über Bilder, die mit den ästhetischen Gestal-
tungen und Handlungen zwischen Therapeut und Patient verbunden sind, arti-
kuliert.
Eine Dokumentation kann ganz unterschiedliche Ziele verfolgen: Sie kann der
Selbstreflektion dienen und im Zusammenhang mit einer Supervision oder der
kunsttherapeutischen Selbsterfahrung im Rahmen der Ausbildung stehen4. Sie
kann als Mitteilung an den behandelnden oder nachbehandelnden Arzt gedacht
sein oder für die nachfolgende Forschung, in deren Rahmen Dokumente ge-
sammelt und ausgewertet werden5. Mit jeder dieser Möglichkeiten können ganz
unterschiedliche Fragestellungen einhergehen. Nicht zuletzt muss die Doku-
mentation von dem, an den sie gerichtet ist, verstanden werden können: Sie
muss nachvollziehbar sein.
Die Form, Methode oder Systematik, der eine Dokumentation folgt, hängt also
von unterschiedlichen Bedingungen ab: Sie muss sich im Einklang mit den Be-
dingungen kunsttherapeutischer Praxis befinden, sie muss der Fragestellung an-
gemessen sein und je nach Adressat innerhalb der eigenen Disziplin oder auch
interdisziplinär vermittelbar sein: Es geht um die Kongruenz zwischen For-
schungsgegenstand, Fragestellung, Ziel und Methode.
Herrscht zwischen diesen Faktoren keine Kongruenz, ist eine kunsttherapeuti-
sche Dokumentation für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar. Es ist bei-
spielsweise unsinnig, statistische Untersuchungsmethoden, die im Zusammen-
hang medizinischer Wirksamkeitsforschung einen Sinn machen, auf den Bereich
künstlerischer oder ästhetischer Fragestellungen anwenden zu wollen. Jemand,
der die kunsttherapeutische Praxis begründen will, hat nicht nur eine andere
Fragestellung, sondern auch ein anderes Ziel als jemand, dem es um die
Integration der Kunsttherapie in das Fallpauschalensystem im Zusammenhang
mit den Leitlinien für die Standards klinischer Versorgung geht (Kunzmann et
al. 2005). Dokumentationen, die im Zusammenhang mit der Evaluierung thera-
peutischer Verfahren im Rahmen der Gesundheitsversorgung stehen, folgen
vorgegebenen Erfassungskriterien und einer Forschungssprache aus einem be-
stimmten Bereich der medizinischen Forschung, der als „Goldstandard“ für alle
therapeutischen Verfahren festgelegt ist6. Ausgangspunkt für eine
kunsttherapeutische Dokumentation ist die kunsttherapeutische Praxis, die
4 Vergl. die Beiträge von Evelyne Golombek und Dagmar Wohler in diesem Band.
5 Kiene entwickelt in seinem Beitrag die Kriterien für kunsttherapeutische Dokumentationen,
die in einem Zusammenhang mit klinischen Forschungsvorhaben stehen.
6 Paolo Knill und Peter Petersen entwickeln vor diesem Hintergrund in diesem Buch
Gesichtspunkte für eine „Wissenschaftlichkeit“ kunsttherapeutischer Forschung.
24 Peter Sinapius
künstlerischen und ästhetischen Kriterien folgt, für die es keinen Standard gibt7.
Wir haben es in der Kunsttherapie mit Bildern und ihren vorikonographischen
Bedeutungen zu tun, die unter den subjektiven Bedingungen der therapeutischen
Beziehung entstehen: Der Therapeut ist als Subjekt ebenso an ihrer Entstehung
beteiligt wie der Patient. Dabei ist unter Bild mehr als das zu verstehen, was sich
in einer Gestalt, im Gemälde oder der Plastik manifestiert. Das Bild, um das es
in der Kunsttherapie geht, ist erst vollständig im Kontext der therapeutischen
Beziehung. Damit aber ist der Kunsttherapeut, der dokumentiert, Beteiligter an
dem Geschehen, von dem er spricht. Folglich schließt eine Dokumentation aus
der kunsttherapeutischen Praxis in der Regel die subjektiven Erfahrungen des
Kunsttherapeuten ein (Sinapius 2005, 163 ff).
Ohne eine Reflexion auf diese Bedingungen kunsttherapeutischer Praxis und die
Bedingungen des speziellen Forschungskontextes wird eine kunsttherapeutische
Dokumentation, bei der der Kunsttherapeut sowohl als Beteiligter als auch als
„Forscher“ eine Rolle spielt, weder kontrollierbar noch nachvollziehbar8.
Eine kunsttherapeutische Dokumentation, die ihren Blick auf die kunsttherapeu-
tische Praxis richtet, erfordert zunächst ein hohes Maß an Selbstreflexivität und
kontrollierter Subjektivität (Tüpker 2002): Der eigene Standpunkt, die eigenen
Erfahrungen, der eigene künstlerische und weltanschauliche Hintergrund sind
wesentliche Teile einer kunsttherapeutischen Dokumentation9, weil sich ohne sie
nicht das erschließt, was als ästhetische Mitteilung zwischen Therapeut und
Patient Bedeutung gewinnt.
Die Dokumentation kunsttherapeutischer Praxis hat also andere Vorraussetzun-
gen als eine Dokumentation vor dem Hintergrund der Paradigmen evidenz-
basierter Forschung.
Der Durchschnitt und der Einzelfall
Wenn wir ein Gebilde objektiv beschreiben wollen, können wir es vermessen, es
wiegen, seine Temperatur feststellen, seine Materialität bestimmen usw. Wir
befassen uns mit dem Gebilde, indem wir Verhältnisse und Beziehungen zwi-
schen diesem Gebilde und anderen Dingen herstellen. Wenn wir feststellen, dass
7 vergl. Peter Petersen (2004): „Forschungsmethoden müssen dem Gegenstand der Forschung
gemäß sein – also dem Wesen künstlerischer Therapie angepasst – nicht umgekehrt…“
8 Ulrich Elbing spricht in seinem Beitrag von „Wissenschaft als Einheit von Erfahrung, Han-
deln und Kommunikation“.
9 Barbara Narr beschreibt in ihrem Beitrag die fehlende Reflexion auf die subjektiven
Bedingungen der Kunsttherapie: „Offizielle Forschung zur (heimlichen) Stärkung der eigenen
Subkultur“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 25
es 50 cm lang ist, ist unser Maßstab, mit dem wir es vergleichen, ein Zollstock.
Wenn wir sein Gewicht bestimmen, untersuchen wir seine Wirkung auf ein an-
deres Ding: Wir nehmen eine Waage und stellen fest, dass sich die Waage in
Bezug auf das Gebilde in einer ganz bestimmten Weise verhält. Bestimmen wir
seine Temperatur, untersuchen wir seine Wirkung auf einen Thermometer.
Wir vergleichen, bilden Verhältnisse zu anderen Dingen und ziehen Schlüsse
daraus. Was wir daraus schließen, nennen wir objektiv, weil wir vergleichbare
Situationen herstellen können.
Kennzeichnend für eine solche Annäherung an die Wirklichkeit ist, dass subjek-
tive Faktoren in der Betrachtung weitgehend ausgeschaltet werden. Was wir
messen, wiegen und zählen können, lässt sich also, wenn wir einen Maßstab ha-
ben, der es vergleichbar macht, in der Regel objektiv beschreiben. Das Maß an
Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit sind in diesem Fall die Parameter für
die wissenschaftliche Beweiskraft, die durch subjektive Einflüsse getrübt wür-
den.
Sobald wir sinnliche Qualitäten der Wahrnehmung wie z.B. Schmecken, Rie-
chen oder Fühlen in die Untersuchung einführen, um darzustellen, welche Be-
schaffenheit der entsprechende Gegenstand hat, schreiben wir ihnen dann eine
objektive Bedeutung zu, wenn unsere Wahrnehmungen mit denen Anderer über-
einstimmen (Interrater-Reliabilität).
In der Kunsttherapie fehlt uns ein Maß, das sie vergleichbar und objektiv be-
schreibbar macht. Wir haben es in der Kunsttherapie nicht nur mit sinnlichen
Qualitäten der Dinge oder Phänomene zu tun, sondern auch mit ihren psychi-
schen oder psychophysischen Wirkungen auf uns. Dann ist eine Farbe, eine
Form, ein Ton nicht nur ein außerhalb von uns liegendes beschreibbares Phäno-
men, sondern das Phänomen löst eine Reaktion in uns aus, die wir als
Mitteilungsqualität des Phänomens werten: Wir bringen es mit Affekten, die zu
Kategorien wie z.B. Zorn, Freude oder Trauer und damit zu dem Bereich der
nonverbalen Kommunikation zählen, in Verbindung (Sinapius 2005). Sie ma-
chen den vorikonographischen Bereich der Beschreibung eines Kunstwerkes
aus, der sich ausdrückt durch die spezifischen Konfigurationen von Farbe, Linie
oder Form (Panofsky 1975), durch den eine Farbe oder eine Linie den Charakter
einer mitteilenden Geste gewinnen. Ihre Bedeutung gewinnen sie vor dem Hin-
tergrund individueller Erfahrungen und Lebenskonzepte, Konventionen oder
milieuspezifischen Bedingungen. Nicht zufällig beschäftigen sich daher mehrere
Beiträge dieses Bandes mit der Frage der Subjektivität als Faktor kunstthera-
peutischer Forschung10.
10 vergl. die Beiträge von Fäth, Gruber, Knitsch, Knill und Narr in diesem Band.
26 Peter Sinapius
Medizin und Kunst
Die Kunsttherapie befindet sich an der Schnittstelle zweier von ihrer Herkunft
und ihrem Selbstverständnis her verschiedener Kulturen: Die am Krankheitsbild
orientierte medizinische Behandlung und die an ästhetischen Phänomenen der
Wahrnehmung und Ausdrucksbildung orientierte kunsttherapeutische Behand-
lung. An dieser Schnittstelle geht es nicht um die Vorherrschaft einer damit ver-
bundenen Forschungsmethodik, sondern um anthropologische Fragen, um das
Menschenbild, mit dem medizinisches und therapeutisches Handeln und die ihm
zu Grunde liegenden Konzepte einhergehen.
Im Rahmen einer Studie über die besonderen Bedingungen der Kunsttherapie im
klinischen Praxisfeld11 antwortete ein Mediziner auf die Frage: „Was würde
Ihnen fehlen, wenn es (an Ihrem Krankenhaus) die Kunsttherapie nicht gäbe?“:
„Es würde kalt und ausgedorrt im Krankenhaus werden. Es würde ein ganz we-
sentlicher Teil dessen, was den Patienten ausmacht…in den Hintergrund treten
… ich spüre, dass es auch für uns Ärzte mitunter, wenn wir genügend Zeit haben
uns auf diese Kunsttherapien einzulassen, eine unglaubliche Rückernährung ist
dadurch, dass auch Menschen im Haus arbeiten, die das eigentlich Gesunde
pflegen.“ Eine Ärztin beschrieb auf die gleiche Frage den Musiktherapeuten als
denjenigen, der „…das Ästhetische mit rein bringt, den Patienten mal eine
Blume vorbei bringt, oder mal einen Kristall ins Fenster hängt, damit sie dann
die Farben sehen können, die sich brechen.“
Es werden hier von der befragten Ärztin und dem befragten Arzt zwei wesentli-
che Aussagen über die Kunsttherapie gemacht:
1. Die Kunsttherapie bringt Wärme in das Krankenhaus und pflegt das eigentlich
Gesunde und
2. der Kunsttherapeut bringt das Ästhetische in das Krankenhaus als Handlung,
die sich an den Patienten richtet.
Es sind damit zwei Faktoren angesprochen, die zweifellos von Bedeutung sind,
wenn wir von der Wirkung der Kunsttherapie sprechen. Sie betreffen nicht nur
das, was die Kunsttherapeuten tun, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie
es tun: Die Blume oder der Kristall, die der Musiktherapeut mitbringt, mögen
für sich genommen belanglos erscheinen. Für sich genommen bringen sie noch
keine „Wärme“ in den Krankenhausalltag. Ihre Bedeutung gewinnen sie erst
durch die Umstände, die mit ihnen verbunden sind, in dem Augenblick, in dem
der Patient sie erhält: Das Wahrgenommenwerden und das Zugeneigt-sein. Sie
11 Das von Sept. 2005 – Sept. 2006 laufende von der „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung
innovativer Projekte“ (AGIP) beim Land Niedersachsen geförderte Kopperationsprojekt zwi-
schen der Fachhochschule Ottersberg und dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke hatte
den Titel: „Berufsfeldspezifische Bedingungen der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 27
machen die Blume und den Kristall zum Inhalt einer ganz individuellen Be-
gegnung.
Eine kunsttherapeutische „Intervention“ bliebe ohne diese Faktoren des Wahr-
genommenwerdens und des Zugeneigt-seins wirkungslos. Ohne sie entstünde
kein Wärmeraum (Sinapius 2005), der eine Farbe zum Sprechen bringt oder ei-
nen Ton zur Mitteilung werden lässt, die der Andere ergreifen, durch die er sich
formulieren und äußern kann. Der Kunsttherapeut stellt nicht nur das Material
wie Farbe oder Ton zur Verfügung, er schafft vor allem einen individuellen
Raum, in dem das künstlerische Werk Teil einer ästhetischen Handlung wird,
die sich zwischen Therapeut und Patient vollzieht. Für den Bereich der ästheti-
schen Bildung hat Helga Kämpf-Jansen, inzwischen auch für die Kunsttherapie-
Forschung unüberhörbar, die These formuliert: „Ästhetische Arbeit bedarf eines
individuell erfahrenen Sinns“ (Kämpf-Jansen 2002). Indem die Kunsttherapie
Raum schafft für imaginative und intuitive Sinngebungen und Lösungsstrate-
gien, einen Beziehungsraum, in dem der Patient sinnliche Erfahrungen machen
und seine Potentiale (Möglichkeiten) entfalten kann, knüpft sie an fundamentale
Bedingungen von Entwicklung und Gesundheit an (Antonovsky 1997).
Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis darstellen wollen, stoßen wir so auf
Kategorien, die das Feld beschreiben, mit dem wir uns befassen: sinnliche Kate-
gorien der Erfahrung und Anschauung, menschliche Kategorien des Leidens und
der Anteilnahme und künstlerische Kategorien der Intuition und Gestaltung.
Neben der Phänomenologie und Wahrnehmungsforschung, anthropologischen
und psychologischen Konzepten und wissenschaftlichen Grundlagen der
Kunsttheorie und -philosophie haben wir es damit vor allem mit individuellen
Lebenskonzepten und Menschenbildern derjenigen zu tun, die in der Kunstthe-
rapie einander begegnen. Durch die Einbeziehung individueller Faktoren in eine
wissenschaftliche Darlegung und Handhabung der Kunsttherapie scheint man
sich aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu begeben, weil damit nicht wie in
anderen Bereichen reproduzierbare, vergleichbare oder statistisch verwertbare
Informationen einhergehen. Für eine wissenschaftliche Grundlegung der
Kunsttherapie ist es aber eher fragwürdig wesentliche Bedingungen kunstthera-
peutischen Handelns ausblenden zu wollen, damit der Gegenstand der wissen-
schaftlichen Untersuchung einer vorgegebenen Methode gerecht wird. Die Dar-
stellung von Subjektivität in der Kunsttherapie ist ein wesentlicher Ausgangs-
punkt für die Entwicklung von geeigneten Instrumenten zur Dokumentation für
eine Therapie, deren Erfolg wesentlich mit subjektiven Bedingungen, indivi-
duellen Einstellungen, Lebenskonzepten und Menschenbildern verbunden ist12.
12 Kriz weist im Zusammenhang mit der Vielfalt psychotherapeutischer Schulen darauf hin,
sie sei eine Widerspiegelung einer sinnvollen Heterogenität von Lebens“weisen“, d.h. Vorlie-
28 Peter Sinapius
Wir stoßen damit gleichzeitig auf den Bereich, der die Schnittstelle zwischen
kunsttherapeutischer und medizinischer Praxis ausmacht und eine gemeinsame
Perspektive auf die therapeutische Behandlung erlaubt: Sie folgt den indivi-
duellen Wahrnehmungen aus der Begegnung mit dem kranken Menschen und
führt zu individuellen Sinngebungen, Therapiekonzepten und Lösungsstrategien.
In ihrem Hintergrund stehen unterschiedliche Modelle, die das Verhältnis von
Gesundheit und Krankheit beschreiben (wie sie in diesem Band von Heinfried
Duncker beschrieben sind), anthropologische Grundannahmen, mit denen sich
Harald Gruber in seinem Beitrag befasst, psychosomatische und biopsycho-
soziale Konzepte, die die Krankheit als dynamisches Geschehen im Zusammen-
hang mit der Gesamtheit der menschlichen Konstitution auffassen und psycho-
soziale Bedingungen, durch die die Krankheit in soziale und soziokulturelle Zu-
sammenhänge gelangt (z.B. von Uexküll / Wesiak 1988).
Damit verliert die vorrangige oder gar ausschließliche Zuordnung kunstthera-
peutischer Forschung zum medizinisch-klinischen Forschungsbereich und hier
vornehmlich zu quantitativen Methoden ihre Berechtigung. Dokumentationen,
die eine Grundlage für gemeinsame Behandlungsstrategien von medizinischer
und kunsttherapeutischer Behandlung bilden können, fokussieren nicht auf den
kranken Menschen als Symptomträger, sondern auf die Bedingungen der inter-
subjektiven Beziehung Therapeut – Patient13 und auf den Gesamtzusammenhang
menschlichen Erlebens, in dem die Krankheitssymptomatik steht.
Grundlage einer Dokumentation, die die subjektiven Bedingungen der therapeu-
tischen Beziehung, die mit der ästhetischen Handlung einhergehen, einschließt,
ist die Fähigkeit, auf das eigene Handeln zu reflektieren: Sie erfordert ein Be-
wusstsein für die Motive des eigenen Handelns, für das eigene Menschenbild
und die eigenen ästhetischen Sichtweisen. Der Beitrag von Barbara Narr in die-
sem Buch nimmt dazu pointiert Stellung und gibt einen entscheidenden Hin-
weis: „Die poetische Annäherung an einen kunsttherapeutischen Prozess muss
also einen reflektierenden Anteil erhalten“. Dabei schließt die Reflektion auf das
eigene Handeln ein Bewusstsein für subjektive, biographische, soziokulturelle,
anthropologische oder philosophische Voraussetzungen, mit denen die thera-
peutische Handlung zu tun hat, ein.
ben, Fähigkeiten, Interessen, Lebenswegen, Menschenbildern etc., sowohl seitens der Be-
handler wie auch der Behandelten. (Kriz 2000)
13 vergl. David Aldridge (2002): Was wir „entwickeln müssen ist eine Möglichkeit, das
Kunstwerk selber so darzustellen, wie es im therapeutischen Kontext erscheint.“ In: „Musik-
therapie – eine Erzählperspektive“.
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie 29
Resümee
Wenn wir die kunsttherapeutische Praxis begründen wollen, treffen wir auf Be-
dingungen, an die wir kein äußeres Maß herantragen können, da wir es mit
individuellen, intersubjektiven Verhältnissen zu tun haben. Wir berühren damit
aber auch einen Bereich, der zwischen Medizin und Kunst liegt und den Blick
hinausführt über die unmittelbar am pathologischen Befund orientierte Behand-
lung.
Es gibt verschiedene Arten sich ein Bild zu machen. Der Arzt, der sich mittels
Exploration, Anamnese und Untersuchung ein Bild von einer Krankheit macht,
hat zunächst einen anderen Blick als der Kunsttherapeut, der sich mit ästhetisch-
bildnerischen Phänomenen beschäftigt. Inhalt kunsttherapeutischer Praxis ist
bildnerisches Gestalten. Die bildnerischen Phänomene erschließen sich erst vor
dem Hintergrund der individuellen Begegnung zwischen Therapeut und Patient,
in deren Rahmen eine ästhetische Handlung ihre Bedeutung gewinnt. Damit
kommen anthropologische Konzepte, individuelle Sichtweisen, sinnliche Fakto-
ren und die persönliche Anteilnahme ins Spiel, die auch den Blick des Arztes
erweitern um die relativen und multifaktoriellen Bedingungen, die mit einer
Krankheit verbunden sind – vorausgesetzt der Kunsttherapeut findet eine Mög-
lichkeit der Dokumentation, die die subjektiven und jeweils individuellen Be-
dingungen der kunsttherapeutischen Praxis einschließt.
Literatur
Antonovsky A. (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen:
Dgvt-Verlag
David Aldridge (2002): Musiktherapie – eine Erzählperspektive. In: Petersen, P. (2002): For-
schungsmethoden künstlerischer Therapien, Stuttgart: Maier. 136 f.
Kämpf-Jansen, H. (2002): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissen-
schaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon
Kriz, J. (2000): Perspektiven zur „Wissenschaftlichkeit“ von Psychotherapie. In: Hermer,
Matthias (Hrsg.): „Psychotherapeutische Perspektiven am Ende des 21. Jahrhunderts“,
Tübingen: Dgvt-Verlag
Kunzmann, B./ Aldridge D. et al. (2005): Gesetzlicher Rahmen des Fallpauschalengesetzes –
Qualitätssicherung und Erfassung psychosozialer Leistungen. In: Zschr. für Musik-, Tanz-
und Kunsttherapie Jg. 16, 2/ 2005. 87-94
30 Peter Sinapius
Panofsky, E. (1975): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts).
Köln: Du Mont
Petersen, P. (2004): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien unter Berücksichtigung
von Wirksamkeitsstudien – Aufruf zu Besinnung auf die eigenen Quellen, S. 60 in: Henn, W.
und Gruber H. (2004). Kunsttherapie in der Onkologie / Grundlagen, Forschungsprojekte,
Praxisberichte. Köln: Richter
Sinapius, P. (2005): Therapie als Bild – Das Bild als Therapie / Grundlagen einer künstleri-
schen Therapie. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Sontag, S. (1982): Kunst und Antikunst / 24 literarische Analysen. S. 21, Frankfurt am Main:
Fischer
Tüpker, R. (2002): Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden For-
schungsparadigma. In: Petersen, P. (Hrsg.): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien.
Stuttgart/ Berlin: Mayer. 95-109
Von Uexküll T./ Wesick W. (1988): Theorie der Humanmedizin. München: Urban &
Schwarzenberg
Peter Petersen
Wie lässt sich künstlerisch- therapeutische Forschung gestalten?
Lebensrückblick eines „Zwölfenders“ 1
Vorbemerkung
Künstlerische Therapien sind eine notwendige Kraft für die Zukunft der Heil-
kunde und unserer Kultur. Wieso? In Theorie und Praxis überwinden sie den
Jahrhunderte alten Dualismus durch ihren ästhetisch – poetischen Ansatz, durch
ihre umfassende Wahrnehmung des Kosmos unserer Sinne, sie richten ihr Tätig-
sein auf den spontanen sich bahnbrechenden therapeutischen Prozess zwischen
den Therapiepartnern, und sie sind der therapeutischen Beziehung zwischen
Therapeut und Patientin verpflichtet, die sich nährt aus dem unbedingten Re-
spekt zwischen Ich und Du.
Forschung künstlerischer Therapeuten ist aus vielen Gründen erforderlich – je-
doch sollte Forschung ihrem Gegenstand, der Kunst, angemessen sein.
Wir sind mitten in der Diskussion, wie dieser Forschungsauftrag zu verwirkli-
chen sein könnte. Dabei übernehmen wir Verantwortung – Verantwortung für
angemessene Forschungskonzepte, vor allem Verantwortung für die weitere
Entwicklung Künstlerischer Therapien, denn Forschung bahnt theoretische Kon-
zepte, nach denen sich praktisches Handeln dann wiederum richten kann. Das
Denken bestimmt das Sein – der Mensch ist, was er denkt, dass er sei.
Am Ende meines beruflichen Lebensganges als Therapeut, Arzt und Wissen-
schaftler nehme ich mir die Freiheit, mit diesem Vortrag einen Rückblick auf 50
Jahre eigener Tätigkeit zu verknüpfen. Ich möchte meine Erinnerung an eigene
Stationen zu Hilfe nehmen, um auch an ihrem Beispiel einige Fragen von heute
anschaulich werden zu lassen. Dass dabei „Dichtung und Wahrheit” auch inein-
ander übergehen können, kann in der Natur der Sache liegen. Denn „die Erklä-
rung, die Deutung, so genannter Tatsachen nennt man Geschichtsschreibung;
ihre Verwandlung auf höherer Ebene ist Dichtung, ihre Wahrheit aber, ihr
eigentliches Geheimnis gehört dem Vergessen an”. (Burckhardt 1947).
Ausdrücklich möchte ich betonen: Mit diesem Rückblick werfe ich ein Licht auf
mein eigenes Leben; kein Beispiel für Forscher ist gemeint, jeder Forscher muss
seinen eigenen Weg suchen – und hoffentlich finden.
Ich gliedere den Vortrag in sechs Teile:
1 Schwerpunktvortrag auf dem Symposion ”Der Durchschnitt und der Einzelfall:
Kunsttherapeutische Dokumentation zwischen Statistik und Poesie” (Symposion Institut für
Kunsttherapie und Forschung Fachhochschule Ottersberg 4./5. November 2005)
32 Peter Petersen
Freiheit der Forschung ist immer auch beschränkt.
Künstlerisch-therapeutische Forschung – ein Schmetterlings-Symptom in-
folge selbst gebauter Falle
Systematische Forschung – Realität und Rationalität
Stückwerk-Forschung – Phänomene im Zufall wahrnehmen
Tabus sind zu lüften und einer Lösung zuzuführen
Der still nachwachsende Fußnagel – oder: Zukünftiges auf uns zukommen
lassen.
Motto: Im Bindungslosen tummeln sich
die Geister, in der Beschränkung zeigt
sich erst der Meister.
1. Freiheit der Forschung ist immer auch beschränkt
”Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei”, heißt es im fünften
Artikel der Grundrechte der Deutschen Verfassung. Freiheit der Forschung ist
für den Forscher zwar eine heilige Kuh, zugleich ist es aber seine Aufgabe, das
Futter für diese Kuh zu beschaffen. Die Futterbeschaffung kann eine äußerst an-
strengende und auch sinnvolle Beschränkung für den Forscher sein. Ich werde
im dritten Teil des Vortrages die Voraussetzungen (Beschränkungen) näher be-
schreiben.
Ich möchte jetzt zunächst zwei Beschränkungen nennen, eine unheilige und eine
notwendige. Zuerst zur unheiligen Beschränkung. Ich bezeichne sie deshalb mit
diesem Adjektiv, weil ich den Eindruck habe: Künstlerische Therapeuten jagen
wie der Hase hinter dem Igel her beim Thema Wirksamkeitsforschung. Unheilig
ist diese Jagd nicht deshalb, weil Wirksamkeitsforschung als solche für Künstle-
rische Therapien schädlich ist; sondern deshalb, weil Künstlerische Therapeuten
sich dabei in einer von vornherein aussichtslosen Konkurrenz mit Wirksamkeits-
forschungen der klassischen Medizin mit ihren Grundsätzen der Evidence-
Based-Medicine begeben. Das Etikett „wissenschaftlich anerkannt und wissen-
schaftlich bewiesen” wird auf Grund von Prinzipien der Evidence-Based-
Medicine (EBM) verliehen. Es ist wie ein aufgeblähtes Schlagwort aus dem Ar-
senal politischen Wahlkampfes. Damit soll der alternativ denkende künstlerische
Therapeut mundtot gemacht werden.
Ein weiteres Kriterium in diesem Kampfgetöse ist für Metaanalysen schon allein
die Anzahl von Publikationen, nicht deren Qualität oder Aussagekraft. Hier muss
man genau hinschauen: Nur das in der Fachliteratur Veröffentlichte gilt als
wirksam, die Publikation als solche ist schon ein Kriterium. Dabei weiß jeder
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 33
erfahrene Therapeut: Die Wirksamkeit seiner Methode lernt er nicht aus Publi-
kationen, sondern von einem guten Lehrer und aus der eigenen Erfahrung mit
Toleranz zur Fehlerfreundlichkeit.
Und weiterhin wird die Wirksamkeit Künstlerischer Therapien ausschließlich im
Zusammenhang mit medizinisch definierten Krankheiten bestimmt (Lindner
2005), also: Beim Magengeschwür sanfte Formen der Musiktherapie zum Bei-
spiel. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass dieser Zusammenhang sinnlos
ist. Sinnlos ist lediglich die unbedingte kausale Verknüpfung von therapeuti-
scher Ursache und körperlicher Wirkung; denn diese Form von Kausalität gilt
zwar in der klassischen Physik, schon viel weniger in der klassischen Medizin,
ganz gewiss aber nicht in der Theorie der Künstlerischen Therapie.
Der Kampf der Wirksamkeitsforschung – so wesentlich wie er sein mag – be-
schränkt die Freiheit künstlerisch therapeutischer Forschung heute jedoch nur
vordergründig. Im Hintergrund steht die notwendige Beschränkung. Die Frage
nach der notwendigen Beschränkung ist noch lange nicht zu Ende diskutiert.
Eine Grundfrage kann etwa so lauten: Die Form, die Gestalt der Forschung muss
immer dem Inhalt, dem künstlerisch-therapeutischen Gegenstand gemäß sein,
dann wird Künstlerische Therapie auf eine neue Ebene gehoben. Nur eine
künstlerische Gestalt der Forschung kann Künstlerische Therapie erfassen. Wie
aber soll das möglich sein? Ist das nicht eine überhöhte, eine zu ideale Forde-
rung, die in der Realität niemals eingelöst werden kann? Stoßen sich Idee und
Wirklichkeit hier aneinander?
Schauen wir uns doch nur einen Aspekt der Wirklichkeit an: Forschung arbeitet
immer mit definierten Techniken und Methoden. Dadurch wird die Wirklichkeit
reduziert, ausgestanzt. Bei bestimmten Methoden müssen wir unser subjektives
Erleben ausschalten. ”Technik ist ein Kniff, die Welt so einzurichten, dass wir
sie nicht erleben müssen” (Frisch 1957). Und natürlich ist Dokumentation als
solche eine Methode und Technik, ganz gleich welche Form wir wählen.
Das wohlklingende Thema dieser Tagung – „Dokumentation zwischen Statistik
und Poesie” - kann uns verführen, nur Gegensätze zu sehen. Dabei basiert beides
- die moderne Poesie ebenso wie moderne Statistik auf sehr harter Arbeit, die
sich auf umfassenden Kenntnissen gründen. Zudem schimmert die alte griechi-
sche Bedeutung von Poesie, nämlich poiesis (gleich Arbeit) bei beiden Worten
durch. Wenn Poesie ein gestaltetes Medium hervorbringt – Musik, Tanz, Ge-
dicht, Gemälde - bei dem Phantasie Pate steht, so wissen gebildete Statistiker
schon längst, welche notwendige Kraft sie aus der Welt ihrer Phantasie
schöpfen. Bewusst handelnde Statistiker müssen gute Mathematiker sein – dass
Mathematiker überwiegend in der Welt der Phantasie leben, bekommen wir im
Einstein-Jahr oft in Erinnerung gerufen.
34 Peter Petersen
Phantasie kann sich im Bindungslosen tummeln, auch das wissen wir aus den
atomaren Produkten bindungsloser Physiker. Deshalb muss Phantasie durch
Vernunft gebändigt werden. Goya zeichnete das schauerliche Bild vom Traum
der Vernunft; dieser Traum gebiert Ungeheuer. Aber vereinigt mit der Vernunft
wird die träumerische Phantasie zur Mutter der Künste und all ihrer Wunder-
werke (Feuchtwanger 1996). An die Vernunft gebundene Phantasie muss die
Freiheit künstlerisch-therapeutischer Forschung beschränken – notwendiger-
weise.
Wir müssen eines bedenken: Künstlerisch- therapeutische Forschung ist auch
immer innovativ, sie ist reich an Risiko. Hier betreten wir Neuland, ebenso wie
Künstler leise Laienspieler oder kräftige Trompeter sein können, die die Zukunft
ankünden. Dieser innovative und riskante Aspekt von Forschung ist zu unter-
scheiden vom wissenschaftlichen Aspekt. Wissenschaftler fragen nach der
Wahrheit, Wirkung und Gestaltung dagegen ist Aufgabe von Kunst und Thera-
pie. Ich werde auf diese zwei Aspekte nun im nächsten Teil eingehen.
2. Künstlerisch-therapeutische Forschung - Ein Schmetterlings-Symptom -
infolge selbst gebauter Falle
In den letzten 20 Jahren habe ich bei künstlerischen Therapeuten zunehmende
Begeisterung und hohe Motivation gespürt beim Thema Forschung. Zugleich
bemerkte ich dabei ein Phänomen, das ich am liebsten als Schmetterlings-
Symptom bezeichnen möchte: Schmetterlinge flattern gezielt auf eine Blume,
saugen dort kurz und heben wieder ab, um den herrlichen Honig zu verspeisen.
Bienen verhalten sich bekanntlich anders: Sie saugen auch den süßen Saft, aber
sie sammeln ihn mit Fleiß, eben mit Bienen-Fleiß, sodass sogar wir Menschen
die Süße genießen können. Das ist nur möglich auf Grund der unglaublich star-
ken Gestaltungskraft, die in einem Bienenkorb waltet.
Möglicherweise bin ich mit diesem Wort vom Schmetterlings-Symptom auf
dem Holzweg, denn natürlich kenne ich auch etliche Kolleginnen und Kollegen,
die sich wie Bienen verhalten haben und in jahrelanger Kärrnerarbeit wunder-
volle Produkte mit einem großen Wurf hervorbrachten. Ich denke an Rosemarie
Tüpker und Eckhard Weymann als Musiktherapeuten sowie Eva Herborn und
Harald Gruber als Kunsttherapeuten. Übrigens müssen abgeschlossene Doktor-
arbeiten dabei nicht unbedingt das Kennzeichen eines großen Wurfes sein.
Ich möchte noch etwas beim Schmetterlings-Symptom verweilen. Denn ich
vermute: Dieses schmetterlingshafte Verhalten ist nicht zufällig, ihm haftet eine
gewisse Zwangsläufigkeit an. Inwiefern?
Der Auftrag: Künstlerisch-therapeutische Forschung kann zu einer selbst ge-
bauten Falle werden. Künstlerische Therapeuten haben - sofern sie gute Berufs-
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 35
leute sind - jedenfalls zwei Bündel von Fähigkeiten entwickelt, einerseits die in
der Ästhetik und im Sinnenleben (Musik, Farbe, Form usw.), auf der anderen
Seite die dem Therapeuten verpflichtete bedingungslose Beziehung zum Patien-
tenpartner. Schon diese beiden Aufträge miteinander in Einklang zu bringen,
kann zum sperrigen Spagat werden. Denn die globale ästhetische Vision des
Künstlers, der sein Können und Wissen aus dem großen Pool seiner traditions-
reichen Kunstzunft schöpft, muss immer wieder reduziert und adaptiert werden
auf das Nadelöhr der höchst individuellen Not seines Patienten. Das kann wie
eine verengte Wahrnehmung wirken, eine personale Wahrnehmung, die aller-
dings wieder eine große Weite eröffnet, wenn der Therapeut sich ganz auf diese
Verengung einlässt. Paul Celan sagt es meisterhaft: „Geh in deine eigene Enge
und setze dich frei!“ (Celan 1983)
Denken Sie nur an den mit seinem Sterben hadernden Krebspatienten, hier ist
die Therapeutin nicht selten in einer scheinbar hoffnungslosen Lage. Ein Ge-
dicht von Hilde Domin kann das veranschaulichen (Domin 1987).
Zärtliche Nacht
Es kommt die Nacht Nicht wo du helfen kannst
da liebst du wo du hilflos bist
nicht was schön - Es ist eine zärtliche Nacht,
was hässlich ist. die Nacht da du liebst
Nicht was steigt - Was Liebe
was schon fallen muss. nicht retten kann.
Wenn künstlerische Therapeuten diese Verbindung zwischen dem Reichtum ih-
rer ästhetischen Erfahrung und der Not vor den Lebenssituationen der sich ihnen
anvertrauenden Patienten geschaffen haben und sich in diesem Gehäuse einiger-
maßen sicher fühlen - bei mir dauerte das in meinem Metier als künstlerischer
Wort-Therapeut, Psychotherapeut, gewiss 16 Jahre, so dringt als neuer Auftrag
der Ruf nach Forschung zu ihnen.
Ganz nebenbei gesagt: Ich halte Forschungsarbeiten von künstlerisch-therapeu-
tischen Greenhorns im Durchschnitt für wenig ertragreich. Ertragreiche For-
schung ist von einem Forscher zu erwarten, der sein eigenes Berufsgebiet auf
Grund eigener Erfahrungen gut genug kennt und auch aus dieser Erfahrung
heraus überschaut. Er kennt sein Forschungsobjekt von innen heraus. Der junge,
gewiss begeisterte Forschungseleve kann das Gebiet nur von außen her kennen
gelernt haben, und so besteht die Gefahr, dass er sein Forschungsobjekt auch nur
von außen beschreibt; das heißt aber: Er benutzt Maßstäbe und Begriffe, die er
36 Peter Petersen
nur von außen an die künstlerisch-therapeutische Praxis heranträgt. Beispiele
dafür sind psychoanalytische, tiefenpsychologische, anthroposophische,
behavioristische oder humanistisch-psychologische Nomenklatur. Diese For-
schungsprodukte sind alle richtig und korrekt - aber wie weit sie die Phänomene
Künstlerischer Therapie widerspiegeln, halte ich für fragwürdig.
Dabei bin ich beim dritten Auftrag, dem Auftrag an den künstlerischen Thera-
peuten zu forschen. Das Wort Forschen hat zumindest eine zweifache Bedeu-
tung:
Es heißt, neue Wege beschreiten, neue Wege ausbauen. Also ist Forschung auch
Innovationsmotor. Ich halte diesen Auftrag an künstlerische Therapeuten für
unglaublich wichtig. Künstlerische Therapie ist ein Motor der Innovation für die
gesamte Heilkunde. Das ist bisher viel zu wenig bewusst. Denn die Fülle unserer
sinnlichen Wahrnehmungen sind in der offiziellen Heilkunde - jedenfalls im
Abendland - sträflich vernachlässigt. Hier wartet auf künstlerische Therapeuten
eine gewaltige gesellschaftliche Aufgabe.
Die andere Bedeutung von Forschen heißt: Reflexion auf das eigene Tätigsein.
Und darauf aufbauend: Kommunikation dieser Reflexion in einer allgemein ver-
ständlichen Sprache. Diese Sprache kann zwar einen Sprung, eine Mutation im
bisherigen Kontext der Wissenschaften beinhalten, aber der Sprechende muss
die Kontexte des alten Ufers kennen, damit er den Sprung auf sein neues Ufer
hinreichend verständlich machen kann. Zudem glaube ich: Kunsttherapeuten
werden das Rad nicht neu erfinden können, aber sie haben die Chance und auch
die Aufgabe, verschüttete Räder ins Bewusstsein zu heben und für unsere ge-
genwärtige Technologie zu adaptieren.
Zurück zur Reflexion des eigenen Tätigseins: Damit tun Kunsttherapeuten sich
schwer.
Ich habe noch nicht genügend verstanden, worin dabei die Schwierigkeit liegt.
Ich glaube nicht, dass es nur Scheu vor Reflexion oder Bequemlichkeit oder die
Angst ist, die eigene Produktivität durch Reflexion zu zerstören. Gewiss, eine
unbewusste Naivität wird damit entlarvt, aber das kann für den Künstler und
Therapeuten nur günstig sein. Denn wenn Forschung künstlerischer Therapeuten
einem Kristall gleicht, der Licht und Wärme durchfluten lässt und so eine neue
Weltperspektive eröffnet (wie der Musiktherapeut Eckhard Weymann es aus-
drückt), dann kann die forschende Reflexion uns nur bereichern.
Aber es mag noch ein weiteres, tiefer sitzendes Hindernis für die Reflexion ge-
ben. Ich vermute Folgendes: Reflexion und deren gesellschaftlich und wissen-
schaftlich anerkannte Kommunikation ist immer die Wortsprache, und zwar die
Begriffssprache. Ganz gewiss ist die im Abendland entwickelte Begriffssprache
eine extreme Reduktion, eine Verkürzung unserer sinnlichen Erfahrungen.
Künstlerische Therapeuten leben womöglich in einer ganz anderen Welt: In der
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 37
Welt der Farben, der Klänge, der choreographischen Figuren, der großen Bilder,
innerseelischer und expressiver Bilder. Meine Frage ist: Wenn diese andere
Welt in der Reflexion systematisch geübt wird, ist dann womöglich die Begriffs-
sprache entbehrlich oder sogar hinderlich?
In manchen kunsttherapeutischen Schulen müssen die Studierenden ihr tägliches
Maltagebuch führen. Ich kenne einige psychotherapeutische Kollegen, die ihre
Dokumentationen nach einer Sitzung in Form eines Bildes zu Papier bringen
oder in einem Gedicht konzentrieren. Diese Form von Dokumentation ist sehr
wohl auch kommunizierbar - ein Fachmann versteht ziemlich schnell, was ge-
meint ist -, schneller als durch eine lange begriffliche Analyse.
Gewissermaßen einen Beweis für die Kommunizierbarkeit solcher Produkte hat
Harald Gruber durch eine methodisch hochdifferenzierte Untersuchung ge-
bracht. Allerdings war sein Forschungsobjekt nicht das Maltagebuch des
Kunsttherapeuten, sondern Bilder von Patienten, die einer kunsttherapeutischen
Expertengruppe zur Beurteilung vorgelegt wurden. Dabei kam ein hoher Grad
von Übereinstimmung in den Beurteilungen zu Tage, und zwar vor allem in den
Faktoren, die die Subjektivität und das Empfinden der Beurteiler widerspiegeln.
Damit wurde ein - im üblichen Sinne wissenschaftlicher - Beweis erbracht für
die These: Kunsttherapeutische Produkte sind in ihrer Essenz so kommunizier-
bar, dass übereinstimmende Beurteilung bei verschiedenen Betrachtern entste-
hen kann.
Ich denke, das ist ein Hinweis auf einen möglichen Weg: Reflexion Künstleri-
scher Therapie kann auch jenseits des begrifflichen Wortes kommunizierbar
sein. So kann es eine Aufgabe für künstlerische Therapeuten sein, solche Do-
kumentationen zu systematisieren und auf diese Art Forschungswege jenseits
des begrifflichen Wortes zu eröffnen und auszubauen - zugleich auch die Frage
genauer zu klären: Was vermitteln wir durch Ausdruck von Begriffen, was ist
Ausdruck so genannter künstlerischer Medien wie Musik usw.?
Die Dreiheit von
Künstler
Therapeut
Forscher
kann auch der Quadratur des Kreises gleichen:
Der Künstler will den globalen Kosmos unserer Sinne ergreifen und
gestalten
38 Peter Petersen
Der Therapeut ist dem alten Satz verpflichtet: Salus aegroti suprema lex
(das Heil des Kranken ist höchstes Gesetz)
Der Forscher drängt auf Innovation und Wahrheit
Alle drei Gebiete sind frei. Zugleich stehen alle drei Gebiete unter dem strengen
Gesetz ihres Auftrages. Ich meine mit Gesetz den inneren Gestaltungsrahmen,
der durch die Sache selbst bestimmt ist; keine juristische Konstruktion ist ge-
meint.
Innerhalb dieses Rahmens nur können die künstlerischen Therapeuten ihre Frei-
heit entfalten. Wer diesen Rahmen willkürlich verlässt oder sprengt, wer die
Freiheit missbraucht, wird nicht mehr anerkannt, weder von dem inneren Gesetz
selbst, noch von seinen Zunftgenossen.
In den beiden folgenden Teilen werde ich zwei grundsätzlich verschiedene For-
schungsansätze schildern. Der erste Ansatz ist mit planender Rationalität am
Reisbrett erdacht, so wie ein alter französischer Park mit schnurgeraden Alleen,
den gleichen Bäumen, quadratischen Wasserbecken, geradlinigen Wasserläufen
und rechteckigen Beeten. Das ist ein Bild für systematische Forschung.
Der zweite Ansatz entspringt der Spontaneität des alltäglichen therapeutischen
Lebens, er entspricht dem Plan eines englischen Parks mit sanften oder steil ab-
fallenden Hügeln, mit schwingenden Formen der Wege und Bäche, umsäumt
von sorgfältig gemischten Baumarten. Das ist ein Bild für Stückwerk-For-
schung, wie ich sie nenne.
Motto: „Frage an Herrn K.:“ Was tun
Sie, wenn Sie einen Menschen lieben?“.
„Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagt
Herr K. „und sorge, dass er ihm ähnlich
wird?“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“,
sagt Herr K. „der Mensch.“ (Bert Brecht,
Kalendergeschichten)
3. Systematische Forschung - Realität und Rationalität
Gewiss ist dieser Aphorismus aus Bert Brecht’s Kalendergeschichten in Bezug
auf ein systematisches Forschungsdesign auf die Spitze getrieben, aber er sagt
etwas Wesentliches: nämlich: der Forschungsplan wird am grünen Tisch in allen
Einzelheiten entworfen, bevor er umgesetzt wird. Der einzelne Mensch und sein
Produkt sind im Prinzip Objekt, an dem etwas abgefragt wird.
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 39
Wissenschaftliche Forscher zeichnen sich durch systematisches Suchen,
Sammeln, Ordnen und Konzipieren aus. Eine rational nachvollziehbare Tätig-
keit, sodass sensible Menschen sich davor schützen wollen, wie es das Zitat des
Polen Stanislav Lec sagt: „Seien wir Menschen, wenigstens bis die Wissenschaft
nicht entdeckt hat, dass wir was anderes sind“. (Lec 1984)
Ich habe das letzte Mal in den Jahren 1967/68 ein gutes Jahr lang systematisch
geforscht. Das war in Zürich, an der Psychiatrischen Universitätsklinik. Dort
hatte ich - in heutiges Geld umgerechnet - etwa 500.000 € zur Verfügung, zu-
sammen mit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern. Wir haben systematisch den
Forschungsgegenstand abgegrast (nämlich die seelischen unerwünschten Ne-
benwirkungen der Antibabypille bei der Frau und ihrem Partner. Diese Pille war
damals gerade eingeführt). Es war eine gemischt qualitative und quantitative
Studie mit Computerauswertung. Die Studie erregte damals erhebliches Aufse-
hen und erntete auch bei Fachkollegen Anerkennung. Übrigens war die Studie
von der chemischen Pillenindustrie (Ciba Basel) finanziert.
Wir waren nicht nur zu dritt im Forschungsteam als solchem an diesem Projekt
tätig, sondern noch viel entscheidender war: Ich wohnte in Klausur, meine
sechsköpfige Familie war 200 km entfernt in Freiburg im Breisgau. Dort war ich
jedes zweite Wochenende zu Besuch. Im Übrigen hatte ich mich Tag und Nacht
in dieses Projekt eingespannt und vor allem: Auf dem gleichen Flur wie ich
wohnten noch drei weitere Forscher, ebenfalls größtenteils in Klausur, die an
ganz anderen Themen arbeiteten. Aber da wir uns mindestens einmal täglich
beim Essen im Kasino trafen, tauschten wir ständig unsere Forschungserfahrun-
gen aus, ventilierten neue Methoden, feuerten uns an, begeisterten uns, wie wir
unsere wissenschaftlichen Gegner übertrumpfen könnten, tüftelten an Unter-
suchungstechniken, immer den Forschungsgegenstand im Auge. Wir hörten uns
unsere Teilergebnisse an, feilten an eindrücklichen Darstellungsweisen für Refe-
rate, immer mit konstruktiver Kritik. Es war im gewissen Sinne ein Spiel, das
uns Spaß machte. Es war lebendig.
Es war für mich völlig uninteressant, welche berufliche Position ich mit dieser
Arbeit erreichen könnte; tatsächlich war es später die Voraussetzung für meine
Hochschulkarriere als Professor. Aber das war in dieser Zeit nicht in meinem
Horizont. Das Schlimmste war für mich der Abschied aus dieser Forscher-
gruppe. Als ich da drei Monate lang auf dem Dachboden der Tierärztlichen
Hochschule in Hannover die Daten ordnete, die der dort installierte Computer
ausspuckte, war das ein ödes Geschäft.
Da das Thema der heutigen Tagung lautet „Zwischen Statistik und Poesie“, so
möchte ich sagen: Poetisch war für mich damals das gedankliche und experi-
mentelle Spiel mit meinen Kollegen. Die statistisch geprüften Ergebnisse dieses
Spiels waren doch letztlich die Produkte dieser Poetik. Denn natürlich ließ ich
40 Peter Petersen
vom Computer nur die Korrelation, also Datenbeziehungen, prüfen, die mir eini-
germaßen plausibel oder ergebnisträchtig erschienen. Dass dabei auch negative
Ergebnisse als solche zählten, die nicht der hypothetischen Erwartung entspra-
chen, war vielleicht umso interessanter.
Um ein Beispiel zu nennen: Von Klerikern, den Gegnern der Pille, war die Zu-
nahme der Promiskuität oder ein nicht zu sättigender Orgasmus der Paare als
verheerende Pillenwirkung vorausgesagt worden. Durch meine statistischen Be-
funde konnte ich diese Prognosen als haltlose Gespensterprojektion verdrängter
Sexualität entlarven. Sie verstehen vielleicht, welchen diabolischen Spaß wir
auch aus solchen Gründen an dem Fortschreiten dieser Studie hatten.
Nach dieser kurzen Schilderung versuche ich, einige Voraussetzungen und
grundsätzliche Bedingungen für meine erfolgreiche systematische Forschung zu
reflektieren. Ich vermute, sie könnten auch verallgemeinerbar sein.
1. Der Forschungsgegenstand ist klar beschreibbar, in diesem Fall seelische
Veränderungen während der Einnahme der Hormonpille.
2. Je mehr sich der Gegenstand der Forschung einengen lässt, desto rascher
ist ein Ergebnis zu erwarten. Eingeengt wurde die Frage in diesem Fall
auf emotional-triebhafte Veränderungen.
3. Der Forscher muss mit dem Gegenstand hinreichend vertraut sein. In die-
sem Fall genügten fünf Jahre spezielle Ausbildung und systematische
Vorarbeit.
4. Der Forscher muss über ein Inventar von Methoden und Techniken verfü-
gen, das er auch, je nach den Phänomenen des Forschungsprozesses, be-
liebig wechseln kann. Als Inventar kombinierte ich in diesem Fall biogra-
phische Aufzeichnungen, strukturierte Fragebögen, deren Items aber im
Gespräch abgefragt wurden, vom Forscher durchgeführte Partnerschafts-
tests und von der Probandin auszufüllende Tests (das täglich auszu-
füllende semantische Differenzial, um normale Stimmungsschwankungen
ohne Pille gegenüber nivellierter Stimmung mit Pille bei derselben Frau
zu vergleichen). Es handelte sich dabei um definierte Untersuchungs-
gruppen in einem definierten Zeitraum an definierten Orten (Familien-
planungsstellen der Universitätskliniken in Zürich und Basel). Außerdem
führte ich eine Vergleichsgruppe ein (Pille bei Dysmenorrhoe = Perioden-
schmerz, um die verschiedene Motivation zu vergleichen).
5. Der Forscher muss frei über ausreichend Geld verfügen können.
6. Der Forscher muss über hinreichend viel Zeit ausschließlich für seine
Studie verfügen können. Je länger sich der Forscher in seine Forschungs-
klausur begibt, desto intensiver und rascher schreitet der Forschungs-
prozess voran.
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 41
7. Je mehr der Forscher in einem Forschungskontext mit Kollegen arbeitet,
desto mehr Inspirationen dürften ihm geschenkt werden. Da kann es be-
sonders fruchtbar sein, wenn diese interdisziplinäre Gruppe an verschie-
denen Projekten arbeitet.
8. Kurz zusammengefasst: Das Design, der Plan, ist vor Beginn der Aktion
festgelegt: Zeit, Untersuchungsort, Zahl, Zusammensetzung und Charak-
teristika der Untersuchungsgruppe in Bezug auf die Fragestellung.
9. Das Wichtigste: Der Forscher ist als Person mit dem Forschungs-
gegenstand nicht verwickelt. Er hat den Gegenstand ganz von sich selbst
als Objekt gelöst. So ist der Gegenstand lediglich Objekt seiner hoch-
interessanten Beobachtungen. Die aus der Beobachtung gewonnenen Da-
ten sind mit den untersuchten Patientinnen nur sehr mittelbar verbunden,
der untersuchte Mensch als Ganzer wird so zum Datenträger reduziert.
Die entpersönlichten Daten sind beliebig verwertbar, etwa in einem sta-
tistischen Prozess.
Nach Abschluss dieser Forschungsarbeit habe ich mich ganz der Psychoanalyse
und der Ausbildung in Psychoanalyse, der Gruppentherapie, der psychothera-
peutischen Beziehungsarbeit und später Künstlerischen Therapien wissenschaft-
lich gewidmet, aber diese Wissenschaft war immer unsystematisches Stückwerk.
Unter anderem unterzog ich acht Jahre nach meiner Pillenforschung meinen da-
maligen naturwissenschaftlichen Ansatz einer Kritik vom Standpunkt der Inter-
subjektivität und einer gewissen Ganzheitlichkeit aus. Diese Kritik war eine Art
Selbstentblätterung insofern, als ich die reduktionistische und objektivistische
Zerstückelung seelischer Phänomene aufdeckte und vor allem den Schleier über
meine eigene Person als Forscher enttabuisierte. Das war ein Schock für mich
selbst.
Ich versuche bis heute daraus zu lernen, indem mir einige Prinzipien heilig sind,
auf die ich im nächsten Teil eingehe.
Zuerst aber möchte ich eine kurze Relativierung meiner Selbstkritik einschieben.
Sie werden wesentliche Elemente dieses systematischen Forschungsansatzes
heute auch bei künstlerisch-therapeutischen Forschungsarbeiten finden. Dabei
ist jedoch nicht die Verwendung von statistischen Methoden das Entscheidende.
Das Entscheidende ist die Selbstentfremdung des Forschers vom Gegenstand
seiner Forschung und die Mechanisierung seines Denkens und Vorgehens.
Zur Relativierung nur so viel: Dieser Forschungsansatz ist heute der übliche und
der üblicherweise in der Wissenschaft anerkannte. Er hat seinen Wert an sich.
Auch wenn der Forschungsgegenstand ein reines Produkt ist, so liegt doch im
Produkt das Ergebnis eines Prozesses. Der Prozess allerdings ist dabei unin-
teressant. Produkte sind vor allem heute Endzustände bei der so genannten
42 Peter Petersen
Wirksamkeitsforschung: Wie gut wirkt eine künstlerisch-therapeutische Metho-
de bei definierten Krankheiten? So ist die häufige Fragestellung.
Zur Relativierung meiner Selbstkritik noch einige weitere Bemerkungen:
Natürlich war es opportun für meine Anerkennung in der gegenwärtigen
Wissenschaftswelt, diesen Ausweis systematischer Forschung vorzeigen zu
können. Auf diese Weise hatte ich als Wissenschaftler eine anerkannte Position,
die ich dann bei ganz anderen Projekten, zum Beispiel künstlerisch-therapeu-
tischen Vorhaben, moralisch ins Feld führen konnte. Auch wenn meine Kolle-
gen Künstlerische Therapie wissenschaftlich für absurd hielten, brachte man mir
ein gewisses Quantum Vertrauen entgegen, etwa mit dem Unterton: „Er redet
zwar über absurde Sachen, aber er ist sonst ein ehrenwerter Wissenschaftler.“
Ein Kollege aus der pränatalen Psychologie, Professor Sepp Schindler aus
Salzburg, drückte es vornehm wienerisch so aus: „Petersen beforscht sogar
Dinge, die es nicht gibt!“ Und referierte dann aber auf dem Kongress schön brav
meine positiven Befunde über das Erleben von Frauen vor und während der
Empfängnis ihres Kindes; „Phänomene der Kindesankunft“ hatte ich sie ge-
nannt.
Die andere Bemerkung: Mit dem systematischen Einüben in reduktionistisches
und objektivistisches Denken habe ich nicht nur eine wesentliche Seite heutiger
Wissenschaftlichkeit von innen kennen gelernt, ich habe damit auch meine ei-
gene gewaltsame Neigung kennen gelernt, mir die Übermacht der Phänomene
zunächst einmal vom Leibe zu halten, sie zu zerstückeln, um sie dann mit Hilfe
von Maschinen zu sortieren und zu einem Produkt zu kondensieren. Ich ver-
mute, Atomforscher machen es heute im Elektronenbeschleuniger CERN in
Genf ähnlich.
Es ist äußerst wichtig für mich, diese gewaltsame Note in meiner Forscherlust
zu kennen, so kann ich sie besser beiseite lassen oder mir ihren Impuls für eine
sanfte Technologie des Forschens zunutze machen.
Ich hatte dieses Kapitel auch mit den beiden Worten Rationalität und Realität
überschrieben. Mit rationaler Methodik schneide ich Realität aus der umfassen-
den therapeutischen Lebenswirklichkeit heraus. Um mich therapeutischer Le-
benswirklichkeit anzunähern, darf ich meine Ratio als Kontrollorgan keineswegs
außer Acht lassen; aber ich muss als Forscher andere Wahrnehmungsweisen ins
Spiel bringen. Dazu werde ich im nächsten Kapitel etwas zu sagen versuchen.
4. Stückwerk-Forschung - Phänomene im Zufall wahrnehmen
Der Umbruch von systematischer Forschung zu Stückwerk-Forschung ist auch
Ausdruck meiner persönlichen Lebenskrise gewesen. Die Krise meiner mittleren
Lebensjahre dauerte mindestens fünf Jahre und erreichte ihren Zenit etwa im 42.
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 43
Lebensjahr - Ich war in dieser Zeit fast fünf Jahre nicht wissenschaftlich tätig.
Das war ein Zeichen für wissenschaftliche Unproduktivität.
Jedoch habe ich nach dem 43. Lebensjahr allmählich eine neue Lebensmethode
eingeübt - das zeigte sich in der Therapiearbeit, wissenschaftlich in den Themen,
ebenso aber auch im Denkstil und im Schreibstil.
An der Phase der Stückwerk-Forschung lässt sich das ganz gut ablesen. Das ist
eine notdürftige Sammlung von Splittern - es ist keine Systematik, wie es sich
sonst für einen ordentlichen Forscher und Wissenschaftler gehört.
Stückwerk ist meine Tätigkeit als Wissenschaftler seit 37 Jahren gewesen. Das
ist zunächst einmal ein peinliches Eingeständnis vor der Gemeinschaft der For-
scher. Peinlich war es so lange, bis ich die positiven Merkmale dieser Phase
kennen lernte.
Stückwerk heißt: Es ist kein umfassendes eindrucksvolles wissenschaftliches
Gebäude, dessen Räume säuberlich durchforscht sind.
Stückwerk heißt: In meinem therapeutischen Alltag als Psychiater, Psycho-
analytiker, Gruppentherapeut, Supervisor und Doktorvater, in meiner Arbeit in
psychiatrischen Kliniken und 22 Jahre lang in Frauenkliniken habe ich wesent-
lich erscheinende Phänomene immer wieder in kürzeren und längeren Essays, in
Büchern beschrieben, scheinbar zusammenhanglos. Forschungsgegenstände wa-
ren einesteils Phänomene bei der Zeugung und Empfängnis des Menschen - also
des Menschseins im frühesten Stadium - oder die Verhinderung der Empfängnis
(sei es durch Kontrazeption oder Schwangerschaftsabbruch) und andernteils
Phänomene des Tätigseins als Therapeut. Diese Phänomene benannte ich thera-
peutischen Prozess und therapeutische Beziehung sowie, noch wenig entwickelt,
das therapeutische Medium.
Mit einigem Recht vermute ich, dass diese Phänomene nicht nur Produkte mei-
ner Subjektivität sind. Sie scheinen mir auch in einem gewissen Rahmen verall-
gemeinerbar, Doktoranden und Mitarbeiter konnten sich eine ähnliche Wahr-
nehmungsweise aneignen.
Dabei machte ich zwei wichtige Erfahrungen: Wenn sich die Phänomene ein-
oder zweimal ahnungsweise gezeigt hatten, so waren sie nicht mehr ohne weite-
res reproduzierbar. Bei den „Phänomenen der Kindesankunft“ dauerte es drei
Jahre, bevor der Zufall mich mit einer Frau bekannt machte, die wie ein Spring-
brunnen auf meine Frage entsprechende Erlebnisse bei der Empfängnis ihrer
Tochter heraussprudelte; es waren ihre Lebensgeheimnisse. Die Frage scheint
mir müßig, ob eine solche Latenzzeit (in der ich und eine Doktorandin vergeb-
lich suchten) mit meiner undifferenzierten Wahrnehmungsweise oder mit dem
Fehlen von Erlebnisträgerinnen zusammenhing. Entscheidend ist: Diese Art
44 Peter Petersen
Forschung bezieht den Zufall bewusst mit ein; rationale, epidemiologische For-
schungskriterien gelten hier offenbar nicht.
Die Phänomene kommen gewissermaßen angeschwommen wie schöne Blätter
auf einem Strom. Es kommt darauf an, sie geistesgegenwärtig aufzusammeln.
Aber: Sie kommen ohne Voranmeldung, und anscheinend verbergen sie sich
auch, wenn man ihnen auflauert. Das ist der Zeitfaktor, der zu beachten ist.
Ein rein rational denkender Kollege, dem ich von meinen Evidenz-Erlebnissen
bezüglich des Begegnungsphänomens während Psychotherapien erzählte, sagte:
„Ja, dann lassen Sie doch immer ein Tonband laufen - und wenn Sie das
Evidenz-Erlebnis haben, klicken Sie auf den Knopf - dann haben Sie es doku-
mentiert!“ Er hatte am Phänomen vorbeigedacht. Denn: Um das Phänomen als
solches zu verstehen, würde meine Erinnerung genügen, bestenfalls hätte ich die
Tonbandstelle als Erinnerungsstütze benutzen können. Den Tonbandausschnitt
aber einer reduzierenden und zerstückelnden Item-Analyse zu unterziehen,
würde das Phänomen nur verdeckt haben oder gewisse beiläufige Nebenpro-
dukte des Phänomens erscheinen lassen. Das Wesen der Sache hätte sich entzo-
gen.
Damit bin ich bei zwei wichtigen Punkten dieser intuitiven Forschungsweise:
Dem Ernstnehmen des Zufalls und dem genauen Wahrnehmen des Phänomens.
Es ist nicht selten irgendeine merkwürdige Auffälligkeit, die aus dem Strom be-
kannter Erlebnisweisen plötzlich und kurz herausragt. Man muss genau hinhö-
ren, um das Phänomen wahrzunehmen. Ich bringe ein Beispiel: Ich habe viel mit
Frauen nach ihrem Schwangerschaftsabbruch psychotherapeutisch gearbeitet.
Dabei waren mir natürlich zwei Erlebnisdimensionen gut vertraut: Die vielfäl-
tige Dimension rationaler Abwehr ihrer Gefühle und in der nächsten tieferen
Dimension der Durchbruch destruktiver Tiefenerlebnisse.
Nun hatte eine sehr differenzierte Lehrerin zwei Tage nach dem Abbruch ihre
heftigen Schuldgefühle, ihr destruktives Aufgewühltsein vor mir ausgebreitet,
als sie am vierten Tag nach der Operation plötzlich in glasklarer Bewusstheit
ihre Trauer mit folgendem Gedicht von Rainer Maria Rilke vor mir ausbreitete
Es ist vielleicht eine Traurigkeit; Es ist jenes einsame heilige Trauern,
aber keine von jenen kleinen, das Blüten und doch nie Frühling hat.
die beginnen mit einem Weinen - Wie ein Garten mit hohen Mauern,
und sich lösen in leisem Leid; - tief in der Stadt...
Mein erster Gedanke beim Hören dieses Gedichtes war: Sie rationalisiert ihre
destruktiven Gefühle weg. Aber dann hörte ich bei dem tiefer gehenden Klang
ihrer Stimme und dem gefassten Blick ihrer Augen, dass sie eine umfassendere
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 45
Dimension erreicht hatte - und aus diesem Bewusstsein heraus ihre Verantwor-
tung (nicht aber ihre zermürbenden Selbstvorwürfe) für ihr totes Kind und ihr
eigenes Leben schilderte.
Sie sprach aus einer tieferen Dimension, die ich existenzielle Schulderfahrung
nannte. Besser wohl: Existenzielle Erfahrung eigener Verantwortung.
Diese Dimension ist ein Phänomen, das in seiner wesenhaften Gestalt nur
intuitiv wahrnehmbar ist. Natürlich lassen sich hier auch linguistische und emo-
tionale Items analysieren und computerisieren. Aber durch eine solche Art der
Analyse werden oberflächenhafte Symptome erfasst, das Phänomen entzieht
sich.
Gewiss lassen sich die “Phänomene der Kindesankunft“ (Empfängnis und Zeu-
gung) in ihren Details auch statistisch bearbeiten. Das habe ich getan, und der
Psychologe Professor Schusser in Osnabrück hatte eine entsprechende Diplom-
arbeit in Auftrag gegeben, mit positivem Resultat insofern, als ein Element des
Phänomens sich itemartig abfragen lässt. Ich will damit sagen: Phänomene sind
in ihren Ausläufern auch rational in der Realität zu verorten und zu beweisen,
aber eben nur die Ausläufer, nicht das Phänomen selbst.
Meine Erfahrung sagt: Phänomene sind ganzheitliche Wesen, die einer gestalt-
haften Wahrnehmungsweise erscheinen. Sie sind nicht automatisch reproduzier-
bar, vielmehr erscheinen sie nach ihrem eigenständigen Zeitgesetz, das wir
üblicherweise Zufall nennen.
In Therapien habe ich erfahren: Mir bekannte Phänomene erscheinen in sehr
wohl verständlichen Zeitphasen im therapeutischen Prozess. Aber diese Phäno-
mene, wie zum Beispiel die Begegnung zwischen Patient und Therapeut als Be-
ziehungselement oder die Ankunft des Neuen als Element im therapeutischen
Prozess, diese Phänomene sind nicht machbar im Sinne von reproduzierbar.
Man muss sie kommen lassen, absichtsfrei walten lassen. Und man muss sie er-
kennen können, zum Wohle für den Patienten wie zum Wohle für den Thera-
peuten.
Noch einen dritten Punkt zu Stückwerk-Forschung: Den Begriff der Heilung.
Heilung wird heute in der Wirksamkeitsforschung als Ziel der therapeutischen
Methoden bezeichnet. Dabei ist Heilung meist definiert als Befreiung von Sym-
ptomen. Es wird eine kausale Beziehung zwischen Methode und Symptom-
besserung angenommen. Das ist der wissenschaftlich übliche Sprachgebrauch.
Mein Heilungsbegriff ist das nicht - zumindest ist mein Heilungsbegriff um-
fassender. Ich glaube nicht, dass die von mir benutzte Methode eine Symptom-
beseitigung herbeiführt - sozusagen nach einem komplizierten Billard-Kugel-
Modell.
46 Peter Petersen
Vielmehr stellt sich Heilung ein - als unverfügbares und unvermittelbares drittes
Medium zwischen Therapeut und Patient (Knill 1990). Natürlich ist methoden-
sicheres und kunstgerechtes Verhalten des Therapeuten vorausgesetzt. Aber die
Heilung kommt nicht aus seiner Hand, sondern ist eine Quelle des Zwischen-
Raumes.
Diese Denkweise ist nur scheinbar der kausalen Betrachtungsweise ähnlich. In
Wirklichkeit trennt dieses Konzept von der Spontaneität der Heilung ein Ab-
grund von der kausalen Betrachtungsweise.
Schließlich noch ein vierter Punkt: Die Dokumentation und die wissenschaft-
liche Darstellung, die Publikation. Natürlich sind möglichst genaue Notizen vom
Verlauf der Therapie, eventuell Tonbandprotokolle, Bilder, Tonbänder von Mu-
siken, Filme von Tänzen äußerst hilfreich zur Rekonstruktion des Geschehens.
Die Gruppe der musiktherapeutischen Morphologen (zu denen Rosemarie
Tüpker und Eckhard Weymann gehören) hat hoch differenzierte und mehr-
dimensionale Auswertungsverfahren entwickelt zur wissenschaftlichen Dar-
stellung musiktherapeutischer Szenen. Als Schulungsinstrumente sind solche
Verfahren unabdingbar. Jede Schule hat im Allgemeinen ihre eigenen langen
Vorschläge und Vorschriften zur Dokumentation. Durch solche Vorschriften
wird unser Wahrnehmungsvermögen für therapeutische Phänomene geweckt
und geschärft.
Ob der sich als Stückwerk-Forscher verstehende Therapeut diese Instrumente
allerdings in extenso regelmäßig gebrauchen muss, halte ich für zweifelhaft.
Solche Instrumente können auch stören, vor allem, wenn es um die Wahrneh-
mung eines neuen Phänomens geht. Bei meiner Dokumentation der wichtigen
Phänomene habe ich in den letzten 30 Jahren diese Instrumente in systemati-
scher Weise nicht benutzt - mag sein, ich hatte sie inzwischen in 15-jähriger
Übung inkorporiert. Ich habe handschriftlich oder per Diktat das notiert, was ich
für wesentlich hielt - und bei Erstkontakten das, was in einem üblichen Arztbrief
zu stehen hat.
Bei der Darstellung habe ich in diesen Jahren fast nur die Erzählform benutzt
(Aldridge 2001). Die längste Erzählung mit 116 Seiten ist die Therapie-
geschichte sexueller Gewalt „Dieser kleine Funken Hoffnung“ - von meiner
Patientin Jeanne Rosenhag und mir geschrieben. Dabei möchte ich betonten: Ich
halte die aktive Mitarbeit von Patienten bei wissenschaftlichen Darstellungen für
ein überaus wirksames Mittel. Es ist kaum benutzt. Denn es macht anschaulich,
bringt beide Seiten ins Spiel, ist überzeugend, auch bezüglich der Wirksamkeit.
Die kürzeste Erzählung über die Episode bei einer Frauenklinik-Patientin in
akuter Notlage im Entbindungszimmer ist auf einer knappen Druckseite ver-
sammelt. Ich spreche hier ausdrücklich vom „Mysterium der Heilung“, um
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 47
darauf hinzuweisen, Heilung ist ein der Verfügbarkeit entzogener Vorgang, der
mit der Dimension des Mysteriums verbunden ist (Petersen 2001).
Wer sich genau orientieren möchte über Forschungsmethoden Künstlerischer
Therapien und über Beispiele aus meinen Therapien, den möchte ich auf die fol-
genden Veröffentlichungen hinweisen. Ein großer Teil der Stückwerk-For-
schung bis 1998 ist neben den genannten Büchern in dem Buch versammelt: Piet
Nijs, Peter Petersen (2000) und bei P. Petersen, (1990 und 2002).
Ein eindrückliches Beispiel für diese Art Forschung findet sich auch in dem
Sammelband „Kunsttherapie in der Onkologie“, Herausgeber Wolfram Henn
und Harald Gruber (2004). Interessant ist auch noch die Patientengeschichte von
Margareta Küwen und Elke Borchert (2000) „Heilendes Malen - Ein kunstthera-
peutischer Weg“ (Geschichte der Maltherapie einer Patientin mit Morbus
Hodgkin) mit der wissenschaftlichen Auswertung von Frank Fischer „Malen ist
meine Heilung“ (Dissertation Medizinische Hochschule Hannover 2003).
5. Tabus sind zu lüften und einer Lösung zuzuführen
In den letzten 15 Jahren habe ich immer wieder öffentlich den Standpunkt ver-
treten:
Künstlerisch-therapeutische Forschung unterscheidet sich abgrundtief von me-
dizinischer und naturwissenschaftlicher Forschung.
Ich möchte heute diese These relativieren, denn ich glaube: Das grundlegende
Motiv des Forschers und auch die Wahrnehmungsweise des Forschenden ist auf
allen Gebieten ähnlich, wenn nicht sogar gleich, allerdings unter einer Voraus-
setzung: Dass der Forschende die notwendige Offenheit gegenüber seinem For-
schungsgegenstand üben kann.
Bei der Ausarbeitung dieses Vortrags ist mir eine Reihe von Tabus künstleri-
scher Therapeuten deutlicher geworden. Ich werde diese jetzt ungeordnet und
ebenso unvollständig benennen. Teilweise habe ich solche Tabus schon in den
vorigen Abschnitten erwähnt, aber nicht als Tabu besonders gekennzeichnet.
1. Das Tabu des Heilens
Das heißt: Ein künstlerischer Therapeut kann heilen; es herrscht der Glaube,
die künstlerisch-therapeutische Aktion führe direkt oder indirekt zur Heilung,
also zur Beseitigung einer Beschwerde, gar eines medizinisch definierten
Symptoms oder einer medizinisch erkennbaren Symptomursache, oder es
führe zur Heilung im allgemeinen Sinn: Zur Gesundung oder Harmonisie-
48 Peter Petersen
rung des psychosomatischen Organismus. Zweifellos sind derartige heilsame
Veränderungen beim Patienten zu beobachten - glücklicherweise! Aber die
kausale oder interaktionelle Verknüpfung von künstlerisch-therapeutischer
Aktion und gesundender Veränderung beim Patienten, diese Verknüpfung
halte ich für eine gefährliche Illusion. Allerdings ist diese Illusion dem heuti-
gen medizinischen Denken und dem Konzept der Wirksamkeitsforschung
eingepflanzt - insofern ist das Tabu bei künstlerischen Therapeuten gut ver-
ständlich. Aber diese durch die medizinische Doktrin verbreitete Illusion
kann das Tabu für den künstlerischen Therapeuten nur verstärken.
Wieso ist die Verknüpfung eine Illusion? Diese Denkweise setzt den gleichen
mechanisch kausalen Vorgang wie beim chirurgischen Eingriff voraus: Wenn
ein zum lebensgefährlichen Durchbruch neigender entzündeter Blinddarm
durch das Messer (oder ein ähnliches Werkzeug) des Chirurgen meisterhaft
entfernt ist, wird diese Beseitigung des kranken Organs als Heilung bezeich-
net - zu Recht. Allerdings ist vorausgesetzt, dass die Selbstheilungskräfte des
Organismus einspringen. Dieser kausal-mechanisch definierte Eingriff ist
Heilung.
Bei der künstlerisch-therapeutischen Aktion liegt nur scheinbar derselbe oder
ein ähnlicher Vorgang zu Grunde - auch wenn Helmut Kiene (Kiene 2002) in
abgewandelter Denkweise mit Hilfe des Konzeptes der Gestalttheorie eine
kausale Wirkung von anthroposophischen Heilmitteln, also auch Künstle-
rischer Therapie, annimmt.
Auch beim künstlerischen Therapeuten ist natürlich meisterhafte Beherr-
schung seines Handwerks vorausgesetzt. Aber die entscheidende Verbindung
zur heilsamen Veränderung ist nicht kausaler oder gar kausal-mechanischer
Art. Auch das Gestaltkonzept als kausale Verbindungsschiene trägt hier
nicht.
Vielmehr sind entscheidend die therapeutische Beziehung mit ihren vier Di-
mensionen und der vielfältige therapeutische Prozess. Das sind komplexe
Dynamismen, die jenseits des Kausalitätskonzeptes liegen, womöglich auch
jenseits des philosophisch erörterten „Satzes vom Grund“ (im Sinne
Heideggers). Wenn Sie allein schon zwei wesentliche Elemente der thera-
peutischen Beziehung in Betracht ziehen, wird das deutlich: Die Begegnung
in der Therapie (als ein wesentlicher Vorgang bei der Heilung) unterliegt
nicht der willkürlichen Machbarkeit durch den Therapeuten. Sie ist ein un-
verfügbares und unvermittelbares Ereignis. Ebenso wenig wie das Grund-
phänomen in der therapeutischen Beziehung, der so genannte Energiefluss
zwischen den Therapiepartnern: Er stellt sich ein - oder er bleibt fern. Ledig-
lich ist er wahrnehmbar, aber er ist nicht herstellbar und zwar ist er prin-
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 49
zipiell nicht herstellbar. Diese Erfahrungen in Verbindung mit Heilung haben
mich veranlasst, gelegentlich vom „Mysterium der Heilung“ zu sprechen.
2. Ein verbreitetes, gesellschaftlich bedeutsames Tabu unter künstlerischen
Therapeuten lautet: Durch Wirksamkeitsforschung, insbesondere wenn sie
sich nach dem Goldstandard der Evidence-Based-Medicine richtet, könne
man gesundheitspolitisch die Anerkennung von Künstlerischen Therapien
durch die Krankenkassen und damit finanzielle Unterstützung oder gar Si-
cherung von Künstlerischer Therapie erreichen. Ich halte das gleichfalls für
eine gefährliche Illusion.
Denn gesundheitspolitische Akzeptanz in Form von gesetzlichen oder ähnli-
chen Definitionen wird im Allgemeinen nicht durch wissenschaftlich fun-
dierte Erkenntnisse bewirkt. Verbindliche juristische Gesetze, durch unsere
politischen Institutionen formuliert und durchgesetzt, sind eine Frucht von
Lobby- und Machtprozessen. Hier gilt die Sphäre von Macht. Diese Sphäre
unterliegt ganz anderen Gesetzen als die Sphäre von Forschung und Wissen-
schaft. Forschung will Innovationen hervorbringen, Wissenschaft dient der
Wahrheit (sofern es wirkliche Wissenschaft ist und nicht verkappte Lobby-
Arbeit, wie heute vielfach in der Medizin). In der Politik geht es um die
Verteilung gesellschaftlicher Macht. Gesellschaftliche Macht lässt sich be-
einflussen durch wochenlangen Aufmarsch von hunderttausenden von De-
monstranten (wie z. B. bei der ostdeutschen Wende im Jahre 1989) oder
durch jahrelange, geschickte Lobby-Arbeit bei Macht- und Entscheidungs-
trägern (wie die Kienle-Gruppe es in den siebziger Jahren vor Verabschie-
dung der neuen Gesundheitsgesetze erfolgreich tat).
Wenn künstlerische Therapeuten gesundheitspolitisch etwas verändern wol-
len, müssen sie diese Instrumente benutzen, z.B. wohl auch den mühsamen
und jahrzehntelangen „Marsch durch die Institutionen“ antreten.
Wirksamkeitsforschungen sind ein unzureichendes Instrument für politische
Veränderungen, zumal da Wirksamkeitsforschungen mit ausreichender sta-
tistischer Stützung extrem kostspielig sind, sodass künstlerische Therapeuten
sie gegenwärtig kaum finanzieren können. Vor allem rechtfertigt der Auf-
wand den Nutzen bei künstlerisch-therapeutischen Wirksamkeitsstudien
kaum.
3. Ein drittes Tabu: Künstlerisch-therapeutische Forschung sollte nur oder über-
wiegend qualitativ sein und Einzelfallstudien beinhalten (Hamre 2004). Ich
selbst habe diese Meinung verstärkt und damit das Tabu verfestigt, indem ich
statistische Arbeit und quantitative Studien bei künstlerischer Therapie für
ungeeignet erklärte, und fast nur Einzelfallforschung gelten ließ, und zwar
aus Prinzip (Petersen 2002 b). Ich bin inzwischen nicht mehr dieser Mei-
nung. Die Gründe für meine Meinungsänderung sind vielfältig - teilweise
50 Peter Petersen
sind sie in den vorhergehenden Kapiteln angedeutet. Auch die groß angelegte
Untersuchung von Harald Gruber über „Qualitative Auswertung von Exper-
tenurteilen zur differenzierten Beschreibung von Patientenbildern“ (Gruber
2003) und vor allem seine vorhergehende quantitative Studie (Gruber 2002)
zeigt: Die Polarisierung von qualitativ gegen quantitativ, von Einzelfall ge-
gen Statistik ist ein Scheingefecht.
Entscheidend für eine dem Forschungsgegenstand, also der Kunst, ange-
messene Forschungsweise ist das Kriterium: Lebendig, originär oder mecha-
nistisch.
Lebendige Forschung ist unter anderem daran erkennbar: Sie führt zu den
Quellen, sie ruft beim Leser konkrete Inspirationen hervor, sie bringt spon-
tane Bewegung in sein Denken und Fühlen. Mechanistische Forschung dage-
gen hinterlässt einen schalen Nachgeschmack, ich lese solche Publikationen
kein zweites Mal oder höchstens deshalb, um sie lustvoll kritisch zu zer-
fetzen.
4. Ein viertes Tabu: Die therapeutische Methode oder Technik wird, vor allem
in der Wirksamkeitsforschung, als das entscheidende Agens angesehen.
Methode ist ein Destillat, ein Abstraktum in Bezug auf die Wirklichkeit der
Therapie. Natürlich ist es dringend notwendig, dass der Therapeut definierte
Methoden genau kennt und beherrscht. Aber in der Wirklichkeit der thera-
peutischen Situation benutzt der Therapeut in der Regel eine Vielfalt von
Techniken - je nach der gegenwärtigen Befindlichkeit seines Patienten und
nach den Gegebenheiten der Situation: Am Krankenbett eines Sterbenden
wird der Maltherapeut etwa stellvertretend für den Patienten malen, dagegen
im Atelier überlässt der Therapeut seinen Patienten dessen spontanen Ein-
fällen, mit seltenen Kommentaren durch den Therapeuten selbst.
Entscheidend ist nicht die Methode des Therapeuten oder die Methode des
Forschens, entscheidend ist viel mehr die Person des Forschers. Seine Per-
son ist in diesem Fall definiert durch kompetente, jahrelange Ausbildung und
ausreichend kompetente Berufserfahrung sowie durch die allgemein be-
kannten, so genannten Therapeuten-Variablen; zu diesen Variablen gehört
unter anderem die Reife der Persönlichkeit.
5. Zuletzt möchte ich noch ein fünftes Tabu nennen, womit aber keineswegs die
Reihe vollständig ist. Es lautet: Künstlerische Therapie wird nicht wie ein
Medikament eingesetzt.
Entscheidend dabei ist das Wörtchen „Medikament“. In diesem Tabu spielt
die berechtigte Furcht mit: Künstlerische Therapie könnte in seiner Wirkung
kausal-mechanisch aufgefasst werden, wie ein chemisch produziertes
Medikament, das angeblich kausal-mechanisch wirken soll.
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 51
Wohl auch in Folge dieser Furcht haben künstlerische Therapeuten die thera-
peutische Beziehung und die therapeutische Situation in der Theorie fast
ganz in den Vordergrund geschoben. Also: Psychosoziale und interperso-
nelle, kommunikative Beziehungen werden fast nur untersucht. Tabuisiert
wird die Wirkung des künstlerisch-therapeutischen Mediums als solches in
der Theorie fast ganz. Mit dem Medium meine ich die Farben, den musika-
lischen Ton, die Geste und den Stil der Bewegung, die Wahl des Wortes und
vieles mehr - also alle Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung.
Dabei haben nach meiner Beobachtung sinnliche Medien eine wichtige,
wenn nicht sogar entscheidende Wirkung. Ich nenne einige Beispiele:
Der Psychiater Wolfgang Blankenburg (†) hat beschrieben (Blankenburg
1980), wie Rokoko-Tänze mit ihrer ganz speziellen, manchmal geziert er-
scheinenden Bewegungssequenz eine heilsame, stabilisierende Wirkung bei
bestimmten Schizophrenen haben können. Bei anderen Tanzstilen sei das
nicht der Fall.
Meine kunsttherapeutische Kollegin Anna Schwerdtfeger berichtet: Während
der psychosomatisch hochsensiblen Phase ihrer Zytostase-Therapie (intensiv
wirkendes Antikrebsmittel) konnte sie ausschließlich harmonische Musik-
stücke von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart hören
oder spielen. Jede andere Stilform wirkte für ihr Befinden störend oder zer-
störend. Hier ist zu betonten: Frau Schwerdtfeger ist in gesunden Tagen mo-
derner Kunst und Musik zugewandt und gestaltet ihre eigenen Bilder auch im
zeitgenössischen Stil.
Ein drittes Beispiel: Eine Patientin mit hoch akuter Multiple Sklerose hatte
ihre Sehfähigkeit in Folge Zersetzung der Sehnerven fast ganz verloren.
Wohltuend, gar heilsam, wirkte in dieser Phase ausschließlich die Farbe grün
und zwar ausschließlich durch Pflanzenfarben hervorgerufen, nicht durch
Acrylfarben, während die Farbe braun hochgradig verhärtend wirkte und bis
zu Vernichtungsgefühlen führte (Beispiel für heilsame Bewegungsgesten bei
dieser Frau siehe Petersen, 2000, „Der Therapeut als Künstler“, Seite 205 ff).
Dieses Tabu verhindert nach meinem Eindruck die notwendige Forschung
über die Spezifität künstlerisch-therapeutischer Wirkungen. Natürlich kommt
diese Spezifitätsfrage in die Nähe medizinischen Denkens. Denn ein Postulat
der medizinischen Theorie ist die spezifische Wirkung einer medizinischen
Maßnahme, das heißt, eine medizinische Aktion muss diese definierte, um-
schriebene Wirkung haben - und nicht nur eine allgemeine Wirkung. Das
heißt beispielsweise: Bestimmte Zytostatika müssen ganz bestimmte Krebs-
zellen bzw. deren ganz bestimmte Wirkung ausschalten.
Es wäre dringend notwendig, diese Art spezifischer Wirkung Künstlerischer
Therapie durch Forschung näher zu klären. Diese wichtige Spezifitäts-
52 Peter Petersen
wirkung wird auch nicht geklärt, wenn man das Salutogenese-Prinzip bei
Künstlerischer Therapie überwiegend hervorhebt. In der Salutogenese-Theo-
rie wird unter anderem das Kohärenz-Gefühl des Menschen hervorgehoben.
Kohärenz aber ist ein sehr allgemeines Lebensgefühl. Es sagt wenig aus, ob
und welche spezifische Wirkungen bestanden haben, um Kohärenz zu unter-
stützen.
Ich vermute: Hier kommen chemische, physikalische, physiologische und
neurobiologische Elemente mit ins Spiel - allerdings müssten dann einige
naturwissenschaftliche Begriffe neu formuliert werden.
Auch unter diesem Aspekt kann es viele Berührungen zwischen naturwissen-
schaftlicher und künstlerisch-therapeutischer Forschung geben.
Motto: Man muss wirken auf das, was
noch nicht da ist. (Laotse)
6. Schluss: Der still nachwachsende Fußnagel - oder: Zukünftiges auf uns
zukommen lassen
Wenn Fußnägel wegen irgendeiner Störung absterben, so bleiben sie doch im
Nagelbett, und man kann nicht sehen, wie ein junger Nagel sich unter dem alten
nach vorn schiebt. Scheinbar macht der alte Nagel die gesamte Existenz des Na-
gels aus. Dieser Prozess dauert monatelang, der Neuling wächst oft schmerzlos,
sodass die Menschen ziemlich verzweifelt darüber sind, wenn sie ihren Fußna-
gel verloren haben. Diese Verzweiflung hat ihren Grund darin, dass man un-
sichtbare Prozesse weder fühlen, geschweige denn erkennen kann, es sei denn,
man besitzt ein umfassendes Wissen und ein wenig Zuversicht.
So mag es mit künstlerisch-therapeutischer Forschung und überhaupt mit
Künstlerischen Therapien in unserer gegenwärtigen Gesellschaft bestellt sein.
Denn natürlich bläst uns künstlerischen Therapeuten kalter, schneidender Ge-
genwind ins Gesicht, er kann uns zudem verwirren und an unserer Rolle als Zu-
kunftsträger zweifeln lassen.
Aber ebenso, wie „jeder Mensch ein Künstler ist, der Sachen durch sich selbst
bestimmt“ (Beuys), ebenso kommt es auf jeden einzelnen von uns an, wieweit er
sein Zukunftsprojekt in sich und um sich herum wachsen lässt. Es ist ganz klar,
dass wir „auf das Wirken müssen, was noch nicht da ist“, denn Zukünftiges hat
seinem Wesen nach noch kein Dasein. Deshalb werden uns die pragmatischen
Wie lässt sich künstlerisch – therapeutische Forschung gestalten? 53
Realisten unter den Akademikern der Heilkunde, und sie schalten gegenwärtig
die Hebel der Macht, immer milde als Fantasten oder Ideologen oder unerfah-
rene Greenhorns belächeln, zumindest so lange, bis ihnen einmal als Schwer-
krankem durch einen künstlerischen Therapeuten nachhaltig geholfen worden
ist.
Dass das Gesundheitswesen selbst ein kranker Mann in einer schweren Krise ist,
pfeifen die Spatzen von den Dächern. Allerdings wird die Ursache dafür unter
strengem Tabu gehalten. Tabuisiert wird auch: Der extrem teure anthropologi-
sche Ansatz der gegenwärtig herrschenden klassischen Medizin ist eine Medizin
auf totem Gleise, genauer, auf mechanistischem Gleise.
Es gab in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts an der Heidelberger Medizi-
nischen Fakultät eine Gruppe von zukunftsoffenen Ärzten, von denen Victor
von Weizsäcker als Begründer der psychosomatischen Medizin und der anthro-
pologischen Medizin in Deutschland gilt. Victor von Weizsäcker schrieb schon
1949: „Die Krankheit des Menschen ist nicht, was sie schien, ein Maschinende-
fekt, sondern seine Krankheit ist nichts als er selbst, besser: Seine Gelegenheit,
er selbst zu werden.“ Von seinem nächsten Kollegen, dem Internisten Siebeck,
stammt das Prinzip: „Ich behandle keine Krankheiten, sondern Kranke“.
Diese Gruppe von heilkundigen Akademikern hatte das unpersönliche
Maschinendenken überwunden. Wenn heute in Theorie und Praxis das mecha-
nistische Denken wieder überwiegt - ich denke nur an Organtransplantationen,
Retortenbefruchtung, Genmanipulation, immer gilt das Prinzip des Defektes, der
durch Ersatz repariert werden soll - so können wir doch aus unserer täglichen
Therapie wissen: Die Arbeit, nämlich der unsichtbare Prozess, ist wichtiger als
das Produkt.
Der Prozess unserer alltäglichen Therapiearbeit und das Stückwerk unserer täg-
lichen Reflexion auf diese Arbeit tragen viele Keime der Zukunft. Künstlerisch-
therapeutische Forschung wird überwiegend, und vielleicht wesenhaft, Stück-
werk sein. Wir können wissen, dass an vielen Orten und unabhängig voneinan-
der viele Therapeuten an diesem Patchwork arbeiten. Ich glaube: Die innere,
globale Verbindung unserer sich mehr und mehr klärenden Therapiekonzepte,
gewachsen aus der intensiven, persönlichen Verantwortung für unsere Patienten-
partner, ist schon jetzt eine tragende Stütze in der Heillosigkeit unserer Welt. Ich
glaube: Künstlerische Therapie ist eine Zukunftstechnologie in der Heilkunde,
freilich unter zwei Bedingungen: dass wir künstlerischen Therapeuten uns selbst
in unserer täglichen Arbeit treu bleiben - und dass wir im Sinne dieser Therapie-
strömung forschen.
Therapeutische Arbeit als solche steht immer der Kunst näher als der Wissen-
schaft. Der Therapeut als Künstler ist auch immer ein Poet des Leidens. Wenn
54 Peter Petersen
es ihm gelingt, dass sich die grausame Realität des Schmerzes in eine ertragbare
Wirklichkeit des Leides wandelt, dann wurde ihm die Erfüllung seiner Pflicht
zum Geschenk. Ebenso mag es dem Forscher ergehen, wenn ihm Gestaltungen
der Poesie gelingen. Nelly Sachs sagt es in ihrem Vierzeiler, den ich gern zitiere
und mit dem ich schließen möchte.
Weine aus die entfesselte Schwere der Angst
Zwei Schmetterlinge halten das Gewicht der Welten für dich
und ich lege deine Träne in dieses Wort:
Deine Angst ist ins Leuchten geraten -
Literatur
Aldridge, David (2001): Musiktherapieforschung: Eine Erzählperspektive. In: P. Petersen
(Hrsg.): Forschungsmethoden Künstlerischer Therapien . Stuttgart: Mayer, 123-147
Blankenburg, Wolfgang (1980): Anthropologisch orientierte Psychiatrie. In: Die Psychologie
des 20. Jahrhunderts. Zürich: Kindler
Burckhardt, Carl Jacob (1974): Brief an C. Zuckmayer. Ges. W. Bd. 6. Zürich
Celan, Paul (1983): Gesamte Werke (in fünf Bänden). Frankfurt/Main: Suhrkamp
Domin, Hilde (1987): Gesammelte Gedichte. Frankfurt/Main: Fischer
Feuchtwanger, Lion (1996): Goya – oder der arge Weg der Erkenntnis. In: 4. Aufl. Berlin:
Aufbau Taschenbuch Verlag
Fischer, Frank (2003): „Malen ist meine Heilung“ (Eine phänomenologisch orientierte Unter-
suchung über Bewusstseinsvorgänge in der Maltherapie am Beispiel einer an Morbus
Hodgkin erkrankten Frau). Dissertation medizinische Hochschule Hannover
Gruber, Harald (2002): Ausgewählte Aspekte zu Forschungsansätzen in der Kunsttherapie
unter besonderer Berücksichtigung der systematischen Bildanalyse In: P. Petersen (Hrsg.):
Forschungsmethoden künstlerischer Therapien. Stuttgart: Mayer 271- 285
Gruber, Harald (2003): Qualitative Auswertung v