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Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik
herausgegeben von
Michael Becker-Mrotzek, Jörg Jost, Thorsten Pohl
und Kirsten Schindler
Reihe A
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter (Hrsg.)
Inklusion:
Sprachdidaktische Perspektiven.
Theorie, Empirie, Praxis
KöBeS (11) 2016
Gilles & Francke Verlag
Informationen über Köbes – Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik
nden Sie unter folgender Internet-Adresse:
www.koebes.uni-koeln.de
Copyright © 2016 by Gilles & Francke Verlag, Duisburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-940120-09-0
Bibliograsche Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen
Nationalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im
Internet
über http://www.ddb.de abrufbar.
Inhalt
Einleitung der Herausgeberinnen ........................................ 6
1. Theorie und Diskurs ........................................................... 18
Inklusive schulische Bildung – Grundlagen und
Perspektiven (Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt) ......... 19
Inklusive sprachliche Bildung – Perspektiven
aus der Sicht der Sprachdidaktik
(Michael Becker-Mrotzek) ..................................................... 47
Heterogenität im Deutschunterricht
(Anne Berkemeier & Sabine Wilmes) .................................... 57
„Leichte Sprache“ aus Perspektive einer
inklusiven Sprachdidaktik (Bettina M. Bock) ..................79
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven
Kontext (Diana Gebele & Alexandra L. Zepter) ................ 108
2. Empirie und Diagnostik .................................................. 137
Forschungsdesigns zur Untersuchung
kausaler Beziehungen in den empirischen
Bildungswissenschaften (Jannis Bosch,
Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert) .......138
Lautes Denken als Methode zur Forschung und
Diagnostik in inklusionspädagogischen
Handlungsfeldern
(Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert) .............165
Spezische Sprachentwicklungsstörung und
früher kindlicher Zweitspracherwerb:
Grammatische Dezite und Konsequenzen
für die Diagnostik (Monika Rothweiler) .........................187
3. Unterricht und Förderung ............................................... 227
Vermittlung strategischer Lesekompetenz im
inklusiven Unterricht (Andreas Mayer) ..........................228
Der erweiterte Textbegriff im inklusiven
Deutschunterricht
(Sascha Zielinski & Michael Ritter) ....................................256
Zwischen Grammatik und Text – zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
Gemeinsames sprachliches Lernen mit
Geschichtenplänen (Benjamin Uhl) ................................. 276
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören:
Möglichkeiten und Herausforderungen eines
inklusiven Unterrichts am Beispiel Erzählen
(Katrin Hee).........................................................................308
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
– unter besonderer Berücksichtigung inklusiver
Lehr-Lern-Kontexte (Matthias Knopp) ............................ 346
4. Professionalisierung und Lehrer*innenbildung ..... 372
Entwicklung von Lehrerprofessionalität unter
inklusiver Perspektive – Impulse für eine
reexive Praxis (Bianca Roters & Susanne Eßer) ............376
5. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................400
Danksagung
Unser herzlicher Dank geht an die Reihenherausgeber Michael
Becker-Mrotzek, Jörg Jost, Thorsten Pohl und Kirsten Schindler
sowie an das Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der
Universität zu Köln für die großzügige nanzielle Unterstüt-
zung dieses Bandes. Besonders herzlich danken wir auch un-
serem Kollegen Matthias Knopp für die umsichtige Unterstüt-
zung bei der technischen Umsetzung des KöBeS-Formats und
unserer Mitarbeiterin Maxine Bacanji für ihre unermüdliche,
akribische Formatierungsarbeit. Unser Dank geht überdies an
Barbara Francke und Sabine Walther für die Beherbergung im
Gilles & Francke Verlag. Nicht zuletzt danken wir allen Au-
torinnen und Autoren, die ihre Gedanken und Ideen zur Ent-
wicklung inklusiver Sprachdidaktik in diesem Band mit uns
teilen.
Köln im November 2016,
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
6
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
Einleitung
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
Mit Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Verein-
ten Nationen ist seit August 2014 der gemeinsame Unterricht
von Menschen mit und ohne Behinderung als Regelfall auch
in den Schulgesetzen der Bundesländer verankert. Damit wird
die Idee der Inklusion schulpolitisch auf maximaler Breite ad-
aptiert: Dem Konzept zufolge soll jeder Mensch die Möglichkeit
erhalten, sich vollständig und gleichberechtigt an allen gesell-
schaftlichen Prozessen zu beteiligen – und zwar von Anfang an
und unabhängig von individuellen Fähigkeiten, ethnischer wie
sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter. In der Folge ist Inklu-
sion kein abstraktes Konzept mehr, sondern wird zur Realität
in deutschen Schulen.
Vor diesem Hintergrund wird das Thema Inklusion für die
Fachdidaktiken zu einer der virulenten theoretischen und em-
pirischen Forschungsaufgaben der kommenden Jahre. Denn in
der komplexen Suche nach Balance zwischen gemeinsamem
Lernen, standardisierter Kompetenzorientierung und Indivi-
dualisierung sind die Fragen, wie inklusive Lehr- und Lern-
prozesse theoretisch fundiert sowie empirisch überprüft wer-
den können und wie Inklusion in der Praxis gelingen kann,
weder geklärt noch trivial.
Der Implementierung von Inklusion in der schulischen Praxis
ging eine überwiegend aus allgemein- und sonderpädagogi-
scher Perspektive geführte Debatte voraus. Eine umfassende,
alle Schulstufen einbeziehende fachdidaktische Auseinander-
setzung mit den Besonderheiten eines inklusiven Deutschun-
terrichts bendet sich erst im Anfangsstadium (vgl. vorreitend
u.a. Hennis und Ritter 2014, Trumpa et al. 2014, Baurmann und
Müller 2016, Frickel und Kagelmann 2016; Naugk et al. 2016
7
Einleitung
fokussieren auf die Grundschule). In diesem Rahmen stellt
sich aus unserer Sicht u.a. die folgende, empirisch weitge-
hend unbearbeitete Schlüsselfrage: Bedeutet die Potenzierung
der Heterogenität ‚nur‘ eine graduelle Steigerung oder führt
sie zu einer kategorisch neuen Lehr-Lern-Situation in unse-
rem Fach? Die Schlüsselfrage zieht wiederum eine Vielzahl an
Folgefragen nach sich, denn je nach Antwort gilt es, inklusi-
ve Lehr-Lern-Prozesse genuin neu zu modellieren, gegebene
Lehr-Lern-Konzepte neu zu evaluieren und auf ihre inklusive
Anwendbarkeit zu prüfen und Fachcurricula eventuell (me-
thodisch) auszubauen bzw. weiterzuentwickeln. Dies macht
nicht nur eine diesbezügliche interdisziplinäre Auseinander-
setzung zwischen den Fächern und relevanten Nachbardiszi-
plinen dringlich erforderlich; es impliziert auch Potenzial für
eine substanzielle Prolierung der Fachdidaktik Deutsch, die
fachspezischen Aspekte des Lehrens und Lernens in inklusi-
ven Settings herauszuarbeiten und in den Diskurs zurückzu-
speisen.
Dieser Band legt den Schwerpunkt auf sprachdidaktische
Fragestellungen und regt zugleich einen interdisziplinä-
ren Austausch an, indem Autorinnen und Autoren aus der
Sprachdidaktik, Allgemeinpädagogik, Sonderpädagogik und
Unterrichtsforschung gemeinsam über die künftigen Wege des
inklusiven Deutschunterrichts nachdenken und diskutieren.
Die Beiträge sind in vier Themenblöcke geordnet:
I Theorie und Diskurs
Den Einstieg in die theoretische Diskussion leisten Rolf Wer-
ning und Ann-Kathrin Arndt mit einem allgemeinpädagogi-
schen Beitrag, der Perspektiven sowohl auf die Schul- als auch
auf die Unterrichtsentwicklung an inklusiven Schulen entfaltet.
Werning und Arndt resümieren den pädagogischen Diskurs zur
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Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
Thematik und decken in diesem Zuge normative Grundlagen
für die Inklusion ebenso auf wie die Unschärfe des Inklusions-
begriffs an sich. Überdies wird der Forschungsstand zum Um-
gang mit Differenz an deutschen Schulen und zur Auswirkung
von Gruppenzusammensetzung auf die Leistungsentwicklung
der Gruppenmitglieder gesichtet. Auf dieser Grundlage reek-
tieren Autorin und Autor die Frage nach generellen Merkma-
len guten inklusiven Unterrichts im Abgleich zu Merkmalen
guten Unterrichts im Allgemeinen und beleuchten kritisch die
Spannungsfelder ‚Offenheit und Strukturierung‘, ‚Individuali-
sierung und Kooperation‘ bzw. ‚Individualisierung und Stan-
dardisierung‘. Werning und Arndt verstehen Inklusion grund-
sätzlich als einen Prozess, der einer permanenten Reexion
bedarf und viele Wege zum Ziel erlaubt, und sie stellen dabei
die Relevanz einer fachdidaktischen Auseinandersetzung mit
inklusiven Fragestellungen gleichfalls explizit heraus.
Michael Becker-Mrotzek nimmt den inhaltlichen Strang des
vorherigen Beitrags auf und analysiert zunächst die tiefgrei-
fenden Konsequenzen der Inklusion für das gesamte Bildungs-
system. Sein besonderes Augenmerk richtet sich auf die For-
schungsfragen und -aufgaben, die aus dem Inklusionsprozess
für die Deutschdidaktik und im Speziellen für die Sprachdi-
daktik resultieren. Vor dem Hintergrund, dass basale Lese- und
Schreibkompetenzen sowie bildungssprachliche Fähigkeiten
als grundlegend für eine Teilhabe an Bildung und Gesellschaft
vorausgesetzt werden können, sondiert Becker-Mrotzek den
aktuellen Stand der empirischen Forschung zur Praxis und zu
den Wirkungen inklusiven Deutschunterrichts. In seinem Re-
sümee betont er die Relevanz einer empirischen Fundierung
von Lernzielbestimmungen für alle Lernbereiche und kommt
zu dem Schluss, dass im Feld des inklusiven Deutschunter-
richts Desiderata sowohl in Konzeptentwicklung als auch The-
oriebildung und Empirie auf Bearbeitung drängen. Der Beitrag
schließt mit einem Plädoyer für die interdisziplinäre Zusam-
9
Einleitung
menarbeit mit den Bildungswissenschaften, der pädagogi-
schen Psychologie und Sonderpädagogik und spricht sich für
eine Offenheit für Konzepte jenseits der Tradition aus.
Die Erweiterung der Bandbreite und Vielfalt von Heterogenität
in inklusiven Klassen nehmen Anne Berkemeier und Sabine
Wilmes in den Blick und weisen auf die Notwendigkeit einer
empirischen Klärung der Frage nach produktiver Handhabung
hin. Die Autorinnen benennen die Desiderata in den Bereichen
Qualizierung, Forschung, Methoden und Materialien, die
alle einer komplexen Auseinandersetzung zwischen Deutsch-
didaktik, Deutsch-als-Zweitsprache-Didaktik, Sonderpädago-
gik und allgemeiner Didaktik bedürfen. Darauf aufbauend
wird das Phänomen Heterogenität in Bezug auf Intelligenz,
Erstsprache und sonderpädagogischen Förderbedarf genauer
betrachtet und ausgehend von der Relevanz handlungs- und
kompetenzorientierter Lernformen die Individualisierung als
ein wichtiges Mittel für das Erreichen von Kompetenzanfor-
derungen in heterogenen Kontexten reektiert. Da eine zutref-
fende Kompetenzeinschätzung als Basis für erfolgversprechen-
de Förderung gilt, kommt nach Berkemeier und Wilmes der
Konzeption und Evaluation detaillierter und praxistauglicher
Kompetenzpläne eine besondere Bedeutung zu. Auch die Vor-
teile von Team-Teaching, technischen Hilfen sowie standar-
disierten Freiarbeitsmaterialien, die stets evaluiert und weiter-
entwickelt werden müssen, arbeiten die Autorinnen heraus.
Abschließend wird das Torontoer Equity Foundation Statement
als ein Beispiel der Nutzung von Heterogenität als Chance für
kreative Lösungen und neue Lernmöglichkeiten ausgelobt.
Bettina M. Bock diskutiert das Phänomen „Leichte Sprache“
als ein Konzept zur Realisierung von Barrierefreiheit und Par-
tizipation, an das viele Erwartungen, u.a. für den inklusiven
Unterricht, geknüpft sind. Die Autorin betont die Notwendig-
keit einer theoretischen Fundierung und empirischen Über-
prüfung der Wirksamkeit von „Leichter Sprache“-Regeln und
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Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
weist darauf hin, dass ein unbedarfter Einsatz auch die Gefahr
birgt, zu stigmatisieren und durch eine Reduktion von Ent-
wicklungsanlässen schlussendlich sprachliche Fortschritte und
Kompetenzentwicklung zu untergraben. Bock argumentiert
angesichts der Heterogenität der Adressatengruppe dafür, auf
generelle Aussagen in Bezug auf die Komplexität bestimmter
sprachlicher Mittel und ergo auf pauschal generalisierende Re-
gelkataloge zu verzichten und sich stattdessen differenzierter
an Zielgruppen und Inhalten zu orientieren. Am Beispiel von
Konditionalrelationen werden darüber hinaus erste Befunde
aus dem Leipziger Projekt LeiSA zum Textverstehen von Er-
wachsenen mit geistiger Behinderung für die Diskussion um
den Einsatz von Leichter Sprache fruchtbar gemacht. Potenzial
für den inklusiven Deutschunterricht sieht Bock darin, Texte in
Leichter Sprache (auch im Rahmen eines Vergleichs von Tex-
ten in verschiedenen Fassungen) von Schülerinnen und Schü-
lern selbst analysieren zu lassen und derart zur Anregung von
Sprachreexion zu nutzen.
Auch im Beitrag von Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
wird die Bedeutung der Teilhabe an sprachlicher Kommunika-
tion herausgehoben und davon ausgegangen, dass die Fähig-
keit, Sprache in kommunikativer und kognitiver Funktion zu
nutzen, für eine befriedigende und erfolgreiche Beteiligung am
gesellschaftlichen Leben und speziell an schulischen Lehr- und
Lernprozessen grundlegend ist. In diesem Kontext kommt ins-
besondere der Vermittlung von bildungssprachlichen Kompe-
tenzen für alle Schülerinnen und Schüler eine wesentliche Rolle
zu, so dass komplementierend zu Bocks transitorisch orientier-
ter Perspektive auf Leichte Sprache auch Gebele und Zepter für
einen grundsätzlich entwicklungsorientierten Ansatz in der
sprachlichen Gestaltung von Unterricht argumentieren. Vor
dem Hintergrund der KMK-Vorgaben (a) zur Inklusion und
(b) zum sprachsensiblen Unterricht illustrieren die Autorinnen
die besonderen Chancen und Herausforderungen, die durch
11
Einleitung
die Realisierung dieser beiden Prämissen entstehen. Aus theo-
retischer Perspektive wird ein erweitertes Scaffolding-Modell
diskutiert und das Potenzial von diversen Zugangswegen zu
Lerninhalten und sich daraus ergebenden Darstellungsformen
zur Vermittlung von bildungs- und fachsprachlichen Registern
ausgelotet.
II Empirie und Diagnostik
Aus der Auseinandersetzung im ersten Themenblock wird
deutlich, wie groß der Bedarf an empirischen Arbeiten im Kon-
text der Umsetzung von Inklusion aktuell ist – und dies gera-
de auch in Bezug auf fach- bzw. sprachdidaktische Fragestel-
lungen. Vor diesem Hintergrund eröffnen Jannis Bosch, Anja
Schaefer, Pawel R. Kulawiak und Jürgen Wilbert den zweiten
Themenblock, „Empirie und Diagnostik“, mit einem Beitrag,
der aus einer übergreifenden, methodologisch orientierten
Perspektive die Eignung verschiedener Forschungsdesigns
zur Analyse von inklusionsrelevanten Fragen und Hypothesen
diskutiert. Dargestellt und mit Beispielen unterfüttert werden
im Detail das klassische Experiment sowie quasiexperimentel-
le und nicht-experimentelle Designs zur Erfassung kausaler
Beziehungen; ihre Vor-und Nachteile werden reektiert. Dabei
stellen Bosch, Schaefer, Kulawiak und Wilbert auch die gene-
rellen Herausforderungen quantitativer Methoden heraus. Der
Beitrag ist insgesamt im Zusammenspiel mit dem folgenden zu
rezipieren, in welchem in Differenz zu gängigen Testverfahren
der Verhaltensbeobachtung und verwandten hypothesenprü-
fenden experimentellen Designs komplementierend auf eine
spezische Forschungsmethode ─ lautes Denken ─ fokussiert
wird.
So beleuchten Moritz Börnert, Jana Grubert und Jürgen Wil-
bert in ihrem Beitrag die vielfältigen Potenziale, die die Me-
12
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
thode des lauten Denkens für den Kontext Inklusion bietet.
Börnert, Grubert und Wilbert stellen das Verfahren in seinen
unterschiedlichen theoretischen Facetten vor und illustrieren
mit Beispielen, wie lautes Denken zur Erforschung diverser
inklusionspädagogischer Fragestellungen verwendet werden
kann. Darüber hinaus verortet der Beitrag lautes Denken hin-
sichtlich seiner Anwendbarkeit in der pädagogischen Praxis
und erläutert die diagnostische Kraft, insofern das Verfahren
Einblicke in individuelle Sichtweisen ermöglicht und kognitive
wie metakognitive Prozesse zu erfassen sucht. Nach Börnert,
Grubert und Wilbert verdient die Methode in der Erforschung
von Inklusion gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit, da
sie – im Gegensatz zu Beobachtungsverfahren, die eher Grup-
pen als Gesamtheit in den Blick nehmen – der Unterschiedlich-
keit von Individuen unmittelbar Rechnung zu tragen vermag.
Der Bogen zur Diagnostik wird im folgenden Beitrag weiter-
geschlagen: Monika Rothweiler präsentiert Ergebnisse aus
einem Forschungsprojekt zum Grammatikerwerb bei sequen-
tiell-zweisprachigen Kindern mit einer Spezischen Sprachent-
wicklungsstörung (SSES). Die Autorin legt dar, ob und inwie-
fern die grammatischen Auffälligkeiten dieser Kinder mit den
grammatischen Auffälligkeiten einsprachiger Kinder mit der
gleichen Störung bzw. mit den Auffälligkeiten zweisprachiger
Kinder ohne SSES übereinstimmen. Die von Rothweiler im De-
tail aufgefächerten Erkenntnisse ermöglichen eine forschungs-
basierte, derart exaktere Diagnostik, die die kategorialen
Differenzen zwischen Sprachentwicklungsstörung und Zweit-
spracherwerb nicht verwischt. Im Kontext von Inklusion und
potenziert heterogenen Gruppen macht der Beitrag deutlich,
wie wichtig in allen Bereichen sprachlicher Entwicklung eine
genaue Untersuchung der individuellen Differenzen ist – aber
auch wie aufwändig diese sich im Einzelnen gestaltet und wie
viel sprachprofessioneller Expertise es bedarf, um Fehldiagno-
sen (hier Über- oder Unterdiagnosen von SSES) möglichst zu
13
Einleitung
vermeiden und die Förderung den eigentlichen Bedürfnissen
der Schülerinnen und Schüler anzupassen.
II Unterricht und Förderung
Von der Diagnostik nimmt der Themenblock „Unterricht
und Förderung“ den roten Faden inklusionsrelevanter Fra-
gestellungen auf und führt im Lichte dessen in eine didak-
tisch fokussierte Auseinandersetzung mit den Kernbereichen
des Deutschunterrichts. In insgesamt fünf Beiträgen werden
Besonderheiten und Gestaltungskonzepte inklusiver Unter-
richtsprozesse vorgestellt und kritisch diskutiert. Dabei bege-
ben sich die Autorinnen und Autoren u.a. auf die Suche nach
Konzepten, die im betreffenden sprachlichen Lernbereich ge-
meinsames Arbeiten am gleichen Lerngegenstand, Lernen in
gemeinsamen Lernsituationen und/oder individuelle Förder-
maßnahmen miteinander kombinieren.
Der Beitrag von Andreas Mayer widmet sich dem Lernbereich
des Lesens, und hier vorrangig des Lesens von Sachtexten; er
stellt didaktische Maßnahmen vor, die strategische Lesekompe-
tenz zu fördern trachten ─ passend für einen Unterricht, der
Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlich weit entwi-
ckelten Lesefähigkeiten zusammenführt. Nach einer Klärung
der verschiedenen Komponenten des Leseverständnisses fo-
kussiert Mayer bewusst auf die Ebene des Textverständnisses
und entfaltet auf der Grundlage bereichsspezischer (sprach-)
wissenschaftlicher Erkenntnisse Verfahren, die Lehrkräfte in
inklusiven Kontexten berücksichtigen können, um übergrei-
fend ein fundiertes Leseverständnis aufzubauen. Dargestellt
werden insbesondere relevante Verstehensstrategien, die bei
der Arbeit am sinnentnehmenden Lesen vermittelt werden
können und die die globale Kohärenzbildung bzw. die Kon-
struktion von Situationsmodellen unterstützen.
14
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
Während Mayer sich dem Lerngegenstand Text aus der Rezep-
tionsperspektive nähert, gehen Sascha Zielinski und Micha-
el Ritter zunächst von einer Produktionsperspektive aus und
nehmen exemplarisch das Schreibresultat eines vermeintlich
schwachen Schreibnovizen und die damit verbundene Erzähl-
handlung in den Blick. Auf dieser Basis argumentieren sie für
eine Erweiterung der Text-, Schreib- und Lesebegriffe in Berei-
che medialer Mündlichkeit hinein bzw. für eine Überwindung
der tradierten Trennungen zwischen mündlichen und schriftli-
chen Zugriffen auf die Begriffe Text, Schreiben und Lesen. Zie-
linski und Ritter beschreiben die Konsequenzen einer solchen
erweiterten Perspektive auf den Gegenstand für die Gestaltung
und Beurteilung von Schreibprozessen und Erzählhandlungen
in inklusiven Lernkontexten. Chancen sehen sie im inklusi-
ven Unterricht vor allem für eine Aufgabenkultur, die offene
Lernszenarien vorsieht und die eine breitere Differenzierungs-
palette an adaptiven und exiblen Arbeitsaufträgen sowie viel-
fältigere Zugänge und Lösungswege anbietet.
Auch Benjamin Uhl beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den
Lerngegenständen Text, Texte schreiben und Erzählen, bei
ihm steht jedoch das grammatische Lernen im Vordergrund.
Im Rahmen einer Scaffolding-Perspektive auf die Entwicklung
von Textkompetenzen stellt der Autor das Förderinstrument
„Geschichtenplan“ vor, das für die Entwicklung schriftlicher
Erzählfähigkeiten in heterogenen Lerngruppen genutzt wer-
den und zugleich als individuelles Unterstützungsgerüst für
grammatisches Lernen dienen kann. Wie Uhl am Beispiel ver-
schiedener Lehr-Lern-Arrangements mit Geschichtenplänen
deutlich macht, vermag dessen exibler Einsatz als Scaffolding
Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlich ausgeprägtem
Unterstützungsbedarf in diversen Bereichen wie beispielswei-
se Aufbau narrativer Texte, Referenzbildung und Einsatz von
Kohäsionsmitteln, Verwendung von Präpositionen und Kasus,
Nutzung von Textprozeduren etc. Hilfestellungen bieten.
15
Einleitung
Katrin Hee setzt mit ihrem Beitrag einen Akzent für die Lern-
bereiche des Sprechens und Zuhörens und fokussiert auf das
mündliche Erzählen, wobei sie das Erzählen in seiner Brücken-
funktion zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit im
Blick behält. Sie resümiert zunächst den Forschungsstand zur
Entwicklung von Erzählkompetenz bei Kindern mit und ohne
sonderpädagogischen Förderbedarf und schält systematisie-
rend die involvierten Teilkompetenzen heraus. Für jede Teilfä-
higkeit diskutiert die Autorin diverse didaktische Verfahren in
Hinsicht auf ihr Förderpotenzial für den inklusiven Deutsch-
unterricht bzw. für gemeinsames Lernen von Schülerinnen
und Schülern mit verschiedenen Voraussetzungen. Insgesamt
argumentiert Hee in Berücksichtigung des mündlichen Erzäh-
lens für eine erweiterte Fassung des allgemeinen Erzählbegriffs
in Bezug auf die Integration von mimischen, gestischen und
weiteren dialogischen Merkmalen sowie für eine intensive
Nutzung von kooperativen Lern- und Arbeitsformen.
Matthias Knopp rundet den Themenblock „Unterricht und
Förderung“ ab, indem er sich aus inklusiver Perspektive mit
der Wortschatzvermittlung befasst. Auf der Basis einer Auf-
arbeitung des Forschungsstandes zum frühkindlichen Wort-
schatzerwerb, zur Wortschatzvermittlung im erstsprachlichen
Deutschunterricht sowie im Deutsch-als-Zweit- und -Fremd-
sprachen-Unterricht argumentiert der Autor für eine gezielte
Förderung der Erweiterung des mentalen Lexikons als einen,
wenn nicht den zentralen Ankerpunkt in der Arbeit mit he-
terogenen Gruppen, die am gemeinsamen Lerngegenstand
orientiert ist. Knopp stellt überdies heraus, dass der Bereich
Wortschatzvermittlung im inklusiven Unterricht trotz seiner
Relevanz de facto Neuland für die Deutschdidaktik darstellt,
und er zeigt am Beispiel einiger etablierter didaktischer Verfah-
ren, dass bestehende Methoden gleichwohl gewinnbringend
für inklusive Kontexte adaptiert und genutzt werden können.
16
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
IV Professionalisierung und Lehrer*innenbildung
Der letzte Themenblock „Professionalisierung und Lehrer*in-
nenbildung“ wird von zwei Autorinnen verhandelt, die die
universitäre Lehr- und Forschungsperspektive mit einer bil-
dungspolitischen Perspektive in Diskurs setzen. Bianca Roters
und Susanne Eßer diskutieren die Fragen der Professionalisie-
rung für inklusiven Unterricht im Rahmen der Lehreraus- und
-weiterbildung. Als Schlüsselkompetenz heben sie die Reex-
ionsfähigkeiten der Lehrkräfte hervor, deren Entwicklung einen
zentralen Baustein in den inhaltlich miteinander verbundenen
und aufeinander aufbauenden Ausbildungs- und Weiterbil-
dungscurricula konstituieren sollte. Nach Roters und Eßer ist
Reexionskompetenz in einem dynamischen Bildungssystem,
das auf gesellschaftliche Veränderungen angemessen reagieren
möchte, auch deshalb so wichtig, weil Lehrkräfte immer wieder
ihr Vorgehen und ihre Selbstwirksamkeit zu hinterfragen und
anzupassen im Stande sein müssen. Die Autorinnen argumen-
tieren für die Etablierung einer Reexionskultur an Schulen
und für ein permanentes Mentoring- und Coachingsystem, das
die Entwicklung einer adaptiven Lehrkompetenz unterstützt
und das den Lehrkräften ermöglicht, die neusten Erkenntnisse
aus den Bildungswissenschaften, Fachwissenschaften, Fach-
didaktiken und der Sonderpädagogik für ihren Unterricht zu
nutzen.
Den gesamten Fächer der Beiträge in diesem Band resümie-
rend zeigt sich, dass das Thema Inklusion zahlreiche spannen-
de Forschungsfelder für die Sprachdidaktik eröffnet. Ebenso
wird deutlich, dass der Gegenstand als solcher einen engen
interdisziplinären Austausch zwischen den Fachdidaktiken,
den Fachwissenschaften, der Allgemeinpädagogik, Sonder-
pädagogik und den Bildungswissenschaften auf allen Ebenen
der theoretischen und empirischen Forschung nahelegt. Un-
17
Einleitung
abhängig von den vielschichtigen Fragestellungen bleibt aber
gleichfalls unbestritten: Sprachliches Handeln ist für fast alle
Lehr-Lern-Prozesse wesentlich, Sicherung und Förderung
sprachlicher Kompetenzen sind somit auch im Kontext von In-
klusion von prominenter Bedeutung. Nicht zuletzt aus diesem
Grunde kommt der Sprachdidaktik im Diskurs um Inklusion
eine zentrale Position zu.
Literatur
Baurmann, Jürgen & Müller, Astrid (Hrsg.)(2016): Praxis Deutsch
258: Gemeinsam lernen – der Umgang mit Vielfalt im Unterricht
Frickel, Daniela A. & Kagelmann, Andre (Hrsg.)(2016): Der inklusive
Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt am
Main: Peter Lang
Hennies, Johannes & Ritter, Michael (Hrsg.)(2014): Deutschunter-
richt in der Inklusion. Auf dem Wege zu einer inklusiven Deutschdi-
daktik. Stuttgart: Fillibach bei Klett
Naugk, Nadine; Ritter, Alexandra; Ritter, Michael & Zielinski, Sa-
scha (2016): Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule. Pers-
pektiven und Beispiele. Weinheim: Beltz
Trumpa, Silke; Seifried, Stefanie; Franz, Eva & Klauß, Theo (Hrsg.)
(2014): Inklusive Bildung: Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdi-
daktik und Sonderpädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Theorie und Diskurs
19
Inklusive schulische Bildung
Inklusive schulische Bildung – Grundlagen und Perspektiven
Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
Inklusion wird aktuell vielfach und kontrovers diskutiert.
Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit verschie-
den Diskurslinien und Verständnissen wird in dem Bei-
trag zunächst die Ebene der Schulentwicklung betrachtet.
Mit Blick auf den Unterricht wird daran anschließend die
Frage der Leistungsentwicklung und Lerngruppenzu-
sammensetzung fokussiert. Zudem erfolgt eine Ausein-
andersetzung mit wesentlichen Merkmalen sowie Span-
nungsfeldern inklusiver Unterrichtsgestaltung.
1 Einleitung
Inklusion ist zu einem zentralen Thema im Bildungsbereich
avanciert. Dabei gibt es die Diskussion über die schulische
Förderung von Kindern und Jugendlichen mit spezischem
Unterstützungs- bzw. Förderbedarf hierzulande schon seit An-
fang der 1970er Jahre. Damals war es der Deutsche Bildungsrat
(1973), der in seinem Gutachten eine innovative Konzeption
vorlegte, „die eine weit mögliche gemeinsame Unterrichtung
von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst
für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung
mit Nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontak-
te mit Nichtbehinderten ermöglicht. Damit stellt sie der bisher
vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schuli-
sche Integration entgegen.“ (a.a.O.: 15).
Ein weiteres wichtiges Dokument zur inklusiven Bildung ist der
„Framework for action on special educational needs”, der 1994
auf der Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse:
20 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
Zugang und Qualität“ der UNESCO im Jahr 1994 in Salaman-
ca verabschiedet wurde. Hier wurde konstatiert, „dass Schulen
alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen,
sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkei-
ten aufnehmen sollen. (…) Diese Bestimmungen schaffen eine
Reihe von Herausforderungen an Schulsysteme. (…) Schulen
müssen Wege nden, alle Kinder erfolgreich zu unterrichten,
auch jene, die massive Benachteiligungen und Behinderungen
haben. Es besteht wachsende Übereinstimmung darüber, dass
Kinder und Jugendliche mit besonderen pädagogischen Be-
dürfnissen in jene Unterrichtsabläufe integriert werden sollen,
die für den Großteil aller Kinder eingerichtet werden. Das hat
zum Konzept inklusiver Schulen geführt“ (UNESCO 1994: 4).
Durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen von 2006, die seit 2009 in Deutschland rechts-
gültig ist, gibt es eine verbindliche Vorgabe, ein inklusives Bil-
dungssystem auf allen Ebenen mit dem Ziel zu schaffen, „die
menschlichen Möglichkeiten voll zur Entfaltung zu bringen und
Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer
freien Gesellschaft zu befähigen“ (Art. 24). Der internationale
Diskurs wird gegenwärtig insbesondere durch die UNESCO
geführt. Sie hat 2009 Leitlinien für die inklusive Bildungspolitik
formuliert. Inklusion wird dabei als Anforderung an Schulen
deniert, alle Kinder gemeinsam zu unterrichten. In diesem Do-
kument wird Inklusion auf drei Ebenen (normativ) begründet:
Zunächst besteht eine pädagogische Begründung: Da inklusive
Schulen alle Kinder gemeinsam unterrichten, müssen sie Mittel
und Wege nden, beim Unterrichten auf individuelle Unter-
schiede einzugehen. Davon protieren alle Kinder. Zweitens
gibt es eine soziale Begründung: Inklusive Schulen können
Einstellungen zu Vielfalt verändern, wenn alle Kinder gemein-
sam unterrichtet werden. Sie bilden damit die Basis für eine ge-
rechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft. Drittens gibt es
21
Inklusive schulische Bildung
eine ökonomische Begründung: Es ist weniger kostenintensiv,
Schulen einzuführen und zu erhalten, die alle Kinder gemein-
sam unterrichten, als ein komplexes System unterschiedlicher
Schultypen zu errichten, die jeweils auf verschiedene Gruppen
spezialisiert sind (vgl. UNESCO 2009: 9).
Sowohl die internationale wie auch die nationale Inklusions-
diskussion werden gegenwärtig durch zwei Diskurse geprägt.
Auf der einen Seite steht spezisch die Förderung von Men-
schen mit Behinderungen bzw. mit sonderpädagogischem För-
derbedarf (sog. enger Inklusionsbegriff) im Mittelpunkt. Auf
der anderen Seite wird losgelöst von spezischen Gruppen
die Entwicklung inklusiver Bildungsinstitutionen und inklu-
siver Lehr-Lern-Situationen für alle Personen (weiter Inklu-
sionsbegriff) diskutiert (vgl. Werning 2014, 2016). Prinzipiell
gibt es bis heute keinen klar denierten Inklusionsbegriff (vgl.
Göransson und Nilholm 2015, Grosche 2015), was die fachliche
Diskussion erschwert. Eine hohe Zustimmung ndet jedoch
die Überlegung, dass inklusive Bildung aus unterschiedlichen
Perspektiven analysiert werden sollte (vgl. Artiles et al. 2006).
Dazu gehört: 1. Zugang zu Bildung, 2. Akzeptanz von allen
Menschen (und damit auch jenen mit besonderen Förderbe-
dürfnissen), 3. Soziale Partizipation und 4. Persönlichkeits-,
Lern- und Leistungsentwicklung aller Schülerinnen und Schü-
ler. Diese vier Bereiche können sowohl aus einer engen (für
Menschen mit Behinderungen/Benachteiligungen) als auch aus
einer weiten Inklusionsperspektive (für alle Menschen mit und
ohne Behinderungen/Benachteiligungen) betrachtet werden:
1. Zugang bezieht sich grundlegend auf den Zugang zu Bildung
überhaupt, aber auch auf den Zugang zu unterschiedlichen Bil-
dungsformen mit unterschiedlich anspruchsvollen Bildungsgän-
gen in differenzierten Systemen. Hier ist zu analysieren, welche
Gruppen keinen oder einen erschwerten Zugang haben und in-
wieweit hier Prozesse direkter oder indirekter Diskriminierung
vorliegen.
22 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
2. Akzeptanz bezieht sich auf die Einstellungen und Haltungen von
Lehrkräften, Schulleitungen, Eltern und Peers gegenüber Perso-
nen von Minderheitengruppen. Wer wird akzeptiert, wer wird
nicht akzeptiert? Welche Prozesse der Ausgrenzung bzw. Margi-
nalisierung sind nachweisbar?
3. Soziale Partizipation geht über die Frage der Akzeptanz hinaus.
Hier ist zu untersuchen, wie viel Zeit die Personen gemeinsam in
sozialen Kontexten miteinander verbringen. Infrage steht, unter
welchen Bedingungen Bildungssituationen stattnden: gemein-
sam oder für bestimmte Kinder häug in externen Fördergrup-
pen? Gibt es strukturelle Trennungen, z.B. in Form von Koopera-
tionsklassen etc.?
4. Persönlichkeits-, Lern- und Leistungsentwicklung macht deutlich,
dass es bei der Inklusion nicht allein um Platzierung, sondern
auch um die Unterstützung der Lern- und Leistungsentwicklung
für alle Personen geht. Dabei stehen die Fragen nach der optima-
len Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten, die Entfaltung
der Würde und des Selbstwertgefühls und die Befähigung zu ei-
ner wirksamen gesellschaftlichen Teilhabe aller Personen im Mit-
telpunkt (vgl. Werning und Baumert 2013: 39).
Das weite Inklusionsverständnis umfasst dabei die generelle
Minimierung von Diskriminierung und Bildungsbenachteili-
gungen von Schülerinnen und Schülern, sei es aufgrund von
Behinderung, Leistung, Geschlecht oder sozialer und/oder
kultureller Herkunft, und die Maximierung von sozialer Teil-
habe (für die deutsche Diskussion vgl. u.a. Hinz 2003; Sander
2004, Werning und Löser 2010, Werning und Avci-Werning
2015). Ainscow u.a. sehen eine inklusive Perspektive zudem in
enger Verbindung mit übergreifenden Werten:
We articulate inclusive values as concerned with equity, par-
ticipation, community, compassion, respect for diversity, sus-
tainability and entitlement. […] Inclusion is concerned with all
children and young people in schools, … (a.a.O., 2006: 23-25)
23
Inklusive schulische Bildung
Inklusion geht nach diesem Verständnis über eine an Platzie-
rungs- und Förderungsfragen von Kindern und Jugendlichen
mit Behinderungen orientierte Sichtweise hinaus und setzt sich
mit der grundlegenden Frage nach dem Umgang mit Hetero-
genität und Differenz im schulischen Kontext auseinander.
Dieser Beitrag fußt auf einem weiten Inklusionsverständnis.
Gleichwohl geht es an manchen Stellen wieder um die Frage
nach der schulischen Förderung von spezischen Gruppen.
Dies ergibt sich aus der bildungspolitischen Engführung der
Inklusionsdebatte, die insbesondere auf Schülerinnen und
Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgerichtet
ist. Im Folgenden soll schulische Inklusion auf zwei Ebenen
betrachtet werden. Zunächst wird Inklusion als Konzept der
Schulentwicklung diskutiert, um anschließend die Perspektive
auf den Unterricht zu lenken.
2 Inklusion im Kontext der Schulentwicklung
Inklusive Bildung setzt einen Schulentwicklungsprozess vo-
raus, der die ganze Schule betrifft (vgl. Arndt und Werning
2016a). Hierzu haben Booth und Ainscow (2002) mit dem
„Index für Inklusion“ eine Materialsammlung zur Förderung
inklusiver Schulentwicklung erarbeitet, die die Bereiche „in-
klusive Kulturen“, „inklusive Strukturen“ und „inklusive
Praktiken“ beinhaltet (eine deutsche Fassung liegt von Boban
und Hinz 2003 vor). Dyson, Howes und Roberts (2002, 2004)
stellten in ihrem systematischen Forschungsüberblick über
Studien zu inklusiven Schulen folgende Merkmale heraus: In-
klusive Schulen zeichnen sich durch eine Schulkultur aus, die
durch Anerkennung und Wertschätzung von Unterschiedlich-
keit, Bereitstellung von Bildungsangeboten für alle Schülerin-
nen und Schüler auf ihren jeweiligen Entwicklungsständen,
eine ausgeprägte Kooperation zwischen den Lehrkräften so-
24 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
wie Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen
und Schülern und die konstruktive Einbeziehung von Eltern
geprägt ist. Inklusive Schulen haben weiterhin eine kompeten-
te und starke Schulleitung, die sich zu inklusiven Prinzipien
bekennt, auf Partizipation und Verantwortung im Umgang mit
dem Kollegium setzt und eine unterstützende und wegberei-
tende Funktion im Entwicklungsprozess übernimmt. Ferner
tendieren inklusive Schulen zu exibleren und weniger segre-
gierenden Unterrichtsformen und zu mehr pädagogischer Fle-
xibilität u.a. bezogen auf individuelle Lernpläne, die Differen-
zierung im Unterricht und die Sozialformen. Deutlich wurde
auch, dass eine inklusionsförderliche und unterstützende Bil-
dungspolitik und Schulverwaltung die Entwicklung inklusiver
Schulen deutlich erleichtert.
In der qualitativen Studie von Arndt und Werning (2016a) zu
den Sichtweisen von Lehrkräften, Schulleitungsmitgliedern
und Eltern an zehn Schulen des Primar- und Sekundarbe-
reichs, welche mit dem Jakob-Muth-Preis für inklusive Bildung
ausgezeichnet wurden, konnten folgende zentrale Merkmale
herausgearbeitet werden, die für die Qualität sowie damit ver-
bundene Schulentwicklungsprozesse an inklusiven Schulen
besonders prägend scheinen:
Der Unterricht und das Schulleben fokussieren die individuel-
le Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Hierbei
werden die unterschiedlichen Bedürfnisse im Kontext der so-
zialen Eingebundenheit berücksichtigt. Inklusion bezieht sich
auf die gesamte Schule und Schulentwicklung und stellt damit
nicht nur ein Additum dar. Die inklusive Schulentwicklung ba-
siert auf einem Zusammenspiel von verlässlichen Strukturen
und kontinuierlicher Reexion. Die verlässlichen Strukturen
umfassen schulinterne Absprachen, welche Verbindlichkeit
schaffen, ebenso wie Freiräume für die pädagogische und di-
daktische Gestaltung. Immer wieder die eigene Praxis zu hin-
25
Inklusive schulische Bildung
terfragen sowie damit verbunden ggf. anzupassen, hat an den
Schulen einen zentralen Stellenwert. Für die Strukturen und
die kontinuierliche Reexion ist eine enge Zusammenarbeit
von Leitung und Kollegium ebenso wie eine Beteiligung an
Entscheidungsprozessen grundlegend. Eine intensive Zusam-
menarbeit im – multiprofessionellen – Team wird als ein we-
sentliches Kennzeichen guter inklusiver Schulen beschrieben
(vgl. auch Arndt und Werning 2016b). Zudem verfolgen die
Schulen die Zielsetzung einer intensiven Zusammenarbeit mit
der Familie (vgl. Arndt 2016). Darüber hinaus zeigen sich die
Schulen offen für externe, z.B. therapeutische Fachkräfte und
streben Vernetzungen insbesondere an Übergängen an. Diese
bisher genannten Merkmale basieren auf der Haltung, Kom-
petenz und Erfahrung der Professionellen. Während diese As-
pekte zumindest in gewisser Weise von der Einzelschule beein-
usst werden können, haben die Schulen weniger Einuss auf
die Ressourcen. Die verfügbaren personellen und sächlichen
Ressourcen stellen eine entscheidende Grundlage guter inklu-
siver Schulen dar. Zugleich erscheinen diese jedoch – ange-
sichts bereits erfolgter Kürzungen oder der wiederkehrenden
Planungsunsicherheit als gefährdet. Inklusive Schulentwick-
lung ist damit immer auch auf Unterstützung außerhalb der
Ebene der Einzelschule angewiesen.
Dass inklusive Schulentwicklung über die Einzelschule hinaus-
geht und in einem umfassenderen Kontext zu sehen ist, wird
von Ainscow, Dyson, Goldrick und West (2012) herausgestellt.
Sie sprechen sich für „school improvement with attitude“ aus
und heben mit Blick auf Gerechtigkeit als grundlegendes Prin-
zip die Berücksichtigung von drei miteinander verbundenen
Ebenen für die Weiterentwicklung von Schulen hervor:
1. Einzelschule: Hier werden die Strukturen und Praktiken sowie
die Frage, wie auf Heterogenität eingegangen wird, fokussiert.
Neben dem Unterricht sind z.B. die Kooperation der Lehrkräfte,
die Einbeziehung der Familien und das lokale Umfeld der Schule
bedeutsam.
26 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
2. Zwischen Schulen: Hier ist u.a. die Position im lokalen Kontext
sowie der Status wesentlich und damit sowohl Konkurrenz als
auch Kooperation zwischen Schulen (z.B. Entwicklungspartner-
schaften von Schulen).
3. Über die Schule hinaus: Hier richtet sich der Blick insbesondere
auf lokale, nationale und globale politische Kontexte der Schule
sowie auf die damit verbundenen Ressourcen, Perspektiven und
Interessen der Familien und Fachkräfte.
Über die Entwicklung der Einzelschule als zentraler Aus-
gangspunkt der Schulentwicklung sind damit Bedingungen
des lokalen wie übergeordneten politischen Kontextes an-
gesprochen.
3 Inklusion im Kontext von Unterrichtsentwicklung
Inklusiver Unterricht führt zu einer erhöhten Heterogenität in
den Lerngruppen. Damit ist die Herausforderung verbunden,
den Unterricht an den unterschiedlichen Lern- und Leistungs-
ständen und den unterschiedlichen sprachlichen, sozialen und
kulturellen Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schü-
ler ─ insbesondere durch Binnendifferenzierung und Individu-
alisierung – auszurichten. Inklusiver Unterricht ist in hohem
Maße ein adaptiver Unterricht, der an den individuellen Be-
dürfnissen und Lernvoraussetzungen ansetzt (vgl. Kullmann,
Lütje-Klose und Textor 2014: 97). Vorliegende Untersuchungs-
befunde machen hingegen deutlich, dass adaptiver Unterricht
nicht häug stattndet (vgl. im Überblick Trautmann und
Wischer 2011: 122ff.). In der IGLU-Studie 2001 (vgl. Boes et
al. 2003: 257f.) kommen die Autoren für die Grundschule zu
folgender Einschätzung: „Die Tatsache, dass zwei Drittel der
Schülerinnen und Schüler einen Unterricht erfahren, in dem
mit den gleichen Übungsaufgaben und dem gleichen Materi-
al gearbeitet wird, lässt vermuten, dass eine individuelle, auf
27
Inklusive schulische Bildung
Fehlerschwerpunkte abzielende Förderung im Rechtschreib-
unterricht keine Selbstverständlichkeit ist“. Für den Sekun-
darbereich weist Helmke (2014: 261) auf die Ergebnisse zur Dif-
ferenzierung im Englisch- und Deutschunterricht von 9. Klas-
sen in der DESI-Studie hin, die zeigen, dass Differenzierung im
Unterricht keinesfalls selbstverständlich ist. Baumert stellt be-
zugnehmend auf die Befunde der ersten PISA-Studie in einem
Interview heraus, „dass unser Schulsystem trotz Leistungsdif-
ferenzierung nicht gut mit Heterogenität und Differenz umge-
hen kann. Viele Lehrkräfte sind der Überzeugung, sie hätten
die falschen Schülerinnen und Schüler – und zwar unabhän-
gig von der Schulform. In der Verbesserung des Umgangs mit
Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der
Modernisierung des Systems“ (Baumert 2002: 72). Tillmann
(2007) konstatierte dem deutschen Schulsystem eine „Homo-
genitätssehnsucht“, die zu viel Selektion und wenig Leistung
führe. Heterogenität scheint somit eher ein Störfaktor im Un-
terricht zu sein. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Fra-
ge nachgegangen werden, welche Auswirkungen Unterricht
in eher homogeneren oder heterogeneren Lerngruppen hat.
3.1 Leistungsentwicklung in inklusiven Lerngruppen
Klafki und Stöcker (1994) wiesen Anfang der 1990er Jahre
auf die Potentiale von Heterogenität hin, die pädagogisch zu
entfalten seien. Aus ihrer Sicht beinhalteten heterogene Lern-
gruppen wesentliche Möglichkeiten der Entwicklung „reicher
Persönlichkeiten“.
… Möglichkeiten, die allerdings nur in begrenztem Umfang
‚funktional‘ wirksam werden, vielmehr vorwiegend durch
bewusste, gezielte Bemühungen aktualisiert werden müssen.
Dann können gerade in heterogenen Gruppen unterschiedliche
Qualitäten einzelner Schülerinnen und Schüler im gemeinsam
zu bewältigenden Lernprozess wirksam werden. (a.a.O.: 180)
28 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
Hattie (2009) hat Studien über Effekte des Trackings, also der
Zusammenfassung von leistungsähnlichen Schülerinnen und
Schülern in Lerngruppen, ausgewertet. Dabei unterscheidet er
zwischen Leistungseffekten und Gerechtigkeitseffekten:
The results show that tracking has minimal effects on learn-
ing outcomes and profound negative equity effects. The over-
all effects on mathematics and reading were similarly low
(…), the effects on self-concept were close to zero, and ef-
fects on attitudes towards subject matter slightly higher (…).
(Hattie 2009: 90)
Weder leistungsstarke noch leistungsschwache Schülerinnen
und Schüler protieren hiernach von einer nach Leistung vor-
genommenen Lerngruppenzusammensetzung.
Bei der Frage nach den Auswirkungen auf die Bildungsgerech-
tigkeit beruft sich Hattie (2009) u.a. auf die Studie von Oakes
(2005) „Keeping track: How schools structure inequality“. Oa-
kes hat in ihrer Untersuchung 25 junior und senior high schools
untersucht.
The major nding was that many low-track classes are dead-
ening, non-educational environments. Oakes (1992) concluded
that „the best evidence suggests that, in most cases, tracking
fails to foster the outcomes schools value.”(Hattie 2009: 90)
Die Mehrebenenanalysen von Schümer (2004: 97f.) verweisen
darauf, dass es „im Fall von extrem ungünstig zusammenge-
setzten Schülerpopulationen […] zu beträchtlich negativen Ef-
fekten auf die individuellen Leistungen kommt“. Ungünstig
zusammengesetzt bezieht sich hierbei u.a. auf einen hohen An-
teil an Schülerinnen und Schülern „aus bildungsfernen Eltern-
häusern“, „die zu Hause nicht deutsch sprechen“ und mit „ge-
ringeren kognitiven Fähigkeiten“ (ebd.). Im Gegensatz dazu
führt eine soziale Durchmischung in Lerngruppen zu einer
Verbesserung der Lernleistungen (vgl. Schümer 2004: 96ff.).
Dies zeigt, dass insbesondere die Zusammenfassung von be-
29
Inklusive schulische Bildung
nachteiligten und leistungsschwächeren Schülerinnen und
Schülern – wie dies in Haupt-, aber auch in Förderschulen ge-
schehen kann ─ zu einer direkten Bildungsbenachteiligung
führt. Entsprechend verweisen die Ergebnisse des Hambur-
ger Schulversuchs „Integrative Regelklassen“ auf das Risiko,
dass, wenn unter belasteten Rahmenbedingungen weniger
leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe
sind, gerade für diese die förderlichen Lernbedingungen redu-
ziert werden (vgl. Hinz, Katzenbach, Rauer, Schuck, Wocken
und Wudke 1998).
Gemeinsames Lernen in heterogenen Lerngruppen scheint hin-
gegen keine grundsätzlichen negativen Effekte auf die Lern-
entwicklung leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler zu
haben. So kommt Möller (2013: 27) in seinem Überblicksartikel
zu dem Ergebnis, „dass die inklusive Beschulung sich eher
nicht generell negativ auf die Leistungen der Schüler ohne
sonderpädagogischen Förderbedarf auswirkt“ (vgl. auch Wer-
ning und Avci-Werning 2015: 25ff). In der Studie von Kopp,
Martschinke und Ratz (2013) zur Leistungs- und Persönlich-
keitsentwicklung in einem inklusiven Grundschulsetting, in
dem auch Kinder mit Förderbedarf „Geistige Entwicklung“
gemeinsam unterrichtet wurden, konnte kein so genannter
„Bremseffekt“ für die Kinder ohne Förderbedarf nachgewiesen
werden.
Zusammenfassend wird hier der Einuss der Lerngruppenzu-
sammensetzung deutlich. Hierbei erscheinen Konstellationen,
in denen überwiegend benachteiligte und leistungsschwächere
Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe zusammenge-
fasst werden, risikobehaftet. Eine bewusste Auseinanderset-
zung mit der Zusammensetzung der Lerngruppen ist demnach
für die inklusive Schulentwicklung bedeutend.
30 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
3.2 Merkmale inklusiven Unterrichts
Wenngleich inklusiver Unterricht für Lehrkräfte im konkre-
ten Fall mit spezischen Herausforderungen verbunden sein
kann, unterscheidet sich inklusiver Unterricht ausgehend von
bisherigen Forschungsergebnissen nicht prinzipiell von gutem
Unterricht an herkömmlichen Schulen (vgl. u.a. Davis und Flo-
rian 2004; Korff 2014; Kullmann, Lütje-Klose und Textor 2014).
Lewis und Norwich (2005: 220) kommen auf Basis der Ausei-
nandersetzung mit dem Thema „Special Teaching for special
children? A pedagogy for inclusion“ zu dem Schluss:
Practical pedagogies for those with special educational needs
might look different from dominant mainstream pedagogies,
but these are differences […] at the level of concrete pro-
grammes, materials and perhaps settings. They are not dif-
ferences in the principles of curriculum design and pedagogy
strategy.
Entsprechend werden die Merkmale bzw. Qualitätsbereiche
guten Unterrichts (vgl. u.a. Helmke 2014: 168 ff.) auch in der
Diskussion zum inklusiven Unterricht herangezogen (vgl. z.B.
Moser und Redlich 2011). Das Merkmal „Umgang mit Hetero-
genität“ (Helmke 2014: 248 ff.) ist hierbei ein zentraler Fokus
inklusiver Unterrichtsentwicklung. Angesichts der hohen Re-
levanz der Adaptivität (vgl. Kullmann et al. 2014; s.o.) rücken
damit spezische Qualitätskriterien und Gestaltungsmerkmale
in inklusiven Lerngruppen in den Blick. So formulieren Ains-
cow et al. (2012: 203):
If teachers favour one style it will tend to suit most of those
students who are comfortable with that style. In effect, strong
teaching orthodoxies can disenfranchise students who are less
condent with or less engaged by that approach. Equity, there-
fore, requires practitioners who understand the importance of
teaching the same thing in different ways to different students,
and of teaching different things in different ways to the same
students.
31
Inklusive schulische Bildung
Mitchell (2014) hat 27 erfolgreiche (evidenzbasierte) Strategien
für inklusiven Unterricht beschrieben und macht damit die di-
daktische Bandbreite zum Umgang mit Heterogenität in inklu-
siven Lerngruppen deutlich. Dazu gehören u.a.: Kooperatives
Lernen, Peer Tutoring, Elterneinbindung, direkte Instruktion,
soziales Lernen, selbstgesteuertes Lernen, gutes Klassenklima,
Wiederholung und Übung. All dies sind keine neuen didakti-
schen Formate sondern vielmehr bewährte Konzepte für guten
Unterricht. Ferner werden häug „formatives Assessment“ und
„informationshaltiges Feedback“ als besonders erfolgreiche
Strategien für einen adaptiven Unterricht benannt. Formatives
Assessment beinhaltet verschiedenste Formen der individuel-
len Lernstandserfassung. Es geht darum, möglichst genau zu
erkennen, was ein Schüler/eine Schülerin bezogen auf konkre-
te Lernbereiche weiß (und nicht weiß), kann (und nicht kann)
und welche Lernerfahrung er/sie bisher erfolgreich absolviert
hat. Hierzu gehören u.a. systematische Beobachtung, diagnos-
tische Aufgabensammlungen, diagnostische Gespräche sowie
Selbstkontrolle der Schülerinnen und Schüler anhand von Lö-
sungen. Formatives Assessment dient dazu, neue Lernangebote
auf den individuellen Lernstand der Schülerinnen und Schüler
hin auszurichten. Es erfolgt lernbegleitend und zielt darauf ab,
die Lernentwicklung in einem bestimmten Lernbereich zu opti-
mieren. Dies bedeutet, im Prozess des Lernens im Rahmen des
Unterrichts immer wieder durch verschiedene Maßnahmen zu
prüfen, ob der Schüler/die Schülerin neue Konzepte verstan-
den und gespeichert hat und anwenden kann. Hierdurch wird
ein besseres Verständnis über die Unterstützungsbedürfnisse
des Schülers/der Schülerin erreicht und ermöglicht so ein ad-
aptives Fördern (vgl. Mitchell 2014: 184).
Informationshaltiges Feedback baut auf dem formativen As-
sessment auf und zielt darauf, die Schülerinnen und Schüler
über ihre Lernentwicklung zu informieren und nächste Lern-
schritte aufzuzeigen. Dazu sollte es drei Fragen beantworten:
32 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
a) Was ist dein Ziel? Was sollst du tun? b) Was hast du bis-
her geschafft? Welchen Fortschritt hast du gemacht? c) Was
ist dein nächster Lernschritt? Was kannst du tun, um weiteren
Fortschritt zu erreichen? (vgl. Hattie und Timperley 2007).
Darüber hinaus ist es im inklusiven Unterricht notwendig,
auch auf spezische Bedürfnisse von Schülerinnen und Schü-
ler einzugehen, so dass z.B. Bereiche wie Unterstützte Kommu-
nikation relevant werden können.
3.3 Spannungsfelder inklusiver Unterrichtsgestaltung
Im inklusiven Unterricht treten wie in jedem Unterricht spe-
zische Spannungsfelder auf, die hier aber deutlicher hervor-
treten. Dazu gehört z.B. die Ausbalancierung von Individua-
lisierung und Kooperation, von Offenheit und Strukturierung
(vgl. Werning und Lütje-Klose 2012: 154ff) sowie von individu-
ellen Zielen und vorgegebenen Standards (vgl. Werning und
Arndt 2015: 66ff).
Die Notwendigkeit zur Individualisierung ergibt sich aus der
Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler. Die dif-
ferenten Entwicklungsniveaus, Lernausgangslagen und Le-
bensbezüge müssen berücksichtigt werden, um konstruktive
Lernprozesse zu fördern. Die verschiedenen Schülerinnen und
Schüler verfolgen im gemeinsamen Unterricht unterschiedli-
che Ziele zur gleichen Zeit oder gleiche Ziele zu unterschiedli-
chen Zeitpunkten. Dabei ist gleichzeitig auch die Herstellung
von Kooperation und Gemeinsamkeit relevant, die z.B. durch
kooperatives Lernen (vgl. Avci-Werning und Lanphen 2013)
möglich wird.
Es ist unerlässlich, dass Lehrerinnen und Lehrer in diesen
Klassen sich um Gemeinsamkeit bemühen, sie stellt sich kei-
neswegs von selbst her. Es besteht vielmehr permanent die
Gefahr, in die Strukturen einer am Klassendurchschnitt ori-
33
Inklusive schulische Bildung
entierten Regelschule hineinzuschlittern. Dann spaltet sich
die Integrationsklasse: die nichtbehinderten Kinder lernen im
Gleichschritt der Jahrgangsklasse, und die behinderten Kinder
werden als gesonderte Gruppe und mit Extra-Materialien ver-
sehen in Extra-Lehrgängen auf einfachem Niveau meist von
der Ko-Lehrerin unterrichtet. (Prengel 2006: 161f)
Auch das Spannungsfeld zwischen Offenheit und Strukturie-
rung erfährt im inklusiven Unterricht eine besondere Akzentu-
ierung. Während die Öffnung des Unterrichts mit dem Ziel der
besseren Berücksichtigung von individuellen Bedürfnissen der
Kinder und Jugendlichen eine zentrale Forderung von inklusi-
ven didaktischen Konzepten darstellt, ist gleichzeitig relevant,
dass gerade lernschwächere Schülerinnen und Schüler von
mehr Struktur protieren. Hieraus ergibt sich die Überlegung,
dass auch in offeneren Formen des gemeinsamen Unterrichts,
in dem Schülerinnen und Schüler Wahlfreiheiten hinsichtlich
der Themen, des Stoffumfangs und/oder der Zeiteinteilung
haben, zeitliche, räumliche und kommunikative Strukturierun-
gen (vgl. Lütje-Klose 1997: 298f) und Rituale eingebunden wer-
den. Gerade die Kinder, die bislang in ihrem Leben noch wenig
Erfahrungen mit offenen Lernsituationen gemacht haben oder
deren sprachliche Fähigkeiten anders entwickelt sind, als dies
in der Schule erwartet wird, sind mit der Wahrnehmung und
Verarbeitung sehr offener Unterrichtsangebote nicht selten
überfordert.
Um diese Gruppe von Kindern zu unterstützen und ihnen die
Mitarbeit in offenen Lernsituationen zu ermöglichen, ist den
strukturierenden Elementen eine besondere Aufmerksamkeit
entgegenzubringen. Sie müssen bewusst wahrgenommen und
gezielt eingeführt werden und sind immer wieder daraufhin
zu überprüfen, ob sie für die Klasse insgesamt und für ein
Kind mit besonderem Förderbedarf im Speziellen sinnvoll,
nachvollziehbar und funktional sind. (Werning und Lütje-
Klose 2012: 162)
34 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
Ein weiteres Spannungsverhältnis liegt zwischen Individuali-
sierung und Standardisierung. So problematisieren Ainscow,
Dyson und Booth (2006b: 12) bezogen auf die in den USA und
Großbritannien verbreiteten sanktionsbewehrten Leistungs-
tests (High-Stakes-Testing):
On the face of it, inclusion and the standards agenda are in con-
ict because they imply different views of what makes an im-
proved school, different ways of thinking about achievements
and different routes for raising them.
Dies wirft die Frage auf, ob sich Inklusion und (Leistungs-)Stan-
dards grundlegend ausschließen. Boban und Hinz (2012: 71)
formulieren in diesem Zusammenhang eine „vermittelnde Po-
sition“ ,indem sie betonen, „dass es eher darauf ankommt, wie
Standards deniert werden“. Hierbei erscheint die Verknüp-
fung von (Regel-)Standards mit einer Fokussierung auf eine
standardisierte Leistungsmessung (vgl. Heinrich 2010) für eine
inklusive Unterrichtsgestaltung als erschwerende Bedingung.
Altrichter (2011: 20) formuliert zwischen Bildungsstandards
und Individualisierung ein produktives Verhältnis, indem er
aufzeigt, dass die Bildungsstandard-Strategie der Individua-
lisierungsstrategie die Lösung eines ihrer zentralen Probleme
aufzeigt, „nämlich die Frage, wo Individualisierung und Diffe-
renzierung eher zu einer Vereinheitlichung der Lernergebnisse
genutzt werden sollen und wo sie zu deren Differenzierung
beitragen sollen.“ (vgl. zu dieser Problematik auch: Wischer
und Trautmann 2012: 33ff.).
Für die inklusive Unterrichtsentwicklung ist somit die Frage
bedeutsam, wie Standards deniert werden. Prengel (2012: 178)
hebt hier die Bedeutung „individualisierungsfähige(r) Stan-
dards“ hervor, die sich auf „domänenspezische Stufenmodel-
le, zum Beispiel des Schriftspracherwerbs und des mathemati-
schen Lernens“ beziehen. Wenngleich nicht davon auszugehen
ist, dass sich alle Lernbereiche und -inhalte auf produktiv hie-
rarchisch organisierte Stufenmodelle beziehen lassen, verweist
35
Inklusive schulische Bildung
dies wiederum beispielhaft auf die Relevanz der Auseinander-
setzung mit inklusivem Unterricht in den einzelnen Fächern
bzw. Fachdidaktiken (vgl. Amrhein und Dziak-Mahler 2014;
Musenberg und Riegert 2015; Trumpa, Seifried, Franz und
Klauß 2014): Zugleich sind vor dem Hintergrund des Lebens-
weltbezugs neben „entwicklungslogisch bestimmten Lehr-
gangsthemen“ individuelle Zielsetzungen bedeutend (Meister
und Schnell 2012: 185).
Trotz der Relevanz differenzierter und individueller Ziele gilt
es gleichzeitig kritisch zu reektieren, inwiefern bestimmte
Schülerinnen und Schüler auf diese Weise keinen Zugang zu
bestimmten Inhalten erhalten: „Ein differenzierendes Curricu-
lum kann nämlich schnell zu einem reduzierten Curriculum
für bestimmte Schüler(gruppen) werden“ (Wischer und Traut-
mann (2012: 33ff.). Dass Lehrkräfte Lernziele und Anforde-
rungen abhängig von der sozialen Herkunft der Schülerinnen
und Schüler formulieren, zeigt eine niederländische Studie von
Jungbluth (1994) (vgl. auch Sturm 2011: 101f.).
4 Kooperation von Lehrkräften im inklusiven Unterricht
Ein zentrales Element zur Gestaltung und Entwicklung in-
klusiver Lehr-Lernsituationen ist die Zusammenarbeit von
Professionellen mit unterschiedlichen Kompetenzprolen.1
Die Bedeutung der Kooperation von Lehrkräften für die Um-
setzung von gutem Unterricht wird seit vielen Jahren inten-
siv diskutiert (vgl. Terhart und Klieme 2006, Lütje-Klose und
Urban 2014, Werning und Arndt 2013). Die Entwicklung ko-
1 Nachfolgend wird die Kooperation von Lehrkräften mit unter-
schiedlicher Qualikation fokussiert, zugleich bezieht sich die
Arbeit im multiprofessionellen Team nicht nur auf die Lehrkräfte,
sondern auch auf verschiedene Fach- sowie Assistenzkräfte.
36 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
operativer Strukturen an Schulen ist ebenso ein wichtiger Be-
standteil zur erfolgreichen Umsetzung von Inklusion. So stellt
Reh (2008) mit Blick auf die bisherige Diskussion die überein-
stimmend hervorgehobene Relevanz von „institutionalisierten
Kooperationsformen“ für eine zielgerichtete Schulentwicklung
heraus. Arndt und Werning (2013) verdeutlichen in ihrer qua-
litativen Fallstudie zur Kooperation von Regelschullehrkräften
und Lehrkräften für Sonderpädagogik an einer Gesamtschule,
dass eine Kooperationsform im Unterricht stark von den zur
Verfügung stehenden Kooperationsmöglichkeiten außerhalb
der Unterrichtszeit, insbesondere von gemeinsamer Unter-
richtsvorbereitung, abhängig ist. Dass hierfür oft nicht genü-
gend Zeit zur Verfügung gestellt wird, wird in vielen nationa-
len und internationalen Studien und Texten kritisiert (vgl. z.B.
ebd.; Fennick und Liddy 2001; Friend, Cook, Hurley-Chamber-
lain und Shamberger 2010; Scruggs, Mastropieri und McDufe
2007).
In verschiedenen Untersuchungen wird die Kooperation von
Regelschullehrkräften und Lehrkräften für Sonderpädagogik
im Primarbereich leichter als im Sekundarbereich beschrieben,
was unter anderem auf den Fachunterricht im Sekundarbereich
zurückgeführt wird (vgl. Amrhein 2011; Arndt und Werning
2013; Wessel 2005). Häug wird der Kooperation zwischen
Förder- und Regelschullehrkräften eine Entlastungsfunktion
zugeschrieben (vgl. Reh 2008; Scruggs, Mastropieri und Mc-
Dufe 2007). Dennoch funktioniert die Kooperation von För-
der und Regelschullehrkräften nicht von vornherein selbstver-
ständlich gut (vgl. Scruggs, Mastropieri und McDufe 2007).
„When professionals from different disciplines with different
frames of reference make decisions about student needs, they
are likely to disagree about desired outcomes […]” (Conder-
man 2011: 222). Shippen et al. (2011:42) stellen in ihrer Studie
unterschiedliche Gewichtungen der Regel- und Förderschul-
lehrkräfte fest: „(…) special educators individualize instruction
37
Inklusive schulische Bildung
for students with disabilities to a much greater extent than do
general educators“. Die geteilte Verantwortung für alle Schü-
lerinnen und Schüler – unabhängig vom Förderbedarf – wird
in der nationalen und internationalen Literatur als äußerst re-
levant herausgestellt (vgl. z.B. Löser 2013; Perner und Porter
2008).
Obwohl das gemeinsame Unterrichten zweier Lehrpersonen
verschiedene Formen annehmen kann, zeigt sich, dass vielfach,
auch aufgrund fehlender zeitlicher Ressourcen äußere Diffe-
renzierungsformen umgesetzt werden, also Schülerinnen und
Schüler aus dem Regelunterricht herausgenommen und außer-
halb des Klassenverbandes gefördert werden (vgl. u.a. Arndt
und Werning 2013; Lütje-Klose, Urban, Werning und Willen-
bring 2005; Anliker, Lietz und Thommen 2008, Moser und
Kropp 2015). Zugleich werden gerade mit Formen der inten-
siveren Kooperation Potentiale für den inklusiven Unterricht
verbunden (vgl. Friend, Cook, Hurley-Chamberlain und Sham-
berger 2010; Lütje-Klose und Urban 2014).
5 Schluss
In diesem Beitrag wurden Facetten einer inklusiven Schul- und
Unterrichtsentwicklung angesprochen. Dabei zeigt sich, dass
es weder den einen richtigen Weg in der Schul- noch in der
Unterrichtsentwicklung gibt. Gleichwohl ist versucht worden,
Merkmale, Herausforderungen und Spannungsfelder heraus-
zuarbeiten, die bei der Umsetzung inklusiver Bildung zu be-
rücksichtigen sind. Während diese in diesem Beitrag stärker
übergeordnet betrachtet wurden, bedarf es – neben schulstu-
fenspezischen Zugängen (vgl. u.a. Biewer, Böhm und Schütz
2015, Kiel 2015, Franz, Trumpa und Esslinger-Hinz 2014) – ins-
besondere der Konkretisierung im Sinne einer fachdidakti-
schen Auseinandersetzung (vgl. Amrhein und Dziak-Mahler
2014; Musenberg und Riegert 2015; Trumpa et al. 2014).
38 Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt
Grundlegend verweist Inklusion nicht auf einen Zustand, der
abschließend erreicht werden kann, sondern auf einen Entwick-
lungsprozess, der geprägt ist durch das Bestreben, Exklusion
und Marginalisierungen zu minimieren und Bildungschancen
sowie soziale Partizipation zu maximieren. Dies setzt voraus,
Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und dem pädagogi-
schen Handeln reexiv zu begegnen. Inklusive Schulentwick-
lung und Unterrichtsgestaltung erfordern somit sowohl die Be-
reitschaft zur kritischen (Selbst-)Reexion und pädagogische
Kreativität als auch Strukturen und die dafür notwendigen
Ressourcen.
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Inklusive sprachliche Bildung 47
Inklusive sprachliche Bildung – Perspektiven aus der Sicht
der Sprachdidaktik
Michael Becker-Mrotzek
Der Beitrag geht der Frage nach, welche Herausforde-
rungen sich für die Sprachdidaktik und den Deutschun-
terricht aus einer inklusiven sprachlichen Bildung erge-
ben. Behandelt wird u.a. die Frage, welche empirischen
Erkenntnisse bislang zum inklusiven Deutschunterricht
vorliegen und welche theoretischen und praktischen
Schlussfolgerungen sich daraus herleiten lassen.
Mit der Ratizierung der UN-Behindertenrechtskonvention
(2006) durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2009
steigt kontinuierlich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), die in sog. Regel-
klassen unterrichtet werden. Damit ist ein weitreichender und
umfassender Umbau des gesamten Bildungssystems und da-
mit auch des gegliederten Schulsystems verbunden. Denn seit
etwa 100 Jahren spielen die Sonder- bzw. Förderschulen bei der
Beschulung von Schülerinnen und Schüler mit SPF eine zentra-
le Rolle, was sich nicht nur in eigenen Schulstrukturen nieder-
schlägt, sondern auch in den zugehörigen Studiengängen, Lehr-
plänen und Berufsverbänden etc. Für den Deutschunterricht
und die Fachdidaktik Deutsch ist in diesem Zusammenhang bei-
spielsweise wichtig, dass es einen eigenen Förderschwerpunkt
Sprache gibt, der u.a. zur Folge hat, dass etwa Kinder und Ju-
gendliche mit Sprachentwicklungsstörungen in Förderschulen
unterrichtet werden; das Gleiche gilt für Kinder und Jugendli-
che mit Einschränkungen des Hörvermögens. Diese Tradition
hat zu den bestehenden Ausbildungs- und Schulstrukturen,
dem damit verbundenen professionellen Selbstverständnis
der beteiligten Akteure sowie der tradierten getrennten Zu-
48 Michael Becker-Mrotzek
ständigkeit geführt, wonach Förderschulen für diejenigen zu-
ständig sind, die in irgendeiner Weise den Anforderungen der
Regelschule vermeintlich oder faktisch nicht gewachsen sind.
Die Entscheidung, künftig alle Kinder und Jugendlichen un-
abhängig von kognitiven, sprachlichen, emotionalen oder kör-
perlichen Einschränkungen vom Grundsatz her gemeinsam zu
unterrichten, ist eine normative politische Entscheidung, die
nicht evidenzbasiert gefallen ist. Das bedeutet, sie wurde nicht
deswegen getroffen, weil empirische Studien Lernvorteile für
ein inklusives Schulsystem etwa für bestimmte Schülergruppen
oder bestimmte andere Wirkungen gezeigt hätten, sondern um
die Segregation bestimmter Kinder und Jugendlichen zu ver-
meiden. Damit sind für die Bildungspraxis, die Bildungsfor-
schung und die Bildungsadministration zahlreiche Herausfor-
derungen verbunden, von denen einige für die Sprachdidaktik
relevante hier skizziert werden sollen.
1 Ziele eines inklusiven Deutschunterrichts
Für einen inklusiven Deutschunterricht ist neu zu bestimmen,
worin die zentralen Ziele bestehen sollen. Dabei kann die Dis-
kussion um einen engen oder weiten Inklusionsbegriff hier
nicht nachgezeichnet werden. Ein eher enges Verständnis von
Inklusion meint die evidenzbasierte Förderung von Schülerin-
nen und Schülern mit diagnostizierten sonderpädagogischen
Förderbedarfen; ein eher weites bezieht sich auf den Abbau
von (physischen, sozialen und psychischen) Barrieren der schu-
lischen Teilhabe von allen Schülerinnen und Schülern. Diese
Konzepte sind nicht grundsätzlich unvereinbar, entstammen
aber unterschiedlichen Denktraditionen (vgl. Grosche 2015).
Die Ziele eines gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen
und Schülern mit und ohne Einschränkungen ergeben sich
nicht einfach aus der Addition der bisherigen Zielsetzungen
Inklusive sprachliche Bildung 49
der Förder- und Regelschulen. Neben den allgemeinen päda-
gogischen Zielsetzungen ist für die einzelnen Lernbereiche des
Deutschunterrichts neu zu bestimmen, welche Kompetenzen
wann und von wem zu erreichen sind. Die Kompetenzen sind
in den Bildungsstandards zwischenzeitlich für alle Schulstu-
fen von der Primarstufe über die Sekundarstufe bis hin zum
Abitur beschrieben, allerdings in Form von Regelstandards.
Das bedeutet, die Standards beschreiben, welche Kompeten-
zen die Schülerinnen und Schüler in der Regel erreichen sollen;
damit verzichten die Standards bewusst nicht nur auf die Fest-
legung von Mindeststandards, d.h. auf die Bestimmung der-
jenigen Fähigkeiten, ohne die niemand die Schule verlassen
sollte, sondern auch auf eine Differenzierung für unterschied-
liche Lernergruppen, wie sie für einen zieldifferenten Unter-
richt erforderlich wären. Dabei stellt sich die Frage, ob solche
Zielsetzungen in Form von differenzierten Bildungsstandards
a priori gesetzt werden können oder sollen, oder ob es hierzu
einer empirischen Fundierung bedarf. Denn wir wissen nicht,
welche Ziele im gemeinsamen Unterricht von wem erreicht
werden können. Angesichts der zentralen Bedeutung der Lese-
und Schreibkompetenz in unserer literalen Gesellschaft wäre
etwa zu diskutieren, welcher Stellenwert dem Erwerb des Le-
sens und Schreibens für alle zukommen soll.
2 Konzepte für einen inklusiven Deutschunterricht
Aufgrund der oben skizzierten historischen Situation fehlt es
bislang fast vollständig an umfassenden theoretischen Kon-
zepten, wie der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und
Schülern mit unterschiedlichen Fähigkeiten bzw. mit hetero-
genen Lernvoraussetzungen gestaltet werden kann. Lediglich
im Rahmen der Grundschulpädagogik liegen erste konzeptio-
nelle Ansätze vor (vgl. Ritter und Hennies 2013). Für einen in-
50 Michael Becker-Mrotzek
klusiven Deutschunterricht stellt sich ein breites Spektrum an
Fragen in Bezug auf die Lernvoraussetzungen und die sprach-
liche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, die fachspe-
zischen Themen und Inhalte sowie Lehr-Lernmethoden. Die
altersbezogene Spannweite reicht von der Grundschule, in
der der Erwerb von Schrift- und Textkompetenz (Lesen- und
Schreibenlernen) im Vordergrund stehen, über die Sekundar-
stufe I mit dem Ausbau der mündlichen und schriftlichen Fä-
higkeiten sowie der Ausweitung der Textgenres und der fach-
spezischen Kenntnisse bis hin zur gymnasialen Oberstufe mit
ihrer propädeutischen Funktion. In dieser Altersspanne nden
bedeutsame Sprachentwicklungsprozesse statt, die eng ver-
knüpft sind mit anderen, etwa kognitiven oder körperlichen
Entwicklungsprozessen, die unmittelbare Auswirkungen auf
Themen und Methoden haben.
Konzeptionell zu klären ist etwa die Frage nach der Vermittlung
basaler Lese- und Schreibkompetenzen sowie bildungssprach-
licher Fähigkeiten, weil diese eine wesentliche Voraussetzung
für die Teilhabe an Bildung und Gesellschaft darstellen. Dabei
ist eine Beschränkung auf die Lesekompetenz zu vermeiden,
um einer aktuell häug zu beobachtenden Tendenz zur Ver-
meidung von Schreibaufgaben entgegenzuwirken, weil ins-
besondere das Schreiben eigener Texte wegen der gegenüber
dem Mündlichen verlangsamten Prozesse erhebliche epistemi-
sche Potentiale für alle Lernerinnen und Lerner bietet. Hier gilt
es theoretisch und empirisch auszuloten, welche Kompetenz-
niveaus von unterschiedlichen Lernergruppen zu erreichen
sind, um auf diese Weise mögliche und realistische Ziele für
einen zieldifferenten Unterricht zu ermitteln. Denn gerade bei
starken kognitiven oder sprachlichen Einschränkungen müs-
sen die erreichbaren Ziele bekannt sein.
Neben der Vermittlung fachübergreifender basaler sprachli-
cher Fähigkeiten geht es in einem inklusiven Deutschunterricht
auch um fachspezische Kompetenzen und Kenntnisse; hierzu
Inklusive sprachliche Bildung 51
gehören u.a. orthographische und grammatische Fähigkeiten,
Genrekenntnisse, literar-ästhetische Erfahrungen, sprachhisto-
risches Wissen und Sprachreexion. Insbesondere für diesen
Bereich sind mindestens die beiden folgenden Spannungsfel-
der zu bearbeiten: In welchem Verhältnis stehen Verfahren
der Individualisierung und Differenzierung auf der einen und
das Lernen am gemeinsamen Gegenstand im Klassenverband
auf der andere Seite? Die große Heterogenität in Bezug auf
die unterschiedlichen Voraussetzungen verlangen adaptive
Lehr-Lernverfahren, die mit zunehmender Komplexität von
Themen und Kompetenzen Gefahr laufen, das gemeinsame
Lernen am selben Gegenstand aus dem Blick zu verlieren, weil
es keinen kleinsten gemeinsamen thematischen Nenner mehr
gibt. Das impliziert ein zweites Spannungsfeld, nämlich die
Frage nach dem Verhältnis von Binnen- und Außendifferenzie-
rung, die unmittelbar das grundlegende Inklusionsverständnis
betrifft. Bedeutet Inklusive Schule, dass alle Schülerinnen und
Schüler in allen Fächern und in allen Stunden gemeinsam ler-
nen, oder sind hier auch andere Modelle denkbar, bei denen
stundenweise leistungsdifferenzierende Lerngruppen gebil-
det werden, um so allen Beteiligten in bestimmten Phasen eine
maximale, weil hoch adaptive Lernförderung zu ermöglichen?
Viele dieser Fragen stellen sich schon jetzt in der Praxis und
werden dort auch bearbeitet, es fehlt aber an theoretischen
Konzepten und empirischen Studien.
Am Beispiel der Leichten Sprache kann man beobachten, was
passieren kann, wenn es an überzeugenden theoretischen Kon-
zepten für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme man-
gelt. Das Netzwerk Leichte Sprache (http://leichtesprache.org,
28.04.2016) ist eine soziale Bewegung von und für Menschen
mit sprachlichen Schwierigkeiten, die sich zum Ziel gesetzt
hat, wichtige Texte in leicht verständlicher Form zu verfassen
oder zu übertragen, damit diese auch von Menschen mit einge-
schränkten sprachlichen und/oder kognitiven Möglichkeiten
52 Michael Becker-Mrotzek
verstanden werden können. Sie reagiert damit auf eine sehr
spezische Art auf den Umstand, dass viele Menschen mit dem
Verstehen komplexer Texte überfordert sind. Seit einiger Zeit
befasst sich auch die Linguistik und Sprachdidaktik (vgl. Bock
i.E. sowie i.d.B. Bredel und Maaß 2016) mit dem Phänomen.
3 Empirisch gesichertes Wissen über inklusiven
Deutschunterricht
Es fehlt bislang des Weiteren fast vollständig empirisch gesi-
chertes Wissen über die Praxis und Wirkungen eines inklusi-
ven Deutschunterrichts. Überall entstehen aktuell praxis- und
theoriegeleitet Konzepte eines inklusiven Unterrichts, die den
jeweiligen konkreten Bedingungen geschuldet sind, ohne dass
diese systematisch erfasst und dokumentiert wären. Es fehlt
aber auch Wissen über den konkreten inklusiven Deutschun-
terricht: Wie sieht der inklusive Deutschunterricht in den un-
terschiedlichen Jahrgangsstufen, Schulformen und Bundeslän-
dern konkret aus? Und auch über die Wirkungen inklusiven
Unterrichts auf die Lernleistungen, die emotionale Entwick-
lung oder das Klassenklima liegen nur sehr wenige empiri-
sche Befunde vor. Zu den – auch in der breiteren Öffentlich-
keit diskutierten – Fragen gehören die nach dem Outcome für
die Schülerinnen und Schüler mit und ohne SPF: Lernen die-
se im inklusiven Deutschunterricht mehr oder weniger als im
getrennten Unterricht? Zu diesen Fragen gibt es erste empiri-
sche Studien von Aleksander Kocaj et al. (2014), von Elke Wild
et al. (2015) und von Markus Gebhardt et al. (2015); die beiden
erstgenannten Studien beziehen sich auf die Grundschule, die
letztgenannte auf die Sekundarstufe I.
Wild et al. (2015) berichten aus dem interdisziplinären Projekt
Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und ex-
klusiven Förderarrangements (BilieF), das Auswirkungen unter-
Inklusive sprachliche Bildung 53
schiedlicher Lernarrangements auf die Lese- und Schreibleis-
tungen, soziale Integration, Motivation und Wohlbenden der
Kinder mit SPF untersucht. Sie zeigen, dass bei Kontrolle der
Intelligenz Kinder aus exklusiven Förderschulen schlechter le-
sen und schreiben können als Kinder in inklusiven Förderarran-
gements; allerdings gibt es deutliche Überlappungen zwischen
den einzelnen Fördersettings, so dass die Schlussfolgerung
nicht zulässig ist, dass Kinder mit SPF in inklusivem Unterricht
in jedem Fall besser lernen als in der Förderschule. In Bezug
auf die psychosozialen Merkmale zeigen sich keine bedeutsa-
men Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Gruppen.
Aleksander Kocaj et al. (2014) untersuchen anhand von Daten
des bundesweiten IQB-Ländervergleichs Primarstufe 2011, ob
sich die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit SPF
an Regel- und Förderschulen unterscheiden. Dabei zeigt sich,
dass Kinder mit SPF an Grundschulen signikant höhere Kom-
petenzwerte im Lesen, Zuhören und in Mathematik aufweisen
als vergleichbare Schülerinnen und Schüler an Förderschulen.
Die Effekte sind besonders stark für Kinder mit dem Förder-
schwerpunkt Lernen, weniger deutlich dagegen für solche
mit dem Förderschwerpunkt Sprache. Gebhardt et al. (2015)
untersuchen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern
ohne SPF in Integrationsklassen und Regelklassen im Rahmen
einer zusätzlichen Erhebung neunter Schulklassen von PISA
2012. Dabei ergibt sich ein uneinheitliches Bild: In Bezug auf
die schulischen Kompetenzen und das Schulklima zeigen sich
keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Klassen, aller-
dings gibt es einzelne Klassen, die ein anderes Bild zeichnen, so
dass die Ergebnisse insgesamt widersprüchlich sind.
Die bisherigen Studien lassen sich wie folgt zusammenfas-
sen: Es handelt sich bislang um einzelne Studien mit kleinen
Fallzahlen, die untersuchen, wie sich Unterricht in inklusiven
Settings auf Lernleistungen und andere Faktoren auswirkt,
ohne dass andere relevante Faktoren (Förderbedarf, Anzahl
54 Michael Becker-Mrotzek
Schülerinnen und Schüler mit SPF, Unterrichtskonzept, Lehrer-
kompetenz etc.) in dem erforderlichen Maß kontrolliert wer-
den konnten, und die sich überwiegend auf Schülerinnen und
Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen beziehen. Diese
Studien lassen leichte Vorteile inklusiven Unterrichts in Bezug
auf die Lernleistungen für Schülerinnen und Schüler mit SPF
erkennen, zeigen keine Nachteile für Schülerinnen und Schüler
ohne SPF und zeigen in Bezug auf Klassenklima und Wohlbe-
nden keine eindeutigen Ergebnisse. Hier sind also dringend
weitere Studien erforderlich, um mehr über inklusiven Unter-
richt und seine Wirkungen zu erfahren.
4 Schlussfolgerungen
Was folgt daraus? Es ist festzustellen, dass in Bezug auf einen
inklusiven Deutschunterricht in allen Bereichen – Konzeptent-
wicklung, Theoriebildung, Empirie – erhebliche Desiderata
bestehen, die aufgrund der historischen Entwicklung und der
aktuell sehr schnellen Umsetzung inklusiven Unterrichts er-
klärbar und niemanden als Versagen anzurechnen sind. Wenn
das Ziel inklusiven Unterrichts darin besteht, die gesamte Brei-
te der heterogenen Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen,
niemanden auszusondern und alle Schülerinnen und Schüler
gemeinsam zu unterrichten, dann haben wir es mit einem wei-
ten Inklusionsverständnis zu tun. Bei einem solchen Verständ-
nis bilden Lerner mit eingeschränkten kognitiven, sprachli-
chen, emotionalen oder körperlichen Möglichkeiten nur eine
Zielgruppe von Inklusion; hinzu kommen solche mit anderen
Voraussetzungen, die keine Einschränkung darstellen, aber
dennoch im Unterricht berücksichtigt werden müssen; das
gilt etwa für mehrsprachige Kinder und Jugendliche, die we-
gen ihrer Mehrsprachigkeit einerseits oft über eine besondere
Sprachbewusstheit verfügen, andererseits aber auch besondere
Anstrengungen für den Erwerb und die Aufrechterhaltung ih-
Inklusive sprachliche Bildung 55
rer Mehrsprachigkeit unternehmen müssen – hier gilt es Hür-
den abzubauen und Mehrsprachigkeit zu würdigen.
Für die Entwicklung eines in diesem Sinne weiten inklusiven
(Deutsch-)Unterrichts erscheint es dringend erforderlich, die
angesprochenen theoretischen, konzeptionellen und empiri-
schen Desiderata interdisziplinär zu bearbeiten. Dafür müssen
die Fachdidaktik, die Bildungswissenschaft, die pädagogische
Psychologie und die Sonderpädagogik zusammenarbeiten.
Denn es geht – und darauf verweist der Begriff Inklusion – nicht
mehr um die Integration bestimmter Lernergruppen in eine
andere, sondern um den gemeinsamen Unterricht grundsätz-
lich heterogener Gruppen. Dabei wird es in einem Wechsel von
konzeptioneller Entwicklungsarbeit, empirischer Überprüfung
und Theoriebildung darum gehen, neue didaktische Konzep-
te jenseits der tradierten Modelle zu entwickeln, die offen sein
müssen für unterschiedliche Formen des gemeinsamen Unter-
richts, für Binnendifferenzierung ebenso wie für Formate der
äußeren Differenzierung.
5 Literatur
Bock, Bettina (i.E.): Barrierefreie Kommunikation als Vorausset-
zung und Mittel für die Partizipation benachteiligter Zielgruppen.
Ein (polito-)linguistischer Blick auf Probleme und Potenziale von
„Leichter“ und „einfacher Sprache“. In: Friedemann Vogel/Cle-
mens Knobloch (Hrsg.): Sprache und Demokratie. Themenheft auf
Linguistik Online
Bredel, Ursula & Maaß, Christiane (2016): Leichte Sprache: Theoreti-
sche Grundlagen Orientierung für die Praxis. Mannheim: Duden-
verlag
Gebhardt, Markus; Heine, Jörg-Henrik & Sälzer, Christine (2015):
Schulische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne
sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht.
Vierteljahresschrift für Heilpädagogik 84 (3). S. 246–258
56 Michael Becker-Mrotzek
Grosche, Michael (2015): Was ist Inklusion? Ein Diskussions- und
Positionsartikel zur Denition von Inklusion aus Sicht der empi-
rischen Bildungsforschung. In: Poldi Kuhl/Petra Stanat/Birgit
Lütje-Klose/Cornelia Gresch, Hans Anand Pant/Manfred Prenzel
(Hrsg.): Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpäda-
gogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen. Wiesbaden:
Verlag für Sozialwissenschaften. S. 17–39
Kocaj, Aleksander; Kuhl, Poldi; Kroth, Anna J.; Pant, Hans Anand &
Stanat, Petra (2014): Wo lernen Kinder mit sonderpädagogischem
Förderbedarf besser? Ein Vergleich schulischer Kompetenzen zwi-
schen Regel- und Förderschulen in der Primarstufe. In: Köln Zeit-
schrift für Soziologie 66. S. 165–191
Ritter, Michael & Hennies, Johannes (2013): Grundfragen einer inklu
siven Deutschdidaktik – Ein Problemaufriss. Zeitschrift für Inklusi-
on – online.net
URL: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-on-
line/article/view/28/28, [05.07.2016]
Wild, Elke; Schwingel, Malte; Liitje-Klose, Birgit; Yotyodying, Silli-
pan; Gorges, Julia; Stranghönel, Daniela; Nelllnann, Phillip; Ser-
ke, Björn & Kurnitzki, Sarah (2015): Schülerinnen und Schüler mit
dem Förderschwerpunkt Lernen in inklusiven und exklusiven
Förderarrangements; Erste Befunde des BiLieF-Projektes zu Leis-
tung, sozialer Integration, Motivation und Wohlbenden. In: Un-
terrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernforschung 43 (1). S. 7–21
57
Heterogenität im Deutschunterricht
Heterogenität im Deutschunterricht
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Dieser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die bil-
dungspolitischen Aspekte zum Umgang mit Heterogeni-
tät, um von diesen ausgehend konkreter auf Möglichkei-
ten des methodischen Umgangs mit dieser in der Praxis
einzugehen. Abschließend werden – mit einem Exkurs
zu Kanada – die Chancen eines inklusiven Deutschunter-
richts dargelegt.
1 Einleitung
Im Rahmen eines Beitrages zur „Heterogenität“ in diesem Band
stellt sich zunächst die Frage der Verwendung des Ausdrucks.
Seine Bedeutung ist zunehmend durch einen bestimmten All-
tagsgebrauch geprägt und wird in diesem Beitrag zunächst
hinsichtlich seines Gegenstandsbereichs betrachtet.
Heterogenität ist immer Normalität – auch in schulischen Lern-
gruppen, auch im Deutschunterricht. Die Bedürfnisse der ein-
zelnen Lernenden einer Gruppe sind nie gleichartig. Zu allen
Zeiten gab und gibt es Schülerinnen und Schüler, für die ein
auf den Durchschnitt ausgerichteter Unterricht nicht günstig
ist oder war; immer gibt es Lernende, die über- oder unterfor-
dert sind (die Streuung der Orthographiekompetenzen bietet
ein alltägliches Beispiel dafür). Zweifelsohne hat sich in den
letzten Jahren allerdings die Bandbreite und Vielfalt der Be-
dürfnisse der Einzelnen u.a. durch die Einführung von Gemein-
schaftsschulen, die aktuell zahlenmäßig bedeutsamen Migra-
tionsbewegungen und die Umsetzung der UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wesentlich
58
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
vergrößert. Die Herausforderungen heterogenen Unterrich-
tens sind grundsätzlich jedoch nicht neu. Ihnen zu begegnen,
kann nicht durch die Kontrastierung von Selektion einerseits
und Verzicht auf jegliche äußere Differenzierung andererseits
gelingen. Vielmehr stellt sich als empirisch zu klärende Fra-
ge, wie und in welchem Ausmaß sich Heterogenität produktiv
handhaben lässt und welche Bedingungen erfolgreiches Leh-
ren und Lernen begünstigen. Je mehr empirisch abgesicherte
Antworten sich auf diese Fragen nden, desto eher wird sich
auch die bisher allenfalls marginal stattndende Differenzie-
rung in weniger heterogene Gruppen verbessern.
Die Bewältigung des Lehrens in heterogenen Lerngruppen ist
zu großen Teilen eine Frage von ausreichender Qualizierung
einerseits und geeigneten Methoden und Materialien ande-
rerseits. Im Hinblick auf die Ausbildungsqualität ist festzu-
stellen, dass sich die Studien- und Prüfungsordnungen leider
erst jüngst verändern, um eine bessere Ausgangssituation zu
schaffen. Fächerübergreifende oder fachinterne Veranstaltun-
gen zu Inklusion und Zweitspracherwerb werden zunehmend
angeboten. Inklusionsbezogene Forschungsschwerpunkte sind
aber nach wie vor deutlich in den Rehabilitations- und Bil-
dungswissenschaften verortet. Hier zeigt sich in den Fachdi-
daktiken erkennbarer Nachholbedarf. Auch im Hinblick auf
Methoden und Materialien sind enorme Desiderate festzustel-
len. Hilfreich wäre, Vorhandenes einer empirischen Überprü-
fung und ggf. einer Überarbeitung zu unterziehen und Neues
für konkrete inklusive Settings zu entwickeln, zu erproben, zu
evaluieren und entsprechend zu optimieren. Gewiss ist immer-
hin: Nie waren die Kompensationsmöglichkeiten durch Com-
puter- und Medieneinsatz im heutigen Umfang gegeben. Es
gilt, sie gezielt als Entlastungsmöglichkeiten für Lernende und
Lehrende einzusetzen. Diesbezüglich sind zunächst Zielgrup-
pen und Lerngegenstände differenziert zu betrachten, um ggf.
59
Heterogenität im Deutschunterricht
anschließend Überschneidungsfälle wieder zusammenzufüh-
ren (Kapitel 3.2).
Der Beitrag geht von bildungspolitischen Aspekten aus (Kap-
pitel 2), konkretisiert diese anhand von Differenzierungsmög-
lichkeiten im Deutschunterricht (Kapitel 3), um abschließend
Chancen von Inklusion (Kapitel 4) herauszuarbeiten.
2 Begriffsbetrachtung und Gegenstandsbereich
Heterogenität im Unterricht bezieht sich zunächst auf Merkma-
le, die unterschiedlich ausgeprägt sind. Im Unterricht, in die-
sem Fall im Deutschunterricht, spielen jedoch einerseits nicht
alle Merkmale eine Rolle. Es ist hier beispielsweise gänzlich ir-
relevant, ob ein Schüler oder eine Schülerin bzw. eine Lehrkraft
rote oder braune Haare hat oder von großer oder kleiner Statur
ist. Andererseits sind nicht nur Schülermerkmale relevant, da
Heterogenität im Unterricht nicht nur bezogen auf die Schüler
anzutreffen ist, sondern auch im Hinblick auf beispielsweise
Lehrkräfte, Klassenraumgrößen, Ausstattung mit Lehr-/Lern-
materialien etc.
Die unterschiedlichen Schulleistungsstudien wie PIRLS, IGLU,
TIMMS, PISA und ICILS zeigen, dass erhebliche Leistungsun-
terschiede zwischen Nationen, Bundesländern und Schulen
vorliegen können (Klieme et al. 2010). Bereits in der Grund-
schule unterscheidet sich das Leistungsniveau von starken
und schwachen Klassen um etwa ein Jahr Schulunterricht. Zu
dieser Heterogenität tragen zahlreiche Faktoren bei, wie zum
Beispiel der Einzugsbereich einer Schule oder der Anteil der
Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. Tiedemann und Bill-
mann-Mahecha 2004).
Es stellt sich die Frage, in welchen Bereichen Heterogenität eine
Bedeutung für die Planung und Durchführung von (Deutsch-)
60
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Unterricht hat. Eine hilfreiche Begriffsdenition ist daher in
Anlehnung an Stöger und Ziegler die folgende:1
Heterogenität liegt dann vor, wenn zur Erreichung identischer
curricularer Ziele unterschiedliche didaktische und methodi-
sche Maßnahmen erforderlich sind.
Es ist also erforderlich zu erkennen, welchen Merkmalen im
(Deutsch-)Unterricht ein solches Gewicht beigemessen wird,
dass bestimmte didaktische oder methodische Maßnahmen
zur Erreichung identischer curricularer Ziele eingesetzt wer-
den müssen. Ab wann besteht demnach aufgrund von Hetero-
genität ein spezischer Handlungsbedarf? Hier greifen wir die
drei Bereiche Intelligenz, Erstsprache und Sonderpädagogi-
scher Förderbedarf heraus.
Intelligenz
Ein möglicher Indikator ist die Heterogenität bezüglich der In-
telligenz. Stöger und Ziegler (2013) führen beispielhaft Berech-
nungen für die sechste Jahrgangsstufe durch, da diese in den
aktuellen Diskussionen um längere gemeinsame Beschulung
die letzte wäre, in der eine Klasse ungeteilt unterrichtet würde,
die Heterogenität in dieser Jahrgangsstufe also noch maximal
hoch wäre. Zugrunde gelegt werden die Jahrgangsnormwer-
te des CFT-20-R, der ein weltweit anerkannter IQ-Test ist. Die
Beispielberechnungen wurden für Klassenstärken von 20 und
25 Schülern durchgeführt (siehe Abbildung 1).
Bei einer Klassenstärke von 20 Schülerinnen und Schülern
zeigt sich in den Beispielberechnungen von Stöger und Ziegler
(2013), dass nur zwei Lernende auf dem altersgemäßen Durch-
schnittswert liegen, bei einer Klassenstärke von 25 sind es drei.
Es weichen bei einer Klassenstärke von 20 jedoch vier Schü-
lerinnen und Schüler minimal drei Jahrgangsstufen nach un-
1 Vgl.: http://www.schulpaedagogik-heute.de/conimg/SH7_41.pdf S. 7
[26.07.2016].
61
Heterogenität im Deutschunterricht
ten und ca. fünf Lernende minimal drei Jahrgangsstufen nach
oben ab. Bei einer Klassenstärke von 25 weichen zwischen vier
und fünf Schülerinnen und Schüler minimal drei Jahrgangsstu-
fen nach unten und zwischen sechs und sieben Schülerinnen
und Schüler minimal drei Jahrgangsstufen nach oben von der
durchschnittlichen Intelligenzentwicklung ab, was zeigt, dass
die Heterogenität für das Merkmal Intelligenz sehr ausgeprägt
ist.
Abb. 1: Jahrgangsmäßige Einordnung von Schülern der 6. Jahrgangs-
stufe gemäß ihres gemessenen Intelligenzquotienten, entnommen
aus Stöger und Ziegler.
(http://www.schulpaedagogik-heute.de/conimg/SH7_41.pdf, S. 14)
Erstsprachen
In den meisten Ländern dieser Welt ist Mehrsprachigkeit der
Normalfall (Crystal 1995: 360). Die vordergründig sprachlich
homogenen europäischen Nationalstaaten sind erst durch den
62
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Nationalismus und häug durch staatliche Repressionen im
Kontext dessen sprachlich homogener geworden und sind es
längst nicht mehr. Die Integrationsbeauftragte der Bundes-
regierung geht 2014 davon aus, dass mit über 16 Millionen
Menschen jede/r Fünfte in Deutschland einen „Migrationshin-
tergrund“ hat. Ca. 30% der Schülerinnen und Schüler wachsen
mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrsprachig auf (vgl. Mikro-
zensus). Massumi et al. (2015) stellen in absoluten Zahlen dar,
dass sich seit 2006 die Anzahl neu zugezogener Kinder und
Jugendlicher mit einer Aufenthaltsdauer von unter einem Jahr
von 22.207 auf 99.472 im Jahr 2014 mehr als vervierfacht hat.
Im Verhältnis zur Gesamtheit der Gleichaltrigen beträgt der
Anteil zugezogener ausländischer Kinder und Jugendlicher
bundesweit 1,02 Prozent. In den einzelnen Bundesländern liegt
der Anteil dieser Kinder und Jugendlichen, welche die deut-
sche Sprache als Fremd- und Zweitsprache erwerben werden,
zwischen 0,56 und 1,79 Prozent (Stand 2014) (vgl. Massumi et
al. 2016: 6).
Der Sprachstand reicht bei der Einschulung nicht bei allen
mehrsprachig aufwachsenden Kindern aus, um sprachlich aus-
reichend am Unterricht partizipieren zu können, weshalb eine
Aufgabe auch des Deutschunterrichtes sein muss, den Erwerb
der Zweit- und Bildungssprache Deutsch zu unterstützen.
Sowohl in der nationalen als auch in der internationalen For-
schung besteht Einigkeit darüber, dass mehrsprachige Schü-
lerinnen und Schüler zusätzliche Unterstützung über die ge-
samte Schulzeit hinweg benötigen (vgl. Reich et al. 2002: 41f.).
Sonderpädagogischer Förderbedarf
In Folge der Konvention der Vereinten Nationen vom 13. De-
zember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen (VN-BRK), die in Deutschland 2009 in Kraft getreten ist
und von der KMK seit 2010 umgesetzt wird, werden Kinder
und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im-
63
Heterogenität im Deutschunterricht
mer mehr an Allgemeinbildenden Schulen beschult. Sonderpä-
dagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebo-
te, die weiterhin bestehen, beziehen sich auf die Bereiche:
- Lernentwicklung,
- emotionale und soziale Entwicklung,
- körperliche und motorische Entwicklung,
- Entwicklung des sprachlichen und kommunikativen Handelns.
In Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention garantieren
die Vertragsstaaten „ein integratives Bildungssystem auf allen
Ebenen und lebenslanges Lernen“. Der Normalfall soll danach
sein, dass Kinder „nicht aufgrund von Behinderung vom un-
entgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder
vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden“
(Artikel 24, Abs.2 a). Das allgemeine Bildungssystem soll je-
dem zugänglich sein.
Für den Deutschunterricht bedeutet dies die Beschäftigung mit
der Fragestellung, wie die Anbahnung und Vertiefung schrift-
sprachlicher sowie sprachlicher Kompetenzen so geschehen
kann, dass alle Kinder in ihren gerade im sonderpädagogischen
Bereich sehr unterschiedlichen Lernbedürfnissen, optimal ge-
fordert und gefördert werden können. Um diesen komplexen
Anforderungen eines inklusiven Deutschunterrichts allein im
Hinblick auf die Förderbedarfe in den Bereichen Deutsch als
Zweitsprache (DaZ) und Sonderpädagogik gerecht zu werden,
bedarf es aus unserer Sicht einer Verzahnung von Deutschdi-
daktik, DaZ-Didaktik und den verschiedenen sonderpädago-
gischen Didaktiken sowie der Allgemeinen Didaktik. Gleicher-
maßen muss parallel die Zusammenstellung bzw. Entwicklung
von Diagnose- und Lernmaterialien, die einen solchen passge-
nau individualisiert fördernden Unterricht erst ermöglichen, vo-
rangebracht werden (vgl. auch Berkemeier und Drinhaus 2014).
64
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Heterogenität besteht natürlich auch in weiteren Bereichen,
aufgrund derer schulpädagogische Maßnahmen erforderlich
sind, wie zum Beispiel das Bildungskapital oder das Lernka-
pital. Diese beziehen sich jedoch nicht explizit auf den Deut-
schunterricht, der hier fokussiert werden soll.
3 Möglichkeiten zum Umgang mit Heterogenität:
(Binnen-)Differenzierung
3.1 Kompetenzorientierung und innere Differenzierung als zwei
Seiten einer Medaille
Im Leben handlungsfähig zu werden ist das Ziel kompetenzori-
entierten Unterrichts. Unterrichtsformen, die — wie z.B. Pro-
jektunterricht oder forschendes Lernen — Handlungsfähigkeit
fordern und fördern, können z.T. anders wirken als vornehm-
lich kognitiv ausgerichteter Unterricht. Für eher bildungsferne
Lernende entsteht durch den Handlungszusammenhang häu-
g überhaupt erst die Sinngebung für den anstehenden Lern-
prozess. Für Lernende mit Förderbedarf im Hinblick auf die
geistige Entwicklung ist sinnliche Erfahrung gar unverzicht-
bar. Kognitiv starke Lernende bewältigen Lernprozesse auch
ohne Sinngebung ─ sinnvoll ist das gleichwohl nicht. Nur zu
wissen, wie z.B. historische Zusammenhänge erklärbar sind,
oder auch erfahrend nachzuvollziehen, wie sich reale Situati-
onen sozial ausgewirkt haben, macht einen qualitativen Un-
terschied. Auch sind z.B. für eine spätere beruiche Tätigkeit
Handlungskompetenzen ungleich wichtiger als die Fähigkei-
ten, die in herkömmlichen Aufnahmetests geprüft werden,
weshalb Assessment-Center hier zu aussagekräftigeren Ergeb-
nissen und die Bildungspläne zu Kompetenzverbesserungen
führen sollen. Interaktionsformen, die z.B. für den Unterricht
mit Lernenden im Förderbereich emotionales und soziales Ler-
65
Heterogenität im Deutschunterricht
nen vorgeschlagen werden, sind also keineswegs der Heteroge-
nität einer Lerngruppe geschuldet, sondern sind häug solche,
die ohnehin Merkmale guten Unterrichts sind. Dazu gehören
u.a. positive Bestärkung, gute inhaltliche Strukturierung und
Anwendungsbezug.
Wenn Unterricht grundsätzlich Kompetenzen fördern soll,
muss er an den individuell vorhandenen Kompetenzen an-
setzen. In stark heterogenen Lerngruppen geht an Individua-
lisierung offensichtlich kein Weg mehr vorbei, wenn alle Ler-
nenden vom Unterricht protieren können sollen. Bereits seit
Jahrzehnten ist der Ausdruck „(Binnen-)Differenzierung“ in
der Lehramtsausbildung üblich. Während eine diesbezügliche
fachdidaktische Theoriebildung bisher jedoch noch in weiten
Teilen fehlt, beweisen engagierte Praktikerinnen und Prakti-
ker insbesondere in inklusiven Settings, dass innere Differen-
zierung faktisch möglich ist. Dennoch kommt auch der äuße-
ren Differenzierung große Bedeutung zu. Additive Förderung
kann z.B. sinnvoll sein, wenn dadurch zusätzliche Lernzeit für
den Zweitspracherwerb gewonnen wird (ausgeführt in Berke-
meier und Kaltenbacher 2014). Im therapeutischen Kontext ist
sie oft sogar unumgänglich.
Die Basis für Differenzierung bildet die Kompetenzeinschät-
zung: Um eine Lerngruppe in homogenere Teillerngruppen
aufteilen zu können, bedarf es der Feststellung der einzelnen
Bedürfnisse im Hinblick auf den Lerninhalt bzw. die Ziel-
kompetenz. Sog. Förderpläne sollen dies unterstützen. Un-
ter formalen Gesichtspunkten (Handhabung) sind dafür ge-
nügend (auch digitale) Angebote auf dem Markt vorhanden
(z.B. www.foerderplaner.de). Sieht man sich Förderplanbei-
spiele an, so fällt aber auf, dass die Kompetenzen häug sehr
grob beschrieben werden oder Einzelfähigkeiten (z.B. beim
Schrifterwerb) unsortiert, also nicht lernfortschrittsorientiert
aufgelistet werden. Um Förderpläne für die Materialauswahl
sinnvoll nutzen zu können, braucht man sehr konkrete und
66
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
detaillierte Kompetenzpläne zu jedem fachlichen Kompetenz-
bereich, innerhalb derer die Leistungen der einzelnen Lerne
rinnen und Lerner verortet und die sinnvollen nächsten Schrit-
te (auch von den Erziehungsberechtigten) abgelesen werden
können. Je detaillierter die dafür notwendigen Kategorien
sind, umso besser kann die Förderung greifen; daher können
Stufenbeschreibungen aus Large-Scale-Untersuchungen al-
lenfalls einer ersten Orientierung dienen. Zwar liegen zu ei-
nigen Lernbereichen des Deutschunterrichts (z.B. Schrift- und
Orthographieerwerb) inzwischen relativ viele standardisierte
und nicht-standardisierte Tests vor, sie sind aber nur bedingt
für den alltäglichen Unterricht tauglich. Abgesehen von den
Kosten der Testunterlagen verfolgen z.B. die Screenings un-
ter ihnen mit der Erhebung von Gefährdungswahrscheinlich-
keiten einen ganz anderen Zweck. Viele Tests sind daher für
Förderzwecke gar nicht detailliert genug ausgerichtet. Nahezu
keiner ist an konkreten Unterricht anpassbar. Die Erarbeitung
und Evaluation praxistauglicher Kompetenzpläne ist wohl ein
eher langfristiges Ziel. Ihre Entwicklung kann nur in Zusam-
menarbeit von Fachdidaktik und Schulpraxis gelingen, wenn
die Instrumente unterrichtspraxistauglich sein sollen.
Im individualisierten Unterricht können Lehrende nicht in allen
Teilgruppen oder für alle Lernenden individuell permanent
präsent sein. Sie müssen im Hinblick auf die Beantwortung
von Fragen, Kontrollen und Hilfestellungen entlastet werden.
Eine ideale, aber kostenintensive Form ist bekanntlich das
Team-Teaching, mittels dessen die Lehr- und Beratungskapa-
zität verdoppelt werden, allerdings auch neuer Absprachebe-
darf entsteht. Gute Freiarbeitsmaterialien enthalten Formen der
Selbstkontrolle und standardisierte Hilfen, die bei Bedarf von
Lernenden selbstständig in Anspruch genommen werden kön-
nen. Halbstandardisierte Beratungsinstrumente wie z.B. den
„Code-Knacker“ für die Schreibberatung beim Schreiben von
Sachtextzusammenfassungen (Berkemeier et al. 2014) gibt es
67
Heterogenität im Deutschunterricht
bisher kaum. Hier werden individuelle Lehrerrückmeldungen
ressourcenschonend durch Standardisierung und kurze Codes
ermöglicht: Einem Problemstellung-Problemlösungs-Katalog
entnehmen die Lernenden dann die Code-Bedeutung sowie
eine Auswahl an Überarbeitungsvarianten und überarbeiten
die jeweilige Textstelle selbstständig, wozu sie wiederum eine
Rückmeldung erhalten. Um die in der schulischen Wirklichkeit
vorkommenden Probleme abzudecken, können solche Materi-
alien aber nur auf der Basis eines aufwändigen, mehrfachen
Zirkels von Implementierung, Evaluation und Überarbeitung
entstehen. Solche durch Teamteaching zusätzlichen oder durch
erhöhte Selbstständigkeit „frei“-gewordenen Ressourcen kön-
nen Lehrende gezielt dort einsetzen, wo Lernprozesse ohne
Untersetützung nicht ungestört weiterlaufen können.
3.2 Gewichtung und Anpassung der Anforderungen
Manche Kompetenzen sind von einigen Lernenden gar nicht
und von anderen längst erworben (z.B. die Handhabung von
Schnürsenkeln). In solchen Fällen bietet sich zieldifferentes
Lehren und Lernen an: Zur gleichen Zeit arbeiten verschiede-
ne Gruppen an unterschiedlichen Kompetenzen. Wenn aber
dieselbe Kompetenz auf unterschiedlichen Niveaus erworben
werden kann, kann kognitiv und/oder sprachlich und/oder
im Umfang differenziert werden. Während Schülerinnen und
Schüler mit Lernförderbedarf häug sowohl kognitiv als auch
sprachlich reduzierte Inhalte besser verarbeiten können, verfü-
gen solche mit Sprachheilbedarf, Hörschädigung oder Deutsch
als Zweitsprache häug über ausgeprägte kognitive Fähigkei-
ten. Die sprachliche Differenzierung kann sich auf mündliche
oder schriftliche Anforderungen beziehen oder auf die lexikali-
sche und grammatische Komplexität. Der Einbezug von Visua-
lisierung(sgrak)en (vgl. Berkemeier et al. 2014) kann dabei allen
Lernenden sowohl kognitive als auch sprachliche Entlastung
68
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
bzw. Unterstützung bieten. Eine besondere Bedeutung kommt
der Unterstützung durch technische Hilfen bei sprachlicher, au-
ditiver, visueller, körperlicher oder geistiger Einschränkung
zu (z.B. Audios, Videos, Talker, Braille, Spracherkennung
etc.). In der Sonderpädagogik fasst man diese Potenziale unter
dem Ausdruck „Unterstützte Kommunikation“ (UK) zusam-
men. Bei eingeschränkter Lernzeit aufgrund von (chronischen)
Krankheiten, Flucht oder anderen Lebensumständen ist in al-
len Fächern sorgsam zu prüfen, welche Lerngegenstände im
Hinblick auf zukünftige Aufgaben in Alltag und Beruf sowie
auf dem weiteren Bildungsweg zu den unverzichtbaren gehö-
ren.
Die Aufteilung in die Fachrichtungen der Sonderpädagogik er-
weckt bei Laien möglicherweise den Eindruck, die Zuordnung
von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf sei
trennscharf und nur diese Lernenden hätten besonderen För-
derbedarf. Tatsächlich nden sich nicht nur bei sog. Mehrfach-
behinderten, sondern auch in sog. Regelklassen häug mehrere
Bedingungsmerkmale: Hochbegabte sind z.B. mitunter kogni-
tiv im Unterricht so unterfordert, dass sie ─ wie auch manche
Kinder mit Lernförderbedarf ─ interaktiv durch Teilnahmslo-
sigkeit oder unpassend wahrgenommene Aktivitäten auffallen.
Kinder mit Lernförderbedarf und sozialen Problemen werden
durch ihre Lebensbedingungen am Lernen gehindert. Bei Ler-
nenden mit wenig Deutschkenntnissen ist oft ohne Weiteres
gar nicht zu entscheiden, ob eine sprachliche, eine kognitive,
eine emotionale, eine hör- oder sprachheilbezogene Förderung
notwendig ist. Eine Systematisierung des Feldes kann solche
Überschneidungen nicht vollständig abbilden. Die folgenden
Aussagen seien also prototypisch verstanden.
Abbildung 2 zeigt bereits auf den ersten Blick, dass unter-
schiedliche Zielgruppen in denselben Bereichen Unterstüt-
zungsbedarfe haben, die sich in den Anforderungen allerdings
stark unterscheiden können:
69
Heterogenität im Deutschunterricht
Art der Diffe-
renzierung
mögliche/r Ziel-
gruppe/
Förderschwer-
punkt
mögliche Maßnahmen
kognitiv geistige Entwick-
lung, Lernförde-
rung
Elementarisierung/inhaltliche
Vereinfachung, Scaffolding,
Lebenswelt- und Erfahrungs-
bezug, praxisnahes Handeln
Hochbegabte komplexere Inhalte, Prob-
lemlöseaufgaben, Wissen-
schaftspropädeutik
sprach-
lich münd-
lich Sprachheilbedarf,
Hörgeschädigte,
Körperbehinderte,
DaZ
visuelle Kom-
pensation,
Gebärden-
sprache
Sprachniveau-
angleichung,
ggf. Sprach-
vergleich und
Sprachförde-
rung
schrift-
lich Sehbehinderte,
Körperbehinderte,
DaZ, geistige Ent-
wicklung, Lernför-
derung, funktiona-
le Analphabeten
Audio/Vi-
deo, Talker/
Bilderschrift,
Braille,
Sprach-
erkennung
eingeschränkte
Lernzeit/
-erfahrung
chronisch Kranke,
geistige Entwick-
lung,
Körperbehinderte,
Flüchtlinge, Schul-
verweigerer, funk-
tionale Analpha-
beten, ehemalige
Straßenkinder
Reduktion der Lernumfänge,
ggf. schriftsprachliche Kom-
pensation (s.o.)
interaktiv/
psychisch/
motivational
Emotional-sozia-
ler Förderbedarf,
geistige Entwick-
lung, Flüchtlinge,
Schulverweigerer,
ehemalige Straßen-
kinder
feste Rahmenvereinbarungen
und -strukturen, positive Be-
stärkung, positives Interakti-
onsklima
Abb. 2: Übersicht besonderer Lernbedingungen und möglicher Maß-
nahmen
70
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Während stark kognitiv eingeschränkt Lernende Schrift, Text-
produktions- und Textrezeptions- sowie Sprachbetrachtungs-
kompetenzen kaum oder nur im weiteren Sinne erwerben
können2 und vorzugsweise praxisbezogen und elementarisiert
lernen, brauchen Schülerinnen und Schüler mit Lernförderbe-
darf mehr Zeit für den Schrifterwerb und lernen evtl. nur teil-
weise, Orthographiestrategien erfolgreich anzuwenden. Hoch-
begabte beenden – bei entsprechender Begabungsart – den
Orthographieerwerb dagegen sehr früh. Beim Schrifterwerb
geht es daher einerseits um ein weites Literalitätsverständnis
und paralleles Arbeiten auf verschiedenen Entwicklungsstufen.
Schrift- und Schreibkompetenzen können kognitiv begründet,
erwerbszeit- oder wahrnehmungsbedingt eingeschränkt sein.
Technische Hilfen können Unterschiede zu anderen Lernenden
kompensieren: Lernende ohne oder mit geringen Schriftkom-
petenzen können Texte mittels „Anybook-Reader“ abhören
und aufsprechen. Sehbehinderte nutzen Braille oder Lesen und
Schreiben mit der Hilfe von Spracherkennungsprogrammen,
Lernende mit geistigem Entwicklungsbedarf eine Bilderschrift
oder Talker. Auch das Schreiben im Team kann fehlende indi-
viduelle Schriftkompetenzen ausgleichen.
Ein Bereich, der in der Muttersprachendidaktik kaum berück-
sichtigt wird, stellt die artikulatorische Schulung dar. Hier be-
steht jedoch bei Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als
Zweitsprache in Abhängigkeit von der Erstsprache, bei Ler-
nenden mit Sprachheilbedarf, Hörgeschädigten oder geistig
behinderten Lernenden häug ein bedeutsamer Förderbedarf.
Ein möglicher Anknüpfungspunkt für Kinder und Jugendliche
2 Die Bilderschriften, die im Förderbereich geistige Entwicklung
vorgeschlagen werden (z.B. Metatalk), sind aus linguistischer
Sicht aus verschiedenen Gründen problematisch. Ob eine gram-
matisch basierte Bilderschrift, wie in Berkemeier und Wieland
(i.E.) vorgeschlagen, Transfermöglichkeiten bietet, wäre koopera-
tiv zu untersuchen.
71
Heterogenität im Deutschunterricht
ohne einen solchen Bedarf könnten die Bereiche Präsentieren,
Rezitieren und Theaterspielen sein. Nicht- oder Wenig-Spre-
chenden, Stotterern etc. nützen kompensatorische visuelle oder
schriftliche Ausdrucksangebote und geschützte Sprech-Räu-
me. Auch hier bieten Audios z.B. mittels „Anybook-Reader“,
die man vor der „Veröffentlichung“ mehrfach überarbeiten
kann, eine gute Alternative.
Bisher ist Grammatikunterricht gar nicht oder zumindest viel zu
wenig auf die Förderung sprachlicher Kompetenzen ausgerich-
tet. Wenn man vom sprachlichen Handeln ausgeht, kann man
einzelnen Handlungen grammatisch unterschiedlich komplexe
Realisierungsformen zuordnen (vgl. Berkemeier und Wieland
i.E.). Z.B. kann man etwas mit mehreren Einzelsätzen beschrei-
ben („Hier sieht man ein Fahrrad. Das Fahrrad ist grün. Es hat
breite Reifen ...“) oder komplexere Wortgruppen verwenden
(„Man sieht ein grünes Fahrrad mit breiten Reifen/ein breitbe-
reiftes grünes Fahrrad“) oder Satzgefüge nutzen („Ein Fahrrad,
das dicke Reifen hat, eignet sich, wenn man bei jedem Wetter
durch den Wald fahren möchte.“). Auf diese Weise lässt sich
bezogen auf (fast) jedes Thema der Sprachstand z.B. von Ler-
nenden mit Deutsch als Zweitsprache (insbesondere bei Seiten-
einstieg) oder von Kindern mit Dysgrammatismus berücksich-
tigen und die nächste Erwerbsstufe vorbereiten. Komplexere
Strukturen fördern dagegen sprachlich besonders befähigte
Schülerinnen und Schüler. Dies gilt auch für die Wortschatzar-
beit. Die Skala zwischen Elementarisierung und Wissen-
schaftspropädeutik bietet reichlich Spielraum. Auf dieser Basis
können auch zu lesende Texte sprachlich und inhaltlich auf
diverse Niveaus ausgerichtet werden. 3 Damit kann ggf. auch
eine kognitive Differenzierung in Bezug auf einen Lerngegen-
stand einhergehen.
3 An dieser Stelle wird nicht auf „Leichte Sprache“ rekurriert,deren
Kriterien derzeit erst empirisch überprüft werden, sondern auf lin-
guistisch basierte Formulierungsvereinfachungen auf der Basis der
(Zweit-) Spracherwerbsforschung (s. Berkemeier und Wieland i.E.).
72
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich für den Deut-
schunterricht, dass in heterogenen Lerngruppen individuali-
sierend gearbeitet werden kann, wenn durch einen Eingangs-
test ein individuelles Kompetenzprol abgeleitet werden kann, vor
dessen Hintergrund sprachliche, also mündliche wie schriftli-
che und ggf. auch mediale Handlungskompetenz möglichst
zielgenau gefördert werden können (s. Abb. 3). Die gemeinsa-
me „Klammer“ im Unterricht, die auch den sinnvollen gegen-
seitigen Austausch über Arbeitsergebnisse nahelegt, kann der
„gemeinsame Gegenstand“ (Feuser 1989) sein. Dieser gibt das
Thema vor, nicht aber dessen inhaltliche Ausdifferenziertheit.
Der unterrichtsspezische und individuell ausgerichtete Aus-
gangstest bestimmt, ob im folgenden Lernpaket der aktuelle
Lernschritt wiederholt oder durch den nächsten abgelöst wird.
Abb. 3: Arbeiten mit individualisierten Lernpaketen
73
Heterogenität im Deutschunterricht
In Bezug auf angemessene Beurteilungsformen sind in hetero-
genen Gruppen neben technischen Hilfen nicht zuletzt die
Potenziale des gesetzlich festgeschriebenen Nachteilsausgleichs
auszuschöpfen, um allen Lernenden zu ermöglichen, ihre
Kompetenzen in vollem Ausmaß unter Beweis zu stellen. Hier
ist Kreativität seitens der Lehrenden gefordert und insgesamt
sehr viel mehr möglich als üblich.
4 Heterogenität als Chance
Durch gesellschaftlichen Wandel wird auch die Schule und mit
ihr der Deutschunterricht vielfältiger und heterogener. Dies
geschieht einerseits, weil die Schule die Gesellschaft spiegelt,
andererseits jedoch auch, weil es Aufgabe der Schule ist, die
Gesellschaft durch die Vermittlung von Qualikationen wei-
terzuentwickeln. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die in
einem heterogenen Umfeld ein Umdenken erforderlich macht,
aber auch neue und vielfältige Potentiale bietet.
Einmal anerkannt, kann die heterogene Klassenzusammen-
setzung zu einer Quelle der Inspiration und des Reichtums
werden. Sie fördert ständige Kreativität und die Erarbeitung
eines ganzen Spektrums von pädagogischen Aktivitäten,
die sich nach den Eigenarten der Kinder richten. Die Aus-
schöpfung des Reservoirs an Kenntnissen, Fertigkeiten und
Erfahrungen, die die verschiedenen Kinder mitbringen,
eröffnet neue Möglichkeiten des Lernens und Handelns.
(Ohlsen in Perregaux 1996: 21)
Durch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
ist Deutschland auch endlich auf dem Weg von der Heterogeni-
tät zur Inklusion. Der Weg ist jedoch noch lang. Ein inklusives
Schulsystem bedeutet, dass nicht die Kinder dem System an-
gepasst werden, sondern das System an den Bedürfnissen der
Kinder ausgerichtet wird. Es bedeutet auch, dass pädagogische
74
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Fachkräfte multiprofessionell zusammenarbeiten müssen und
Regelschullehrkräfte, Lehrerinnen und Lehrer für den soge-
nannten Herkunftssprachenunterricht, Sonderpädagoginnen
und Sonderpädagogen sowie Sprachberaterinnen und Sprach-
berater an den Schulen gleichberechtigt und Hand in Hand
arbeiten. Bei dieser Umstrukturierung können die Schulen
von der Bildungsadministration nicht allein gelassen werden.
Seitens dieser müssen klare Zielsetzungen formuliert werden,
die einen inklusiven Unterricht ermöglichen und unterstüt-
zen. Ändern muss sich jedoch nicht nur das Bildungssystem,
sondern auch das Denken. Es gilt, auch bei einer eintretenden
Umsetzung eines inklusiven Schulsystems, die Ursachen des
in den unterschiedlichen PISA-Untersuchungen immer wieder
beschriebenen schulischen Scheiterns nicht-deutschstämmiger
Kinder, also diese Form institutioneller Diskriminierung und
ethnischer Marginalisierung, zu identizieren und kritisch zu
hinterfragen und schulischen Wandel durch sprachensensible
Unterrichts- und Schulentwicklung umzusetzen.
4.1 Das Beispiel Kanada: Das Equity Foundation Statement
Veränderungen im Erziehungs- und Bildungssystem sind be-
sonders im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit notwendig und
das Beispiel Kanada zeigt, dass diese Veränderungen umge-
setzt werden können. Auch wenn das kanadische Schulsys-
tem nicht mit dem deutschen zu vergleichen und daher keine
1:1-Adaption möglich ist, besteht eine gewisse Vergleichbar-
keit der Rahmenbedingungen, da Kanada ebenfalls ein Indus-
trieland mit hohem Migrationsanteil ist, in dem wie in Deutsch-
land die UN-Menschenrechtskonvention für Menschen mit Be-
hinderung ratiziert wurde.
Das Torontoer Equity Foundation Statement legt Standards und
Regeln für die Gestaltung eines inklusiven Schulsystems vor,
die als Vorbild für Deutschland gelten können. Aus dem State-
75
Heterogenität im Deutschunterricht
ment gehen fünf Standards der Inklusion hervor, die als weg-
weisend gelten:
1) Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus
stärken
2) Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus aus-
schließen
3) Diversität in den sozialen Lebensformen zulassen und Dis-
kriminierungen in den sexuellen Orientierungen verhindern
4) Sozio-ökonomische Chancengerechtigkeit erweitern
5) Chancengerechtigkeit von Menschen mit Behinderungen
herstellen
Zur Umsetzung dieser Standards werden bestimmte Regeln
als idealtypische Forderungen formuliert. Ein Punkt des To-
ronto-Statements sind die Student Languages [die Sprachen der
Schüler]. Nach Reich (2012: 109ff.) müssten die idealtypischen
Forderungen in diesem Bereich in Deutschland Folgendes
berücksichtigen:
a) Sprachkompetenz in der deutschen Sprache
b) Sprachschulung und -förderung
c) Anerkennung und Förderung der Erstsprache
d) Förderung des Erlernens weiterer Sprachen
e) Anerkennung und Aufnahme der Herkunftssprachen in den
Unterricht
f) Entwicklung einer inklusionsgerechten Sprache
g) Entwicklung geeigneter Sprachunterstützungssysteme
Ziel eines inklusiven Unterrichts muss das Erreichen gut aus-
geprägter Sprachkompetenzen im Deutschen sein. Dabei muss
an die bereits vorhandenen Sprachkompetenzen angeknüpft
werden und eine kontinuierliche Förderung erfolgen, die am
besten auch bereits vorschulisch einsetzt. Um dies umsetzen zu
können, benötigen die Lehrkräfte eine Zusatzausbildung, wie
sie zum Beispiel in den DaZ-Modulen in einigen Bundeslän-
dern bereits erfolgt.
76
Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
Die deutsche Sprache soll jedoch andere Sprachen, besonders
die Erstsprachen der Kinder und Jugendlichen, nicht verdrän-
gen oder ersetzen, sondern diese sind explizit einzubeziehen.
Der Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen muss zen-
trales Anliegen des Unterrichts sein. Die Schülerinnen und
Schüler müssen jedoch individuell an das elaborierte Niveau
herangeführt werden, was bedeuten kann, dass gezielte Zusatz-
informationen und speziell aufbereitete Materialien nötig sein
können.
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Heterogenität im Deutschunterricht
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Anne Berkemeier & Sabine Wilmes
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79
„Leichte Sprache“
„Leichte Sprache“ aus Perspektive einer inklusiven
Sprachdidaktik
Bettina M. Bock
„Leichte Sprache“ ndet bisher, als eine Form barrierefrei-
er Kommunikation, vor allem in der öffentlichen Kom-
munikation und in der Behindertenarbeit Anwendung,
wird aber zunehmend auch im schulischen Kontext er-
probt. Anhand konkreter Textbeispiele wird im Beitrag
diskutiert, welche Potenziale sich möglicherweise für den
inklusiven Deutschunterricht ergeben, vor allem aber,
welche offenen Fragen dabei noch zu klären sind.
1 Einleitung: „Leichte Sprache“
Dem Phänomen „Leichte Sprache“ wird derzeit in der Öffent-
lichkeit eine große Aufmerksamkeit zuteil. Nach der Ratizie-
rung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat sich in
Deutschland auch ein zunehmend reges Forschungsinteresse
entwickelt, insbesondere in Sprachwissenschaft und Sprach-
didaktik sowie in der Übersetzungswissenschaft (vgl. z.B. die
Debattenbeiträge in Didaktik Deutsch, Heft 38/2015). Auch im
Schulkontext bekommt „Leichte Sprache“ zunehmend Beach-
tung; man erhofft sich davon fächerüber greifend eine barrie-
refreie Kommunikationsform insbesondere für den inklusiven
Unterricht – ganz im Sinne der Feststellung in den KMK-Emp-
fehlungen zur inklusiven Schulbildung:
Inklusiver Unterricht nutzt Situationen, Lehr- und Lernmit-
tel, Informationsmaterialien und Medien, die für Kinder und
Jugendliche mit Behinderungen den jeweiligen Erfordernis-
sen der Behinderungen entsprechend gestaltet werden. Diese
Anpassungen erstrecken sich von optischen, akustischen und
80 Bettina M. Bock
weiteren sensorischen Gestaltungsprinzipien für Unterrichts-
medien über den Einsatz technischer Hilfsmittel bis zur An-
passung sprachlicher Inhalte, um z.B. schriftsprachliche und
andere Kommunikationsformen in leichter Sprache zugäng-
lich zu machen. (KMK 2011: 10)
Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive kann „Leichte Spra-
che“ als laienlinguistisches Phänomen charakterisiert werden
(Bock und Antos i.D.), das vorrangig intuitiv in der Praxis
entwickelt wurde und als dessen Hauptzielgruppe Menschen
mit geistiger Behinderung1 gelten. Das Label „Leichte Sprache“
kann als etabliert gelten, seine inhaltliche Füllung ist jedoch
heterogen. Unterschiedliche Akteure geben teilweise unter-
schiedliche Zielgruppen an, zudem werden eine Reihe anderer
Labels teils in Abgrenzung, teils synonym gebraucht (darunter
„Leicht Lesbar“, „einfache Sprache“, „einfach/leicht gesagt“).
Die Landschaft ist geprägt von (v.a. politisch motivierten) „se-
mantischen Kämpfen“ und strategischen Begriffsbesetzungen
(vgl. Lange und Bock i.D.). Das Netzwerk Leichte Sprache ver-
steht sich selbst als „Dachorganisation“ aller Bemühungen in
diesem Bereich. Daneben kommt besonders einzelnen in ihm
engagierten Akteuren wie der Lebenshilfe oder der Arbei-
terwohlfahrt eine prägende Rolle für die Praxislandschaft zu
(vgl. auch Zurstrassen 2015: 127, 131f.).2
Deniert wird „Leichte Sprache“ primär über bestimmte
sprachliche und typograsche „Regeln“, die das Ausdrucks-
repertoire einschränken und die es ermöglichen sollen, Texte
aller Kommunikationsbereiche für bestimmte (benachteiligte)
1 Die im Rahmen der Empowerment-Bewegung entwickelte al-
ternative Selbstbezeichnung ‚Menschen mit Lernschwierigkei-
ten’ wird hier aufgrund mangelnder Begriffsschärfe vermieden
(vgl. Theunissen 2005: 13).
2 In welchem Maße wissenschaftliche Arbeiten einen Einuss auf
die Praxis haben, wird sich in Zukunft zeigen.
81
„Leichte Sprache“
Zielgruppen zugänglich, d.h. verständlich, zu machen. Exem-
plarisch sei hier der „Ratgeber Leichte Sprache“ des BMAS
(2014) zitiert, dessen „Regeln“ identisch mit denen des Netz-
werks Leichte Sprache (2013) sind:
Das Bundes-Ministerium für Arbeit und Soziales hat in Zu-
sammen-Arbeit mit dem „Netzwerk Leichte Sprache“ dieses
Heft erstellt.
Dort stehen Regeln und Tipps für Leichte Sprache.
Leichte Sprache hilft vielen Menschen.
Zum Beispiel:
• Menschen mit Lern-Schwierigkeiten,
• Menschen, die nicht so gut lesen können,
• Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen. (BMAS 2014: 5)
Die aufgestellten „Regeln“ betreffen alle sprachlichen Ebenen,
Typograe sowie Bilder. Illustriert werden sie meist mit dicho-
tom als ‚gut‘ bzw. ‚schlecht‘ bewerteten Beispielen:
Benutzen Sie einfache Wörter.
Schlecht: genehmigen
Gut: erlauben (BMAS 2014: 22)
Benutzen Sie bekannte Wörter.
Verzichten Sie auf Fach-Wörter
und Fremd-Wörter. (Ebd.: 24)
Vermeiden Sie den Genitiv.
(Ebd.: 30)
Vermeiden Sie Rede-Wendun-
gen und bildliche Sprache.
(Ebd.: 33)
Benutzen Sie aktive Wörter.
Schlecht: Morgen wird der
Heim-Beirat gewählt.
Gut: Morgen wählen wir den
Heim-Beirat. (Ebd.: 29)
Benutzen Sie positive Sprache.
Vermeiden Sie negative Sprache.
Negative Sprache erkennt man
an dem Wort: nicht.
Dieses Wort wird oft übersehen.
(Ebd.: 32)
Benutzen Sie Bilder.
Bilder helfen Texte zu verstehen.
Die Bilder müssen zum Text pas-
sen. (Ebd.: 67)
82 Bettina M. Bock
„Regeln“ dieser Art werden als Denitionsmerkmal und als
zentrale Bedingung für Textqualität verstanden: „Nur wenn
man sich an alle Regeln hält, dann ist der Text wirklich gut.“3
„Damit man gute Information machen kann, muss man sich an
Regeln halten.“ (Inclusion Europe 2009: 7).4 In den Texten, die
das Label „Leichte Sprache“ tragen, werden die „Regeln“ al-
lerdings keineswegs einheitlich umgesetzt (vgl. ausführlicher
Lange und Bock i.D.). Seitens der Forschung muss daher aus ei-
ner anderen Perspektive gefragt werden, was „Leichte Sprache“
ist, wozu (und wem) sie dient – und ob sie überhaupt ein ganz
neues Phänomen ist oder nicht vielmehr an bekannte Prakti-
ken und Forschungstraditionen anschließen kann und sollte.
In der Forschung wird „Leichte Sprache“ relativ einhellig als
eine Varietät des Deutschen eingeordnet (vgl. Bredel und Maaß
2016: 24). Genauer kann sie als eine Varietät des Deutschen
beschrieben werden, die durch die Funktion gekennzeichnet
ist, zwischen Adressaten und „schweren“, für die Adressaten
sonst nicht zugänglichen Texten zu vermitteln (Bock 2015).
Trotz erster Vorschläge für eine wissenschaftliche Fundierung
(vgl. z.B. Bredel und Maaß 2016) sind wesentliche Fragen nach
wie vor in der Diskussion (vgl. Zurstrassen 2015; Seitz 2014;
Bock, Fix und Lange i.V.). Eine empirische Überprüfung der
Wirksamkeit der aufgestellten Sprachregeln und Restriktionen
wird erst vereinzelt realisiert. Dennoch wird „Leichte Sprache“
häug als festgefügtes Konzept wahrgenommen, an das in Be-
zug auf Barrierefreiheit und Partizipation große Erwartungen
geknüpft werden. Ein zentrales und dennoch häug überse-
henes Problem im Hinblick auf die heterogene Zielgruppe be-
3 URL: http://leichtesprache.org/index.php/startseite/der-vere-
in/unsere-ziele [05.7.2016]
4 Einen dezidierten Gegenentwurf dazu vertreten Capito mit ihrem
Label „Leicht Lesen“. Sie bieten zudem Texte in verschiedenen
Schwierigkeitsstufen an.
83
„Leichte Sprache“
schreibt Zurstrassen:
Auch Leichte Sprache kann also überfordern, oft aber auch
unterfordern und damit sogar die Lesemotivation beein-
trächtigen, wenn z.B. in Lernsituationen keine alternativen
Texte zur Verfügung gestellt werden. Ein derart hoher Grad
an Individualisierung der übersetzten Texte in Leichte Spra-
che, um sie den heterogenen schriftsprachlichen Fähigkeiten
der Zielgruppe anzupassen und barrierefreie Kommunika-
tion sicherzustellen, kann aber auch nicht geleistet werden.
(Zurstrassen 2015: 129)
2 „Leichte Sprache“ im inklusiven Unterricht
Ursprünglich zielen laienlinguistische Konzeptionen „leich-
ter“ oder „einfacher Sprache“ nicht vorrangig auf didaktische
Kontexte. Sie widmen sich also kaum der Frage, wie entspre-
chende Texte im (inklusiven) Unterricht einzusetzen sind oder
wie dafür geeignete Texte eigentlich gestaltet sein müssen. Die
Problematik stellt sich insbesondere für Kinder und Jugend-
liche mit geistiger Behinderung, da hier die Herausforderun-
gen besonders groß zu sein scheinen: Musenberg und Riegert
verzeichnen für diese Gruppe im Vergleich zu den anderen
Förderschwer punkten eine Tendenz zu „exklusiver Inklusi-
on“, ihr Integrationsteil liegt im bundesweiten Durchschnitt
bei nur 3,8 % (Musenberg und Riegert 2015: 15). In Bezug auf
das Phänomen „Leichte Sprache“ stellen sich für den Einsatz
in Lehr-Lernkontexten m.E. vor allem zwei Fragen: Für wel-
che Zielgruppen ist „Leichte Sprache“ geeignet? Und was kann
„Leichte Sprache“ – mit den Prinzipien, nach denen sie derzeit
praktiziert wird – tatsächlich leisten?
Zur Zielgruppenfrage: Entgegen der insbesondere vom Netz-
werk Leichte Sprache vertretenen und allgemein in der Praxis
verbreiteten Position sind Texte in „Leichter Sprache“ keines-
84 Bettina M. Bock
wegs protabel und allgemein ‚besser‘ „für alle“ (vgl. Netz-
werk Leichte Sprache 2013: 1). Die bisherige Praxis ist auf ma-
ximale sprachliche Vereinfachung ausgelegt, wobei die damit
einhergehenden inhaltlichen und sprachlichen Reduktionen
eher wenig reektiert werden. Hinzu kommt, dass der Aspekt
der Entwicklung von Kompetenzen derzeit in der Praxis kaum
im Blick ist: Es geht primär um die Auösung und Vermei-
dung sprachlicher Komplexität, kaum aber um die Vermittlung
sprachlicher Komplexität. Für Leserinnen und Leser, die auf
weitgehende Vereinfachung dieser Art nicht angewiesen sind,
stellen solche Texte kaum angemessene Lösungen bereit. Kon-
trovers diskutiert wird in Forschung (vgl. z.B. Bredel und Maaß
2016) und Praxis zudem, ob „Leichte Sprache“-Texte auch für
DaF/DaZ-Lernerinnen und -Lerner und im Bereich der Al-
phabetisierungsarbeit ein geeignetes Lernmittel sind. Kritisch
gesehen wird vor allem, dass Lernfortschritte (in Bezug auf
Sprach- und Lesekompetenzen) durch die starke sprachliche
Reduktion und die Künstlichkeit und Markiertheit der sprach-
lichen Mittel nur auf sehr geringem Niveau oder gar nicht
möglich sind. Diese Kritik trifft aber natürlich für Menschen
mit geistiger Behinderung, die als Adressatengruppe nicht pro-
blematisiert werden, genauso zu – sie wird aber in der Praxis
interessanterweise kaum thematisiert. Als Gegenentwurf sei in
Bezug auf die Zielgruppenfrage hier knapp auf die skandina-
vischen Länder verwiesen: In den entsprechenden Ansätzen
in Norwegen („lettlest“), Schweden („lättläst“) und Finnland
(„selkokieli“) wird die Zielgruppe sehr breit deniert. Es exi-
stieren allerdings auch keine vergleichbar strikten „Regeln“,
d.h. der Ansatz wird kontextsensibel umgesetzt und weniger
rigide verstanden. Diese Praxis setzt sich auf der einen Seite
dem Vorwurf aus, ein vages, vielleicht sogar in Teilen beliebi-
ges Konzept zu vertreten, auf der anderen Seite hat ein solch
exibles Vorgehen den Vorteil, dass es weit weniger „stigma-
tisierungsanfällig“ ist, da unterschiedlichste Bevölkerungs-
gruppen – vom Norwegisch lernenden Studenten bis hin zur
85
„Leichte Sprache“
Schülerin mit Down-Syndrom – mit dem Label angespro-
chen sind (vgl. auch Bock i.D.a, Bock, Fix und Lange i.V.).
Hier wird bereits deutlich: Die Frage nach der Zielgruppe kann
nicht gestellt werden ohne die übergeordnete Frage nach Art
und Angemessenheit der Umsetzung sprachlich-inhaltlicher
Anpassung von Texten: Die derzeitigen Prinzipien „Leichter
Sprache“ sind unter diesem Blickwinkel für den didaktischen
Kontext zu überprüfen. Dazu ist v.a. empirische Forschung zu
den (sprachlichen) Lernvoraussetzungen der Zielgruppen und
zu inklusiven Unterrichtssettings nötig. In den folgenden Ka-
piteln werden, basierend auf empirischen Untersuchungen zur
Zielgruppe Menschen mit geistiger Behinderung, zumindest
erste Überlegungen vorgestellt. Mit Blick auf das Phänomen
„Leichte Sprache“ bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass das,
was im Bildungskontext als selbstverständlich erscheint – näm-
lich die Ausrichtung auf Kompetenzerweiterung und Förde-
rung –, im Bereich „Leichte Sprache“ zu wenig im Blick ist: Die
gängigen Prinzipien laufen (möglicherweise auch unbewusst)
mitunter eher auf die Konsolidierung von Grenzen und Be-
grenzung und gerade nicht auf sprachliche Kompetenzerwei-
terung und damit verbundene positive (Über-)Forderung hin-
aus (s. auch Kap. 5). Meines Erachtens muss „Leichter Sprache“
eine doppelte Aufgabe zugeschrieben werden (vgl. auch Bock
2015): Zum einen hat sie im Sinne des Prinzips Adressateno-
rientierung Vermittlungsfunktion, d.h. sie dient dazu, (auch
komplexe) Sachverhalte an eine bestimmte Adressatengruppe
zu vermitteln. Zum anderen hat sie aber gleichzeitig die Auf-
gabe, Kompetenzentwicklung zu ermöglichen und anzubah-
nen. „Leichte Sprache“ ist damit nicht Zielnorm und Zielstand,
sondern sie kennzeichnet einen bestimmten Stand des Wis-
sens und Könnens, der aber perspektivisch zu überwinden ist
(transitorische Sprachform und Norm). Diese Perspektive gilt
auch und gerade für die (keineswegs seltenen) Fälle, in denen
Nutzerinnen und Nutzer auf barrierefreie Kommunikations-
formate wie „Leichte Sprache“ angewiesen bleiben, sie also als
86 Bettina M. Bock
Transitionsstufe nicht überwinden können. Entscheidend ist,
dass im Konzept und in den konkret realisierten Texten die
Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Kompetenzerweite-
rung angelegt ist und akzentuiert wird. „Leichte Sprache“ wird
damit konzeptualisiert als ein Mittel des Scaffolding in Lern-
kontexten. Dies setzt aber voraus, dass der Ansatz differenzier-
ter vorgeht, als es die Regelkataloge derzeit vorsehen: Die ver-
schiedenen Wissens- und Kompetenzvoraussetzungen müssen
differenzierter berücksichtigt werden, als dies im Moment mit
dem Ansatz ‚eine Lösung für alle‘ gegeben ist.
3 Inklusion und inklusiver Unterricht als Zielstellung
Das grundsätzliche Spannungsfeld, das sich in heterogenen
Lerngruppen auftut, liegt in der Vermittlung zwischen Subjekt
und Sache, also konkret darin, auf der einen Seite den verschie-
denen individuellen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden
und auf der anderen Seite auch dem Anspruch an Fachlich-
keit (und sprachliche Angemessenheit) zu genügen (vgl. Rie-
gert und Musenberg 2015: 24). Die Frage der Angemessenheit
dieser Vermittlungsleistung führt – auch im konkreten Einzel-
fall – immer wieder zurück zu der Frage, welches Ziel Inklusi-
on hat, wann Inklusion und Partizipation tatsächlich ‚gegeben‘
sind. Die Geistigbehinderten pädagogen Riegert und Musen-
berg (2015: 24) koppeln die Zielstellung (erfolgreichen) inklusi-
ven Fachunterrichts an die Möglichkeit individuellen Lernfort-
schritts sowie an „subjektiv sinnvolle Teilhabe“ bzw. subjektiv
erfahrene Sinnhaftig keit seitens der Schülerinnen und Schüler.
Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine bloß soziale Integra-
tion im Unter richt.
Am Beispiel des Phänomens „Leichte Sprache“ wird m.E. plas-
tisch, dass zu einfache und einseitige Denitionen von Inklu-
sion in der konkreten Umsetzung Gefahr laufen, (ungewollt)
87
„Leichte Sprache“
das Ziel zu verfehlen. Gerade im Umfeld der prägenden
Praxisakteure deutet sich immer wieder die Vorstellung an,
dass „Leichte Sprache“ die allgemein bessere, da für alle leich-
ter verständliche Sprachform darstelle (vgl. Linz 2013). Eine
solche Sichtweise impliziert die Hoffnung, dass – zumal durch
Orientierung an ‚den Schwächsten‘ – völlige Inklusion für alle
Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch eine (für alle „leichte“)
Sprachform zu erreichen sei. Für eine rein soziale Integration,
bspw. im inklusiven Unterricht, würde das möglicherweise ge-
nügen, nicht aber für Teilhabe im von Musenberg und Riegert
beschriebenen Sinne und Kompetenzentwicklung für alle. Eine
solche einfache Sichtweise negiert die vielfältigen Funktionen
von Sprache und Kommunikation: Sprache ist nicht nur dazu
da, für Adressaten verständlich zu sein. Sie dient v.a. unter-
schiedlichen kommunikativen Funktionen, deren Erfüllung
unterschiedliche sprachliche Mittel fordern. Sie variiert in Ab-
hängigkeit von Gegenstand, Sender, Kommunikationsbereich,
Lesesituation etc. Eine Diskussion von konkreten „Leichte
Sprache“-Texten im Hinblick auf die Frage, ob sie Teilhabe in
ihrem jeweiligen Verwendungszusammenhang in angemes-
sener Weise ermöglichen, ist daher m.E. nur durch Bezug auf
einen systemtheoretisch gedachten Inklusionsbegriff sinnvoll
möglich (vgl. Werning und Arndt i.d.Bd.): Es muss unterschie-
den werden zwischen allgemeiner, durch funktionale Differen-
zierung begründeter sprachlich-kommunikativer Exklusion
(funktionale Schwerverständlichkeit) und individuell und ge-
sellschaftlich „illegitimen Schließungen“ (Ackermann 2015: 34),
die sich je nach Kontext durch Schwerverständlichkeit ergeben
können. Wo diese Grenze im Einzelfall verläuft, gilt es lingui-
stisch und sprachdidaktisch genauer zu erforschen.
Im Einzelnen entstehen ganz konkrete Widersprüche, die für
jeden Text neu gelöst werden müssen, die sich aber m.E. nicht
grundsätzlich auösen lassen. Dazu gehört die (banal schei-
nende) Erkenntnis, dass es nicht möglich ist, Texte sprachlich
88 Bettina M. Bock
zu vereinfachen, ohne die Inhalte zu verändern. Als Schluss-
folgerung daraus ist daher immer bewusst zu halten, dass ein
sprachlich angepasster Text informationelle und kommunika-
tive Teilhabe kaum je „verlustfrei“ ermöglicht.5 Es ist zudem
kaum möglich, alle Personen mit einer Sprach- und Textform
gleichermaßen zu erreichen, weder innerhalb der (heteroge-
nen) Zielgruppe noch über verschiedene Zielgruppen hinweg.
Ein Text kann demnach immer nur mehr oder weniger inklusiv
oder exklusiv sein. Daraus folgt, dass der Anspruch auf Inklu-
sivität nicht bedeutet, dass alle Kommunikation in gleichem
Maße zugänglich ist, und auch nicht, dass Teilhabe immer
mühelos und unmittelbar möglich ist. Für die konkrete Text-
gestaltung folgt aus den genannten Spannungsfeldern, dass
Schreiberinnen und Schreiber zwischen notwendiger Adres-
satenorientierung und Gegenstands- bzw. Funktionsangemes-
senheit (vgl. Bock i.D.b) abzuwägen haben, ganz ähnlich der
Vermittlung zwischen Sache und Subjekt im Unterricht. Seitz
umreißt die Aufgabe „Leichter Sprache“ aus sonderpädagogi-
scher Sicht ähnlich:
Leichte Sprache zu verwenden, heißt somit weit mehr als nur
andere Worte zu benutzen und kürzere Sätze zu bauen. Letzt-
lich han delt es sich um eine fachlich anspruchsvolle didakti-
sche Aufgabe: Es geht darum, Zugän ge zu komplexen Sach-
zusammenhängen zu ermöglichen, die Zusammenhänge aber
nicht unangemessen zu vereinfachen, sondern auf das Wesent-
liche hin zu konzentrieren, gewis sermaßen eine Essenz des
Textes zu erstellen. Eine inhaltliche Verknappung ist hierbei
un umgänglich, sollte aber transparent gehalten werden.
(Seitz 2014: 5)
5 Dies bezieht sich nicht unbedingt nur auf den Verlust von Infor-
mationen im Sinne von Thematisch-Inhaltlichem, sondern eben
auch auf den bloßen Umfang und die Variabilität des sprachli-
chen Inputs, der bei „Leichter Sprache“ derzeit häug massiv be-
grenzt wird.
89
„Leichte Sprache“
4 (Lehr-)Texte in „Leichter Sprache“
4.1 Exemplarischer Blick auf Lehrtexte und Lehrmaterialien
Unter dem Label „Leichte Sprache“ (manchmal „einfache Spra-
che“) werden auch Materialien für den Unterricht angeboten.
Es handelt sich dabei seltener um Veröffentlichungen von
Schulbuchverlagen als um einzelne Unterrichtsmaterialien, die
häug mit Finanzierung oder auf Initiative von Bundesministe-
rien entwickelt worden sind. Für den Primarbereich gibt es bei-
spielsweise die „Waldbel in einfacher Sprache“ (BMEL 2015),
die sich an Kinder mit Förderbedarf im inklusiven Sachunter-
richt richtet. Für die Sekundarstufe gibt es die Broschüre „Das
macht die Bundesbank“ (Deutsche Bundesbank 2013) oder
das Arbeitsheft Sozialpolitik zum Thema Sozialversicherung
(Stiftung Jugend und Bildung 2015/2016).6 Ähnlichkeiten mit
diesen Publikationen haben die Arbeitshefte „TOP Geschich-
te“ (Kirch und Manner 2009), die für den Förderschulbereich
konzipiert, aber nicht unter dem Label „Leichte Sprache“ ver-
öffentlicht wurden.7 Der Spaß am Lesen Verlag bietet adaptier-
te und Originalliteratur in „einfacher Sprache“ an; die Texte
sind in ihrer sprachlichen Gestaltung komplexer als die gerade
genannten Texte.8 Überhaupt gibt es Adaptionen literarischer
Texte schon lange, prominente Beispiele sind die Reihe „ein-
fach klassisch“ (Cornelsen), die sich an „ungeübte Leserinnen
und Leser“ richtet, oder die „Easy Readers“ (Klett) im Bereich
Deutsch als Fremdsprache. In Skandinavien würden alle diese
Textformen, so unterschiedlich sie umgesetzt sind, vermutlich
6 Zu vereinfachten Ausgaben literarischer Texte s. Rosebrock (2015).
7 Zu Lehrmaterialien in „Leichter Sprache“ im Geschichtsunter-
richt s. Alavi (2015).
8 Zum Einsatz dieser Texte im inklusiven Deutschunterricht s. Thä-
le und Riegert (2015).
90 Bettina M. Bock
ein und dasselbe Label tragen. Aufgrund der Spezik der deut-
schen „Leichte Sprache“-Bewegung sollen hier aber nur Texte
betrachtet werden, die dieses Label tragen.
Um einen Eindruck von der sprachlichen Gestaltung „leichter“
Lehrtexte zu geben, sei hier eine Passage aus dem „Arbeits-
heft Sozialpolitik: Grundwissen Sozialversicherung in Leichter
Sprache“ (Stiftung Jugend und Bildung 2015/2016: 11f.) zitiert,
zu der auch eine nicht-„leichte“ Parallelfassung existiert:
Material 4: Regeln der Sozial-Versicherung
In der Sozial-Versicherung gibt es Regeln. Sie sorgen für
Gerechtigkeit. Dazu gehören: […]
• Die Solidarität
Solidarität ist, wenn Menschen sich gegenseitig helfen.
Im Sozial-Staat sind damit 2 Dinge gemeint:
1. Wer viel verdient, muss auch mehr in die Sozial-
Versicherungen einzahlen.
Das heißt, es wird mehr Geld vom Lohn abgezogen. Wer
wenig verdient, muss weniger Beiträge zahlen.
2. Jeder Mensch in Not bekommt die nötige Hilfe.
Egal wie viel er in die Sozial-Versicherungen eingezahlt hat.
So unterstützen die reicheren Menschen mit ihren Beiträgen
die ärmeren Menschen. Die jungen Menschen unterstützen
die alten Menschen. Und die gesunden Menschen
unterstützen die kranken Menschen.
• Die Äquivalenz
Äquivalenz bedeutet: gleich viel wert.
Bei der Renten-Versicherung bedeutet das:
Wer mehr und länger in die Rentenversicherung eingezahlt
hat, bekommt später auch mehr Rente.
Eine eingehende Textanalyse kann hier nicht geleistet werden,
es soll aber zumindest auf einige Besonderheiten hingewiesen
91
„Leichte Sprache“
werden. Auffällig ist, dass auf einige zentrale „Regeln“, die in
der Praxis verbreitet sind und die sich in verschiedenen Regel-
katalogen (Netzwerk Leichte Sprache 2013; Inclusion Europe
2009; BMAS 2014) nden, verzichtet wird: Unter anderem ist
die Syntax insofern komplexer, als Nebensätze verwendet wer-
den, und dies sogar vergleichsweise häug. Die Sätze sind re-
lativ lang, und es werden weniger Zeilenumbrüche gesetzt, so
dass der Text weniger listenartig erscheint als andere „leichte“
Texte. Die graschen Mittel werden teilweise verändert und
Symbole zusätzlich eingeführt, es werden aber nicht andere
oder mehr Bilder verwendet, wie sonst typisch für „Leichte
Sprache“-Texte.
Ein Grund für die insgesamt komplexere sprachliche Gestal-
tung könnte im Gegenstand bzw. in der im Hinblick auf den
Gegenstand gewählten Zielstellung liegen: Die angemesse-
ne Darstellung von vergleichsweise abstrakten und komple-
xen Themen wie dem deutschen Sozialversicherungssystem
(als einem Merkmal des Sozialstaates) erfordert komplexere
sprachliche Strukturen und Möglich keiten der sprachlichen
Differenzierung. Dieser Text löst sich also zugunsten von Ge-
genstands- und Funktionsangemessenheit von der Rigidität
der „Regeln“. Die Art der didaktischen Aufbereitung macht
schnell klar, dass hier nicht Schülergruppen im Blick sind, die
aufgrund schwerer kognitiver Beeinträchtigung auf konkret-
gegenständliche Aufbereitung ange wiesen sind. Welchen Bei-
trag der Ansatz „Leichte Sprache“ für diesen Personenkreis
leisten könnte, bleibt ohnehin offen. Realistisch erscheint für
diesen Text ein Adressatenkreis von Schülerinnen und Schü-
lern, die Leseverstehenskompetenzen von mindestens Alpha-
Level 3 (Grotlüschen 2010) erworben haben, wobei das allein
sicher noch keine Voraussetzung für eine adäquate Erarbei-
tung der Inhalte ist. Als Zielstellung des Textes ist erkennbar,
dass bei aller Vereinfachung möglichst umfassende Teilhabe
am Thema ermöglicht werden soll, es geht also eher um ziel-
92 Bettina M. Bock
gleiche als zieldifferente Unterstützung und Förderung (wobei
die Aufgabenstellungen in den beiden Fassungen sich deutlich
unterscheiden). Die sprachliche Aufbereitung der Inhalte im
„leichten“ Arbeitsheft bietet grundsätzlich Gelegenheit für fach-
und bildungs sprachliches Lernen, da z.B. Termini erklärt wer-
den (was nicht immer in „Leichte Sprache“-Texten der Fall ist),
grammatische Verknüpfungsmittel nicht vermieden, sondern
genutzt und variiert werden (s. Kap. 5), die syntaktische Kom-
plexität mit der Darstellungskomplexität korrespondiert etc.
Ob dieser Text immer und für jede Schülergruppe angemes-
sen ist, kann aber natürlich nicht grundsätzlich entschieden
werden. Bereits angesprochen wurde die Problematik, dass
die Individualisierung bei Texten dieser Art letztlich nicht sehr
weit geht, da eigentlich verschiedene Fassungen und Schwie-
rigkeitsstufen eines Textes gebraucht würden, um in sehr hete-
rogenen Lernergruppen weder zu unterfordern noch zu über-
fordern (vgl. auch Zurstrassen 2015: 129, Hölzner 2014: 50).
4.2 Bildungssprache als „Bildungskapital“ und Verstehenshürde
Für die Aneignung fachlicher und überfachlicher Konzepte
sind bestimmte sprachliche Kompetenzen erforderlich, die
die kommunikative Bearbeitung fachlicher Gegenstände über-
haupt erst ermög lichen. Insofern sind fachliches und sprach-
liches Lernen auch im Kontext von „Leichter Sprache“ nicht
voneinander zu trennen. Mit der Komplexität der Inhalte steigt
die sprachliche Komplexität. Herkömmliche Lehrtexte sind
bildungssprachlich verfasst. Bildungssprache kann verstanden
werden als „Inventar von sprachlichen Mitteln, das einerseits
für Bildungsprozesse eingesetzt wird, in dem aber zugleich
in erheblichem Umfang schon Vorverständnisse konserviert
worden sind“ (Feilke 2012: 11). Sie ist insofern gleichermaßen
„Bildungskapital“ – sie ermöglicht die Partizipation an Bildung
bzw. Unterricht und sichert Bildungserfolg – wie eine potenzi-
93
„Leichte Sprache“
elle Hürde für das Verstehen (ebd.: 11). Im Anschluss an ent-
sprechende Forschung im englischsprachigen Raum wird zu-
dem auf den Zusammenhang zwischen dem Besitz bildungs-
sprachlicher Fähigkeiten und Bildungserfolg hingewiesen (Go-
golin und Lange 2010: 109). All das spricht selbstverständlich
dafür, im Sprach- und Fachunterricht bildungssprachliche
Kompetenzen für alle Schülerinnen und Schüler zum Gegen-
stand des Lernens und der Förderung zu machen (vgl. auch
Gebele und Zepter i.d.B.). Bei Spreer (2014) nden sich erste
Überlegungen zu Bildungssprache im sprachheilpädagogi-
schen Kontext.
Genauer zu erforschen ist, bei welchen bildungssprachlichen
Ausdrucksweisen die eben angesprochenen Verstehenshürden
eigentlich bestehen: Bisher scheinen in der „Leichten Sprache“
manche sprachlichen Mittel als ‚zu schwierig‘ ausgeschlos-
sen, obwohl sie gar keine Verstehensschwierigkeiten bereiten
(s. Kap. 5). Weiterhin ist zu überprüfen, wo die Funktionalität,
die bildungssprachlichen Formen zugeschrieben wird, tatsäch-
lich alternativlos ist:
Wer Bildungssprache adäquat verwenden kann, der ist auch
in der Lage zu den damit in Zusammenhang stehenden kom-
plexen kognitiven Operationen (wie z.B. Abstraktion, Verall-
gemeinerung, Kausalität). (Morek und Heller 2012: 75)
Die Frage bleibt: Welche – möglicherweise leichter zugängli-
chen und weniger bildungssprach lich geprägten – sprachli-
chen Formen gibt es im Einzelfall, um Kausalität, Abstraktion
etc. auszudrücken, und wann erscheint ihr Einsatz angebracht?
Zu berück sichtigen ist hierbei auch die soziale Funktion von
Sprache, die über Fragen des fachlichen Lernens hinausgeht:
Die Vermeidung typischer, konventionalisierter sprachlicher
Formen birgt die Gefahr, die Teilhabe an einem sprachlichen
Register, das mit Prestige besetzt ist und den (impliziten) Nor-
merwartungen von Bildungs institutionen entspricht, zu ver-
wehren. „Leichte Sprache“, die sich eher von bildungssprachli-
94 Bettina M. Bock
chen Mitteln entfernt, steht insofern unter dem Verdacht, eine
sekundäre (Sprach- und Bildungs-)Barriere aufzubauen. Um
dieses Spannungs verhält nis zwischen teilhabeermöglichender
Vereinfachung und teilhabe erschwerender Abkopplung ge-
nauer zu bestimmen, ist wiederum empirische Forschung zum
Textverstehen der Adressaten nötig.
Entscheidend ist, dass die unterrichtliche (Sprach-)Arbeit sich
nicht einseitig an den bereits vorhandenen Kompetenzen und
Verstehenshürden, also am Faktischen (i.S.v. Ackermann 2010)
orientiert, sondern an der Zone der nächsten Entwicklung. Al-
les andere würde Beschränkung der möglichen Erfahrungen
und Vorenthalten von potenziellen Bildungs- und Entwick-
lungsanlässen bedeuten. In der Geistigbehindertenpädagogik
werden Fragen der Bildung und der Bildungsziele noch ein-
mal aus spezieller Perspektive diskutiert (zum Umgang mit
Bildungsstandards vgl. z.B. Riegert und Musenberg 2010, VDS
2007). Gerade für die Schülerschaft im Förderschwerpunkt gei-
stige Entwicklung ist m.E. zu betonen, dass Bildung „kontra-
faktisch antizipiert“ (Musenberg und Riegert 2013: o.S.) wer-
den muss, um überhaupt in Gang gesetzt zu werden:
Diese Antizipation ist auch aktuell immer wieder zur Auf-
rechterhaltung umfassender, die unmittelbare Bedürfnisbe-
friedigung und lebenspraktische Bewältigung des Alltags
überschreitender Bildungsansprüche notwendig. (Ebd.)
Zurstrassen geht in Bezug auf inklusive politische Bildung von
etwas Ähnlichem aus, wenn sie feststellt, dass Menschen mit
geistiger Behinderung möglicherweise zwar kognitiv nicht in
der Lage seien, „politische Lesefähigkeit“ im Sinne eines ree-
xiv-ideologiekritischen Lesens zu erwerben,
[d]ennoch haben auch sie ein Recht, im Rahmen ihrer Möglich-
keiten Analyseverfahren zu lernen und eine kritische Grund-
haltung zu erwerben und so befähigt zu werden, politische
und sozial-gesellschaftliche Kommunikation distanziert und
differenziert zu bewerten. (Zurstrassen 2015: 135)
95
„Leichte Sprache“
Letztlich geht es also um ein auch ausdauerndes und langfri-
stig orientiertes Für-Möglich-Halten von (sprachlicher) Bil-
dung und Kompetenzausbau als konsequenter didaktischer
Intention sowie um ein Vermeiden sprachlich-textueller Son-
derlösungen bzw. eines Verharrens in Sonderlösungen, die er-
neut ein Exklusionsrisiko bergen (vgl. Bock 2015). Die (sprach-)
didaktische Intention muss auf den Auf- und Ausbau kommu-
nikativer Handlungsfähigkeit orientiert sein (wozu auch Lesen
und Schreiben als teilhabeermöglichende Kulturtechniken ge-
hören), aber ausdrücklich auch auf Aspekte, die über die rein
praktische Alltagsbewältigung hinausgehen, wie z.B. Spracher-
fahrungen jeglicher Art (u.a. künstlerische, auch Erfahrungen
mit den verschiedenen Formen des Nicht- oder Nicht-vollstän-
dig-Erfassens) oder Sprachreexion, die zu Einblicken in die
Variation und Funktionsweise von Sprache führt.
4.3 Offene Fragen – zum Beispiel: Konditionalrelationen
Um die (zahlreichen) offenen Fragen, die es hinsichtlich der an-
gemessenen sprachlichen Mittel in angepassten Texten derzeit
noch gibt, zu illustrieren, soll ein Merkmal exemplarisch her-
ausgegriffen werden: Im zitierten „Arbeitsheft Sozialpolitik“
gibt es relativ viele Konditionalrelationen, die sprachlich un-
terschiedlich ausgedrückt werden. Im oben zitierten Abschnitt
kommen mehrere generalisierende Relativsatzkonstruktionen
vor, die konditional interpretiert werden müssen: „Wer wenig
verdient, muss weniger Beiträge zahlen.“, „Wer mehr und län-
ger in die Rentenversicherung eingezahlt hat, bekommt spä-
ter auch mehr Rente.“ usw. An anderen Stellen werden die
Konditionalrelationen durch Wenn- und/oder dann-Struktu-
ren ausgedrückt (z.B. „Wenn sie zum Beispiel krank werden,
bezahlt die Kranken-Kasse die Behandlung und die Medika-
mente.“, „Wenn die Ausgaben höher sind als die Einnahmen,
ist das ein Problem. Dann muss die Bundes-Regierung etwas
96 Bettina M. Bock
tun.“). Laut Netzwerk-Regeln (2013: 17) sollen Konditionalrela-
tionen nicht durch Wenn-(dann-)Konstruktionen ausgedrückt
werden. Bredel und Maaß (2016) führen diese Regel weiter aus
und sprechen sich ebenfalls für die Vermeidung von Wenn-
dann-Konstruktionen aus. Sie begründen dies damit, dass ins-
besondere der Wenn-Teil eines Satzes anspruchsvoll sei, da er
„nur hypothetische und so noch nicht auf die außersprachliche
Wirklichkeit abzutragende Aussage[n]“ abbilde (ebd.: 392).
Diese Beschreibung ist zweifellos zutreffend, allerdings bleibt
die kognitiv-semantische Ebene (also die konditionale Relati-
on, die ausgedrückt werden soll und deren Komplexität Bredel
und Maaß beschreiben) m.E. unverändert komplex – gleich, in
welcher sprachlichen Form sie realisiert wird. Eine Konditional-
relation bleibt eine Konditionalrelation, ob sie nun mit Wenn-
dann-Konstruktionen, generalisierenden Relativsätzen oder
mit den vorgeschlagenen Konnektoren-vermeidenden Frage-
strukturen realisiert wird. Die Forschung zur Kohärenz zeigt im
Gegenteil sogar, dass Konditionalsätze Markierung (z.B. durch
Konnektoren) fordern, weil sie im Unterschied zu Kausal- oder
Koordinationsrelationen nicht zu den „natürlichen“ Diskursre-
lationen gehören, die gewissermaßen automatisch verstanden
werden und daher unmarkiert bleiben können (Fabricius-Han-
sen 2011: 34). Konditionalrelationen müssen demnach markiert
werden und möglichst explizit und konventionell ausgedrückt
werden, um das Verstehen zu erleichtern und Lesarten zu
desambiguieren (ebd.: 34). Wenn-dann-Strukturen haben den
Vorteil, dass sie im Gegensatz zu anderen Konnektoren nicht
mehrdeutig sind. Wie verständlich die verschiedenen Mög-
lichkeiten, Konditionalrelationen sprachlich auszudrücken,
nun aber für die Adressatengruppen „Leichter Sprache“ sind,
muss erforscht werden. M.E. ist auch die Annahme zu hinter-
fragen, dass Konditionalrelationen grundsätzlich kognitiv an-
spruchsvoll sind. Sie sind keineswegs immer an abstrakte oder
komplexe Inhalte und Operationen gebunden, wie folgende
97
„Leichte Sprache“
(im unmittelbaren kindlichen Erfahrungsraum verortete) Sätze
zeigen: „Komm sofort her, sonst darfst du morgen nicht raus!“,
„Wenn du das noch einmal machst, dann werde ich böse.“
5 Leseverstehen: erste empirische Befunde
Insbesondere zur (extrem heterogenen) Zielgruppe Menschen
mit geistiger Behinderung bestehen Forschungslücken im Hin-
blick auf die empirische Unter suchung von Sprach- und Lese-
kompetenzen sowie deren Förderung.9 Die vorgestellten ersten
Ergebnisse stammen aus einer Teiluntersuchung der LeiSA-
Studie an der Universität Leipzig (Bergelt et al.. 2014), bei der
das Textverstehen von 29 Erwachsenen mit geistiger Behinde-
rung (20-40 Jahre) erhoben wurde. Gearbeitet wurde in dieser
Teilstudie mit einem Methodenmix aus qualitativen Methoden
(Lautes Denken/Kommentieren während Lektüre und Frage-
bogenbearbeitung, leitfadengestützte retrospektive Befragung)
sowie einem MC-Fragebogen zum Textverstehen. Acht Pro-
banden (mit Alpha-Levels zwischen 2 und 410 (Grotlüschen
2010)) lag ein Auszug aus den Menschenrechten in „Leichter
Sprache“ (BIZ 2014) vor, der hier näher betrachtet werden soll.
Der Text wurde augenscheinlich nicht als Unterrichtsmateri-
al konzipiert, er soll eher selbständig rezipiert und erschlos-
sen werden. Wie noch zu besprechen sein wird, bietet er sich
9 Bei Ratz (2013) nden sich die Ergebnisse einer empirischen
Erhebung zu den Lesekompetenzen von Schülern und Schü-
lerinnen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die
allerdings auf Lehrereinschätzungen basieren und die Di-
mension des Leseverstehens nicht gesondert berücksichtigen.
10 Nach der Stufeneinteilung von Grotlüschen und Riekmann (2012)
können ab Level 4 (einfache bis längere, komplexere) Texte gut
gelesen und verstanden werden; Lesekompetenzen bis Alpha-Le-
vel 3 ordnen die Autoren als funktionalen Analphabetismus ein.
98 Bettina M. Bock
unter Umständen für den inklusiven Deutschunterricht an; bei
George (2015) nden sich allgemeine Überlegungen zum The-
ma Menschenrechte im inklusiven Sozialkunde-Unterricht. Im
Druck stehen Originaltext und „leichte“ Fassung auf jeder Dop-
pelseite nebeneinander, die Originalfassung wird durch einen
blauen Kasten grasch markiert (s. Abb.). Auf jeder Doppelsei-
te ist eine Zeichnung abgebildet. 11 Der „Leichte Sprache“-Text
(im Auszug in der Abb. auf der rechten Seite) unterscheidet
sich insofern vom „Arbeitsheft Sozialpolitik“ (Kap. 4.1 oben),
als dass für schwierig gehaltene Wörter im „Leichte Sprache“-
Text eher vermieden als erklärt werden. Ersetzt wird u.a. das
Wort ‚Artikel‘ sowie die textsortentypische Formel ‚jeder/alle
Menschen hat/haben das Recht auf‘.12 Zudem vermeidet die
11 Die Angemessenheit der bildlichen Gestaltung ist sicherlich eher
fragwürdig.
12 ‚Artikel‘ wird konsequent ersetzt durch ‚Regel‘, die Formel ‚Recht-
haben auf‘ wird meist durch die Modalverben ‚dürfen‘ und ‚sol-
99
„Leichte Sprache“
„Leichte Sprache“-Fassung generalisierend-abstrakte Konzep-
te und versucht diese zu konkretisieren. Aus „befriedigende
Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen
Würde entsprechende Existenz sichert“ (BIZ 2014: 56) wird
dann „Genug Geld bedeutet: Der Mensch muss davon leben
können. Sie sollen also genug Geld haben, dass Ihre Familie ge-
nug zu essen hat. Und Sie die Miete bezahlen können.“(ebd.: 57).
Eine solche Konkretisierung ist notwendig selektiv und unvoll-
ständig, über die Angemessenheit kann m.E. nur am konkreten
(Verwendungs-)Kontext und Leser entschieden werden.
In der empirischen Studie hat sich an mehreren Stellen gezeigt,
dass das generalisierende, vom unmittelbaren Lesekontext ab-
strahierende Verständnis gelesener Informationen tatsächlich
eine Schwierigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung
darstellt (vgl. auch Allor et al. 2010: 463). Gleichzeitig hat sich
in der Teilstudie zum Menschenrechtsartikel gezeigt, dass ge-
neralisierende Darstellungsweisen durchaus erkannt und ver-
standen werden, und zwar in Bezug auf Themen, die besonde-
res Interesse wecken. Im Falle des Menschenrechtstexts war es
insbesondere das Unterthema ‚Männer und Frauen müssen bei
der Arbeit gleich entlohnt werden‘ (s. Abb.), das in der qualita-
tiven Befragung zum Textverstehen von mehreren Leserinnen
und Lesern besonders ausgeführt wurde. An den Aussagen
wird deutlich, dass der Text einerseits als Appell zur Verbes-
serung der Arbeitsbedingungen für Frauen gelesen wurde und
andererseits auch als Informationstext für diejenigen aufgefasst
wurde, die von der Möglichkeit einer solchen Forderung noch
nichts wissen. Persönliche Erfahrungen wurden (anders als bei
anderen Textsorten) in diesem Zusammenhang kaum berich-
len‘ ersetzt. Auf die dadurch entstehenden, nicht nur lokalen,
sondern auch das globale Textverstehen beeinussenden seman-
tischen Veränderungen kann hier aus Platzgründen nicht einge-
gangen werden.
100 Bettina M. Bock
tet. Den Text als Appell zu verstehen, der nicht unmittelbar an
die aktuelle Leserin/den aktuellen Leser gerichtet ist, bedeutet,
ihn von der unmittelbaren Lektüre situation zu entbinden und
in diesem Sinne als generelle, überkontextuell gültige Aussage
aufzufas sen. Das kann m.E. durchaus als kognitiv anspruchs-
volle Abstraktionsleistung eingeordnet werden.
Diese Befunde sind vorläug und noch von eher tentativem
Charakter. Sie müssen weiter ausgewertet werden. Ein deut-
liches Ergebnis zeigte sich im Hinblick auf im Text vorgenom-
mene Wortersetzungen: Im Verstehenstest (MC-Format), der
nach der Lektüre von den Probanden bearbeitet wurde, wur-
de u.a. nach richtigen Kontexten des Wortes ‚Artikel‘ gefragt.
Alle acht Proband(inn)en haben hier den richtigen Kontext
(„Gericht, Gesetz“) zugeordnet. Aus den Kommentaren wurde
teilweise deutlich, dass den Probanden das Wort sehr geläu-
g ist. Angesichts dieser – zweifellos explorativen – Befunde
stellt sich die Frage, ob die Ersetzung des Wortes in der „leich-
ten“ Fassung effektiv oder nicht vielmehr eine Unterschät-
zung der Wortschatzkenntnisse der Adressatengruppe ist. Im
Verstehensfragebogen wurde weiterhin nach dem Zeichen §
(als Bild abgebildet) gefragt, das im Menschenrechtstext vor-
kommt, aber nicht erklärt wird. Sechs der acht Proband(inn)
en wählten die richtige Antwort aus – das Zeichen kommt „im
Gesetz“ vor –, zwei Probanden (Alpha-Level 2 und 3) gaben
an, es käme „an Apotheken“ vor. Nicht alle der sechs Proband-
innen und Probanden, die die richtige Antwort ausgewählt
hatten, konnten auf Nachfrage sagen, wie man das Zeichen
nennt. Hier wird deutlich, dass es auch bei mehr oder weniger
geläugen sprachlich-zeichenhaften Phänomenen Verstehens-
hürden geben kann. Bei einem Probanden zeigte sich bei dieser
Aufgabe eine hohe Sprachkompetenz: Er verstand die Frage,
beantwortete sie korrekt und reektierte ausgehend von der
enthaltenen Präsupposition Bedeutungsalternativen:
101
„Leichte Sprache“
(Frage: Wo kommt das Zeichen § noch vor?)
EL37_MER: Aber das das is auch wieder ‚n Widerspruch Wi-
derspruch, weil die Frage is ja: „Wo kommt das Zeichen (.)
Paragraph NOCH vor?“13
Je nachdem, ob der Text für einen Lehr-Lern-Kontext oder
einen „Selbstbenutzer“-Kontext gedacht ist, müssten unter-
schiedliche Strategien zur Verstehensabsicherung gewählt
werden. Wenn der Text dazu dient, im Sozialkunde-Unterricht
das Thema Menschenrechte zu erarbeiten, sind andere sprach-
lich-textuelle Mittel und Zielsetzungen angemessen als im Fall,
dass der Text im Deutschunterricht genutzt wird, um sprach-
liche Variation zu reektieren, Lesestrategien einzuüben, Text-
funktionen zu unterscheiden etc. Gerade die „Zweisprachig-
keit“ des gewählten Beispieltextes bietet für die Sprachree-
xion oder auch für fachsprachliches Lernen Möglichkeiten.
Denkbar wäre beispielsweise ein Unterrichtssetting, in dem
ein Artikel der Menschenrechte in beiden Fassungen genutzt
wird, um die sprachliche Form zu reektieren: In Kleingrup-
pen, die entweder die Original- oder die „leichte“ Fassung
betrachten, könnte z.B. der Frage nachgegangen werden, was
die Sprache leicht oder schwer verständlich macht, wie sie sti-
listisch wirkt und wodurch. Es könnten grammatische Aspekte
wie die Verteilung von Wortarten (z.B. Verben und Substanti-
ve) untersucht und die Anteile in den Fassungen verglichen
werden etc. Den Einstieg könnte eine Phase bilden, in der die
Gruppen sich zunächst gegenseitig von den gelesenen Inhalten
berichten und hier ein erster offener Vergleich zwischen den
Fassungen stattndet. Ob dann die gleiche Aufgabenstellung
bearbeitet wird oder individuell abgestuft Schwerpunkte ge-
setzt werden, hängt von der Klassenzusammensetzung ab. Je
nachdem bieten sich dann unterschiedliche Lernsituationen an
(Hölzner 2014: 50ff.).
13 Die Transkriptionskonvention orientiert sich an Kuckartz 2008,
ergänzt durch einige genauere Konventionen aus GAT 2.
102 Bettina M. Bock
Die Beurteilung und didaktische „Brauchbarkeit“ eines Textes
hängt also offenkundig nicht nur vom Text selbst ab. In didak-
tischen Kontexten sind sprachliche Herausforderungen immer
auch Lerngelegenheit. Die Texte sind begleitet von zusätzli-
chem Scaffolding, z.B. durch die Lehrperson im Unterricht. Bei
der empirischen Erforschung der Verständlichkeit und Ange-
messenheit von „Leichte Sprache“-Texten sind also unbedingt
der Verwendungszusammenhang und die Zielstellung des
Textes einzubeziehen. Generelle (und einfache) Aussagen, wel-
che sprachlichen Mittel geeignet und welche ungeeignet sind,
bleiben häug zu pauschal; hinzu kommt die angesprochene
Heterogenität der Zielgruppe. Hilfreich für die Entwicklung
(inklusiver, differenzierender) Lehrmaterialien in Richtung
Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung wäre eine
Schließung zentraler Forschungslücken:
• Wie sind die Lesekompetenzniveaus in den entsprechenden
Schülergruppen – gemessen an der Verstehensleistung – ver-
teilt?
• Wie können Potenziale durch zielgruppenspezische Förderung
und Instruktion besser ausgeschöpft werden (vgl. Allor et al.
2010)?
• Für welche Gruppen sind welche Schriftspracherwerbsstrategi-
en effektiv? Was sind effektive Methoden im inklusiven Kontext?
• Wo lassen sich sonderpädagogische Erfahrungen direkt in den
inklusiven Unterricht übernehmen, wo ist es gerade sinnvoll,
davon abzusehen?
• Welche Leseschwierigkeiten sind eigentlich (je nach Lesekompe-
tenzniveau oder anderen Merkmalen) vorhanden etc.?
Im Unterricht erfordert die individuelle Leseförderung zu-
nächst eine differenzierte Diagnostik. In den Blick genommen
werden muss dann sowohl die Prozessebene des Lesens als
auch die Subjekt- und soziale Ebene. Das Beispiel des Men-
schenrechtsartikels zeigt m.E., wie ein Text trotz seines abstrak-
ten Gehalts gerade aufgrund des Themas (das einen Bezug zu
individueller Diskriminierungs erfahrung herstellt) ansprechen
und Anschlusskommunikation anregen kann.
103
„Leichte Sprache“
6 Fazit
Viele Fragen in Bezug auf „Leichte Sprache“ im inklusiven Fach-
unterricht sind noch nicht geklärt. Einerseits fehlen empirische
Forschungen zum (sprach-)didaktischen Einsatz des Konzepts
ebenso wie empirisch fundierte Erkenntnisse zur Wirksamkeit
„Leichter Sprache“ bei den unterschiedlichen Adressatengrup-
pen. Andererseits muss m.E. auch theoretisch diskutiert wer-
den, wie „Leichte Sprache“ deniert und sprachlich geprägt
sein soll. Zum Wesen von Lehr- und Lernmaterialien gehört,
dass sie sprachlich und inhaltlich an ihre jeweiligen Adressaten
angepasst sind. Vor diesem Hintergrund gedacht, ist „Leichte
Sprache“ nichts grundlegend anderes. Die große Popularität
hat dem Phänomen bereits einen gesellschaftlich fest veranker-
ten Platz verschafft, so dass v.a. zu erforschen ist, inwiefern die
praktizierten Textgestaltungs-„Regeln“ in didaktischen Kon-
texten zielführend sind.
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108
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Diana Gebele & Alexandra L. Zepter
Nicht nur im Fach Deutsch, sondern generell in allen
Schulfächern stellen bestimmte sprachliche Kompeten-
zen eine Erfolgsbedingung dar, gleichwohl können sie
nicht bei allen Schülerinnen und Schülern in gleichem
Maße vorausgesetzt werden: Die Relevanz eines Zugriffs
auf fach- und bildungssprachliche Register macht einen
sprachsensiblen Unterricht zum fächer- und schulstu-
fenübergreifenden Desiderat. In Bezug gesetzt zu dem
gleichzeitigen Anspruch auf Inklusion argumentieren wir
für einen entwicklungsorientierten Unterricht, der allen
Schülerinnen und Schülern den Erwerb bildungssprach-
licher und fachsprachlicher Kompetenzen zum Ziel setzt.
Eine entsprechende Teilhabe erfordert didaktische Mo-
delle, die je nach Lernvoraussetzungen und Lernständen
ein diversiziertes Ausmaß an Unterstützung und Her-
ausforderung bzw. verschiedene Zugänge zum Lernge-
genstand ‚Sprachregister‘ gewähren und somit unter-
schiedliche Wege zu diesem Ziel ermöglichen.
1 Einleitung
Mit der Ratizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im
Jahr 2009 und dem darauffolgenden Beschluss der Kultusmi-
nisterkonferenz zur Inklusiven Bildung von Kindern und Ju-
gendlichen mit Behinderungen in Schulen aus dem Jahr 2011
wurde der rechtliche Rahmen für die Umsetzung der Inklusion
an deutschen Schulen geschaffen. Der KMK-Beschluss fordert
zum einen die Einhaltung von Standards und Zielsetzungen für
allgemeine schulische Abschlüsse, sieht zum anderen aber auch
109
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
die Berücksichtigung individueller Kompetenzen, Lernerfor-
dernisse und Zugangsweisen der Lernenden vor. Zur Gewähr-
leistung von Aktivität und Teilhabe in einem barrierefreien Un-
terricht und für den generellen Zugang zu Lerninformationen
sollen didaktisch-methodische Vorgehensweisen und Unter-
richtskonzepte genutzt werden, die die Bearbeitung der Lern-
gegenstände im Unterricht auf unterschiedlichen Wegen und
mit unterschiedlicher Zielstellung erlauben (vgl. KMK 2001: 9).
Der Diskurs um schulische Inklusion und eine Potenzierung
von Heterogenität, die sehr unterschiedliche Lernerinnen und
Lerner in einem gemeinsamen Unterricht zusammenbringt, hat
u.a. auch die Frage nach dem Einsatz von „Leichter Sprache“
aufgeworfen. Empfohlen wird hier die „Anpassung sprachli-
cher Inhalte, um z.B. schriftsprachliche und andere Kommu-
nikationsformen in leichter Sprache zugänglich zu machen“
(KMK 2011: 10). Das bedeutet, mit „Leichter Sprache“ ist die
Intention verknüpft, Sprache für bestimmte Lernergruppen
zu ‚vereinfachen‘, um ihnen auf diese Weise Zugang zu einem
sprachlich vermittelten Lerngegenstand zu gewähren, wel-
cher ohne diese Vereinfachung offenbar nur schwerlich oder
gar nicht zugänglich wäre. Auch für die Deutschdidaktik wird
„Leichte Sprache“ derart zum Thema (vgl. Bock i.d.Bd.)
Einem solchen Desiderat auf den ersten Blick diametral ent-
gegengesetzt scheint die Beobachtung, dass schulischer Erfolg
und darüber hinaus der „Zugang zu wichtigen gesellschaftli-
chen Domänen“ (Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 14) vorrangig
über das Vermögen bemessen wird, auf diverse vergleichswei-
se ‚komplexere‘ Sprachformen ─ wir könnten überspitzt auch
sagen auf ‚Schwere Sprache‘ ─ zuzugreifen. Gemeint ist damit
die Fähigkeit, bildungssprachliche, schul- und fachsprachliche
Register zu erlernen und funktional adäquat zu verwenden.
Die betreffenden Varietäten integrieren u.a. vermehrt sprach-
liche Mittel und Konstruktionen, die eine Varietät Leichter
Sprache gerade auszuschließen tendiert (z.B. komplexe No-
110
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
minalphrasen und Nominalisierungen, Passivkonstruktionen,
logische Konnektoren in Hypotaxen, abstrakte Begriffe etc.;
vgl. Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 13). Dabei kann bildungs-
sprachliche Kenntnis quasi als ein „kulturelles Kapital“ gefasst
werden, dessen Verfügbarkeit die gesamte Schullaufbahn und
gesellschaftliche Teilhabe in entscheidender Weise beeinusst
(vgl. Feilke 2013: 119; Bourdieu 1974: 192ff.).
Generell bilden entsprechende sprachliche Kompetenzen in
der Schule selbst im Deutschunterricht nicht nur ein Lernziel,
sondern auch ein Mittel, indem Sprache in allen Fächern ein
zentrales Medium des Lehrens und Lernens darstellt: Spra-
che regelt den Zugang zu den Lerngegenständen des Fachs
(Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 11).
In Konikt mit der Dominanz der bildungs- und fachsprach-
lichen Register spätestens ab der Sekundarstufe I tritt gleich-
wohl der Umstand, dass zahlreiche Schülerinnen und Schüler
─ auch ohne eine erweiterte Umsetzung von Inklusion ─ in
ihrer schulischen Gesamtlaufbahn an den bildungssprachli-
chen Voraussetzungen zu scheitern scheinen. Diese Heraus-
forderung hat ‚Bildungssprache‘ in den letzten Jahren quasi
zur „Leitvokabel“ (Feilke 2012: 4) und bildungssprachliche
Förderung in möglichst allen Fächern zum Leitziel werden las-
sen. Breitangelegte Forschungs- und Entwicklungsprogramme
wie etwa das u.a. vom BMBF und der KMK gemeinsam initi-
ierte BiSS-Programm „Bildung durch Sprache und Schrift“ le-
gen von dieser Dynamik ein eindrucksvolles Zeugnis ab; ein
„sprachsensibler Unterricht“ ist inzwischen auch curricular in
den Bildungsstandards der KMK und den Kernlehrplänen ver-
ankert.
Insgesamt wird der Forschungsdiskurs um geeignete didakti-
sche Konzepte für einen sprachsensiblen Deutsch- und Fach-
unterricht inzwischen lebhaft geführt; vgl. z.B. zur „durch-
gängigen Sprachbildung“ Gogolin et al. (2013). Methodisch
111
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
dominieren hier Ansätze, die sich in der einen oder anderen
Facettierung dem Konzept des Scaffolding unterordnen lassen
(vgl. Gibbons 2002, 2006, 2009). Der Begriff des Scaffolding lässt
sich am ehesten mit ‚Gerüst‘ übersetzen und verweist auf ein
temporäres sprachliches Vorbild oder eine sprachliche Instruk-
tion, die den Lernenden in der Zone ihrer nächsten Entwick-
lung (Wygotsky 1964) gegeben wird. Der Kerngedanke besteht
darin, im Unterricht bei dem anzusetzen, was die Lernenden
schon können, und ihre nächsten Entwicklungsschritte lernge-
genstandsbezogen durch ein strukturiertes sprachliches Input
und konstruktives Feedback, das als solches eine Art Hilfsge-
rüst bildet, zu unterstützen. Anschließend baut man das Ge-
rüst wieder ab und lässt die Lernerinnen und Lerner die neuen
Erfahrungen und Erkenntnisse noch einmal selbstständig auf
entsprechende Aufgaben applizieren.1
Disziplinenbezogen stammen die bestehenden Konzepte zum
sprachsensiblen Fachunterricht überwiegend aus der Zweit-
sprachen- und Mehrsprachigkeitsdidaktik. Das bedeutet, sie
sind vorrangig mit Blick auf Lernergruppen entwickelt, die bei
einem weiten Inklusionsbegriff einen durchaus gewichtigen
Teil der Heterogenität inklusiver Settings ausmachen. Nichts-
destotrotz stellt eine inklusive Perspektive, die den Begriff der
Inklusion ebenda so weit wie möglich fasst, im Fachdiskurs
bisher Neuland dar. Im vorliegenden Beitrag stellen wir dazu
einen potenziell weiterführende Analysen leitenden Ansatz
vor, der auf folgenden Grundannahmen bzw. Thesen aufsetzt:
1 Federführend hat Gibbons (2002) Scaffolding für Englisch-
als-Zweitsprache-Lernerinnen und Lerner entwickelt, wobei sie
ein von Wygotsky (1964, 1987, 1992), Bruner (2002) u.a. analysier-
tes Grundprinzip aus dem Erstspracherwerb aufgegriffen hat. Be-
obachtet man die diesbezüglichen spontanen Interaktionen zwi-
schen Caretaker und Kind, dann erreicht das Kind aus der Zone
seiner aktuellen Entwicklung konstruktiv die Zone seiner proxi-
malen Entwicklung, indem die Caretaker unbewusst in der Zone
der nächsten Entwicklung kommunizieren.
112
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
Erstens: Der scheinbare Widerspruch zwischen einem potenzi-
ellen Einbezug Leichter Sprache in inklusive Settings und dem
übergeordneten Ziel bildungs- und fachsprachlicher Kom-
petenzen für alle lässt sich nur dann auösen, wenn jegliche
Form der sprachlichen Unterstützung und des sprachsensiblen
Unterrichts entwicklungsorientiert gefasst wird. Das bedeutet,
Leichte Sprache, wenn man sie denn in welcher Form auch im-
mer einsetzt, grundsätzlich mit Bock (2015: 12) in Anlehnung
an Feilke (2012: 155) als „transitorische Sprachform und Norm
zu verstehen“, die nicht „Ziel“, sondern „Mittel im Sinne eines
Scaffolding der Kompetenzentwicklung“ ist. Generell kann es
sinnvoll oder auch notwendig sein, sprach- und fachbezoge-
ne Lerngegenstände für bestimmte Lernende in besonderem
Maße zu elementarisieren – allerdings nicht um die Lernge-
genstände als solche zu minimieren, sondern im Gegenteil, um
in der Gegenstandsannäherung Lernfortschritt zu ermöglichen.
Zweitens: Auch wenn Heterogenität durch Inklusion noch ein-
mal potenziert wird, können sich Scaffolding-afne Konzepte
als besonders fruchtbar erweisen (vgl. auch Gebele und Zepter
2016b). Sie sind jedoch mit Blick auf die verschiedenen Lerne-
rinnen und Lerner (diverse Förderschwerpunkte, Mehrspra-
chigkeit, besondere Begabungen etc.) entwicklungsperspek-
tivisch zu differenzieren: Wir schlagen für einen ‚inklusiven‘
sprachsensiblen Fachunterricht und eine Förderung bildungs-
sprachlicher Kompetenzen, die potenziell alle Schülerinnen
und Schüler adressiert, ein Modell vor, das unterschiedliche
Grade und Formen von Unterstützung auffächert und auch
zusätzliche Herausforderung als Möglichkeit integriert. Bleibt
man im Bild des Lernwegs als ein „Bauen in die Höhe“, so
können manche Lernende durch ein Fassadengerüst unterstützt
werden, manche nden einen etwas direkteren Weg nach oben
über eine Leiter, manche können gar so herausgefordert wer-
den, dass eine Hebebühne sie freischwebend eine oder mehrere
Bauebenen überspringen lässt.
113
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Drittens: Ein inklusives Modell für sprachsensiblen Fachunter-
richt, das Unterstützung graduiert und variiert, gewinnt in sei-
ner Umsetzung durch eine Vielfalt der Zugänge zum sprachli-
chen und fachlichen Lerngegenstand. Gerade im Umgang mit
Texten argumentieren wir in Anlehnung u.a. an die Arbeiten
von Josef Leisen (2013) für Lernaufgaben, die mit einer Plurali-
tät von kognitiv-sinnlichen Zugriffen und Darstellungsformen
arbeiten (vgl. auch Gebele und Zepter 2016a).
Zur Entfaltung des skizzierten Ansatzes gehen wir im Weite-
ren wie folgt vor: Abschnitt 2 wirft zunächst einen noch etwas
detaillierteren Blick auf den Begriff des bildungs- bzw. fach-
sprachlichen Registers, erläutert, inwiefern entsprechende
Kompetenzen eine so dominante Rolle in schulischen Kontex-
ten spielen, und diskutiert, warum hier ein gewisser Grad an
‚Schwerer Sprache‘ funktionsbedingt unaufhebbar ist. Der An-
spruch, bildungs- und fachsprachliche Kompetenzen im Rah-
men von Inklusion möglichst allen Schülerinnen und Schülern
zugänglich zu machen, führt uns in Kapitel 3 zu einer inklusi-
ven Modellierung von Scaffolding, in der verschiedene Unter-
stützungsgrade bzw. -formen differenziert werden. Abschnitt 4
legt abschließend dar, inwiefern die praktische Umsetzung ei-
nes skalierenden und variierenden Scaffolding durch eine Viel-
falt der Zugänge zu den Lerngegenständen ermöglicht wird.
2 Bildungs- und fachsprachliche Register im schulischen
Kontext
Der Fachdiskurs um die Begriffe Bildungs- und Fachsprache,
zumeist auch in Abgrenzung zum Konzept der Alltagssprache,
wird rege, aber durchaus auch kontrovers geführt. An sich sind
insbesondere die Begriffe Bildungssprache und Alltagssprache
durch ihre grundsätzliche Unschärfe und die ihnen potenziell
auferlegten wertenden Konnotationen nicht unumstritten.
114
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
Aus unserer Sicht lässt sich jedoch mit der strukturell beding-
ten Klassizierung eines Sprachsystems als vergleichsweise
‚schwer‘ oder ‚leicht‘ grundsätzlich keine Wertung verbinden.
Sprachliche Formen können (leicht oder schwer) angemessen
oder unangemessen sein, aber auch dies niemals absolut, son-
dern nur relativ zu einem Kontext der Anwendung. Überdies
hat die Frage, ob dem Einzelnen eine strukturell oder auch kog-
nitiv als schwer oder leicht ausgewiesene Form in Produktion
und Rezeption realiter schwer oder leicht fällt, auch damit zu
tun, wie viel Kontakt er/sie zu der betreffenden Form bereits
hatte und hat. Generell ist der Bedarf an empirischen Untersu-
chungen in diesem Bereich noch immer groß.
Dass die Grenzen zwischen Alltags-, Bildungs- und Fach-
sprache ießend sind und es zu vielen Überschneidungen
kommen kann, ist auch im Gegenstand selbst begründet. Aus
soziolinguistischer Perspektive bedingt sich unser erstsprach-
liches Können grundsätzlich nicht aus einer in sich homoge-
nen Sprachkompetenz. Stattdessen stellt es ein heterogenes
Vermögen dar, das sich aus diversen Sprachvarietäten, d.i.
Dialekten, Soziolekten und Registern speist, die einerseits je-
weils als eigene Sprachsysteme mit spezischen Regeln und
Mustern zu fassen sind, andererseits aber auch Schnittmengen
bilden (vgl. u.a. Roelcke 2011). Das heißt z.B., eine Erwachsene
mit deutscher Erstsprache, die de facto verschiedene Varietä-
ten des Deutschen beherrscht, vereint unter dem Dach ihrer
‚Deutschkompetenz‘ einen Fächer unterschiedlicher, sich zum
Teil überlappender Sprachsysteme.2 In dieses Varietätenkonti-
nuum fallen dann auch Alltags-, Fach- und Bildungssprache.
Mit Halliday (1978: 195) können sie – als hinsichtlich der funk-
2 Labov (1978) hat in diesem Zusammenhang auch von einer Mehr-
sprachigkeit in der Erstsprache gesprochen – was nichts anderes
bedeutet, als dass jeder, auch der vordergründig monolinguale
Mensch, mehrsprachig ist.
115
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
tionalen Reichweite hoch markierte, diaphasische Varietäten
– als ‚Register‘ kategorisiert werden (vgl. auch Riebling 2013).
Dieser faktisch inhomogenen Sprachkompetenz zum Trotz:
Für den Zugang zu einer bestimmten sozialen Gruppe, insbe-
sondere aber auch für das erfolgreiche Meistern einer Kom-
munikationssituation kann es entscheidend sein, ob man die
jeweils verlangte Varietät, das passende Register beherrscht,
aufzurufen und angemessen anzuwenden weiß.
Bildungs- und fachsprachliche Register sind aus struktureller
bzw. kognitiver Perspektive insofern ‚schwer‘, als dass sie vor-
zugsweise der Erkenntniskommunikation, der Wissensaneig-
nung und Wissensverbreitung dienen (Feilke 2012, nach Czic-
za und Henning 2011) und in diesem Rahmen stark von Litera-
lität und Textualität geprägt sind (u.a. auch Portmann-Tselikas
und Schmölzer-Eibinger 2008): Kommunikation, die sich auf
Erkenntnis richtet und diese verhandelt, erfordert in hohem
Maße eine Sprache, die vom unmittelbaren Wahrnehmungs-
raum abstrahiert und situationsentbunden ist. Im selben Zu-
griff involviert die Aneignung und Verbreitung von Wissen in
der Regel einen verständigen Umgang mit Texten. Dabei wird
unter ‚Text‘ in diesem Zusammenhang gemeinhin nach Eh-
lich jegliches Produkt der Überwindung der Flüchtigkeit der
unmittelbaren, situativ eingebundenen Sprechhandlung über
deren einfache Re-Instantiierung hinaus gefasst (Ehlich 1994,
2007) ─ was ebenda eine Entkopplung von Sprachhandlung
und spezischem Wahrnehmungsraum impliziert. Zwar sind
Texte sowohl im Medium der Schrift als auch in der Münd-
lichkeit möglich, aber der Anspruch einer Überwindung der
Flüchtigkeit der situativ eingebundenen Sprechhandlung hin
zu einer situationsungebundenen Rede bedingt grundsätzlich
eine explizitere und differenziertere, gleichzeitig informations-
dichtere Sprache. Deren Verstehen setzt mit dem Heraustre-
ten aus einem aktualen Wahrnehmungsraum die Etablierung
116
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
eines Vorstellungsraumes und damit verbunden ein größeres
Abstraktionsvermögen voraus.
Feilke (2012) hebt überdies hervor, dass in den betreffenden
Kontexten bildungs- und fachsprachlicher Erkenntniskom-
munikation gehäuft spezielle Sprachhandlungstypen bzw.
Texthandlungstypen wie Beschreiben, Berichten, Begründen,
Argumentieren, Erklären etc. auftreten. Für deren Gestaltung
sind wiederum neben einem gegenstandsbezogenen Fachwort-
schatz insbesondere je spezische kommunikativ-sprachliche
Handlungskomponenten und wiederkehrende Formulierun-
gen, d.i. den jeweiligen Typ charakterisierende Textprozeduren
(Feilke 2014) typisch. Bildungssprachliche Kompetenzen lassen
sich vor diesem Hintergrund auch über den exiblen und dif-
ferenzierten Zugriff auf entsprechende Sprachhandlungen in-
klusive der passenden sprachlichen Komponenten bemessen.
Gerade dadurch dass die Kommunikation der speziellen Funk-
tion von Erkenntnisgenerierung, Wissensvermittlung und Wis-
sensverbreitung dient und in diesem Rahmen gehäuft mit spe-
zischen Sprachhandlungen verbunden ist, lässt sich die Re-
gisterkomplexität nur bedingt reduzieren. So steigt zum einen
mit zunehmender Informationsmenge fast zwangsläug der
Anspruch an inhaltliche Verdichtung, Kohärenz und Struk-
turiertheit (Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 18). Zum anderen
verlangt z.B. eine adäquate Abbildung von Generalisierungen,
die ja eine der primären Ziele von Erkenntnisgewinnung sein
können, dass sie von spezischen Situationen und Personen
abstrahieren. Das folgende Beispiel zeigt exemplarisch, dass
zwar ein und dasselbe Phänomen sprachlich durchaus unter-
schiedlich gefasst werden kann; eine situationsentbindende
Generalisierung, die ein objektiv nachvollziehbares, allgemein-
gültiges Bedingungsgefüge erwirkt, vollzieht sich aber nur mit
bestimmten sprachlichen Mitteln. Dies ist in sukzessiv stärker
verdichteter Form nur in den Sätzen (2)-(4) gegeben. In (1) be-
117
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
schreibt dagegen eine Person aus subjektiver Perspektive ihre
konkrete, situativ verankerte Beobachtung (nach Gogolin et
al. 2011: 200f.):
(1) Als ich die Flüssigkeit abgoss, sah ich einen braunen Boden-
satz.
(2) Wenn man die Flüssigkeit abgießt, sieht man einen braunen
Bodensatz.
(3) Wird die Flüssigkeit abgegossen, zeigt sich ein brauner Bo-
densatz.
(4) Nach Abgießen der Flüssigkeit ist ein brauner Bodensatz
sichtbar.
In ähnlicher Form verlangt die Darstellung von Ursache-Wir-
kungs- oder Begründungszusammenhängen den Einsatz von
kausalen Konnektoren bzw. hypotaktischen Konstruktionen,
die diverse logische Relationen abbilden können. Begriffe, oft-
mals abstrakt, müssen präzise deniert sein etc. All dies schafft
eine sprachliche bzw. kognitive Komplexität, die sich höch-
stens graduell, aber nicht komplett auösen lässt, insofern sie
sich aus den Inhalten selbst begründet.
Bildungs- und fachsprachliche Register sind nun aber nicht nur
aus struktureller bzw. kognitiver Perspektive vergleichsweise
‚schwer‘. Komplettiert wird die Herausforderung dadurch,
dass entsprechende sprachliche Kompetenzen nicht zwingend
als Teil des Erstspracherwerbs angebahnt werden: In familiären
und privaten Kontexten werden bildungs- und fachsprachli-
che Register nicht notwendig aufgerufen, solange dort keine
Erkenntniskommunikation im Vordergrund steht. Auch eine
vorschulische Präliteralisierung, die quasi eine Brücke baut,
um zu lernen, in spezischen (Sprach-)Handlungskontexten
vom Wahrnehmungsraum in den Vorstellungsraum zu gelan-
gen, und die derart die nötige Entwicklung von Abstraktions-
vermögen unterfüttert, stellt sich nicht spontan und von allei-
ne ein. Eine solche Form der Präliteralisierung erfordert einen
gesättigten Umgang mit Bilderbüchern, Vorlese- und Erzählsi-
118
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
tuationen, Sprachspielen u.Ä., welcher nicht in allen Familien
ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann.
Zu beachten ist dazu, dass in solchen spielerischen, nicht be-
wusst gesteuerten Enkulturationsprozessen Kinder stets über
die Brücke des Wahrnehmungsraums und damit im Zuge ei-
ner sinnlich reichen Interaktion in den Vorstellungsraum ge-
führt werden. Vorlesen ist besonders fruchtbar, wenn mit dem
Kind über die Geschichten und Bilder gesprochen wird, wenn
also das Vorlesen durch längere Gesprächsinseln mit viel laut-
sprachlicher und auch mit gestischer und mimischer Interakti-
on angereichert wird. Kinderreime geleiten oft vom Hier und
Jetzt der körperlich erfahrbaren Anschauung in die Vorstel-
lung3.
Im Rahmen der Zweitspracherwerbsforschung hat Cummins
die für bildungssprachliche Register erforderlichen Kompe-
tenzen auch als Cognitive Academic Language Prociency
(CALP), also als kognitiv-akademisches Sprachkönnen gefasst
und dies mit Basic Interpersonal Communication Skills (BICS)
kontrastiert: Auch Letztere, die basalen interpersonalen Kom-
munikationsfähigkeiten in einer Zielsprache zu entwickeln,
ist mitnichten eine triviale Angelegenheit. Sowohl Erst- als
auch Zweitsprachlernende haben aber dazu in ihrer privaten
und alltäglichen Lebenswelt im Kinder- und Jugendalter weit
mehr Gelegenheiten, als sie im Durchschnitt außerhalb von
schulischen Settings Zugang zu bildungs- und fachsprachli-
chen Registern hätten (vgl. Cummins 1979, 2000). Und inso-
fern kognitiv-akademisches Sprachkönnen auch nicht ohne ein
entwickeltes Abstraktionsvermögen zu haben ist, erfordert es
in der Regel auch ein Mehr an systematischer Instruktion und
3 Man vergleiche etwa Abzählreime wie den Daumenreim, der den
Vorstellungsraum gestisch andeutet („Das ist der Daumen, der
schüttelt die Paumen. Der hebt sie auf, der trägt sie nach Haus.
Und der Kleine isst sie alle wieder auf.“).
119
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
damit lernunterstützender Steuerung von außen. Stehen also
bildungs- und fachsprachliche Register im Fokus, dann rücken
Erst- und Zweitsprachlernende näher zusammen. Die Heraus-
forderung ist im schulischen Kontext für beide Gruppen ten-
denziell gleich groß, wenn vor und außerhalb der Schule ‚bil-
dungsferne‘ Kontexte überwiegen.
Was bedeutet all dies für die – inklusive – schulische Praxis?
Der Punkt, dass sich bildungs- und fachsprachliche Register
generell nicht spontan entwickeln, impliziert an sich bereits
ein hohes Maß an Heterogenität, die sich durch disparate au-
ßerschulische Vorerfahrungen bedingt. Der Anspruch an Un-
terstützung im Falle von fehlenden Vorerfahrungen hat im
Fachdiskurs zur Entwicklung diverser Scaffolding-Konzepte
geführt, die neben der Kernidee des temporären Gerüsts auch
auf der Grundlage aufbauen, dass einerseits sprachliches Ler-
nen am Gegenstand oriert und andererseits in umgekehrter
Richtung auch fachliches Lernen vorrangig sprachlich basiert
ist. Diese wechselseitige Verzahnung von sprachlichem und
fachlichem Lernen motiviert ein fächerübergreifendes sprach-
liches Lernen, das heißt neben dem sprachlichen Lernen im
Deutschunterricht auch einen sprachsensiblen, scaffolding-ba-
sierten Fachunterricht. Bezieht man die betreffenden Konzepte
auf Inklusion, dann scheinen in Deutsch- und Fachunterricht
implementierte Scaffolding-Prinzipien auf den ersten Blick
auch z.B. diversen Förderschwerpunkten zugute zu kommen.
Geht man gleichwohl von einem weiten Inklusionsbegriff aus,
impliziert die – in einem Klassenzimmer vereinte – Potenzierung
der Heterogenität aus unserer Perspektive eine Erweiterung
des Gerüstkonzepts: und zwar in der Form, dass die Model-
lierung die Aspekte der Graduierung und Variation integriert.
Der nächste Abschnitt entfaltet dazu einen Vorschlag.
120
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
3 Erweiterung des Scaffolding-Konzepts für inklusive
Lernsituationen: Gerüst, Leiter und Hebebühne
Der Kerngedanke jeglicher Form von Scaffolding ist, sprach-
sensiblen Unterricht generell nach Wygotskys Konzept der
Zone der proximalen Entwicklung entlang einer spezischen
‚Treppe‘ aufzubauen (Gibbons 2002, 2009; vgl. zusammenfas-
send auch Gebele und Zepter 2016b): Wie oben bereits ausge-
führt, setzt man bei dem an, was die Lernerin, der Lerner schon
können. Man unterfüttert ihren nächsten Entwicklungsschritt
hin zu einer ‚höheren Treppenstufe‘ durch strukturiertes
sprachliches Input und konstruktives Feedback. Anschließend
baut man das Hilfsgerüst wieder ab und lässt die Lernerin, den
Lerner die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse noch einmal
selbstständig auf passende Aufgaben anwenden. Das bedeutet,
die Lernenden gehen eine spezische Lerntreppenstufe zuerst
mit Gerüst, dann zur Sicherung noch einmal ‚freihändig‘ hin-
auf.4
Unser Punkt: Setzt man das Modell von Lehr-Lern-Prozessen
als (gerüstete) Treppe zur Heterogenität von Lernenden in Be-
zug, impliziert man letztlich, dass sich verschiedene Lernen-
4 Nach Gibbons (2006) umgreift ein typischer Scaffolding-Drei-
schritt drei Unterrichtsphasen, in denen die Schülerinnen und
Schüler sukzessive einen Lerngegenstand erkunden und damit
verknüpft ihr fachsprachliches Register erweitern. In der ersten
Phase erforschen sie z.B. in Kleingruppen ein Phänomen und
tauschen sich über ihre unmittelbaren Beobachtungen aus. In der
zweiten Phase berichten sie über ihre Experimente und Entde-
ckungen im Plenum. Hier ndet das eigentliche sprachbezogene
Scaffolding statt, indem die Lehrkraft das Berichten unterstützt
und z.B. fachsprachliche Begriffe und Phrasen bzw. Textproze-
duren (im Sinne Feilkes; vgl. Feilke 2014) einspeist. In der dritten
Phase schließlich üben sich die Lernenden im Berichten ‚ohne Ge-
rüst‘, indem sie selbstständig z.B. einen Experimentbericht ver-
fassen.
121
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
de vorzüglich darin unterscheiden, dass sie auf verschiedenen
Stufen der Treppe stehen bzw. einsteigen: Weiterentwickelte
Lernende steigen auf einer höheren Stufe als weniger entwi
ckelte Lernende ein. So attraktiv dieses Bild auch sein mag, es
modelliert doch noch nicht, dass Lernende sich auch (a) darin
unterscheiden können, wie schnell ihre Entwicklungsprogressi-
on in der Auseinandersetzung mit einem spezischen Lernge-
genstand verläuft; und (b) dahingehend, auf welche Weise sie
sich dem Gegenstand am fruchtbarsten und effektivsten nä-
hern.
Dabei haben wir an anderer Stelle (2016a) sehr wohl auch da-
für argumentiert, dass auch hochgradig inklusive Klassen es
erfordern, in der Lehre Instruktion und Konstruktion so zu
balancieren, dass die Instruktion der Lehrkräfte grundsätzlich
die Konstruktivität der Lernprozesse berücksichtigt und stützt.
Hier folgen wir zum einen mit Reinmann und Mandl (2006)
einem gemäßigten Konstruktivismus (für den Inklusionskon-
text ebenso Reich 2012, 2014) und gehen davon aus, dass Ler-
nende, die etwas Neues erlernen, das sie nicht spontan erwer-
ben, instruktive Unterstützung benötigen – auch wenn sich
der Lernprozess erkenntnistheoretisch betrachtet prinzipiell
konstruktiv gestaltet.5 Zum anderen sehen wir aus handlungs-
praktischer und lernmotivationstheoretischer Perspektive den
Fokus im besten Fall generell – also ebenfalls bei allen Ler-
nenden – darauf gesetzt, die Lernerautonomie und bewusstes
Lernen zu fördern bzw. den pragmatischen Blick für die eige-
nen Fähigkeiten zu schärfen (vgl. u.a. Wild 2002, Berndt 2002,
Haitink und Haenen 2002, Dörnyei 2003, Dörnyei und Ushioda
2011).
Kurz gefasst: Auf der einen Seite brauchen alle Lernenden
Instruktion, aber alle konstruieren auch ihren je spezischen
5 In der Konsequenz erhält die Lehrkraft eine zentrale Schlüssel-
funktion (vgl. auch Hattie 2009).
122
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
Lernweg und sollten in ihrer Autonomie unterstützt werden.
Auf der anderen Seite geht gerade aufgrund der Konstruktivi-
tät und aufgrund personeller Individualität jede/-r Lernende
je nach Lerngegenstand auch potenziell unterschiedlich schnell
und auf unterschiedliche Weise vor. Möchte man diese ver-
schiedenen Aspekte zusammen auswerten und auf bildungs-
und fachsprachliche Kompetenzentwicklung in inklusiven
Kontexten anwenden, ist aus unserer Perspektive eine Erwei-
terung des Scaffolding-Modells um das Moment vielfältigerer
Graduierung und das der Variation von Instruktion bzw. von
Unterstützung oder Herausforderung sinnvoll. Manche Schü-
lerinnen und Schüler werden z.B. in einem bestimmten Ent-
wicklungsschritt am meisten von sehr stark unterstützenden
Verfahren protieren – Verfahren, die beim Einsatz von alltags-
sprachlichen Registern oder auch von Formen ‚Leichter Spra-
che‘ ansetzen und von dort sukzessive zu ersten fachsprach-
lichen Formen hinführen. Andere Schülerinnen und Schüler,
deren Lernprogression schneller verläuft, werden dagegen am
ehesten gewinnen, wenn sie nicht ‚bottom up‘, sondern eher
‚top down‘ vorgehen und sich direkter mit der Erschließung
von fachsprachlichen Formen herausfordern. Wir gehen davon
aus, dass es in stark heterogenen Gruppen kaum möglich ist,
dass alle Lernenden von einer, zentriert durch die Lehrkraft
gesteuerten Form des Scaffolding bestmöglich protieren kön-
nen. Stattdessen verlangt hier eine Arbeit am gemeinsamen
Gegenstand oder in gemeinsamen Lernsituationen die Kombi-
nation von verschiedenen Graden und Formen von Scaffolding.
Bleiben wir im Bild des Lernens als ein ‚Bauen in die Höhe‘,
ist dieser Vergleich durchaus noch immer tragfähig, insofern
wir auch auf realen Hochbaustellen unterschiedliche Formen
von Möglichkeiten des Emporsteigens vornden. Im folgen-
den Modellvorschlag unterscheiden wir drei Grundtypen von
Unterstützung bzw. Herausforderung: (a) das Fassadengerüst,
(b) die Leiter und (c) die Hebebühne: Das Fassadengerüst steht
123
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
für eine vergleichsweise starke bzw. intensive Form des Scaf-
folding, bei dem der Lernende überdies in relativ moderatem
Tempo voranschreitet. Die Spracharbeit setzt ‚bottom up‘ bei
alltagssprachlichen Formen und/oder Formen ‚Leichter Spra-
che‘ an. Die Hebebühne repräsentiert dagegen eine sehr leichte
Form des Scaffolding, der Lernende wird mit ihr quasi ‚direkt
nach oben gefahren‘ und von Anfang an ‚top down‘ mit dem
Lernziel konfrontiert und herausgefordert. Die Instruktion regt
hier eine unmittelbare Auseinandersetzung mit bildungs- und
fachsprachlichen Formen an. Die Leiter symbolisiert schließ-
lich einen Mittelweg zwischen starker Unterstützung und
starker Herausforderung. Grundsätzlich kann natürlich auch
zwischen verschiedenen Unterstützungsformen gewechselt
werden:
Abb. 1: Gerüst, Leiter, Hebebühne
Auch dieses Modell ist notwendig verkürzt. Es expliziert aber
den Punkt, dass inklusive Settings mit sehr heterogenen Lern-
gruppen eine Verechtung von unterschiedlichen Unterstüt-
zungsformaten verlangen, die sowohl verschiedenen Lernge-
schwindigkeiten als auch variablen Lernqualitäten Rechnung
124
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
trägt. Für die Umsetzung eines solchen skalierenden und va-
riierenden Scaffolding, bei dem in einer gemeinsamen Unter-
richtssituation auch verschiedene Etappen-Lernziele aufgefä-
chert werden können, geben wir im folgenden Abschnitt ab-
schließend weitere Anregungen. Im Vordergrund steht dabei
die Vielfalt der Zugänge zum Lerngegenstand.
4 Vielfalt der Zugänge
Gehen wir davon aus, dass das übergeordnete Ziel für alle Ler-
nenden der Aufbau fachlicher Kompetenzen und damit ver-
zahnt die Erweiterung der hierfür benötigten bildungs- bzw.
fachsprachlichen Kompetenzen ist: Wie lassen sich dann unter-
schiedliche Unterstützungsangebote (Fassadengerüst, Leiter
und Hebebühne) in konkreten gemeinsamen Unterrichtssitua-
tionen miteinander verknüpfen? Bei einem weiten Inklusions-
begriff können entsprechende Situationen Schülerinnen und
Schüler mit an sich bereits durchaus disparaten Förderschwer-
punkten (vgl. u.a. auch Heimlich und Wember 2012, Stein und
Müller 2015), mit diversen vor- und nebenschulischen, lernre-
levanten Erfahrungen, mit unterschiedlichen sprachlichen und
kulturellen Erfahrungen und nicht zuletzt auch mit verschie-
denen Dimensionen von ‚Hoch- und Normal‘-Begabung zu-
sammenbringen.
In diesem Rahmen sehen wir besonderes Potenzial darin, für
die Heranführung an bildungs- und fachsprachliche Formen
und den jeweiligen Fachgegenstand zum einen diverse Kanä-
le bzw. Medien zu nutzen (visuell, auditiv, haptisch, kognitiv
etc.); und zum anderen in der Auseinandersetzung mit den
zugehörigen Fachtexten damit zu arbeiten, den Text in ver-
schiedene Darstellungsformen zu überführen ─ und dies auch
von den Schülerinnen und Schülern selbst entwickeln zu las-
sen. Gerade Letzteres offeriert aus unserer Sicht mannigfaltige
125
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Lernchancen, insofern (a) verschiedene Darstellungsqualitäten
─ sei es sprachlich (in diversen Registern), bildlich/graphisch,
mathematisch, schematisch usw. – den unterschiedlich Lernen-
den je besondere Zugriffe gewähren; und (b) die selbstständige
oder kooperative Überführung in eine andere Darstellungs-
form je nach Unterstützungsformat (Hebebühne, Leiter, Fassa-
dengerüst) über das implizite Lernen hinaus auch Registerre-
exion ermöglicht und Sprachbewusstheit anregt (vgl. dazu im
Besonderen auch Leisen 2004, 2013).
Wir wollen dies am Beispiel des Themas „Hebel im Gleichge-
wicht“ verdeutlichen. Hier wird die Nutzung verschiedener
Darstellungsformen im Fachunterricht sowie die Steigerung
des Abstraktionsgrades im Zusammenhang mit dem Wechsel
der Darstellungsform illustriert.
Zugang 1: Experiment auf gegenständlicher, körperlich-physischer
Ebene
Der Einstieg in das Thema kann mithilfe eines oder mehrerer
konkreter Experimente gefunden werden. Hierbei ist der ge-
genständliche Bezug für das Verständnis von physikalischen
Gegebenheiten vorteilhaft und auch die Nutzung von alltags-
sprachlichen Registern möglich. Um beispielsweise das Prin-
zip eines Hebels zu verstehen, probieren die Schülerinnen und
Schüler eine Wippe aus und nden heraus, dass das Gleichge-
wicht auf der Wippe entweder durch gleiche Kräfte und glei-
che Entfernung bzw. durch unterschiedliche Kräfte und un-
terschiedliche Entfernung zur Drehachse herzustellen ist. Die
Fachbegriffe ‚Drehachse’, ‚Hebelarm’, ‚Gleichgewicht’, ‚Kraft’
werden gegenständlich bzw. körperlich-physisch erfahren und
in der mündlichen Sprache verwendet.
126
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
Abb. 2: Gleichgewicht auf der Wippe
Zugang 2: Schematische/graphische Darstellung mit einigen fach-
sprachlichen Elementen
Bei einer graphischen Darstellung steigt das Abstraktionsni-
veau und somit die Herausforderung für das inhaltliche Ver-
ständnis. Die schriftliche Form der Fachbegriffe wird eingeführt.
Abb. 3: Gleichgewicht am Hebel
Drehachse D
Hebelarm l
1
Hebelarm l
2
Gewichtskraft F
1
Gewichtskraft F
2
127
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Zugang 3: Fachsprachliche Darstellung in Texten
Bei der Darstellung des Hebels in einem fachsprachlichen
Fließtext sind verschiedene Komplexitätsstufen möglich. Dar-
über hinaus können sprachliche Hilfen das Verständnis des
Textes unterstützen.
Variation sprachlicher Komplexität
Beispiel 1:
komplexere Version
Das statische Gleichge-
wicht am Hebel kann
hergestellt werden,
indem die Produkte
aus Gewichtskraft am
Hebelarm auf beiden
Seiten der Drehachse
gleichwertig sind.
Beispiel 2: einfachere Version
Ein Hebel ist genau dann im Gleichwicht,
wenn das Multiplikationsergebnis aus
Gewichtskraft und Hebelarm auf beiden
Seiten der Drehachse gleich ist.
Multiplikationsergebnis: das Ergebnis
der Multiplikation
Gewichtskraft: Kraft des Gewichts
Hebelarm: Arm des Hebels
Abb. 4: Fachsprachliche Erklärung
Neben den zwei aufgeführten Beispielen lassen sich weitere,
mehr oder weniger sprachlich komplexe Versionen entwickeln.
In der Weiterführung ist die fachsprachliche Darstellung
in Texten stets an bestimmte Textsorten gebunden, so etwa
im vorliegenden Fall sicherlich auch an die Textsorte Ver-
suchsprotokoll, deren Entwicklung im Anschluss an Zugang
1, den Experimenten mit Wippe, naheliegt. Aber auch andere
Text- und damit Darstellungsformen sind denkbar: Alternativ
kann das Gleichgewicht am Hebel z.B. auch in einem Comic
erklärt werden. Ein Comic enthält über den Schrifttext hin-
aus auch bildliche Elemente, die jedoch im Gegensatz zu einer
(ausschließlich) graphischen Darstellungsform potenziell eine
andere Form der Anschaulichkeit evozieren; im Schrifttext
kann ein Comic überdies auch unterschiedliche Grade sprach-
128
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
licher Komplexität aufweisen. Als Grundlage könnte z.B. das
Gespräch eines Fachnovizen mit einem Experten, in unserem
Fall mit dem antiken Gelehrten Archimedes genutzt werden.
Der Experte Archimedes erklärt einer Schülerin das Prinzip ei-
nes Hebels und nutzt dabei ausgewählte Komponenten eines
fachsprachlichen Registers.
Abb. 5: Gespräch Fachnovize mit Experte Archimedes
Im Prinzip kann der Comic von der Lehrkraft vorbereitet und
vor der Lektüre des Fließtextes eingesetzt werden. Eine andere
Möglichkeit wäre jedoch, einige Schülerinnen und Schüler den
Comic nach der Lektüre des Fließtextes selbständig in Einzel-
arbeit oder kooperativ erstellen zu lassen. Als Rezipienten kä-
men in diesem Fall Schülerinnen und Schüler in Frage, die bei
der Bearbeitung des Themas weniger fortgeschritten sind.
Zugang 4: Formelhafte Darstellung
Der höchste Abstraktionsgrad wird erreicht, wenn die Schüle-
rinnen und Schüler die Formel F1 x l1 = F2 x l2 entwickeln. We-
sentlich für ein Verstehen der Formel kann dabei gerade die
Hm, ich erkläre es
dir ...
Lieber Archimedes,
Sie haben mal gesagt: „Gebt
mir einen festen Punkt , und
ich will die Erde aus den
Angeln h eben.“ Wie haben
Sie es g emeint?
129
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Bezugnahme zu den alternativen gegenständlichen bzw. phy-
sisch-körperlichen, bildlichen und sprachlichen Darstellungs-
formen sein.
Der aufgeführte Fächer von Darstellungsformen ist nur ein Bei-
spiel, der zentrale, generelle Punkt dabei ist: Nicht alle Darstel-
lungsformen sind für alle Schülerinnen und Schüler zwangs-
läug notwendig; arbeitet man mit verschiedenen Zugängen,
kann jedoch vorzüglich die wechselseitige In-Bezug-Setzung
die Verstehensprozesse unterstützen. Auch im obigen Beispiel
müssen die thematisierten Zugänge nicht zwingend in der auf-
geführten Reihenfolge erfolgen und überdies können zusätz-
liche Arbeitsschritte bzw. weitere (sprachliche) Arbeitsmateri-
alen zur Anleitung einer Darstellungsform eingebaut werden.
Denkbar ist z.B. auch eine Arbeit mit Kleingruppen, die sich
dem Phänomen jeweils aus unterschiedlichen Richtungen nä-
hern oder die wechselseitig füreinander eine bestimmte Dar-
stellungsform erarbeiten. Es ist der Fächer verschiedener Dar-
stellungsformen, der wiederum eine Plattform für die Kom-
bination verschiedener Grade und Formen von Scaffolding
eröffnet. So bietet die Variation von Darstellungsformen viel
Potenzial für die Gestaltung differenzierender Aufgaben, die
ihrerseits an diversen Unterstützungsformaten (Gerüst, Leiter,
Hebebühne) ansetzen.
Grundsätzlich ist zu erwarten, dass insbesondere die selbst-
ständige Überführung von einer Darstellungsform in eine an-
dere sowohl für das Durchdringen des fachlichen Gegenstands
als auch für das sprachliche Lernen hilfreich ist (vgl. u.a. auch
Philipp 2012). Dies wird weiterführend sehr wahrscheinlich
auch für die Überführung von einer Textsorte in eine andere
gelten (hier z.B. Comic zu Gespräch Fachnovize/Experte und
Versuchsprotokoll zu einem Experiment mit Wippe). Für den
Kontext des Zweitspracherwerbs liegen bereits Arbeiten vor,
die die Relevanz des Textsortenwissens und der Textsortenbe-
130
Diana Gebele und Alexandra L. Zepter
wusstheit für die Sprachbildung im Fach überzeugend heraus-
stellen (vgl. z.B. Beese und Roll 2015, Frank und Gürsoy 2015).
In inklusiven Kontexten ist dabei gleichwohl aus unserer Per-
spektive zu beachten: Für unterschiedliche Lernende werden
die verschiedenen Zugänge unterschiedlich leicht oder heraus-
fordernd sein und genau deshalb scheint uns die Kombinati-
on der Zugänge und ebenso die Variation der selbstständigen,
kooperativen und/oder durch die Lehrkraft angeleiteten Über-
führung von einer Darstellungsform in die andere sinnvoll. Die
Ausarbeitung entsprechender Unterrichtsreihen und Arbeits-
materialien, die dann auch in konkreten inklusiven Settings
empirisch evaluiert werden können, stellen aus unserer Sicht
ein relevantes Forschungsdesiderat für den sprachsensiblen
Fachunterricht im inklusiven Kontext dar.
5 Fazit und Ausblick
Der sprachsensible Fachunterricht im inklusiven Kontext ist
noch weitgehend unerforscht. Wir haben in diesem Beitrag
dafür argumentiert, dass der Anspruch, bei Heranführung an
Fachgegenstände bzw. an Erkenntniskommunikation auch die
dafür notwendigen bildungs- und fachsprachliche Kompeten-
zen zu entwickeln, generell an alle Schülerinnen und Schüler
zu stellen ist. Dies verlangt nicht nur einen entwicklungsorien-
tierten Zugriff auf ‚Leichte Sprache‘ im Sinne von Scaffolding
(wenn ‚Leichte Sprache‘ in der einen oder anderen Form im
Unterricht zum Einsatz kommen soll). Vor allem ist in stark
heterogenen Lerngruppen eine Graduierung und Variation
von Scaffolding-Angeboten erforderlich, was wiederum die
Arbeit mit einer Vielfalt von kognitiv-sinnlichen Zugriffen und
bei Texten eine aktive Auseinandersetzung mit verschiedenen
Darstellungsformen desiderabel macht.
131
Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext
Grundsätzlich stellen sich im aufgeschlagenen Kontext zahlrei-
che neue Forschungsfragen. Während bereits die linguistische
Beschreibung der Besonderheiten von Erkenntniskommunika-
tion bzw. von Fachsprachen im schulischen Kontext in Zusam-
menarbeit mit den Fachdisziplinen weiter voranzutreiben ist,
gilt es vor allem auch, die Rezeption und Produktion von Er-
kenntniskommunikation und von Fachtexten durch Schülerin-
nen und Schüler mit diversen Förderschwerpunkten in Zusam-
menarbeit mit der Sonderpädagogik zu erforschen. Darüber
hinaus sind Vermittlungskonzepte der betreffenden Register
für inklusive Lerngruppen empirisch zu erproben und zu eva-
luieren. Dies betrifft aus unserer Perspektive auch die Erarbei-
tung von Lehrmaterialien, die diverse Zugänge berücksichti-
gen, also die gleichen Inhalte unterschiedlich präsentieren und
unterschiedliche Wege zur Erschließung des Lerngegenstands
anbieten.
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Empirie und Diagnostik
138
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
in den empirischen Bildungswissenschaften
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
Das klassische Experiment gilt in der empirischen For-
schung als der Königsweg, um kausale Ursachen-Wir-
kungs-Zusammenhänge zu erfassen und auf dieser Ba-
sis Erklärungen für künftige Ereignisse bzw. soziale
Phänomene abzuleiten. Allerdings empehlt sich trotz
der Vorteile nicht für jedes Untersuchungsanliegen die
Durchführung eines klassischen Experiments, sodass im
vorliegenden Beitrag weiterhin auch Untersuchungsplä-
ne im Rahmen quasiexperimenteller Forschung sowie
nicht-experimentelle Forschungsdesigns beleuchtet wer-
den sollen. Neben der grundlegenden Konzeption begin-
nend beim klassischen Experiment wird im Beitrag wei-
terhin auf konkrete Untersuchungspläne zur Erfassung
kausaler Beziehungsstrukturen eingegangen und jeweils
sowohl Vor- als auch Nachteile experimenteller, quasiex-
perimenteller und nicht-experimenteller Forschung her-
ausgearbeitet.
1 Einleitung
Wissenschaft verfolgt das Ziel, Erkenntnisse über Dinge und
soziale Zusammenhänge, im weitesten Sinn alles was existiert,
zu gewinnen. Diese Erkenntnisse über Entitäten helfen uns da-
rin, die Welt zu beschreiben, Erfahrungen zu erklären und Er-
eignisse vorherzusagen. Eine besondere Rolle nimmt dabei das
Aufdecken von Ursache-Wirkungs-Beziehungen ein. Kausale
Zusammenhänge erlauben es, zukünftige Ereignisse vorherzu-
sagen, indem wir von vorliegenden Ursachen die erwarteten
139
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
Wirkungen ableiten. Noch mehr sogar: Kennen wir einen pas-
senden Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, können wir wil-
lentlich zukünftige Ereignisse evozieren. In den Naturwissen-
schaften sind diese Zusammenhänge zumeist deterministisch,
d.h., ein Ereignis trifft immer dann ein, wenn eine bestimmte
Ursache vorliegt. Erkenntnisse in den empirischen Geistes-
und Sozialwissenschaften hingegen beschreiben zumeist pro-
babilistische Zusammenhänge zwischen zwei Entitäten. Dies
bedeutet, dass aus einem bestimmten Ereignis nicht zwingend,
sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit etwas
Bestimmtes folgt.
Dies kann einerseits an der Unbestimmtheit der Ursache lie-
gen aber andererseits auch daran, dass sozialwissenschaftliche
Ereignisse viele Ursachen haben, die wiederum in vielseitigen
komplexen Beziehungen zueinander stehen. So führt eine be-
stimmte Leseintervention für Kinder mit Lernschwierigkeiten
niemals zwingend zu einem bestimmten Leseerfolg bei einem
Kind. Eine Vielzahl weiterer Variablen bestimmt die Leseent-
wicklung und zugleich sind die Ausgangsbedingungen bei
zwei Kindern nie in allen Aspekten identisch. Was wir aber
dennoch erreichen können, ist, mit einer hohen Sicherheit (bes-
ser: Wahrscheinlichkeit) vorherzusagen, dass die Vermittlung
einer bestimmten Leselernstrategie zu einem deutlichen An-
stieg in der Lesekompetenz führen wird, und dass diese Si-
cherheit bei einem konkurrierenden Lesetraining bedeutend
geringer ist.
Die Gewinnung solcher Erkenntnisse verlangt, dass wir den
Prozess von der Ursache zur Wirkung genau beobachten und
kontrollieren, so dass möglichst keine alternative Erklärung
mehr übrig bleibt als der angenommene kausale Zusammen-
hang. Der Königsweg, um dies zu erreichen, ist das Experi-
ment, dessen Anforderungen als ein Ideal zu verstehen sind,
das nie perfekt erreicht werden kann. Der vorliegende Beitrag
140
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
beschreibt von der Konzeption eines klassischen Experimentes
bis zu einer Beobachtungsstudie hin mögliche Untersuchungs-
designs zur Erfassung kausaler Beziehungen und geht jeweils
auf ihre Stärken und Schwächen ein.
2 Zur Logik experimenteller Forschungsdesigns
Ursachenzuschreibungen verlaufen im Alltag häug intuitiv.
So könnte man die gestiegenen Temperaturen zum Sommeran-
fang als Ursache für die größere Unruhe innerhalb der Klasse
erkennen. Diese Hypothese wäre dabei logisch nachvollzieh-
bar und könnte potentiell zutreffen. Das bedeutet allerdings
nicht, dass der Temperaturanstieg sicher als Ursache für die
gestiegene Unruhe angesehen werden kann. Bei der spontanen
Beobachtung besteht immer die Gefahr, dass der eigentlich ur-
sächliche Faktor nicht oder nur sehr selten natürlich beobach-
tet werden kann. So wäre es möglich, dass die bevorstehende
Zeugnisvergabe und der damit einhergehende Druck die Schü-
lerinnen und Schüler beeinusst. Da die Abschlusszeugnisse
immer nur im Sommer vergeben werden, wäre dann also be-
sonders häug beobachtbar, dass die Schülerinnen und Schü-
ler bei warmem Wetter unruhig sind. Während es kalt ist, ver-
hält sich die Klasse dagegen vergleichbar ruhig. Die Ursache
könnte trotzdem der durch die Zeugnisvergabe erhöhte Stress
sein, während das Wetter nur einen minimalen Einuss auf die
Unruhe innerhalb der Klasse hat.
Dieses Beispiel zeigt, dass im Hinblick auf Annahmen über
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge im Alltag die Situation
häug nicht so differenziert betrachtet wird, wie es im Kontext
wissenschaftlicher Forschung wünschenswert wäre.
141
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
2.1 Das kontrafaktische Modell
Die experimentelle Herangehensweise zur Bestimmung von
Ursache und Wirkung lässt sich gut anhand des kontrafaktischen
Modells erklären (siehe Shadish, Cook und Campbell 2002). Ein
kontrafaktisches Ereignis ist das Gegenstück zu einem realen
Ereignis: ein Ereignis also, das real nicht aufgetreten ist. Eine
einzelne reale Situation kann dabei im Kontext unterschiedli-
cher untersuchter Fragestellungen durchaus verschiedene kon-
trafaktische Entsprechungen haben. Es geht dabei darum, eine
hypothetische Situation zu schaffen, die der realen Situation in
allen Merkmalen, außer dem als Wirkfaktor angenommenen
Merkmal, entspricht. Im weiter oben beschriebenen Beispiel
wäre das kontrafaktische Ereignis also, wenn man dieselben
Rahmenbedingungen gehabt hätte, die Zeugnisvergabe jedoch
im Winter stattgefunden hätte. Nehmen wir also an, im fakti-
schen Beispiel (Zeugnisvergabe im Sommer) wäre die Klasse
im Sommer unruhig, im kontrafaktischen Beispiel (Zeugnis-
vergabe im Winter) aber nicht. Da sich beide Situationen ein-
zig in Hinsicht auf den Zeitpunkt der Zeugnisübergabe un-
terscheiden, kann diese im hypothetischen Szenario eindeutig
als Ursache für die Unruhe identiziert werden. Leider ist es in
der Realität unmöglich, die Zeit anzuhalten und verschiedene
Situationsabläufe auf Basis derselben Ausgangssituation aus-
zuprobieren, bevor man eine Entscheidung trifft. Daher ver-
sucht man dieses Problem zu beheben, indem man verschie-
dene Untersuchungsbedingungen nebeneinanderstellt, die
sich nach Möglichkeit nur in der Ausprägung einzelner, genau
kontrollierbarer Variablen unterscheiden. Da die perfekte kon-
trafaktische Situation in der Realität nicht erreichbar ist, kön-
nen auch die aus einer Studie gezogenen Schlüsse nie perfekt
sein. Es gibt also keinen klaren Beweis für Zusammenhänge
oder Gruppenunterschiede, sondern lediglich naheliegende
Schlussfolgerungen. Dementsprechend sind alle Ergebnisse
142
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
und Interpretationen aus experimentellen Studien immer nur
Hinweise auf die Existenz eines Effekts und dementsprechend
als Annäherung an die Realität zu betrachten.
2.2 Fragestellungen und Hypothesen
Im Normalfall beginnt jedes experimentelle Forschungsprojekt
mit einer Fragestellung, die ergründet werden soll, und einer
(möglichst fundierten) Annahme über Wirkzusammenhän-
ge, den Hypothesen. Im Kontext der empirischen Forschung
werden Variablen, die im Vorhinein als Ursache identiziert
werden, als unabhängige (oder erklärende) Variablen (UV)
bezeichnet, da ihre Ausprägungen unabhängig von anderen
Merkmalen verändert werden sollen. Die abhängige Variable
(oder Zielvariable; AV) hingegen bezeichnet die Variable, auf
die die unabhängige Variable eine Wirkung ausüben soll. Da-
raus wird bereits deutlich, dass die Hypothese über Zusam-
menhänge oder Unterschiede verschiedener Variablen das
Herzstück der experimentellen Forschung ist. Alle weiteren
Überlegungen hinsichtlich Aufbau, Durchführung, Stichprobe
usw. sind dabei auf die Beantwortung der Fragestellung bzw.
die Überprüfung der Hypothese ausgerichtet.
2.3 Gütekriterien empirischer Forschung
Die Aussagekraft einer empirischen Untersuchung wird im We-
sentlichen anhand von zwei Kriterien beurteilt: der Eindeutigkeit
der kausalen Schlüsse und der Generalisierbarkeit der Ergebnisse ei-
ner Untersuchung (Döring und Bortz 2014; Shadish et al. 2002).
Die Eindeutigkeit der kausalen Schlüsse wird auch interne Va-
lidität genannt. Die interne Validität ist dabei höher, je weni-
ger plausible Alternativerklärungen innerhalb eines Untersu-
chungsdesigns für das Zustandekommen eines Phänomens
möglich sind.
143
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf Situationen und
Personen außerhalb der Untersuchungssituation wird dagegen
auch externe Validität genannt. Die externe Validität ist dabei
höher, je eher die untersuchte Situation der realen Situation und
je eher die untersuchten Personen den Personen entsprechen,
auf die man sich mit den Ergebnissen beziehen möchte. Wich-
tig für die Repräsentativität der Stichprobe ist die zufällige Zie-
hung der Untersuchungspersonen aus dem relevanten Perso-
nenkreis. Jede Einschränkung dieser Zufallsziehung kann sich
auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auswirken. So kann
es z.B. zu Problemen führen, wenn man eine Aussage über alle
Schülerinnen und Schüler aus einer Stadt machen möchte, die
Stichprobe aber aus ökonomischen Gründen nur innerhalb
eines Bezirks zufällig zieht. Besonderheiten dieses Bezirks in
Bezug auf Bevölkerungszusammensetzung, Charakteristika
der Lehrerinnen und Lehrer, Schultypen oder etliche andere
Variablen können einen erheblichen Einuss auf die Untersu-
chungsergebnisse haben und dementsprechend dazu führen,
dass sie eben nicht auf alle Schülerinnen und Schüler der Stadt
übertragbar sind.
Maßnahmen, die eine Verbesserung der internen bzw. exter-
nen Validität bezwecken sollen, haben allerdings häug einen
gegenteiligen Effekt auf das jeweils andere Gütekriterium. So
sind für die interne Validität im Normalfall kontrollierte La-
borbedingungen als Ideal anzusehen, während im Hinblick auf
die externe Validität eine möglichst realitätsnahe Umgebung
zu bevorzugen ist. Es ist daher nötig, einen Kompromiss zwi-
schen interner und externer Validität zu nden, der sich an der
jeweiligen Fragestellung (und den damit einhergehenden Ziel-
setzungen der Untersuchung) orientiert.
144
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
3 Das Experiment
Die genaue Denition der experimentellen Forschung unter-
scheidet sich je nach Autor (Shadish et al. 2002). Ein wesent-
liches Charakteristikum, das sich in so gut wie jeder Deniti-
on wiederndet, ist die bewusste und explizite Manipulation
der unabhängigen Variablen durch die Untersuchungsleitung.
Nur dadurch kann sichergestellt werden, dass die Untersu-
chungseinheiten (im Normalfall sind damit die Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer der Untersuchung gemeint) randomisiert,
das heißt zufällig, auf die verschiedenen Untersuchungsbedin-
gungen aufgeteilt werden können. Das kann z.B. anhand eines
Münzwurfs, eines Würfels oder durch die Erstellung einer Zu-
fallszahlenfolge geschehen. Wichtig ist dabei, dass jede Person
die gleiche Chance hat, jeder Bedingung zugeordnet zu wer-
den. Die Randomisierung ermöglicht es, Störvariablen (also
Variablen, die einen Einuss auf die abhängigen Variablen
haben) ohne genaue Vorkenntnisse gleichmäßig auf die Un-
tersuchungsgruppen zu verteilen. Dadurch soll ein systemati-
scher Einuss der Störvariablen auf die abhängigen Variablen
verhindert werden. Der Nachteil der Randomisierung ist, dass
erst eine ausreichend große Stichprobe die Gleichverteilung
der Störvariablen auf die Untersuchungsgruppen gewährleis-
tet. Des Weiteren wird es immer eine gewisse Zufallsschwan-
kung der Störvariable(n) geben. Die Randomisierung stellt also
sicher, dass Unterschiede zwischen den Bedingungen nicht
auf Personencharakteristika zurückgehen, sondern nur auf
die Untersuchungsbedingung. So wäre es bei einer Untersu-
chung des Einusses verschiedener Unterrichtsformen auf die
Lernleistung denkbar, dass Lehrerinnen und Lehrer, die klas-
sischen Frontalunterricht geben, sich auf Persönlichkeitsebe-
ne systematisch von Lehrerinnen und Lehrern unterscheiden,
die stärker auf individualisierte Lehrformen setzen. Eine ein-
deutige Ursache für etwaige Unterschiede in der Lernleistung
der beiden Gruppen wäre damit, anders als bei der zufälligen
145
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
Zuteilung, nicht identizierbar. In Untersuchungsplänen mit
Messwiederholungen durchläuft jede Person alle Bedingun-
gen. Hierbei ist keine randomisierte Zuteilung nötig (siehe Ab-
schnitte zu Untersuchungsplänen mit Messwiederholung).
Auch die experimentelle Verblindung wird teilweise als we-
sentliches Charakteristikum experimenteller Studien angese-
hen. Man unterscheidet dabei zwischen offenen, einfachblin-
den und doppelblinden Studiendesigns. Bei offenen Studien
wissen sowohl Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auch die
Untersuchungsleitung, wer zu welcher Gruppe gehört. Grup-
pen, die eine Intervention (oder Treatment) erhalten, werden
dabei als Experimentalgruppen (EG) bezeichnet, während die
Vergleichsgruppe als Kontrollgruppe (KG) bezeichnet wird.
Das Wissen über die eigene Gruppenzugehörigkeit kann zur
bewussten oder unbewussten Manipulation der Ergebnisse
führen. So kann es sein, dass Personen, die sich wissentlich in
der Interventionsgruppe benden, motivierter sind als Perso-
nen, denen bewusst ist, dass sie sich in der Kontrollgruppe be-
nden. Im Nachhinein lassen sich Effekte der Motivation und
der Intervention daher nicht mehr voneinander trennen. Um
diesen Effekt zu verhindern, werden die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer bei einfachblinden Studien darüber im Unklaren
gelassen, zu welcher Gruppe sie gehören, während bei dop-
pelblinden Studien auch die Untersuchungsleitung während
der Durchführung keine Informationen über die Gruppenzu-
gehörigkeit der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer
bekommt. Im pädagogischen Kontext ist die Durchführung
doppelblinder Studien allerdings häug nicht möglich.
3.1 Experimentelle Untersuchungspläne
Experimentelle Untersuchungspläne können auf dem Ver-
gleich von zwei (oder mehreren) Gruppen in unterschiedlichen
Untersuchungsbedingungen oder auf dem Vergleich verschie-
146
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
dener Bedingungen bei denselben Personen basieren. Je nach
Fragestellung und Zusammensetzung der Stichprobe können
dabei unterschiedliche Untersuchungspläne angezeigt sein
(Sarris und Reiß 2005).
3.1.1 Untersuchungspläne mit Kontrollgruppe
(Between-designs)
In Untersuchungsplänen mit Randomisierung werden alle Pro-
bandinnen und Probanden per Zufall einer Untersuchungsbe-
dingung zugeteilt. Der übliche Ablauf ist in der folgenden Ab-
bildung erkennbar:
Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer werden
zufällig auf Experimentalgruppe und Kontrollgruppe aufge-
teilt. Zwischen zwei Messungen der abhängigen Variablen
(Observationen 01 und 02) wird in der Experimentalgruppe
eine Intervention (X) durchgeführt, die die Kontrollgruppe
nicht erhält. Dabei ist auch ein Vergleich verschiedener Inter-
ventionsgruppen möglich. Der Unterschied der Gruppen in
der Verteilung der Differenz zwischen 02 und 01 wird dabei als
Interventionseffekt bezeichnet. Das bekannteste Beispiel für ei-
nen Untersuchungsplan mit Kontrollgruppe ist dabei die ran-
domisierte kontrollierte Studie (RCT; randomised controlled
trial), die in der experimentellen Forschung als Goldstandard
gilt (APA 2002). Praktisch könnte man mit einem solchen De-
sign z.B. die Wirksamkeit eines neuen Lesetrainings für Kinder
mit Lese-Rechtschreib-Schwäche mit der eines etablierten Le-
setrainings vergleichen.
EG: 01 X 02
-------------------------------
KG: 01 02
147
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
3.1.2 Untersuchungspläne mit Messwiederholung
(Within-designs)
Bei Untersuchungsplänen mit Messwiederholung gibt es nur
eine einzige Untersuchungsgruppe, bei der mehrere Interven-
tionen miteinander (und/oder mit einer Kontrollbedingung)
verglichen werden. Die Bedingungen werden also innerhalb
der Personen miteinander verglichen. Damit ist es möglich, die
Unterschiede zwischen Personen als Störvariablen zu kontrol-
lieren. Zusätzlich werden bei Untersuchungsplänen mit Mess-
wiederholung im Normalfall kleinere Stichproben benötigt, da
alle Bedingungen von allen Personen durchlaufen werden. Ein
einfaches Beispiel für einen Untersuchungsplan mit Messwie-
derholung ist im Folgenden kurz skizziert:
In diesem Beispiel durchlaufen alle Untersuchungspersonen
erst eine Intervention (X1) und anschließend eine zweite Inter-
vention (X2). Im Anschluss an jede Bedingung wird die abhän-
gige Variable gemessen (01 bzw. 02 ). Der Unterschied zwischen
01 und 02 wird dabei als Unterschied der Interventionseffekte
angesehen. Übungs- und Lerneffekte können in einem solchen
Design allerdings einen erheblichen Einuss auf die Ergebnis-
se haben, da die einzelnen Messungen nicht unabhängig von-
einander sind. Wer z.B. im ersten Durchgang etwas gelernt hat,
kann das eventuell auch im zweiten Durchgang anwenden. Um
diesem Problem entgegenzuwirken, ist die Abfolge der beiden
Interventionen X1 und X2 für die Hälfte der Untersuchungsteil-
nehmer umzukehren. Durch eine solche ausbalancierte Abfolge
der Untersuchungsbedingungen können Übungseffekte zwar
berücksichtigt werden, eine komplette Kontrolle ist aber nicht
möglich. Untersuchungspläne mit Messwiederholung bieten
sich entsprechend speziell in Situationen an, in denen man von
zeitlich sehr kurz anhaltenden Interventionseffekten ausgeht.
X1 01 X2 02
148
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
Bei zeitlich länger anhaltenden Interventionseffekten hingegen
ist ein Untersuchungsplan mit Kontrollgruppe für eindeutige
Ursachenzuschreibungen unabdingbar. Praktisch eignen sich
Untersuchungspläne mit Messwiederholung z.B. für die Un-
tersuchung von Instruktionseffekten im Fachunterricht.
3.2 Vor- und Nachteile experimenteller Designs
Die Stärke experimenteller Designs liegt in der Schaffung ei-
ner in höchstem Maße kontrollierten Umgebung, bei der die
als Ursache angenommene Variable direkt verändert werden
kann. Damit zeigen experimentelle Untersuchungen also im
Allgemeinen einen hohen Grad an interner Validität, da sie
alternative Erklärungen der beobachteten Effekte durch Ran-
domisierung und Konstanthaltung von Störvariablen so gut
wie möglich auszuschließen versuchen. Trotzdem (oder gra-
de deswegen) ist es lohnenswert, einen Blick auf einige Fak-
toren zu werfen, die die interne Validität gefährden. So kann
die nicht-randomisierte Aufteilung der Untersuchungsteilneh-
merinnen und –teilnehmer auf die Untersuchungsbedingun-
gen dazu führen, dass die verschiedenen Untersuchungsgrup-
pen nicht vergleichbar sind. Wenn beispielsweise ein neues
Förderprogramm auf seinen Nutzen hin überprüft werden soll
und 30 lernschwache Kinder als Untersuchungsgruppe aus-
gewählt werden, während die Kontrollgruppe aus Kindern
besteht, deren Eltern sie freiwillig für die Untersuchung ange-
meldet haben, können alle potenziell gefundenen Interventi-
onseffekte auch auf Unterschiede zwischen den Kindern der
Untersuchungs- und Kontrollgruppe zurückgehen. Hohe Aus-
fallquoten, speziell, wenn diese nicht gleich auf die Gruppen
verteilt sind, können ebenfalls die interne Validität gefährden.
So wäre es möglich, dass innerhalb der Untersuchungsgrup-
pe speziell die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Unter-
suchung verlassen, bei denen die Intervention keine Wirkung
149
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
zeigte, während die, die davon protiert haben, weiterhin an
der Studie teilnehmen. Im Gegensatz dazu ist im Hinblick auf
die externe Validität häug grade die Kontrolliertheit der Situ-
ation ein Problem. Da Situationen in der Realität häug nicht
so kontrolliert und überschaubar sind, stellt sich immer die
Frage, auf welche realen Situationen die jeweiligen Ergebnisse
tatsächlich übertragbar sind. So können Studierende, die in ei-
ner Leistungssituation im Labor entspannt reagiert haben, bei
einer vergleichbaren Leistungssituation außerhalb des Labors
(z.B. während einer Prüfung im Studium) starken Stress emp-
nden. Auch die Zusammensetzung der Stichprobe kann ei-
nen Einuss auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse haben.
Die Reaktion der Studierenden aus dem Beispiel wäre dabei
nicht ohne Weiteres auf eine Population von Führungskräften
oder Arbeitslosen übertragbar. Weiterhin kann auch das Be-
wusstsein, Teil einer wissenschaftlichen Studie zu sein, einen
Einuss auf das Verhalten haben.
4 Das Quasiexperiment
Die Herstellung einer kontrollierten Situation im Rahmen der
Durchführung von Experimenten stellt einen wesentlichen
Vorteil dieser Forschungsdesigns dar, da es den Forschern
und Forscherinnen dadurch möglich ist, bekannte Störeffek-
te gering zu halten oder sogar auszuschließen. Nicht selten
werden Experimente dafür jedoch unter Laborbedingungen
durchgeführt, was eine „gewisse Künstlichkeit“ (Manstead
und Livingstone 2014) der Situation mit sich bringt. Um soziale
Phänomene unter möglichst natürlichen Gegebenheiten zu un-
tersuchen, empehlt es sich daher, quasiexperimentelle Unter-
suchungsdesigns zu wählen. Quasiexperimente dienen, analog
zu klassischen Experimenten, der Prüfung eines vorab formu-
lierten Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Mit dem Ziel, den
Einuss einer oder mehrerer UVs auf die Ausprägung einer
150
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
AV zu prüfen, werden in einer Untersuchung die UVs, die als
kausale Ursachenfaktoren der Wirkung zeitlich vorausgehen,
kontrolliert manipuliert (Döring und Bortz 2014). Darüber hin-
aus wird auch bei quasiexperimentellen Designs die Wirkung
einer Intervention (z.B. einer pädagogischen Maßnahme) in der
Regel über einen Vergleich der Untersuchungsgruppe mit ei-
ner Kontrollgruppe bzw. über Messwiederholungen ermittelt.
Obgleich ein Quasiexperiment einem klassischen Experiment
damit in wesentlichen Punkten ähnelt, besteht ein wichtiges
Unterscheidungsmerkmal beider Designs in der Möglichkeit
der Zufallszuweisung von Untersuchungspersonen zu den Un-
tersuchungsbedingungen. Eine solche Zufallszuweisung ist bei
quasiexperimentellen Forschungsdesigns etwa aufgrund ethi-
scher Erwägungen oder aufgrund anzunehmender Übungs-
oder Übertragungseffekte bei der Durchführung von Messwie-
derholungen nicht realisierbar. In der Konsequenz ist daher
die Interpretation eines kausalen Ursachen-Wirkungs-Zusam-
menhangs durch die Möglichkeit des Einusses von Störvari-
ablen nicht mehr eindeutig möglich (Manstead und Livingsto-
ne 2014). So kann es z.B. als problematisch angesehen werden,
ein Kind aus seiner gewohnten Klassengemeinschaft für den
Zeitraum einer Intervention, z.B. zur Verbesserung der Lese-
kompetenzen, herauszunehmen, um es den jeweiligen Unter-
suchungsbedingungen zuzuweisen. Die Problematik, die an
diesem Beispiel ersichtlich wird, impliziert damit nicht sel-
ten eine Um- oder Neuformulierung der zugrundeliegenden
Forschungsfrage. Diese könnte dann bspw. den Effekt einer
Weiterbildung von Lehrkräften zu möglichen unterrichtlichen
Förderkonzepten zur Verbesserung der Lesekompetenzen der
Schülerinnen und Schüler adressieren, die wiederum mit Hilfe
quasiexperimenteller Forschungsdesigns untersucht werden
kann (Knigge 2015).
151
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
4.1 Quasiexperimentelle Untersuchungspläne
Shadish et al. (2002) beschreiben eine Vielzahl von Unter-
suchungsplänen im Rahmen quasiexperimenteller Designs.
Nachfolgend soll jedoch auf die zwei am häugsten verwen-
deten Untersuchungspläne eingegangen werden. Dabei han-
delt es sich um Untersuchungspläne mit nichtäquivalenter
Kontrollgruppe (nonequivalent control group design) und um
Zeitreihenuntersuchungspläne (interrupted time series design)
(Goodwin 2005). Da eine Randomisierung im Rahmen quasiex-
perimenteller Untersuchungen nicht realisiert werden kann,
kann auch der Einuss von potentiellen personenbezogenen
oder untersuchungsbedingten Störvariablen nicht vollständig
ausgeschlossen werden, was die interne Validität des Quasiex-
periments verringert (Döring und Bortz 2014). Im nachfolgen-
den Abschnitt sollen daher neben der grundlegenden Logik
der beiden Untersuchungspläne versuchsplanerische und sta-
tistische Möglichkeiten zum Umgang mit validitätsbedrohen-
den Artefakten aufgezeigt werden.
4.1.1 Untersuchungsplan mit nichtäquivalenter Kontroll-
gruppe (nonequivalent control group design)
Der simpelste Untersuchungsplan lässt sich zunächst anhand
der folgenden Abbildung verdeutlichen (Reichardt 2009):
NR X O
------------------------
NR O
152
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
Vergleich
Bezugnehmend auf die vorangegangene exemplarische Frage-
stellung nach der Wirkung einer Weiterbildung für Lehrkräfte
zu Förderkonzepten zur Verbesserung der Lesekompetenzen
von Schülerinnen und Schülern wird eine Schulklasse einer In-
tervention (X) zugewiesen (= Experimentalgruppe), während
eine andere Schulklasse als Kontrollgruppe fungiert und damit
keine Intervention erhält. Die Intervention besteht dabei aus
der Weiterbildung der Lehrkraft. Sowohl die Experimental-
als auch die Kontrollgruppe werden nicht nach dem Prinzip
der Randomisierung zusammengestellt (NR), vielmehr arbei-
tet man hier mit „natürlich vorgefundenen Gruppen“ (Döring
und Bortz 2014). Die Schulklasse kann als eine solche bezeich-
net werden. Im Anschluss an die Intervention wird dann eine
Posttest-Messung der AV sowohl bei der Experimental- als
auch bei der Kontrollgruppe vorgenommen (O), wobei hier die
Lesekompetenz der Kinder erfasst wird. Die Posttest-Messun-
gen der Gruppen werden zudem miteinander verglichen, um
den Effekt der Intervention bestimmen zu können.
Eine Erweiterung dieses Designs wird durch die Durchführung
einer Prätest-Messung, sowohl bei der Experimentalgruppe als
auch bei der Kontrollgruppe, vor der Durchführung der Inter-
vention realisiert, wie die nachfolgende Abbildung verdeut-
licht (Shadish et al. 2002; Christensen 2001).
Zur Ermittlung des Effekts der Intervention werden die Diffe-
renzen zwischen den Prä- und Posttest-Messungen der beiden
Gruppen verglichen. Die Durchführung einer Prätest-Messung
NR O1 X O2 O1 – O2
--------------------------------
NR O1 O2 O1 – O2
153
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
Vergleich
ermöglicht es, Störfaktoren, wie z.B. bereits vor der Interventi-
on bestehende Unterschiede zwischen den Versuchspersonen
(selection), die gehäuft im Rahmen dieses quasiexperimentellen
Untersuchungsplans auftreten können, in ihrer Existenz und
Ausprägung zu beurteilen und zu kontrollieren, was die inter-
ne Validität des Quasiexperiments erhöht (Shadish et al. 2002;
Reichardt 2009). Obgleich eine Prätest-Messung durchaus als
ein sinnvolles und zielführendes Vorgehen erscheint, um den
Selektionseffekt aufzufangen, konstatiert Reichardt (2009), dass
eine vollständige Kontrolle dieses Artefakts über einen Prätest
nicht garantiert werden kann. In diesem Zusammenhang kann
die Verwendung von Matching-Verfahren in Betracht gezogen
werden. Hierbei wird der Untersuchungsgruppe eine in Bezug
auf die relevanten Störvariablen möglichst ähnliche Kontroll-
gruppe gegenübergestellt.
4.1.2 Zeitreihenuntersuchungspläne (interrupted time series
design)
Auch für Zeitreihenuntersuchungsplänen soll einleitend zu-
nächst das einfachste Design anhand der nachfolgenden Abbil-
dung dargestellt werden (Shadish et al. 2002):
Bei der hier angenommenen Intervention könnte es sich
bspw. um ein Training zur Förderung von sozialen Kompeten-
zen bei Schülerinnen und Schülern zur Vorbeugung sozialer
Ausgrenzung im gemeinsamen Unterricht handeln. Bereits vor
der Intervention werden im Rahmen dieser Versuchsanord-
nung mehrere Prätest-Messungen vorgenommen, etwa einmal
wöchentlich in einem Zeitraum von fünf Wochen. Der Zeit-
punkt, an dem die Intervention eingeführt wird, wird dabei
als interruption bezeichnet (Shadish et al. 2002). Im Anschluss
O1 O2 O3 O4 O5 X O6 O7 O8 O9 O10
154
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
an die Intervention wird dann für weitere fünf Wochen jeweils
einmal wöchentlich eine Posttest-Messung der sozialen Kom-
petenzen der Schülerinnen und Schüler vorgenommen. Die
Anzahl der jeweiligen Prätest- und Posttest-Messungen müs-
sen dabei nicht notwendigerweise identisch sein, jedoch sollte
eine drastische Abweichung vermieden werden. Je mehr Mes-
sungen vorliegen, umso genauer können dabei die Interventi-
onseffekte bestimmt werden (Goodwin 2005). Um den Effekt
einer Intervention zu bestimmen, wird zunächst ein Trend der
Prätestung modelliert. Anhand dieses Trends wird die künfti-
ge Entwicklung unabhängig von etwaigen Interventionen pro-
gnostiziert. Diese Prognose wird dann wiederum mit der Post-
test-Messung abgeglichen. Zeigen sich Unterschiede zwischen
den Prä-und Posttest-Messungen, so kann, unter Berücksich-
tigung des Einusses von Störvariablen, davon ausgegangen
werden, dass die Intervention einen Effekt auf die abhängige
Variable hat (Reichardt 2009). Ein sehr häug vorkommen-
der Störeffekt im Rahmen von Zeitreihenmessungen besteht
im Auftreten externer untersuchungsunabhängiger Einüsse,
die neben der Intervention zwischen der Prä- und Posttestung
stattnden (history). Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass
Störeffekte, die etwa durch eine Veränderung des Messinstru-
ments im Verlauf der Untersuchung bedingt sind, den Effekt
der Intervention überlagern können (instrumentation). Zudem
können Selektionseffekte im Kontext von Zeitreihenuntersu-
chungsplänen die interne Validität bedrohen, insofern sich
z.B. die Zusammensetzung der Interventionsgruppe während
der Intervention verändert (Shadish et al. 2002).
4.1.3 Weitere Möglichkeiten zum Umgang mit personenbe-
zogenen und untersuchungsbedingten Störfaktoren
Wie bereits ersichtlich wurde, bestehen mit einer Prätestung
oder dem Einsatz von Matching-Verfahren Möglichkeiten,
den Einuss von Störvariablen auf die interne Validität der
155
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
quasiexperimentellen Untersuchung zu verringern. Döring
und Bortz (2014) führen zudem weitere Verfahren zur Kont-
rolle personenbezogener und untersuchungsbedingter Störef-
fekte an, wovon einzelne an dieser Stelle kurz skizziert werden
sollen. Zum einen besteht die Möglichkeit, personenbezogene
Störvariablen, wie z.B. das Alter oder die Klassenzugehörig-
keit, durch eine gezielte Auswahl der Untersuchungsteilneh-
merinnen und -teilnehmer konstant zu halten. Eine weitere
Möglichkeit zum Umgang mit Störvariablen besteht zudem in
der Durchführung von Messwiederholungen.
Der Einuss untersuchungsbedingter Störfaktoren kann, ähn-
lich wie bei Experimenten, durch das Ausschalten, d.h. durch
das Schaffen bzw. Sicherstellen eines möglichst störungsarmen
Untersuchungsablaufs, oder durch das Konstanthalten mögli-
cher untersuchungsbedingter Störvariablen bereits vor Beginn
des Quasiexperiments verringert werden. Sind beide Verfah-
ren nicht realisierbar, so müssen die Störfaktoren registriert und
im Rahmen der späteren Auswertung und Interpretation der
Befunde berücksichtigt werden. Der Einsatz dieser Verfahren
setzt jedoch abschließend voraus, dass die potentiellen Störva-
riablen bekannt sind (Döring und Bortz 2014).
4.2 Vor- und Nachteile quasiexperimenteller Forschungsdesigns
Mit Hilfe quasiexperimenteller Forschungsdesigns besteht die
Möglichkeit, interessierende Phänomene möglichst unter na-
türlich gegebenen Bedingungen zu untersuchen, was die exter-
ne Validität eines Quasiexperiments gegenüber klassischen (La-
bor-)Experimenten erhöht. Dieses Forschungsdesign erweist
sich zudem als sinnvoll, insofern eine Zufallszuweisung der
Untersuchungspersonen zu den Untersuchungsbedingungen
(Randomisierung) nicht realisiert werden kann. Aufgrund die-
ser Vorgehensweise ist es jedoch nicht möglich, den Einuss
von Störvariablen auf die Ausprägung der abhängigen Variab-
156
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
le vollständig zu kontrollieren, worin eine wesentliche Limita-
tion quasiexperimenteller Forschungsdesigns im Vergleich zu
klassischen Experimenten besteht. Mit Hilfe verschiedener ver-
suchsplanerischer Überlegungen bzw. statistischer Analyse-
verfahren kann der Einuss von Störvariablen allerdings ver-
ringert und damit die interne Validität des Quasiexperiments
erhöht werden. Jedoch bleibt festzuhalten, dass die interne Va-
lidität quasiexperimenteller Designs im Vergleich zum Expe-
riment geringer einzuschätzen ist, weshalb in der Konsequenz
aus den Ergebnissen von Studien mit quasiexperimentellem
Design nicht eindeutig auf kausale Zusammenhänge geschlos-
sen werden kann.
5 Nicht-experimentelle Forschung
Experimentelle und quasiexperimentelle Untersuchungen sind
aus ethischen, ökonomischen oder ökologischen Gründen nicht
immer in das Forschungsdesign implementierbar. Eine Unter-
suchung, in der keine willentliche experimentelle Intervention
erfolgt, wird gemeinhin als Beobachtungsstudie (observational
study) bezeichnet (Rosenbaum 2010). Beobachtungsstudien
sind in dem Sinne beobachtend, weil ausschließlich natürliche
(nicht manipulierte) Gegebenheiten in der Untersuchungs-
umwelt beobachtet werden. Hierbei handelt es sich um in der
Untersuchungsumwelt „natürlich auftretende Untersuchungs-
bedingungen“. Die Manipulation dieser Untersuchungsbedin-
gungen und die Zuordnung der Untersuchungsobjekte zu den
jeweiligen Bedingungen lassen sich nur bedingt kontrollieren.
Damit wird in der beobachtenden Forschung ein zentrales
Element von (Quasi-)Experimentellen Studien nicht erfüllt,
nämlich die willentliche Einführung von unterschiedlichen
Untersuchungsbedingungen in den Untersuchungsverlauf.
Rückschlüsse auf einen Wirkungszusammenhang zwischen
den Untersuchungsbedingungen und den Untersuchungs-
157
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
merkmalen sind somit limitiert. Die beobachtende Forschung
folgt hinsichtlich der Untersuchung von Wirkungszusammen-
hängen dennoch der Logik der experimentellen Forschung;
jegliche Beobachtungsstudie bildet daher – wie auch die qua-
siexperimentelle Forschung – eine Reduktion eines experi-
mentellen Designs. In der beobachtenden Forschung kann die
Anwendung methodischer sowie statistischer Abhilfemaßnah-
men die Untersuchungsanordnung eines Experiments imitie-
ren und somit die Validität der Wirkungszusammenhangsaus-
sage steigern.
5.1 Beobachtungsstudien
Experimentelle Forschungsdesigns sind kontraindiziert, sofern
eine experimentelle Manipulation aus ethischer Sicht nicht ver-
tretbar ist. So könnten beispielsweise die seelischen Folgeschä-
den für die Opfer von Bullying im Fokus des Forschungsin-
teresses stehen; jedoch ist die experimentelle Exposition von
Schulkindern gegenüber Bullying-Attacken aufgrund der bil-
ligenden Inkaufnahme möglicher Folgeschäden aus ethischer
Perspektive nicht vertretbar. Dennoch ist die ethisch begrün-
dete Kontraindikation der experimentellen Manipulation kein
Grund, ein interessierendes Phänomen nicht zu untersuchen.
Vielmehr kommt es im Rahmen der Untersuchungsgestaltung
darauf an, bewusst auf die experimentelle Manipulation zu
verzichten und sich stattdessen die natürlich auftretende Vari-
ation des Untersuchungsmerkmales Bullying zu eigen zu ma-
chen. So kann z.B. mittels einer direkten sowie standardisierten
Verhaltensbeobachtung das Vorhandensein von Bullying-At-
tacken in Klassenverbänden festgestellt werden. Auf dieser
Grundlage erfolgt die Identikation von Schulklassen, in de-
nen Bullying nie bzw. sehr häug auftritt. Hieraus ergeben sich
zwei natürlich auftretende Untersuchungsbedingungen (Bul-
lying-Klassen und Non-Bullying-Klassen). Besonderes Augen-
158
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
merk wird nun auf die Schulkinder gelegt, die Neuzugänge in
die jeweiligen Schulklassen darstellen. Das emotionale Wohl-
benden dieser Schulkinder wird nun vor dem Neueintritt in
die jeweiligen Schulklassen sowie im Verlauf des Schuljahres
als abhängige Variable erfasst.
In der oben beschriebenen Beobachtungsstudie erfolgt weder
eine aktive Manipulation der Intervention noch eine randomi-
sierte Zuordnung der Untersuchungsobjekte zu den natürlich
auftretenden Untersuchungsbedingungen. Das Fehlen dieser
maßgeblich zur internen Validität beitragenden Studienele-
mente stellt für die beobachtende Forschung eine Limitation
hinsichtlich der Schlussfolgerung eines Wirkungszusammen-
hangs zwischen natürlicher Untersuchungsbedingung und
Zielvariable dar. Dennoch folgt die beobachtende Forschung
im Prozess der Erkenntnisgewinnung über Wirkungszusam-
menhänge – genauso wie die experimentelle und quasi-experi-
mentelle Forschung – der Logik des kontrafaktischen Modells.
Ein Vergleich der „natürlichen“ Untersuchungspopulationen
erfolgt mit dem Ziel, eine Wenn-dann-Aussage zu treffen: Wenn
ein neues Kind nicht in die Bullying-Klasse gegangen wäre, dann
wäre sein seelisches Wohlbenden nicht gesunken. Diese Konditi-
onalaussage ist kontrafaktisch, da sie in der Wirklichkeit nicht
überprüfbar ist. Anhand der Ergebnisse einer Beobachtungs-
studie gleicht der Schluss auf eine Wirkungszusammenhangs-
aussage daher einem Gedankenexperiment.
Zwar ist in der obig beschriebenen Untersuchungsanordnung
keine randomisierte Zuordnung der Untersuchungsobjekte zu
den Untersuchungsbedingungen erfolgt, dennoch erscheint
der Neueintritt eines Kindes in die Klasse (somit auch in eine
Untersuchungsbedingung) als eine Annäherung an das Kon-
zept der randomisierten Zuordnung. Da der Neueintritt in eine
Klasse jedoch in der Regel kein zufälliger Prozess ist, birgt diese
„natürliche“ Zuordnung der Untersuchungsobjekte zu den Un-
tersuchungsbedingungen dennoch die Gefahr einer systemati-
159
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
schen Stichprobenverzerrung. Eltern von Kindern mit gerin-
gem Selbstbewusstsein informieren sich womöglich im Voraus
über das Bullying-Niveau und schicken ihre Kinder bewusst
nicht an Schulen mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlich-
keit für Bullying-Attacken. Dies würde eine überproportionale
Ansammlung von Kindern mit erhöhtem Selbstbewusstsein in
Bullying-Klassen nach sich ziehen, also eine unterschiedliche
Verteilung der Kovariable Selbstbewusstsein in den beiden
Untersuchungspopulationen. Da das Selbstbewusstsein einen
protektiven Faktor gegenüber den potenziellen seelischen Fol-
geschäden von Bullying darstellen kann, ist diesbezüglich die
Schätzung des Wirkungszusammenhanges möglicherweise
dahingehend verzerrt, dass der Effekt von Bullying-Attacken
auf das seelische Wohlbenden unterschätzt wird. Die Ver-
gleichbarkeit der Untersuchungspopulationen wäre in dem
oben beschriebenen Beispiel nicht gewährleistet und die Va-
lidität der Wirkungszusammenhangsaussage somit fraglich.
Diesem Umstand der Unvergleichbarkeit der Untersuchungs-
populationen kann das Matching Abhilfe schaffen: Einem Un-
tersuchungsobjekt der natürlichen Interventionspopulation
wird ein hinsichtlich der erfassten Kovariablen möglichst ähn-
liches Untersuchungsobjekt der alternativen Untersuchungs-
population (z.B. natürliche Kontrollgruppe) gegenübergestellt.
Für das Bullying-Beispiel würde dies bedeuten, dass Neuzu-
gänge aus den Bullying-Klassen und Non-Bullying-Klassen
hinsichtlich ihres seelischen Wohlbendens nur dann mitei-
nander verglichen werden, wenn sie ein ähnliches Niveau an
Selbstbewusstsein aufweisen. Trotz angewandtem Matching
können wissentlich oder unwissentlich nicht berücksichtigte
Kovariablen weitere Störvariablen darstellen. Das Matching
bildet daher nur eine Annäherung an das Ziel der randomi-
sierten Zuordnung, also die annähernd identische Verteilung
der erfassten sowie nicht erfassten Kovariablen in den Unter-
suchungspopulationen.
160
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
Nicht nur ethische, sondern auch ökologische sowie ökonomi-
sche Dimensionen können eine Kontraindikation für eine ex-
perimentelle Intervention begründen. Dies soll an folgender
Forschungsfrage erläutert werden: Hat die inklusive Regelbe-
schulung im Vergleich zur selektiven Beschulung einen posi-
tiven Effekt auf die Entwicklung der schulischen Kompetenz
von Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf
(SFB)? (Kocaj, Kuhl, Kroth, Pant und Stanat 2014).
Bezüglich dieser Forschungsfrage stellen die Kategorien
„Regelschule“ sowie „Förderschule“ die natürlichen Unter-
suchungsbedingungen und die schulische Kompetenz der
Kinder mit einem SFB die Zielvariable dar. Da die Entschei-
dungsgewalt hinsichtlich der Beschulungsart den Eltern nicht
entzogen werden darf, ist eine randomisierte Zuordnung der
Schulkinder mit einem SFB zu den jeweiligen Schultypen aus
ethischer (oder je nach Bundesland juristischer) Sicht nicht ver-
tretbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nicht alle inklusi-
ven Regelschulen gleichermaßen inklusiv sind. Um den Grad
des inklusiven Unterrichts zu steuern (bzw. zu standardisie-
ren), wären regelmäßige Fortbildungen für das Lehrerkollegi-
um notwendig. Die Durchführung dieser Fortbildungen kann
u.U. sehr ressourcenaufwändig (Geld, Zeit, Personal) und des-
halb aus ökonomischen Gründen impraktikabel sein. Selbst die
Realisierung der Fortbildungen ist kein Garant dafür, dass die
Lehrkräfte die Fortbildungsinhalte in ihrem Unterricht umset-
zen (z.B. aufgrund von Desinteresse, mangelnder Motivation,
Unfähigkeit oder Verweigerung). In der Konsequenz wird die
geplante Intervention von den Lehrkräften nicht oder nur teil-
weise in den schulischen Unterricht übertragen. Jede Schule
ist somit ein ökologisches System (Bronfenbrenner 1976) und
der Forscher bzw. die Forscherin hat keinen oder nur einen be-
grenzten Zugang zur Steuerung dieses Systems. Dies bedeutet,
dass es nur schwer kontrollierbar ist, inwiefern eine inklusive
Regelschule tatsächlich inklusiv arbeitet oder doch einen ho-
hen Anteil an selektiven Unterrichtsformen aufweist.
161
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
In der beobachtenden Forschung werden die Untersuchungs-
objekte zumeist in ihrer nicht manipulierten Umwelt studiert,
also z.B. Kinder in Schulklassen. Die Ergebnisse aus Beobach-
tungsstudien liefern aufgrund der bereits erwähnten Limitati-
onen im Prozess der Erkenntnisgewinnung ein geringeres Maß
an interner Validität. Dies ist maßgeblich auf die Verortung
der beobachtenden Untersuchung in einem ökologischen Sys-
tem zurückzuführen. Mögliche Wechselwirkungen zwischen
dem Untersuchungsobjekt und seiner Umwelt bieten hinsicht-
lich der Wirkungszusammenhangsaussage genügend Raum
für Alternativerklärungen. Insofern stellt sich die berechtigte
Frage, inwiefern die im Experiment erprobte Intervention in
das ökologische System übertragbar ist bzw. inwiefern sich bei
einer Intervention der Effekt auch bei Kindern in einem klas-
sischen pädagogischen Setting äußern würde (z.B. Unterricht
im Klassenzimmer, Nachhilfeunterricht in einer Fördergruppe,
Pause auf dem Schulhof). Diese ökologische Validität (Bron-
fenbrenner 1979) lässt sich mit einer in der Umwelt (Schule)
angesiedelten Beobachtungsstudie ergründen. So kann es sein,
dass sich eine lerntherapeutische Maßnahme in einem experi-
mentellen Setting bewährt, jedoch in der pädagogischen Pra-
xis deutlich geringere Effekte aufweist. Beobachtungsstudien
eignen sich daher, um effektreduzierende Variablen im öko-
logischen System zu identizieren, was schlussendlich einen
Erkenntniszuwachs hinsichtlich der optimalen Durchführung
der lerntherapeutischen Maßnahme darstellt.
5.2 Panelstudien
Langfristig angelegte Beobachtungsstudien, d.h. Längsschnitt-
studien mit multiplen Messzeitpunkten (z.B. Panelstudien),
eignen sich zur Erforschung von intraindividuellen Prozessen
in ökologischen Systemen. So können beispielsweise individu-
elle Bildungsverläufe und ihre „natürlichen“ Determinanten
(z.B. Familienstrukturen) untersucht werden. Ein Beispiel für
162
Jannis Bosch, Anja Schaefer, Pawel R. Kulawiak & Jürgen Wilbert
eine großangelegte Panelstudie stellt das Nationale Bildungs-
panel dar (NEPS: National Educational Panel Study) (Leuze
2008). Jedoch gelten – wie für alle Beobachtungsstudien – auch
für Panelstudien die bereits erwähnten Limitationen im Pro-
zess der Erkenntnisgewinnung. Längsschnittstudien, also über
mehrere Messzeitpunkte angelegte Beobachtungsstudien, er-
füllen dennoch eine für die empirische Forschung notwendi-
ge Bedingung zur Ergründung von Wirkungszusammenhän-
gen. Diese notwendige Bedingung ist die temporale Beziehung
zwischen natürlicher Intervention und Zielvariable (Hill 1965),
d.h. die Zielvariable wird in einem Prä-Post-Design in zeitli-
cher Abhängigkeit zur natürlichen Intervention beobachtet
(zeitliche Abfolge: Beobachtung der Zielvariable, Eintreten/
Variation der natürlichen Intervention, Beobachtung der Ziel-
variable). Diese Bedingung ist in einer Beobachtungsstudie mit
einem Messzeitpunkt bzw. in einer Beobachtungsstudie ohne
retrospektiver Erfassung der Untersuchungsmerkmale nicht
erfüllt, weshalb man in diesem Fall von einer Querschnitts-
studie spricht. Zusammenhänge zwischen Merkmalen können
ebenfalls in querschnittlich angelegten Beobachtungsstudien
erkannt werden. So kann aus einer Befragung von Lehrkräften
resultieren, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen
den Merkmalen individuelles Stresserleben und Anzahl der zu un-
terrichtenden Kinder mit einem SFB gibt. Da in den allermeisten
querschnittlich angelegten Beobachtungsstudien keine zeit-
liche Relation abgebildet wird, ist ein Rückschluss auf einen
Wirkungszusammenhang nicht zulässig. Inwiefern das Un-
terrichten von Kindern mit einem SFB tatsächlich ein stressin-
duzierender Faktor ist und wie man in einem solchen Fall die
Lehrkraft-Kind-Interaktion verbessern könnte, lässt sich erst in
einer längsschnittlichen Beobachtungsstudie unter Berücksich-
tigung aussagekräftiger Kovariablen ergründen (z.B. Selbst-
wirksamkeit, Erfahrung im Unterrichten von Kindern mit ei-
nem SFB, Vorwissen über Kinder mit einem SFB, implizite/
explizite Einstellungen gegenüber Kinder mit einem SFB usw.).
163
Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen
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165
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
in inklusionspädagogischen Handlungsfeldern
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
In diesem Beitrag wird das laute Denken als Methode zur
Forschung und Diagnostik in unterschiedlichen inklusi-
onspädagogischen Handlungsfeldern aufgezeigt. Dazu
werden zunächst die theoretischen Grundlagen zusam-
mengefasst und das methodische Vorgehen erörtert. Im
Anschluss werden Anwendungsfelder des lauten Den-
kens skizziert und mit Beispielen aus aktueller Forschung
und Praxis gestützt. Es wird deutlich, dass die Methode
des lauten Denkens einen wichtigen Beitrag zu unter-
schiedlichen inklusionspädagogischen Fragestellungen
leisten kann. Gleichzeitig werden jedoch Einschränkun-
gen deutlich, welche bei der Anwendung des lauten Den-
kens im Blick behalten werden sollten.
1 Einleitung
Inklusion im Unterricht ist ein fortlaufender Prozess, in dem je-
des Kind in seiner individuellen Entwicklung bestmöglich ge-
fördert werden soll. Eine derartige Betonung des Individuums
lässt Lehrende und Forschende mit Betrachtungsweisen, die
auf allgemeinen Annahmen oder Generalisierungen über Lern-
und Wissenserwerbsprozesse und über kindliche Entwicklung
beruhen, an ihre Grenzen stoßen. Das subjektive Erleben, Ler-
nen und Verhalten in verschiedenen Situationen, nicht nur von
Lernenden, sondern auch von Lehrenden und Begleitenden,
muss wahrgenommen und so weit wie möglich verstanden
werden. Nur so kann auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse al-
ler Beteiligten eingegangen werden. Daher stellt sich die Frage
166
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
nach angemessenen Methoden, um Einblicke in diese indivi-
duellen Sichtweisen zu erhalten.
Gleichzeitig lassen sich nicht alle relevanten Merkmale von
außen beobachten oder durch die Ergebnisse gängiger Test-
verfahren widerspiegeln. Zudem können häug keine theore-
tischen Modelle zur Einordnung bestimmter Verhaltensweisen
genutzt werden, weil schlicht noch keine ausreichenden Er-
kenntnisse zum interessierenden Thema vorhanden sind. Hier
bietet die Methode des lauten Denkens Gelegenheit, gedankli-
che (kognitive) oder metakognitive Prozesse zu erfassen und
zu untersuchen. Gerade im Sinne explorativer, theoriegenerie-
render Forschung kann ein solcher Ansatz eine wichtige Er-
gänzung zu hypothesenprüfenden experimentellen und qua-
siexperimentellen Ansätzen darstellen. In diesem Beitrag wird
zunächst die Methodik des lauten Denkens in seinen theoreti-
schen Grundlagen, unterschiedlichen Ausprägungen, Stärken
und Schwächen beschrieben. Im Anschluss werden Anwen-
dungsmöglichkeiten in der Forschung sowie in praktischen
Handlungsfeldern aufgezeigt.
2 Theoretischer Hintergrund
Die Methode des lauten Denkens ndet zunehmend Anwen-
dung in gegenwärtiger pädagogischer und psychologischer
Forschung (Bannert und Mengelkamp 2008: 43; Börnert und
Wilbert 2015: 23). Die ersten Vorläufer sind jedoch bereits zu
Beginn des 20. Jahrhunderts in der Denkpsychologie zu nden
(Weidle und Wagner 1994: 81; Konrad 2010: 477). Kognitivis-
tische Ansätze in Psychologie und Pädagogik – allen voran
das Informationsverarbeitungsparadigma – führten zu immer
größerer Bedeutung des lauten Denkens. Der Grundansatz des
lauten Denkens ist, dass eine Person während des Denk-, Pro-
blemlöse- bzw. Aufgabenprozesses dazu angehalten wird,
167
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
sämtliche Gedanken laut auszusprechen. Diese Verbalisierun-
gen werden protokolliert und im Anschluss ausgewertet (Fox,
Ericsson und Best 2011: 317). Alle geäußerten Informationen
werden dabei im Zusammenhang mit den an der Aufgabe be-
teiligten Denkprozessen gesehen (Schellings, van Hout-Wol-
ters, Veenman und Meijer 2013: 967).
Entscheidend für die Möglichkeit der Verbalisierung kogniti-
ver Prozesse ist dementsprechend die bewusste Wahrnehmung
dieser Prozesse. Die theoretischen Grundannahmen des lauten
Denkens beruhen auf dem Modell der menschlichen Informati-
onsverarbeitung von Newell und Simon (1972) (Ericsson und
Simon 1993: 10).
Die Verbalisierungen werden beim lauten Denken während des
Bearbeitungsprozesses erfasst (konkurrierend). Traditionelle
konkurrierende Ansätze werden daher deniert als die Ver-
balisierung aller aufgabenbezogenen Gedanken, die zwischen
Beginn und Ende der Bearbeitung der betreffenden Aufgaben
ablaufen (Fox et al. 2011: 321). Sie stehen somit im Gegensatz
zu prospektiven bzw. retrospektiven verbalisierenden Ansätzen,
wie z.B. Fragebögen oder Interviews, in welchen die Subjekte
vor oder nach den relevanten kognitiven Prozessen zu diesen
befragt werden (Ericsson und Simon 1980: 218). Zwar stellen
insbesondere retrospektive Fragebögen ein durchaus ökono-
misches Instrument dar, allerdings zeigen Studien nur eine
geringe Validität der gewonnenen Informationen (Veenman
2005: 79). Bei retrospektiven Zugängen stellt sich die Schwie-
rigkeit, dass sich das Subjekt nicht an alle involvierten Denk-
prozesse erinnert und somit Informationen verloren gehen und
keine gültigen Aussagen über die eigentlichen Kognitionen ge-
troffen werden können (ebd.: 83). Vor diesem Hintergrund er-
scheinen simultan erfasste Informationen besonders wertvoll.
Bei genauerer Betrachtung werden unter dem Begriff lautes
Denken eine Reihe ganz unterschiedlicher Verfahren zusam-
168
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
mengefasst. Eine Kategorisierung dieser verschiedenen Ver-
fahren lässt sich anhand des Modells von Ericsson und Simon
(1980; 1993) vornehmen, die drei Stufen von konkurrierenden
Verbalisierungen unterscheiden.
2.1 Modell von Ericsson und Simon (1993)
Ericsson und Simon (1980, 1993) nehmen an, dass je nach Stu-
fe der Verbalisierung unterschiedliche vermittelnde Prozesse
zwischen Aufgabenbearbeitung und Verbalisierung involviert
und somit verschiedene Qualitäten von gewonnenen Informa-
tionen zu trennen sind. Dabei unterscheiden sie folgende Stu-
fen:
Stufe 1: Talk aloud (Lautes Sprechen)
Stufe 2: Think aloud (Lautes Denken)
Stufe 3: Concurrent probing (Gleichzeitiges/Simultanes Nachfragen)
Bei Talk aloud-Ansätzen sind die wenigsten vermittelnden Pro-
zesse involviert. So liegt die zu verbalisierende Information
bereits in verbaler Form im Kurzzeitgedächtnis vor und muss
daher nicht in eine verbale Form übertragen werden (Ericsson
und Simon 1980: 219; Konrad 2010: 479). Ein Beispiel hierzu ist
die Verbalisierung von angewandten Strategien beim Bearbei-
ten von Lese- oder Höraufgaben.
Beim Think aloud hingegen werden vermittelnde Prozesse in-
volviert, da die zu verbalisierende Information in nonverba-
ler, z.B. guraler Form vorliegt. Die Information muss daher
zunächst in eine verbale Form übersetzt werden (ebd.).
Beide Formen stellen Prototypen von konkurrierender Verba-
lisierung dar und werden durch eine Instruktion zu Beginn
des Prozesses der Aufgabenbearbeitung eingeleitet (Fox et
al. 2011: 321). Die involvierten Kognitionen werden nicht durch
Fragen und Instruktionen unterbrochen.
169
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
Im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen Ansätzen
wird beim Concurrent probing das Subjekt während der Auf-
gabenbearbeitung immer wieder dazu angehalten, involvierte
Gedanken zu verbalisieren. Diese Methode erscheint insbe-
sondere dazu geeignet, den Fokus des Subjekts auf Aspekte
der Aufgabenbearbeitung zu lenken, die sonst nicht in der
Verbalisierung beachtet werden können (Ericsson und Simon
1980: 220). Der Ansatz erscheint dabei deutlich aktivierender
und daher insbesondere relevant bei Kindern, die Schwierig-
keiten beim autonomen Verbalisieren zeigen. Problematisch
ist jedoch, dass auf dieser Stufe weitere vermittelnde Prozesse
involviert sind. So besteht die Gefahr, dass durch die Nachfra-
ge nach Verbalisierung die ablaufenden, aufgabenorientierten
Kognitionen unterbrochen und somit auch die Aufgabenleis-
tung beeinusst wird (Fox et al. 2011: 321). Dabei ist es denkbar,
dass die Leistung in den Aufgaben verschlechtert bzw. verbes-
sert wird. Im positiven Fall kann die Verbalisierung zu einem
höheren Bewusstsein für die Aufgabe führen, im negativen
Fall jedoch eine zusätzliche Belastung neben der eigentlichen
Aufgabenbearbeitung darstellen.
Aufgrund des unterschiedlichen Ausmaßes an involvierten
vermittelnden Prozessen werden die interessierenden kogniti-
ven Prozesse in verschiedenem Maße beeinusst. So zeigten
Ericsson und Simon (1993), dass es im Falle der Verbalisierun-
gen auf Stufe eins und zwei zu keinen wesentlichen Verände-
rungen in der Leistung der Teilnehmenden kommt. Allerdings
können beim Thinking aloud veränderte Aufgabenbearbei-
tungszeiten beobachtet werden.
Im Falle des Concurrent probing hingegen sind sowohl Verände-
rungen in der Bearbeitungszeit als auch in der Bearbeitungsgü-
te zu beobachten (Ericsson und Simon 1993).
170
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
2.2 Grenzen des lauten Denkens
Neben dem immer wieder angebrachten Kritikpunkt, dass das
laute Denken die eigentlich involvierten kognitiven Prozesse
verändert und somit keine genaue Beschreibung der eigentli-
chen Prozesse stattndet, wird zusätzlich in Frage gestellt, ob
lautes Denken überhaupt alle aufgabenrelevanten Prozesse ab-
bilden kann. So haben unbewusste mentale Aktivitäten stets
einen Einuss auf unsere wahrnehmbare Kognition und tra-
gen wesentlich zum erfolgreichen Problemlösen bei (Kihlstrom
1987: 1445). Diese unbewussten Aktivitäten können beim lau-
ten Denken jedoch nicht verbalisiert werden. Lautes Denken
ist daher nur dann eine geeignete Untersuchungsform, wenn
gerade die bewussten, im Kurzzeitgedächtnis vorliegenden In-
formationen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Frage
nach unbewussten Anteilen am Problemlöseprozess lässt sich
mit dieser Methode nicht beantworten und steht auch nicht in
ihrem Fokus (Ericsson und Fox 2011: 352).
2.3 Auswertung verbaler Protokolle
Der Prozess des lauten Denkens wird in der Regel durch Audio-
bzw. Videoaufnahmen gesichert. Vor der möglichen Auswer-
tung ist es notwendig, diese Aufnahmen in schriftliche Proto-
kolle zu transkribieren. Someren, Barnard und Sandberg (1994)
schlagen ein systematisches Vorgehen in der Protokollanalyse
vor. Die Transkripte müssen mit Hilfe eines Kodierschemas
kodiert werden. Ein mögliches Vorgehen in der Entwicklung
eines geeigneten Kodierschemas liegt in der Ableitung der Ka-
tegorien aus einem theoretischen Modell (ebd.: 121). Notwen-
dig ist jedoch in diesem Fall eine Annahme über die involvier-
ten Prozesse. Bei einer explorativen Studie, in welcher keine
Vorannahmen über involvierte Schritte vorliegen, bietet sich ein
induktives Vorgehen an. Demnach werden bei der Durchsicht
171
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
der Protokolle relevante Abschnitte identiziert, paraphrasiert,
in Form von Kategorien reduziert und somit ein Kodierschema
entwickelt.
Das Kodierschema kann dann über alle vorliegenden Protokolle
hin angewendet werden. Dabei wird ausgezählt, wie häug
Informationen zu den jeweiligen Kategorien vorliegen. Vor
Anwendung des Kodierschemas ist es wichtig, die Größe und
Relevanz der zu kodierenden Segmente zu denieren. Der
Kodierprozess sollte durch mehrere Kodierende erfolgen, um
Aussagen über die Reliabilität der erfassten Maße gewinnen zu
können.
3 Lautes Denken in der pädagogischen Forschung
An dieser Stelle sollen exemplarisch Fragestellungen beschrie-
ben werden, die besonders für die inklusive Pädagogik rele-
vant erscheinen.
3.1 Erfassung von Problemlöseprozessen
Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förder-
bedarf gehen beim Lösen von Aufgaben häug anders vor
als ihre gleichaltrigen Mitschülerinnen und Mitschüler. Dabei
nutzen sie seltener Strategien und die verwendeten Strategien
sind weniger efzient (Bosson et al. 2010: 14). Strategien wer-
den dabei als zielgerichtete kognitive Operationen verstanden,
welche die Aufgabenbearbeitung erleichtern (Presley et al.
1989: 303). Gleichzeitig zeichnen sich bestimmte Gruppen von
Schülerinnen und Schülern (z.B. mit Aufmerksamkeits-Hype-
raktivitätsstörungen) häug durch eine reduzierte Fähigkeit
der Selbstregulation und geringe metakognitive Kompetenzen
beim Bearbeiten von Aufgaben aus (Gawrilow et al. 2011: 42).
Somit nehmen Interventionsverfahren, die diese Aspekte trai-
172
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
nieren, einen wichtigen Baustein in der schulischen Förderung
ein. Bei der Konstruktion solcher Trainingsverfahren ist es
wichtig, genau die Problemlöseprozesse zu kennen, die eine
erfolgreiche Aufgabenbearbeitung ausmachen, um diese dann
zielgerichtet fördern zu können. Eine genaue Aufgabenanalyse
ist daher eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von
Trainingsverfahren (Klauer 2001: 7)
Im Prozess einer solchen Aufgabenanalyse nutzen die Auto-
ren dieses Artikels den Think aloud-Ansatz, um die Strategie-
nutzung von Grundschulkindern (1. /2. Klasse) beim Lösen
konkret-operationaler Konzepte zu explorieren (Börnert und
Wilbert 2016; 2015). Das Beherrschen konkret-operationaler
Konzepte steht im Zusammenhang mit schulischem Lerner-
folg (Jordan und Brownlee 1981). Dieser Zusammenhang wird
insbesondere im Bereich mathematischer Leistungen deutlich
(Ramos-Christian, Schleser und Varn 2008: 547).
Bei der beschriebenen Aufgabenanalyse werden die Kinder
vor dem Lösen der relevanten Aufgaben dazu angehalten, alle
Gedanken zu verbalisieren, die ihnen in den Kopf kommen.
Ziel ist es, Instruktionen aus den transkribierten Protokol-
len abzuleiten, welche es den Kindern ermöglichen, ähnliche
Aufgaben zu lösen (s. Abbildung 1). Die Ableitung der Strategi-
en bzw. der Instruktionen erfolgt durch das Codieren relevan-
ter Interviewpassagen. Das eingesetzte Codesystem wurde im
beschriebenen Fall induktiv entwickelt. Aus den zugeordneten
Codes lassen sich Aussagen über die Abfolge von eingesetzten
Operationen und Strategien treffen. In Studien, in denen die
eingesetzten Strategien bei unterschiedlichem Lösungserfolg
verglichen werden, lassen sich somit Aussagen über notwen-
dige Schritte in der Aufgabenbearbeitung ableiten und in der
Förderung operationalisieren.
173
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
Abb. 1: Ableitung von Instruktionen aus dem protokollierten lauten
Denken
In einigen Fällen verbalisieren die Kinder nicht sofort die in-
volvierten Kognitionen, sondern nennen zunächst nur die Ant-
wortoption. In solchen Fällen ist es notwendig, die Kinder nach
ihren Gedanken zu fragen. Im Sinne der Überlegungen von
Ericsson und Simon (1993) handelt es sich dann jedoch eher um
eine Form des Concurrent probing. In der Arbeit mit Kindern
mit sonderpädagogischem Förderbedarf erscheint dieser An-
satz von besonderer Relevanz.
Neben der beispielhaften Anwendung bei nicht-curricularen
Inhalten wird auch bei schulbezogenen Aufgaben das laute
Denken als Mittel zum Gewinn von Einblicken in Problemlöse-
prozesse eingesetzt. Viele Studien beziehen sich auf den The-
menkomplex der Lesekompetenz (Bereiter und Bird 1985: 132;
Scott und Dreher 2016: 288), des Schreibens (Hayes und Flower
1981: 368), aber auch auf naturwissenschaftliche Unterrichtsfä-
cher (Mansyur 2015: 2).
3.2 Unterrichtsforschung
Ein weiteres Anwendungsfeld des lauten Denkens ist die Er-
forschung des inklusiven Unterrichts. Ein wichtiger Baustein
174
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
der Entwicklung inklusiven Unterrichts ist es, die Kompeten-
zen zu identizieren, die für einen professionellen Umgang
mit heterogenen Lerngruppen notwendig sind.
Ein umfassendes Modell professioneller Kompetenzen von
Lehrkräften beschreiben Kunter und Mitarbeitende (2001: 29 ff.).
Es enthält die folgenden Aspekte:
• Professionswissen
• Überzeugungen/ Werthaltungen/ Ziele
• Motivationale Orientierungen
• Selbstregulation
Zum Professionswissen werden mehrere Bereiche gezählt, die
den unterschiedlichen Aufgabenbereichen von Lehrkräften
entsprechen, nämlich:
• Fachwissen
• Fachdidaktisches Wissen
• Pädagogisch-psychologisches Wissen
• Organisationswissen
• Beratungswissen
In inklusiven Lernkontexten stellen sich Anforderungen, für
die all diese Kompetenzen in vielfältiger Weise relevant er-
scheinen. Noch nicht beantwortet sind differenzierte Fragen
hierzu: Welche Kompetenzaspekte werden in der Lehrkräfte-
ausbildung bereits vermittelt bzw. sind ausreichend vorhan-
den? An welchen Stellen besteht Bedarf einer gründlicheren
Vorbereitung auf veränderte Aufgaben? Sowohl Schülerinnen
und Schüler als auch Lehrkräfte und weiteres pädagogisches
Fachpersonal können davon protieren, wenn diese Fragen
in der Forschung aufgegriffen werden und Ergebnisse in Aus-
und Weiterbildung von Lehrkräften einießen.
Das laute Denken kann in diesem Zusammenhang eine wich-
tige Position einnehmen und zur Erfassung vorhandenen pro-
175
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
fessionellen Wissens dienen – sowohl hinsichtlich fachlichen
und fachdidaktischen Wissens als auch in den Bereichen Päda-
gogik, Psychologie, Organisation oder Beratung. Interessant ist
bei solchen Untersuchungen eine anforderungsnahe und somit
handlungsnahe Messung des relevanten Wissens. Somit haben
Methoden wie das laute Denken einen Vorteil gegenüber aus-
bildungsnahen bzw. curriculumsorientierten Tests.
Wie Kuhn und Brückner (2013: 8 ff.) beschreiben, können Lehr-
amtsstudierende beispielsweise ihre Gedanken laut ausspre-
chen, während sie fachdidaktisches Wissen bei der Bearbeitung
bestimmter Aufgaben anwenden. Dies erlaubt eine Beurteilung
ihrer Kompetenz in diesem konkreten Bereich.
Auch laut geäußerte Gedanken von Lernenden beim Lösen von
Aufgaben eignen sich zur Untersuchung bestimmter Kompe-
tenzen, wie Völzke (2012: 98 f.) sowie Terzer, Patzke und Up-
meier zu Belzen (2012: 59) zeigen. Die gedanklichen Prozesse
und das Wissen derjenigen, die interessierende Aufgaben be-
arbeiten, können von Forschenden und Lehrenden untersucht
werden. Dies führt gleichzeitig dazu, dass Anforderungen und
Aussagekraft der Aufgaben deutlich werden. Überarbeitungs-
möglichkeiten oder Einsatzbereiche der betrachteten Aufgaben
können also auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse diskutiert
werden.
Neben dem lauten Denken, das während der Aufgabenbearbei-
tung stattndet, ist auch die Methode des retrospektiven lauten
Denkens in der Lehrkräfteforschung – unter Berücksichtigung
der erwähnten Limitationen – von großem Nutzen. Einerseits
können in einer bestimmten Anforderungssituation geäußerte
Gedanken später noch genauer betrachtet werden (ebd.). An-
dererseits sind nachträgliche Äußerungen von Lehrkräften
interessant für die Erforschung konkreter Unterrichtssituati-
onen, da hier keine Erfassung von Kognitionen „in Echtzeit“
möglich ist. Eine retrospektive Betrachtung der abgelaufenen
176
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
Gedanken kann zu weiteren relevanten Erkenntnissen führen.
Unterstützt werden solche vertiefenden Verbalisierungspro-
zesse häug durch die Analyse einer zuvor aufgezeichneten
Situation (Audio-, idealerweise Videoaufnahmen).
Auch Weidle und Wagner (1994: 91) betonen die Nützlich-
keit retrospektiven lauten Denkens im Kontext der Unter-
richtsforschung. So nutzen die Autorinnen die Methode, um
Handlungspläne und -strategien von Lehrkräften wie auch
Lernenden im kindzentrierten Unterricht zu evaluieren (ebd.).
Unterrichtssequenzen wurden videograert, aufbereitet und
den Teilnehmenden vorgeführt. Dabei stand stets die Frage im
Fokus, welche Gedanken diese während der Sequenz hatten
(ebd.).
Tittle (1996: 8) zeigt in einer Fallstudie, dass das Verständnis
von Lehrkräften hinsichtlich des Antwortverhaltens Lernender
eingeschätzt werden kann, indem die Lehrkräfte während des
Betrachtens einer aufgezeichneten Lernsituation ihre Gedan-
ken laut aussprechen. In der vorliegenden Studie äußerte die
Lehrkraft ihre Annahmen und Erklärungen beim Betrachten
von Videoaufnahmen, in denen Lernende bestimmte Mathe-
matikaufgaben bearbeiten. Beobachtungs- und Handlungs-
kompetenzen von Lehrkräften können also auch unabhängig
von deren eigenem Unterricht untersucht werden, was weni-
ger Aufwand für die Beteiligten bedeutet.
Entsprechend ist der Einsatz von Methoden lauten Denkens
auch in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften nütz-
lich: Beispielsweise können professionelle Verhaltensweisen
im Bereich der Diagnostik durch lautes Denken evaluiert und
reektiert werden. Relevante Kompetenzfacetten sind hierbei
unter anderem die differenzierte Wahrnehmung von Situati-
onsmerkmalen oder die Nutzung von Hintergrundwissen. Vi-
deo-Vignetten können dabei besonders anschauliches Material
darstellen.
177
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
Generell kann lautes Denken bei der Bearbeitung von (auch
ktiven) Fall-Vignetten eingesetzt werden, um professionelle
Handlungskompetenzen zu konkreten Aufgaben differenziert
zu betrachten. Strasser und Gruber (2013: 95) berichten bei-
spielsweise von einer Untersuchung mit Beratungslehrkräften
und Erziehungsberaterinnen und -beratern, die beim Bearbei-
ten einer beraterischen (also fachunabhängigen) Aufgabe ihre
Gedanken laut äußerten. Das Vorgehen der Versuchspersonen
konnte so z.B. hinsichtlich unterschiedlicher Strategien analy-
siert werden. Studien wie diese bringen Erkenntnisse zu un-
terschiedlichen Kompetenz-Ausprägungen, die unter anderem
durch Inhalte und Methoden der durchlaufenen Aus- bzw.
Weiterbildungen bedingt sind. Auch Aussagen über das Gelin-
gen eines Theorie-Praxis-Transfers (ebd.: 104) können daraus
abgeleitet werden. Außerdem wurde die Rolle der Berufserfah-
rung analysiert: Bestimmte professionelle Fertigkeiten werden
anscheinend im Laufe der Zeit entwickelt – unabhängig von
Ausbildungsinhalten. Andere Fertigkeiten wiederum scheinen
ohne eine zuvor erworbene Wissensbasis nicht ausgebildet zu
werden (ebd.: 103).
Auf diese Weise gewonnene Erkenntnisse über Wissen und
Fähigkeiten unterschiedlicher Gruppen von Fachpersonal kön-
nen unter anderem dazu genutzt werden, Aufgaben im sich
entwickelnden Schulkontext sinnvoll, nämlich angepasst an
vorhandene Kompetenzen, zu verteilen. Die Ableitung lang-
fristig zu ergänzender Ausbildungsinhalte ist ebenfalls denk-
bar.
Neben Professionswissen sind auch die übrigen oben ange-
führten Kompetenzaspekte – Einstellungen, Motivation und
Selbstregulation – von Interesse für pädagogische Forschung
sowie für Aus- und Weiterbildung. Subjektiven Theorien, be-
liefs bzw. Überzeugungen und ähnliche Konstrukte sind des-
halb von Bedeutung, da sie Urteile, Entscheidungen und so-
178
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
mit Unterrichtsverhalten beeinussen. Dieses wiederum hat
verschiedene Auswirkungen auf die Lernenden (Kunter et
al. 2011: 39 f.; Fang 1996: 49 f.). Das Explizieren solcher meist
impliziten Kognitionen durch lautes Denken – ob z.B. wäh-
rend der Betrachtung einer Fall-Vignette oder retrospektiv in
Hinblick auf eigenes Handeln – ermöglicht auf der einen Seite
die Erfassung von Grundlagen des Unterrichtshandelns. De-
ren Zusammenhang mit konkretem Verhalten kann dann im
Rahmen von weiteren Studien untersucht werden. Daraus wie-
derum lassen sich Anregungen für die Lehrkräfteausbildung
ableiten. Auf der anderen Seite wird bei (angehenden) Lehr-
kräften durch die Beschäftigung mit subjektiven Theorien und
Überzeugungen eine Reexion des eigenen Denkens und Ver-
haltens ermöglicht.
4 Lautes Denken in der pädagogischen Praxis
Neben der Anwendung des lauten Denkens in pädagogischer
Forschung ist die Methode auch im Kontext praktischer päda-
gogischer Arbeit einsetzbar. Dabei ist es weniger relevant, die
verbalisierten Informationen systematisch zu erfassen und aus-
zuwerten. Wichtiger ist es vielmehr, einen Zugang zu Gedan-
kengängen von Lernenden und Lehrkräften zu nden.
4.1 Funktion in der (Weiter-)Bildung von Lehrkräften
Berufsbezogene Gedanken und Überzeugungen von Lehrkräf-
ten wirken sich, wie oben erwähnt, direkt oder indirekt auf
Unterricht und Lernende aus, was Anlass genug für eine Aus-
einandersetzung – zum Beispiel durch Verbalisierung – mit
diesen Kognitionen ist. Darüber hinaus protieren auch Lehr-
kräfte selbst von solchen Verfahren. Das laute Aussprechen
von Gedanken bietet einen unmittelbaren Anlass zur Selbstre-
179
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
exion, die sowohl in der Vorbereitungsphase einer (Unter-
richts-) Erfahrung als auch danach stattnden kann. Im Rah-
men bestimmter Lehrveranstaltungen, z.B. beim sogenannten
Peer Teaching, wo angehende Lehrkräfte gemeinsam eine Klas-
sensituation nachstellen, ist sogar eine Verbalisierung und so-
mit eine Reexion während der interessierenden Handlungen
möglich.
Die Reexion des eigenen Handelns hat einen Einuss auf den
Lernzuwachs, der in Praxiseinsätzen gewonnen werden kann.
Allein die Aufmerksamkeit für bestimmte Situationsaspekte,
aber auch ein umfassendes Verständnis hierfür können durch
eine reektierte Herangehensweise begünstigt werden (Laug-
hran 1994: 5). Dies stellt eine große Chance für die Übertragung
theoretischen Wissens in professionelles Handeln von Lehr-
kräften dar. Laughran beschreibt, wie er durch lautes Denken
in seiner Rolle als Ausbilder für Lehrkräfte das Reektieren
des eigenen Handelns „vorgelebt“ hat. Somit konnte er vermit-
teln, das Lehren als stetigen Problemlöseprozess zu betrachten,
dem mit professionellen Kompetenzen begegnet werden kann
(ebd.: 39).
4.2 Lautes Denken als Förderansatz
Wie schon im Kontext der Lehrkräfteausbildung deutlich wird,
kann lautes Denkens nicht nur als Ansatz zum Gewinn von In-
formationen dienen. So bietet es auch Potenzial, um die Kom-
petenzentwicklung von Kindern zu fördern, da Denkprozesse
teilweise durch das Verbalisieren von Gedanken angeregt wer-
den können. So zeigt sich in der Hattie-Studie, dass lautes Den-
ken zu den effektivsten unterrichtlichen Maßnahmen, bezogen
auf den Lernerfolg, gehört (Hattie et al. 2013: 229). Dies scheint
besonders in der Arbeit mit leistungsschwächeren Lernenden
zu gelten (ebd.).
180
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
Lautes Denkens kommt im Kontext von Förderung in vielfa-
cher Form zum Einsatz. Bereiter und Bird (1985) stellen meh-
rere Anwendungen im Kontext der Strategieinstruktion dar.
Eine Möglichkeit ist die Nutzung von Ausschnitten aus verba-
len Protokollen in Unterrichtsmaterialien, um auf diese Weise
den idealen Problemlöseprozess zu verdeutlichen (ebd.: 141)
Ähnlich wirkt eine Verbalisierung durch die Lehrkraft. Aber
auch das Aussprechen der eigenen Gedanken durch das Kind
selbst ermöglicht Erkenntnisse zum Lerngegenstand, wenn
das Vorgehen in einer offenen Diskussion eingeordnet bzw.
bewertet wird (ebd.). Sogenannte reziproke Methoden ermögli-
chen den Lernenden einen Zugang zur Rolle der Lehrenden,
indem Letztere ihre Gedanken verbalisieren (ebd.: 141).
Insbesondere in der Förderung von Lesekompetenzen hat das
laute Denken eine lange Tradition, da hierdurch angemes-
sene Strategien veranschaulicht werden (Bereiter und Bird
1985: 140). Studien zeigen unter anderem, dass das laute Den-
ken während des Leseprozesses das Leseverständnis erhöht
(Duke und Pearson 2008: 111). Eine Erklärung liegt darin, dass
durch entsprechende Förderung die Impulsivität der Lernen-
den reduziert wird, was mit einem durchdachteren und strate-
gischeren Lesen einhergeht (ebd.).
Im Kontext der Vermittlung mathematischer Kompetenzen
nden Techniken des lauten Denkens ebenfalls Anwendung
(Witzel et al. 2001: 102). Auch für den Bereich der Naturwis-
senschaften werden Förderungen beschrieben, welche einen
Schwerpunkt auf das gemeinsame laute Denken legen (Hogan
1999: 1085).
Neben der Anwendung des lauten Denkens bei curricularen
Inhalten ist die Methode auch wichtiger Baustein vieler Inter-
ventionen im Kontext von Lern- und Aufmerksamkeitsstörun-
gen. Beim kognitiven Modellieren verbalisieren die Lehrenden
den idealtypischen Lösungsprozess. Durch diese Modellierung
181
Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik
erfassen die Lernenden wiederum den Lösungsprozess und
entwickeln die entsprechenden kognitiven Fertigkeiten. Durch
Selbstanweisungen wird dieses Vorgehen eingeübt und verin-
nerlicht (Lauth 2014: 442). Eine solche Selbstinstruktion ist zen-
traler Bestandteil von Trainings wie dem Marburger Konzentra-
tionstraining (Krowatschek, Krowatschek und Reid: 20 ff.) oder
dem Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern (Lauth und
Schlottke: 109 f.) und lässt sich auf weitere unterrichtliche oder
außerunterrichtliche Lern- und Übungssituationen übertragen.
Unterschiedliche Übungen zur Förderung von Aufmerksam-
keit und Konzentration bestehen dabei einerseits aus der Be-
arbeitung einer Aufgabe und andererseits aus dem gleichzeiti-
gen Verbalisieren der auftretenden Gedanken und des eigenen
Handelns. Dieses Vorgehen wird in einem ersten Schritt von
der Lehrperson bzw. Trainingsleitung demonstriert; beispiels-
weise durch Formulierungen wie „Was soll ich bei diesem
Arbeitsblatt tun? Ich lese mir zunächst die Aufgabenstellung
genau durch.“ Alle Bestandteile der Aufgabenbearbeitung
werden verbalisiert. Im zweiten Schritt bearbeiten die teilneh-
menden Kinder bzw. Jugendlichen selbst eine Aufgabe und die
Trainingsleitung übernimmt das laute Denken in der gleichen
Weise wie zuvor (externe Verhaltenssteuerung). Der dritte
Schritt sieht vor, dass die Teilnehmenden selbst – nach der vor-
her am Modell beobachteten „Vorlage“ – ihre Gedanken laut
verbalisieren. Die Trainingsleitung kann hierbei korrigierend
eingreifen und auf mögliche Abweichungen oder Fehlerquel-
len eingehen, bevor es zu einer Automatisierung der Abläufe
kommt. Erwünschtes Verhalten wird außerdem unmittelbar
erkannt und kann belohnt und somit verstärkt werden. In fol-
genden Schritten üben die Teilnehmenden, die Selbstinstruk-
tion innerlich durchzuführen, sodass das laute Denken durch
Flüstern und schließlich durch inneres Sprechen bzw. eine ver-
deckte Selbstinstruktion abgelöst wird. Auf diese Weise erler-
nen die Kinder und Jugendlichen kognitive und metakognitive
182
Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert
Strategien zur Aufgabenbearbeitung und Problemlösung, die
sie in unterschiedlichsten Anforderungssituationen anwenden
können.
5 Fazit
Lautes Denken bietet vielfältiges Potenzial für inklusionspä-
dagogische Handlungsfelder. Dies zeigt sich sowohl in Beiträ-
gen zu einer Reihe von Forschungsfragen als auch in Anforde-
rungen der pädagogischen Praxis, bei welchen diese Methode
von Nutzen sein kann. In der direkten Förderung Lernender,
aber auch durch die Vermittlung von Grundlagen- oder Hin-
tergrund-Informationen trägt lautes Denken dazu bei, dass in-
dividuelle gedankliche Prozesse verstärkte Beachtung nden.
Dies stellt eine wichtige Ergänzung zu anderen etablierten
Forschungs- und Beobachtungsansätzen dar, in denen zumeist
Gruppen von Menschen in ihrer Gesamtheit untersucht wer-
den. Der Unterschiedlichkeit von Individuen durch geeignete
Verfahren wie dem lauten Denken Rechnung zu tragen, ist Teil
der Bemühungen, die zu gelungener Inklusion führen können.
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187
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Spezische Sprachentwicklungsstörung und früher kindli-
cher Zweitspracherwerb: Grammatische Dezite und Konse-
quenzen für die Diagnostik
Monika Rothweiler
Der Beitrag berichtet zusammenfassend Ergebnisse aus
einem Forschungsprojekt zum Grammatikerwerb bei se-
quentiell-zweisprachigen Kindern mit einer spezischen
Sprachentwicklungsstörung (SSES), die in verschiedenen
Artikeln veröffentlicht wurden. Im Mittelpunkt steht die
Frage, inwieweit die grammatischen Auffälligkeiten im
Spracherwerb dieser Kinder denen einsprachiger Kinder
mit einer SSES gleichen. Die Erstsprache der Kinder ist
Türkisch. Die Datenbasis besteht im Wesentlichen aus
longitudinalen Daten. Untersucht wurden der Erwerb der
Satzstruktur und der Verbexion sowie die Verwendung
von Artikeln und der Erwerb von Kasusmarkierungen.
Im unauffälligen Zweitspracherwerb werden insbeson-
dere Satzstruktur und Verbexion weitgehend parallel
zum Erstspracherwerb erworben. Die Projektergebnisse
belegen eine große Parallelität zwischen einsprachigen
und früh sequentiell-mehrsprachigen Kindern in der
Ausprägung einer SSES in diesen grammatischen Be-
reichen. Der Erwerb von Kasusmarkierungen wird von
sprachunauffälligen sequentiell-zweisprachigen Kindern
allerdings im Beobachtungszeitraum nicht abgeschlos-
sen, so dass in diesem Phänomenbereich Besonderheiten
des Zweitspracherwerbs mit Deziten bei Vorliegen einer
SSES überlappen.
188
Monika Rothweiler
1 Einleitung
Spezische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) sind Störun-
gen im altersgemäßen Erwerb der Sprache, die sich nicht auf
eine außersprachliche Primärursache zurückführen lassen wie
z.B. auf eine kognitive oder auditive Beeinträchtigung. Betrof-
fene Kinder haben häug in mehreren sprachlichen Bereichen,
aber vor allem mit dem Aufbau der zielsprachlichen Gramma-
tik Schwierigkeiten. Da eine gut ausgebaute Sprachkompetenz
eine wesentliche Voraussetzung für viele, vor allem schulische,
Lernprozesse ist, ist es wichtig, betroffene Kinder früh zu erfas-
sen und ihre Sprachentwicklung professionell zu unterstützen.
Das ist insbesondere vor dem Hintergrund von Bedeutung,
dass etwa die Hälfte der betroffenen Kinder auch Lese-Recht-
schreib-Probleme entwickeln (Bishop und Snowling 2004) und
etwa die Hälfte der Kinder mit einer Legasthenie1 eindeutige
Sprachproduktionsdezite haben (Guasti et al. 2015). Heut-
zutage wird bei vielen betroffenen Kindern die Spracher-
werbsproblematik früh identiziert und sie werden sprach-
therapeutisch versorgt, oft schon ab dem vierten Lebensjahr,
d.h. deutlich vor dem Eintritt in die Schule. Diese günstige
Voraussetzung gilt aber nur für einsprachige Kinder, für die
in der Praxis langjährige diagnostische Erfahrungen und ent-
sprechende diagnostische Verfahren zur Verfügung stehen.
Die Situation stellt sich für zwei (oder mehr)sprachige2 Kinder
anders dar. Da das sprachliche Erwerbsdezit als genetisch be-
1 Der Begriff Legasthenie wird hier als Äquivalent zum Englischen
Begriff Developmental Dyslexia verwendet, der sich auf eine Stö-
rung mit genetischen Ursachen bezieht.
2 Die Begriffe zweisprachig und mehrsprachig werden in diesem Ar-
tikel als gegeneinander austauschbare Begriffe verwendet. Damit
soll nicht suggeriert werden, dass es keinen Unterschied machte,
ob ein Kind mit zwei oder mit mehr als zwei Sprachen aufwächst.
Das ist aber nicht Thema dieses Beitrags.
189
Spezische Sprachentwicklungsstörung
dingt gilt, ist zu erwarten, dass zweisprachige Kinder mit SSES
sowohl im Erwerb der Erst- als auch der Zweitsprache Dezite
zeigen. Die Spracherwerbsforschung befasst sich seit einigen
Jahren mit diesem Thema;3 und die Ergebnisse sind von großer
Bedeutung für die Diagnostik, aber auch für die Therapie von
SSES bei zweisprachigen Kindern. Die Deutsche Forschungs-
gemeinschaft (DFG) hat bereits seit 2002 ein Forschungsprojekt
zu dieser Thematik unterstützt, aus dem die in diesem Artikel
berichteten Ergebnisse stammen.4
Im Folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über den
Stand der Forschung zum Grammatikerwerb sowohl bei deut-
schen Kindern mit einer SSES (Kap. 2) als auch bei sprachunauf-
fälligen früh sequentiell-zweisprachigen Kindern mit Deutsch
als zweiter Sprache (Kap. 3) gegeben. Anschließend werden
die Ergebnisse zu SSES bei zweisprachigen Kindern aus dem
genannten Forschungsprojekt vorgestellt (Kap. 4). Der Artikel
schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf
Konsequenzen für die Diagnostik (Kap. 5).
2 Das grammatische Dezit bei einer SSES im Deutschen
Etwa 7,4% aller Kinder sind von einer SSES betroffen. Diesen
Wert berichtet Leonard (2014: 24) als den aktuell zuverlässigs-
ten Wert, den Tomblin et al. (1997) auf der Basis einer großen
3 Siehe dazu die von der EU geförderte COST Action IS0804 (http://
www.bi-sli.org/)
4 Das Forschungsprojekt unter der Leitung von Monika Rothwei-
ler wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im
Sonderforschungsbereich Mehrsprachigkeit (SFB 538) an der Uni-
versität Hamburg von 2002 bis 2011 gefördert. In diesem Projekt
wurden Daten von sprachunauffälligen und von sprachauffälli-
gen Kindern erhoben, um die Ausprägung einer SSES bei zwei-
sprachigen Kindern zu untersuchen (Hamburg-Korpus).
190
Monika Rothweiler
epidemiologischen Studie mit über 7.000 Kindern im Kinder-
gartenalter ermittelt haben. Ebenfalls seit dem Ende der 1990er
Jahre können als wissenschaftlich gesichert die folgenden
diagnostischen Kriterien zur Abklärung einer SSES genutzt
werden: Beeinträchtigung der Sprachentwicklung als Ein-
schlusskriterium bei gleichzeitigem Fehlen eines reduzierten
nicht-verbalen Intelligenzquotienten (unter IQ 85), einer Hör-
minderung, einer physischen Beeinträchtigung der Sprechmo-
torik sowie Symptomen im Bereich der sozialen Interaktion
(Ausschlusskriterien) (vgl. dazu Grimm 2003; Leonard 2014:
15). Es gibt eindeutige Hinweise auf genetische Ursachen für
SSES, wie z.B. Familienhäufungen und die Tatsache, dass Jun-
gen überproportional häug betroffen sind (Nudel et al. 2015;
Tomblin et al. 1997).
Die sprachlichen Auffälligkeiten von Kindern mit SSES sind
bereits in der frühen Kindheit, aber auch noch im Schulalter
belegt. Obwohl die Kinder Fortschritte in ihrer sprachlichen
Entwicklung machen, bleiben bei vielen von ihnen auch noch
im Jugend- und Erwachsenenalter sprachliche Abweichun-
gen nachweisbar (Leonard 2014; Schakib-Ekbatan und Schöler
1995).
Obwohl Kinder mit einer SSES keine homogene Gruppe darstel-
len, hat die intensive Forschung in diesem Gebiet mit Kindern
aus zahlreichen unterschiedlichen Sprachen ein übergreifendes
Prol relativer Stärken und relativer Schwächen ergeben. Die
sprachliche Entwicklung betroffener Kinder kann grundsätz-
lich in mehreren sprachlichen Aspekten verzögert sein (z.B. in
der Phonologie, dem Lexikon, der Pragmatik und der Gram-
matik) und diese Kinder sind in der Regel late talkers: D.h. sie
beginnen deutlich später zu sprechen als unauffällige Kinder,
haben zunächst einen langsamen Wortschatzaufbau und pro-
duzieren erst spät erste syntaktische Wortkombinationen. Ins-
besondere im Bereich der Morphosyntax und der Syntax so-
191
Spezische Sprachentwicklungsstörung
wie im phonologischen Arbeitsgedächtnis prägen sich relative
Schwächen aus.5
Im Bereich der Morphosyntax und Syntax liegen die Probleme
sowohl in der Morphologie zur Kodierung von Tense (z.B. im
Englischen) und Subjekt-Verb-Kongruenz (z.B. im Deutschen)
als auch im Verständnis und in der Produktion komplexer Sät-
ze (Hamann, Penner und Lindner 1998). Überprüft wird z.B. die
komplexe Syntax über Tests, in denen Sätze nachgesprochen
werden oder in Satzverständnistests. Probleme in Morpho-
syntax und Syntax gelten als Kerndezit bei Kindern mit einer
SSES (Clahsen 2008).6
Eine SSES ist in zweierlei Hinsicht sprachspezisch. Im Begriff
selber bezieht sich spezisch darauf, dass die Störung spezisch
die sprachlichen Fähigkeiten betrifft, während die non-verbale
Intelligenzleistung unauffällig sei. Die Ausprägung einer SSES
ist allerdings auch spezisch für die zu erlernende Sprache:
Die sprachlichen, insbesondere grammatischen Phänomene,
die von einer SSES betroffen sind, hängen vom Sprachtyp und
der individuellen Sprache ab.
Ein großer Teil der Studien zu SSES im Deutschen, die sich auf
grammatische Dezite konzentrieren, stammt aus den 1990er
und aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre (für einen aktuel-
len Überblick s. Hamann 2015). Die Arbeiten von Schöler und
seiner Arbeitsgruppe untersuchten in einer Probandengrup-
pe mit 58 Kindern mit SSES im Grundschulalter verschiedene
5 Unter einer relativen Schwäche bzw. Stärke verstehe ich eine Leis-
tung, die nicht nur im Altersvergleich, sondern auch auf der Basis
eines generellen sprachlichen Maßes (z.B. des MLU) vermindert
bzw. erhöht ist.
6 Selektive Dezite werden auch für andere Bereiche wie Lexikon/
Semantik, Phonologie oder Pragmatik diskutiert, die in diesem
Artikel nicht berücksichtigt werden.
192
Monika Rothweiler
sprachliche und nicht-sprachliche Leistungen. Im grammati-
schen Bereich zeigten die Kinder mit SSES sowohl beim Bilden
von Pluralformen, beim Einfügen von Flexiven in Texten (insbe-
sondere Kasusmarkierungen) als auch beim Nachsprechen von
Sätzen deutlich schwächere Leistungen als sprachunauffällige
Kinder im gleichen Alter (vgl. dazu Schöler, Fromm und Kany
1998). Bereits in dieser Studie wurde neben grammatischen
Problemen bei vielen der Kinder eine deutliche Schwäche im
phonologischen Arbeitsgedächtnis festgestellt. Rice, Ruff Noll
und Grimm (1997) konzentrierten sich auf die Produktion und
Stellung niter und nicht-niter Verben (in Spontansprachpro-
ben) bei acht vierjährigen deutschsprachigen Kindern mit SSES
(Alter 3;9-4;8). Die Kontrollgruppe bestand aus acht jüngeren
Kindern mit demselben MLU7 (Alter 2;1-2;7). Die Analyse wur-
de ein Jahr später wiederholt und ergab, dass die sprachun-
auffälligen Kinder ein Stadium durchliefen, in dem sie viele
Verben in nicht-niter Form (z.B. als Innitiv oder als unek-
tierten Stamm; Optional Innitive Stage) produzierten und diese
Formen dann bevorzugt ans Satzende stellten, zugleich aber
nite Verben korrekt in die Verbzweitposition platzierten. Kin-
der mit SSES zeigten große Probleme, dieses Stadium zu über-
winden, sie bevorzuugten für lange Zeit Sätze mit nicht-niten
Verben in Endposition.
Hamann, Penner und Lindner (1998) untersuchten Verbstel-
lung und komplexe Sätze bei 50 Kindern mit einer SSES im
Alter von drei bis zehn Jahren. Die Kinder mit einer SSES pro-
duzierten mehr nite Verben als nicht-nite, hatten aber Pro-
bleme mit der Verbstellung, so dass sie auch für nite Verben
die satznale Position eindeutig bevorzugten. Weiterhin fan-
den sich bei den Kindern mit SSES Schwierigkeiten, zielsprach-
lich korrekte W-Fragen und Nebensätze zu bilden.
7 MLU = mean length of utterance. Die durchschnittliche Äußerungs-
länge gilt im frühen Spracherwerb als zuverlässigerer Entwick-
lungsmaßstab als das Alter.
193
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Wie Rice et al. (1997) und Hamann et al. (1998) konzentrierten
sich auch Clahsen und seine Arbeitsgruppe auf die Analyse von
Spontansprachdaten. Sie untersuchten bei Kindern mit SSES
im Alter von drei bis sieben Jahren sowohl Flexionsmorpholo-
gie, Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) als auch die Stellung ni-
ter und nicht-niter Verben (u.a. Clahsen 1988; Clahsen, Bartke
und Göllner 1997; Clahsen und Rothweiler 1993; Clahsen et al.
1992; Eisenbeiß, Bartke und Clahsen 2005). Während sich die
Kinder mit SSES in der Flexionsmorphologie zur Pluralmarkie-
rung am Nomen und zur Bildung von Partizipien nicht von
unauffälligen Kindern im selben MLU-Stadium unterschie-
den (Clahsen et al. 1992; Clahsen und Rothweiler 1993; Clah-
sen et al. 2014), konnten eindeutige Dezite in der Markierung
von Subjekt-Verb-Kongruenz festgestellt werden. Eine neuere
Analyse der Daten von sieben Kindern mit SSES, die bereits
komplexe Sätze produzierten, also W-Fragen und Nebensätze8,
ergab, dass diese Kinder auch in diesem fortgeschrittenen Sta-
dium ihrer grammatischen Entwicklung noch auffallende Pro-
bleme mit der Kodierung von Subjekt-Verb-Kongruenz hat-
ten (Rothweiler, Chilla und Clahsen 2012). Während Clahsen
(1988) noch von einem Dezit im Bereich Kasus ausging und
auf jeden Fall eine deutliche Verzögerung im Erwerb feststellen
konnte, fanden Eisenbeiß et al. (2005/6) in einer differenzierten
Kasusanalyse, dass die Kinder mit einer SSES ausschließlich
Probleme mit der Markierung von lexikalischem Kasus hatten,
aber nicht mit der Markierung von strukturellem Kasus.9
8 Es handelt sich um ein Teilkorpus des Ausgangskorpus von 19
Kindern.
9 Eisenbeiß et al. (2005/6) werten Nominativ, Akkusativ generell
und Dativ an indirekten Objekten ditransitiver Verben als struk-
turelle Kasus und Dativ, der von einem zweistelligen Verb oder
einer Präposition zugewiesen wird, als lexikalischen Kasus.
194
Monika Rothweiler
Für eine Reihe der genannten grammatischen Besonderhei-
ten ist noch nicht endgültig geklärt, ob der Spracherwerb tat-
sächlich dezitär oder vor allem verzögert ist. Eine generelle
Verzögerung im Grammatikerwerb kann als gesichert gelten
(Leonard 2014). So ist der Erwerb der Plural- und Partizip-
morphologie verzögert, aber nicht qualitativ abweichend. Ver-
gleichbares scheint für den Erwerb des Genussystems zu gel-
ten (Ruberg, erscheint). Für den Erwerb des Kasussystems sind
die Ergebnisse weniger eindeutig. Hier sind weiterführende
Studien mit größeren Probandenzahlen erforderlich.
Zusammengefasst kann man sagen, dass für Subjekt-Verb-Kon-
gruenz, für die Besetzung der niten und nicht-niten Verbpo-
sitionen und für den Erwerb komplexer Sätze die vorliegenden
Ergebnisse auf ein Dezit hinweisen, das über eine reine Ver-
zögerung deutlich hinausgeht (s. vor allem Hamann et al. 1998;
Rothweiler et al. 2012). Darüber hinaus neigen Kinder mit einer
SSES dazu, Funktionswörter wie Auxiliare, Präpositionen und
Konjunktionen auszulassen (Clahsen 1988). Das gilt insbeson-
dere für Artikel (Scherger 2015).
3 Der kindliche Zweitspracherwerb des Deutschen
Von einem kindlichen Zweitspracherwerb kann man sprechen,
wenn ein Kind zunächst eine erste Sprache, z.B. die Sprache
der Eltern, in den wichtigen Grundzügen erworben hat, bevor
es mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnt. Die Erstspra-
che ist in der Regel eine Minoritätssprache, die Zweitsprache
die Gesellschafts- oder Majoritätssprache. Viele Kinder, die in
Deutschland mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen, kom-
men erst mit dem Eintritt in eine Kindertageseinrichtung in
einen regelmäßigen und umfangreichen Kontakt mit Deutsch
als Mehrheitssprache. Der Erwerb der zweiten (oder dritten)
Sprache Deutsch beginnt also deutlich später als im simulta-
195
Spezische Sprachentwicklungsstörung
nen Erwerb zweier Sprachen.10 Wir sprechen von einem früh
sequentiellen Erwerb oder frühem Zweitspracherwerb.
Je älter die Kinder bei Beginn des Zweitspracherwerbs sind,
umso größer werden die Unterschiede zum Erstspracherwerb.
So produzieren z.B. Kinder, die erst im Alter von sechs bis acht
Jahren mit dem Erwerb der zweiten Sprache beginnen, mehr
Formen und Strukturen, die auch erwachsene Zweitsprachler-
nende bilden. Im Unterschied aber zu den erwachsenen Lerne-
rinnen und Lernern werden diese Abweichungen meist rasch
überwunden (vgl. dazu Chilla 2008; Czinglar 2014; Dimroth
2007; Haberzettl 2005; Kroffke und Rothweiler 2006; Chilla,
Rothweiler und Babur 2010; Meisel 2011). Je älter ein Kind zu
Beginn des Zweitspracherwerbs ist, umso geringer ist die Aus-
sicht auf einen vollständigen Erwerb der zweiten Sprache und
umso wichtiger werden Faktoren wie Motivation und Sprach-
begabung für den Erfolg (vgl. Hyltenstam und Abrahamsson
2003). Mit anderen Worten: Der Anteil der Lernerinnen und
Lerner, die erst im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter mit
dem Zweitspracherwerb beginnen und eine sogenannte nati-
ve-like competence in einer Zweitsprache erlangen, ist deutlich
geringer als der Anteil der erfolgreichen Zweitsprachlerne-
rinnen und -lerner, die die zweite Sprache seit dem frühen
Kindesalter erwerben. Relevante Faktoren für den Erfolg im
Zweitspracherwerb sind Alter bei Erwerbsbeginn (im Vergleich
zu einsprachigen Kindern, age of onset) und Kontaktdauer (length
of exposure); dazu kommen Faktoren wie die Erwerbskonstella-
tion (Wer spricht wann mit dem Kind welche Sprache?) oder
das Prestige der Sprachen, die das Kind erwirbt (vgl. Chilla et
al. 2010; Grimm und Schulz 2014).
Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien, die sich mit dem
früh sequentiellen Zweitspracherwerb des Deutschen mit ei-
10 Man spricht auch von bilingualem oder doppeltem Erstspracher-
werb.
196
Monika Rothweiler
nem Erwerbsbeginn im vierten Lebensjahr11 befassen. Zum
Erwerb grammatischer Formen und Strukturen sind u.a. die
Studien von Grimm und Schulz (2016), Kaltenbacher und Kla-
ges (2006), Kroffke und Rothweiler (2006), Ose und Schulz
(2010), Rothweiler (2006), Ruberg (2013), Sopata (2009),
Thoma und Tracy (2006), Tracy und Lemke (2012), Tracy
und Thoma (2009) von Interesse (s. auch Chilla et al. 2010;
Rothweiler 2016 für einen Überblick). Diese Erwerbskonstella-
tion ist einerseits für die pädagogische Praxis wichtig, weil es
um die große Gruppe von Kindern geht, die erst mit dem Ein-
tritt in eine Kindertageseinrichtung einen umfänglichen und
konstanten Input im Deutschen bekommt. Andererseits ist die-
se Erwerbskonstellation für die Psycholinguistik relevant, weil
die Ergebnisse Erkenntnisse zu der Frage versprechen, wann
sich optimale Zeitfenster für den Spracherwerb schließen.
Die beobachteten Erwerbsschritte im Bereich der Grammatik
gleichen denen im Erstspracherwerb des Deutschen sehr und
unterscheiden sich eindeutig vom Zweitspracherwerb Erwach-
sener. Vor allem der Erwerb des Satzbaus und der Erwerb der
Verbmorphologie zeigen große Ähnlichkeit zum Erstsprach-
erwerb, vor allem dann, wenn der Erwerbsbeginn vor Vollen-
dung des vierten Lebensjahres liegt. Dagegen stehen Befunde
und Beobachtungen, die belegen, dass selbst bei einem frühem
Erwerbsbeginn ab drei Jahren im Erwerb der Nominalphra-
se und der Nominalmorphologie Abweichungen vom Erst-
spracherwerb auftreten (können) (vgl. Schönenberger 2013;
Schönenberger, Sterner und Rothweiler 2013; aber s. auch
Tracy und Lemke 2012).
11 Damit sind Gruppen von Kindern gemeint, die mehrheitlich das
dritte Lebensjahr, aber noch nicht das vierte beendet haben. In
den Untersuchungsgruppen sind aber durchaus auch Kinder, die
einige Monate vor Vollendung des dritten Lebensjahrs oder erst
einige Monate nach Vollendung des vierten Lebensjahrs mit dem
Erwerb des Deutschen begonnen haben.
197
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Für andere sprachliche Bereiche, wie z.B. für den Ausbau des
Wortschatzes, werden deutliche Abweichungen zum monolin-
gualen Erwerb berichtet. Ein schon fast triviales Ergebnis ist,
dass vor allem in den ersten Jahren des Zweitspracherwerbs
der Lexikonumfang deutlich geringer ist als bei einsprachi-
gen Kindern. Diesen Effekt fanden Klassert, Gagarina und
Kauschke (2014) in ihrer Studie mit drei- bis sechsjährigen rus-
sisch-deutsch-sprachigen Kindern bei Nomen stärker ausge-
prägt als bei Verben. Ob bilinguale Kinder diesen Rückstand
in den ersten Schuljahren aufholen können, wie Paradis (2007)
auf der Basis internationaler Studien nahelegt, ist noch offen.
4 SSES bei mehrsprachigen Kindern
4.1 Zum Stand der Forschung
Die Forschungsfrage, wie sich eine SSES bei mehrsprachigen
Kindern ausprägt, wird seit Beginn der 2000er Jahre unter-
sucht (s. auch Fn. 2; für einen Überblick s. Paradis 2010; Grimm
und Schulz 2014; Armon-Lotem, de Jong und Meir 2015;
Rothweiler 2013). Da eine SSES genetische Ursachen hat, er-
gibt sich daraus, dass der Erwerb jedweder Sprache betroffen
ist. Grundsätzlich gilt also für mehrsprachige Kinder, dass nur
dann eine SSES vorliegen kann, wenn das Kind in allen Spra-
chen Erwerbsdezite hat (Rothweiler 2007). Umgekehrt kann
aus dem Umstand, dass ein Kind Erwerbsprobleme in all sei-
nen Sprachen hat, nicht eindeutig auf eine SSES geschlossen
werden: Auch ungünstige Erwerbsbedingungen können zu Er-
werbsschwierigkeiten führen. Selbst bei einsprachigen Kindern
kommt es zu Fehldiagnosen, wie Grimm und Schulz (2014)
zeigen. Umso leichter können Erwerbsprobleme aufgrund un-
günstiger Erwerbsbedingungen sowohl zu Über- als auch zu
Unterdiagnosen von SSES bei zweisprachigen Kindern führen
(Paradis 2010; Rothweiler 2004, 2007). Darüber hinaus können
198
Monika Rothweiler
auch Unterschiede zwischen ungestörtem Erst- und (frühem)
Zweitspracherwerb an sich fehlinterpretiert werden, d.h. dass
Abweichungen vom Erstspracherwerb fälschlicherweise als
Indikatoren für eine Erwerbsstörung gedeutet oder tatsächli-
che Dezite als Zweispracheffekte verharmlost werden. Daher
sind auf jeden Fall die üblichen klinischen Indikatoren wie Fa-
milienhäufung, verspäteter Erwerbsbeginn und verlangsamter
Erwerb sowie diagnostizierte Sprachdezite für eine sichere
Diagnose notwendig.
Ob eine zweisprachige Entwicklung für Kinder mit einer SSES
eine zusätzliche Hürde oder eine erwerbsfördernde Situation
darstellt, ist eine noch offene Frage. Im simultanen bilingualen
Erwerb zeigt sich dieselbe Symptomatik wie bei einsprachigen
Kindern beider Sprachen (Håkansson, Salameh und Nettel-
bladt 2003; Scherger 2015). Auch bei früh sequentiell-zwei-
sprachigen Kindern mit einer SSES sind Übereinstimmungen
in den grammatischen Auffälligkeiten belegt (u.a. Håkansson
et al. 2003; Rothweiler et al. 2012). Diese Parallelen gelten für
grammatische Phänomene, in denen sich der unauffällige Erst-
spracherwerb und der unauffällige früh-sequentielle Erwerb
gleichen. Hingegen fanden andere Studien eine Verstärkung
der Symptomatik, vor allem für grammatische Phänomene, die
auch für sprachunauffällige zweisprachige Kinder schwierig
sind (de Jong, Çavus und Baker 2010).
4.2 Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Spezische Sprachent-
wicklungsstörung und früher L2-Erwerb: Zur Differenzierung
von Abweichungen im Grammatikerwerb“
Der vorliegende Aufsatz fasst Ergebnisse aus dem Hambur-
ger Forschungsprojekt zusammen, die in den letzten Jahren an
verschiedenen Stellen vorgestellt und veröffentlicht wurden
(s.u., s. Fn. 4). Das Projekt hat sich mit der Frage befasst, ob die
Abweichungen im Grammatikerwerb bei Kindern mit SSES,
199
Spezische Sprachentwicklungsstörung
die im Deutschen als typisch beschrieben werden (s.o. Kap. 2.),
in gleicher Weise und in gleichem Umfang bei früh sequen-
tiell-zweisprachigen Kindern auftreten. Vor dem Hintergrund
der Ergebnisse zum früh-sequentiellen Erwerb des Deutschen
bei sprachunauffälligen Kindern sind zwei Ergebnisse erwart-
bar: Zum einen, dass die Parallelität, die sich zwischen dem
einsprachigen und dem früh-sequentiellen Erwerb in gram-
matischen Bereichen wie Satzstruktur und Subjekt-Verb-Kon-
gruenz zeigt, in diesen beiden Erwerbskonstellationen auch
bei Kindern mit einer SSES vorhanden ist, so dass dieselben
grammatischen Phänomene in gleicher Weise betroffen sein
sollten. Zum anderen ist für sprachliche Domänen, in denen
sowohl Kinder mit einer SSES Auffälligkeiten zeigen als auch
früh-sequentiell zweisprachige Kinder, zu erwarten, dass sich
Besonderheiten aus beiden Erwerbsbedingungen aufaddieren
oder vermischen.
Das Forschungsprojekt befasst sich mit dem Erwerb von
Verbmorphologie (Subjekt-Verb-Kongruenz und Partizipien),
Satzstruktur und Kasusmarkierungen im Deutschen sowie mit
Kasus- und Verbexion im Türkischen. Im Mittelpunkt stehen
Kinder mit Türkisch als Erstsprache, die im Alter von drei bis
vier Jahren mit dem Erwerb des Deutschen begonnen haben. Im
folgenden Abschnitt 4.2.1 werden die relevanten Hintergrund-
daten und das methodische Vorgehen vorgestellt. In den Ab-
schnitten 4.2.2 bis 4.2.4 werden die Ergebnisse des Forschungs-
projekts zu SSES im frühen Zweitspracherwerb des Deutschen
zusammengestellt. Daran schließt ein kurzer Abschnitt zu den
Ergebnissen zur Erstsprache Türkisch an.
4.2.1 Datenbasis
Das Hamburg-Korpus (Rothweiler 2006) zum frühen sequen-
tiellen Erwerb des Deutschen besteht aus Spontansprachdaten
und in begrenztem Umfang aus elizitierten Daten (z.B. zu Ka-
200
Monika Rothweiler
sus- und Pluralmarkierungen) von sprachunauffälligen und
sprachauffälligen Kindern. In den im Folgenden vorgestellten
Teilstudien wurden ausschließlich Spontansprachdaten ausge-
wertet.
Die Datenerhebung fand in der Kita oder (bei den älteren Kin-
dern) in der Schule oder zu Hause statt. Die meisten Kinder
hatten erst seit dem Eintritt in die Kita umfangreichen und sys-
tematischen Kontakt mit dem Deutschen. Die Familiensprache
war durchgängig Türkisch, und in den meisten Fällen sprachen
die Mutter oder der Vater kein oder nur sehr wenig Deutsch.
In keiner Familie gab es ältere Geschwisterkinder mit Deutsch-
kompetenz. Alle Familien können auf informeller Basis einer
niedrigen oder mittleren sozioökonomischen Schicht zugeord-
net werden. Alle Familien denierten sich selber als türkisch
und lebten in einer türkisch-dominanten Nachbarschaft. Die
sozialen Kontakte der Familien konzentrierten sich weitge-
hend auf andere türkische Familien und die Familien nutzten
ausschließlich türkischsprachige Medien (Fernsehen und/oder
Zeitungen).
Das Teilkorpus mit den Daten der sprachauffälligen Kinder
umfasst Daten von insgesamt neun Kindern, die Türkisch als
Erstsprache erwarben. Die kognitiven Leistungen wurden
entweder mit einem non-verbalen IQ-Test überprüft oder es
lagen eindeutige Expertenaussagen vor. Die Feststellung einer
Sprachentwicklungsproblematik und damit die Aufnahme ei-
nes Kindes in die Gruppe der sprachauffälligen Kinder erfolgte
über informelle Verfahren. Dazu gehörte u.a. eine Befragung
der Eltern und der betreuenden Fachkräfte im Hinblick auf
die individuelle Entwicklung des Kindes. Die Sprachentwick-
lung der Kinder wurde im Rahmen zweier Sprachbeobachtun-
gen, die von zwei verschiedenen Projektmitarbeiterinnen und
-mitarbeitern durchgeführt wurden, sowohl im Türkischen als
auch im Deutschen informell eingeschätzt. Für die Aufnahme
in die Gruppe der Kinder mit SSES mussten unauffällige ko-
201
Spezische Sprachentwicklungsstörung
gnitive Leistungen vorliegen, während beide Sprachbeobach-
tungen einen in Bezug auf die Kontaktdauer nicht-angemesse-
nen Sprachstand im Deutschen und einen nicht-altersgemäßen
Sprachstand im Türkischen belegen mussten.
Aus den Elternbefragungen ergab sich in Bezug auf die Sprach-
entwicklung im Türkischen, dass die meisten sprachauffälligen
Kinder spät mit dem Spracherwerb begonnen hatten (z.B. die
ersten Wörter erst nach Abschluss des zweiten Lebensjahrs
produziert hatten), ‚anders sprechen als andere Kinder im sel-
ben Alter‘, und es gab in einigen Fällen Hinweise auf familiäre
Häufungen. Zwei der Kinder besuchten eine Sprachbehinder-
tenschule, drei weitere Kinder waren während der Erhebungs-
zeit in Sprachtherapie. Bei vier Kindern wurde ein türkischer
Sprachtest12 durchgeführt, der belegte, dass die Leistungen
der sprachauffälligen Kinder drei Standardabweichungen un-
ter denen der sprachunauffälligen bilingualen Kinder lagen
(s. dazu Chilla und Babur 2010).
Der Erwerbsbeginn für das Deutsche lag zwischen 2;0 und
5;5 Jahren (Mittelwert 40,9 Monate; Standardabweichung
(SD) = 11,6). Bei fünf Kindern begann die Datenerhebung in-
nerhalb der ersten 15 Kontaktmonate (KM = abgeschlossener
Kontaktmonat). Bei den übrigen vier Kindern begann die Da-
tenerhebung ab dem KM 29, KM 50, KM 72 und KM 77. Ins-
gesamt liegen von sieben Kindern Daten nach dem KM 30 vor
(max. bis KM 89).
Die Kinder wurden mindestens 12 Monate und bis zu 42 Mo-
naten begleitet. Die Aufnahmeintervalle betrugen bei den früh
erfassten Kindern zunächst jeweils zwei Wochen, nach dem
ersten Kontaktjahr vier Wochen bis sechs Monate. Alle Auf-
nahmen waren Videoaufnahmen und dauerten jeweils ca. 45
Minuten. Bei den meisten Kindern kam es immer wieder zu
längeren Aufnahmeunterbrechungen wegen Ferien, Erkran-
kung oder aus anderen Gründen.
12 Turkish SALT, Acarlar, Miller und Johnston (2006).
202
Monika Rothweiler
Abbildung 1 gibt einen Überblick über die in den verschiede-
nen Artikeln ausgewerteten Teilkorpora der zweisprachigen
Kinder mit SSES.
Die vorgestellten Teilstudien (s. Abb. 1) berücksichtigen immer
nur Ausschnitte des Gesamtkorpus, so dass sich die Auswer-
tungen auf unterschiedliche, allerdings überlappende Teil-
stichproben beziehen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass
die Datenauswertung bereits begann, als eine relevante Menge
von Daten zur Verfügung stand, und nicht erst nach Abschluss
der gesamten Datenerhebung.
Studie An-
zahl
Kin-
der
Erwerbsbeginn Erwerbsdauer (KM)
Chilla 2008 3 3;0, 3;0; 4;3 6-24; 11-24; 14-25
Rothweiler,
Chilla und Clah-
sen 2012
72;11, 3;0, 3;0;
3;5, 3;7, 4;3, 5;5
53-57; 15-24; 23-30;
15-36; 16-36; 28-31;
28-32
Schönenberger,
Sterner und
Rothweiler 2013
4 3;0, 3;0, 3;7, 4;3 3-24; 11-30; 9-36;
14-30
Clahsen et al.
2014
62;11, 3;0, 3;0;
3;5, 3;7, 4;3
53-57; 15-24; 23-30;
15-36; 16-36; 28-31
Rothweiler, Ba-
bur und Kroffke
2007; Rothwei-
ler, Chilla und
Babur 2010
20;0 (Türkisch) Alter: 6;5, 5;5
Chilla und Ba-
bur 2010
3 0;0 (Türkisch) Alter: 4;1, 5;5, 6;5
Abb. 1: Probanden/Daten in den Teilstudien (die beiden unteren
Zeilen der Tabelle beziehen sich auf die Teilstudien zur Erstsprache
Türkisch)
203
Spezische Sprachentwicklungsstörung
4.2.2 Subjekt-Verb-Kongruenz
(Chilla 2008; Rothweiler, Chilla und Clahsen 2012)
Der Aufbau des Verbexionsparadigmas und der damit ver-
bundene Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) gelten
als ein zentraler Schritt im Erstspracherwerb (Clahsen 1988).
Der Erwerb der SVK im frühen sequentiell-zweisprachigen Er-
werb erfolgt schnell (in der Regel innerhalb der ersten zwölf
Kontaktmonate, spätestens bis KM 18) und parallel zum Erst-
spracherwerb (Chilla 2008; Rothweiler 2006; Thoma und Tracy
2006). Kinder, die erst nach Abschluss des vierten Lebensjah-
res mit dem Zweitspracherwerb beginnen, produzieren deut-
lich mehr Abweichungen, überwinden diese Phase aber rasch
(Chilla 2008; Sopata 2009). Wie bereits erwähnt gelten lang
anhaltende Probleme mit der Subjekt-Verb-Kongruenz als ein
linguistischer Marker für eine SSES im Deutschen (vgl. Clah-
sen 1988; Clahsen et al. 1997). Im Deutschen haben Kinder mit
einer SSES außerdem große Schwierigkeiten, die Verbzweitpo-
sition, aber auch die satznale Verbposition korrekt mit niten
bzw. nicht-niten Verbelementen zu besetzen (Rice et al. 1997;
Hamann et al. 1998).
Der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz im Deutschen bei
früh sequentiell-zweisprachigen Kindern wurde in zwei Ar-
beiten aus dem Projekt untersucht (Chilla 2008; Rothweiler
et al. 2012). Chilla (2008) dokumentiert den Erwerb von Sub-
jekt-Verb-Kongruenz und Satzstruktur longitudinal bei drei
Kindern mit SSES (DEV, RAS und FER) (s. Tabelle 1). Das Kind
DEV produzierte bis zum Ende des ersten Kontaktjahres Ver-
ben nur als Stammformen oder als Innitive (-e oder -en). Erst
danach traten die Verbexie -s(t) und -t auf, die aber häug in-
korrekt verwendet wurden. Tatsächlich stieg der durchschnitt-
liche Korrektheitswert für Verbexion an lexikalischen Verben
bis zum Kontaktmonat 24 nur auf 73% (Chilla 2008: 280). Auch
die beiden anderen Kinder produzierten zunächst nur Stamm-
204
Monika Rothweiler
formen bzw. Verbformen mit -e oder -en. Beide Kinder verwen-
deten erst zum Ende der Datenerhebung (KM 24 bzw. KM 25)
vereinzelt, aber nicht produktiv die Flexive -s(t) und -t an le-
xikalischen Verben. Bei Kind RAS stieg der durchschnittliche
Korrektheitswert nicht über 80% (Chilla 2008: 317). Ähnlich
verhielt es sich beim dritten Kind, FER. Dieses Kind hatte ein
sehr begrenztes Verblexikon und produzierte insgesamt wenig
Verbformen und wenig Strukturen mit Subjekt, die eine ein-
deutige Aussage über Korrektheit der Verbexive erst ermög-
lichen (Chilla 2008: 315ff, 328f). Die Beispiele in (1) demonstrie-
ren die Schwierigkeiten dieser Kinder mit der Verbexion und
Subjekt-Verb-Kongruenz.
(1) Subjekt-Verb-Kongruenz-Fehler bei zweisprachigen Kin-
dern mit SSES
a. ich kucken da (= ich guck da)
DEV ─ KM 14
b. hund da gehn der (= da geht der hund)
DEV ─ KM 18
c. das bleibe hier (= das bleibt hier)
DEV ─ KM 18
d. alle spiel. (= alle spielen)
DEV ─ KM 24
e. ein spring. = einer springt)
DEV ─ KM 24
f. da auch fahr polizei (= da fährt auch polizei)
RAS ─ KM 12
g. dein augen zumachen ich (= ich mach deine augen zu)
RAS ─ KM 23
h. du hab das? (= hast du das?)
RAS ─ KM 24
i. ich nehmen den (= ich nehm den)
FER ─ KM 16
205
Spezische Sprachentwicklungsstörung
j. politei komm (= polizei kommt)
FER ─ KM 18
In der Studie von Rothweiler et al. (2012) wurden Daten von
einsprachigen und früh-sequentiell zweisprachigen Kindern
mit SSES verglichen (s. Tabelle 1). Ausgehend von der Annah-
me, dass der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz für Kinder
mit einer SSES eine grundsätzliche und lang andauernde
Schwierigkeit darstellt, wählten die Autorinnen und Autoren
aus den beiden Longitudinalkorpora13 mit Daten einsprachi-
ger bzw. zweisprachiger Kinder mit SSES jeweils Aufnahmen
von sieben Kindern zu einem Entwicklungszeitpunkt, an dem
die Kinder bereits erste komplexe Sätze, also Nebensätze und
w-Fragen, produzierten.
Während im unauffälligen Erstspracherwerb der Erwerb von
Subjekt-Verb-Kongruenz, die korrekte Besetzung der Verbpo-
sitionen mit niten und nicht-niten Verbelementen sowie der
Erwerb komplexer Sätze zeitlich dicht aufeinander folgen, soll-
te sich das grundlegende Problem mit dem Erwerb der Sub-
jekt-Verb-Kongruenz bei Kindern mit einer SSES auch noch
zeigen, wenn komplexe Sätze gebildet werden. Genau diese
Erwartung wurde in der Studie bestätigt. Obwohl die Kinder
beider Gruppen etwa gleich alt waren14 – d.h. dass die zwei-
sprachigen Kinder eine deutlich kürzere Kontaktdauer mit
dem Deutschen hatten –, zeigten sich sowohl in der Art als
auch im Umfang vergleichbare Dezite (keine signikanten
Gruppenunterschiede).
13 Damit ist zum einen das Korpus zum früh-sequentiellen Erwerb
des Deutschen durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache ge-
meint (s. Rothweiler 2006, Hamburg-Korpus) und zum anderen
das Korpus zu einsprachigen Kindern mit SSES (s. Clahsen und
Rothweiler 1993; Clahsen et al. 1997, Düsseldorf-Korpus).
14 SSES-L1: 4;8 bis 7;11; SSES-L2: 4;4-8;2
206
Monika Rothweiler
Es wurde eine zweischrittige Subjekt-Verb-Kongruenz-Analy-
se durchgeführt. Für alle Sätze, die sowohl ein Subjekt als auch
mindestens ein Verb enthielten, wurde zunächst ermittelt, wie
hoch der Korrektheitswert der verwendeten Flexive lag. Für
beide Gruppen ergab sich, dass die Werte für die Flexive -0, -e
und -(e)n bei 62% bis 76% und die Werte für -t und -s(t) bei 85%
bis 95% lagen. Die komplementäre Analyse geht vom Subjekt
aus und prüft, welche Flexive in den durch das Subjekt vorge-
gebenen Kontexten eingesetzt wurden. Diese Analyse ergab,
dass in Kontexten für die 1./3. Person Singular, in denen -0
oder -e gefordert waren (-0 an Modalverben oder irregulären
Präteritum-Stämmen), sowie in 1./3.-Person-Plural-Kontexten
für -(e)n die Korrektheitswerte bei 71% bis 96% lagen, während
in Kontexten für die 2. Person Singular/Plural und die 3. Per-
son Singular (-t) die Werte bei 51% bis 57% lagen. Die jewei-
ligen Unterschiede zwischen den Kontexten bzw. Flexivgrup-
pen waren signikant.
Dieses Ergebnis zeigt, dass die Kinder mit SSES zwar im Prin-
zip wussten, welche grammatische Bedeutung die einzelnen
Flexive haben. Dieses Wissen führte dazu, dass, wenn -t und
-s(t) eingesetzt wurden, diese meistens korrekt waren, und
dass in Kontexten für die übrigen Flexive überwiegend die
richtigen Flexive eingesetzt wurden. Umgekehrt aber zeigt
sich, dass bei gegebenem Subjekt für die 2. Person Singular/
Plural und 3. Person Singular (-t) nur in der Hälfte der Fälle
die korrekten Flexive eingesetzt wurden, aber in den übrigen
Fällen -0, -e und -(e)n. Daraus resultieren die niedrigen Korrekt-
heitswerte für diese Flexive, die als ‚Joker-Flexive‘ eingesetzt
wurden, was sowohl bei den ein- wie den zweisprachigen Kin-
dern mit SSES vorkam. Neben der Verwendung von -0, -e und
-(e)n als Joker-Flexive fanden sich auch echte Kongruenzfehler,
d.h. dass diese Kinder gelegentlich sogar -t und -s(t) unange-
messen einsetzten. Obwohl in beiden Gruppen, vor allem aber
in den Daten der zweisprachigen Kinder mit SSES, die Korrekt-
207
Spezische Sprachentwicklungsstörung
heitswerte mit der Zeit, d.h. mit Anstieg des MLU-Wertes bis
ca. 4, anstiegen, lassen die Daten keine eindeutige Aussage da-
rüber zu, ob das Dezit langfristig weiter bestand oder irgend-
wann überwunden wurde (Rothweiler et al. 2012). Das gilt für
die einsprachigen wie für die zweisprachigen Kinder mit SSES
gleichermaßen.
4.2.3 Satzstruktur (Chilla 2008)
In der Longitudinalstudie von Chilla (2008; s.o. 4.2.2) wurde
auch der Erwerb der Satzstruktur durch die drei zweisprachi-
gen Kinder DEV, RAS und FER untersucht. Trotz individueller
Unterschiede, insbesondere in der Erwerbsgeschwindigkeit,
sind bei allen drei Kindern Schwierigkeiten mit der Besetzung
der Verbzweitposition und der satznalen Position mit niten
und nicht-niten Verbelementen belegt, wie sie auch bei ein-
sprachigen Kindern mit SSES auftreten. Auxiliare und Modal-
verben traten überwiegend korrekt in der Verbzweitstellung
auf. Alle Kinder verwendeten zunächst überwiegend Formen
auf -0, -e und -(e)n, die sowohl in Verberst- und Verbzweitstel-
lung (V1/V2), in Subjekt-Verb-Folgen (SV) oder in Verbendstel-
lung auftraten. Sobald im fortschreitenden Erwerb Verben mit
-t und -s(t) ektiert wurden, wurden sie als nite Elemente er-
kannt und standen überwiegend korrekt in der Verbzweitposi-
tion. Daneben kamen aber auch Innitive in Verbzweitstellung
vor (s. 1a, 1g, 1i). Zudem produzierten die Kinder wie einspra-
chige Kinder mit SSES gelegentlich Verb- drittsätze (vgl. 1b, 1f)
(vgl. Chilla 2008: 353ff).
Zusammenfassend entsprechen das grammatische Prol und
die Entwicklung im Erwerb von Subjekt-Verb-Kongruenz und
Satzstruktur des Deutschen bei den zweisprachigen Kindern
mit SSES in hohem Maß dem Prol und dem Entwicklungs-
verlauf bei einsprachigen Kindern mit einer SSES. Schon früh
stehen beide Verbpositionen zur Verfügung, d.h. die Verb-
208
Monika Rothweiler
zweitposition für nite Verben und die satznale Position für
nicht-nite Verbelemente. Wie bei einsprachigen Kindern mit
SSES sind auch Verbdrittsätze belegt. Im Gegensatz zu früh-se-
quentiell zweisprachigen Kindern ohne SSES haben diese Kin-
der Schwierigkeiten mit dem Erwerb von Subjekt-Verb-Kon-
gruenz und der korrekten Besetzung der Verbpositionen mit
niten und nicht-niten Verbelementen.
Chilla vergleicht in ihrer Arbeit drei Erwerbstypen, den Zweit-
spracherwerb mit einem Erwerbsbeginn mit drei Jahren (bei
zwei Kindern) bzw. mit sechs Jahren (bei zwei Kindern) so-
wie den Zweitspracherwerb ab drei Jahren bei drei Kindern
mit SSES. Sowohl im Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz als
auch der Satzstruktur fand Chilla große Übereinstimmungen
zwischen den zweisprachigen Kindern mit einer SSES und den
zweisprachigen Kindern, die erst mit sechs Jahren mit dem
Erwerb des Deutschen begonnen haben. In beiden Erwerbs-
typen sind Subjekt-Verb-Kongruenz-Fehler, nicht-kongruie-
rende Stammformen sowie Innitive in Verbzweitstellung und
Sätze mit Verbdrittstellung belegt (Chilla 2008: 356f). Sowohl
die zweisprachigen Kinder mit SSES als auch die zweisprachi-
gen Kinder mit dem Erwerbsbeginn um die sechs Jahre pro-
duzierten sowohl w-Fragen als auch Nebensätze, bevor sie die
Subjekt-Verb-Kongruenz sicher beherrschten.
4.2.4 Partizipmorphologie (Clahsen et al. 2014)
Neben dem Erwerb der Person- und Numerusexion wurde
als weiterer Bereich der Verbalexion die Partizipexion un-
tersucht (Clahsen et al. 2014; s. Tabelle 1). Wie die SVK-Flexion
in Rothweiler et al. (2012) konzentrierte sich auch diese Teil-
studie auf Daten aus einer Sprachentwicklungsstufe, in der die
Kinder bereits komplexe Sätze bildeten. Neben einsprachigen
Kindern mit einer SSES wurde auch eine Gruppe mit früh-se-
quentiell zweisprachigen Kindern ohne Erwerbsstörung als
209
Spezische Sprachentwicklungsstörung
weitere Kontrollgruppe berücksichtigt. In jeder Gruppe wa-
ren sechs Kinder, wobei die Daten der zweisprachigen Kinder
ohne und mit SSES mit den Daten in Rothweiler et al. (2012)
weitgehend identisch sind (pro Gruppe je ein Kind weniger).
Die sprachunauffälligen zweisprachigen Kinder produzierten
nur noch wenige Fehler, vor allem Sufxauslassungen und
-t-Übergeneralisierungen, aber keine Fehler mit dem Sufx -n.
Unter Berücksichtigung der Kontaktdauer mit dem Deutschen
und des erreichten MLU entspricht dieses Bild dem Erstspra-
cherwerb (vgl. dazu auch Clahsen und Rothweiler 1993; Ster-
ner 2013).
Die Daten der drei Gruppen wurden im Hinblick auf Suf-
xauslassungen, Übergeneralisierungen von -t und -n sowie
der Verwendung des Präxes ge- verglichen. Die Ergebnisse
ergaben große Parallelitäten zwischen allen drei Gruppen. Die
Korrektheitswerte für -n-Partizipien lagen in allen drei Grup-
pen über 95%, für -t bei 84% bis 89%. Dieser Unterschied zwi-
schen -t und -n ergibt sich daraus, dass das Sufx -t, aber nicht
-n übergeneralisiert wurde (vgl. 2a-2c). Auch im Hinblick auf
die seltenen Auslassungen von ge- unterscheiden sich die drei
Gruppen nicht (vgl. 2f).
(2) Partizipien bei zweisprachigen Kindern mit SSES
a. gekommt DEV ─ KM 18
b. deschmeißt ARD ─ KM 24
c. gegeht ARD ─ KM 24
d. runterdefall ARD ─ KM 18
e. tür hat aufdemach RAS ─ KM 25
f. kind hat fahrrad funde? FER ─ KM 31
210
Monika Rothweiler
Dieser Befund wiederholt sich bei den Auslassungsraten des
Sufxes bei -t-Partizipien15 (vgl. 2d, 2e). Bezogen auf den
MLU-Entwicklungsstand ergaben sich auch für dieses Phäno-
men vergleichbare Werte in allen drei Gruppen.
Wie für einsprachige Kinder mit einer SSES im Vergleich zu
sprachnormalen Kindern (Clahsen und Rothweiler 1993) fan-
den sich auch zwischen den beiden zweisprachigen Gruppen
keine qualitativen Unterschiede. Die Partizipexion, d.h. die
Verwendung von Sufxen und Präx, stellt für zweispra-
chige Kinder mit SSES im Gegensatz zur Flexion der Sub-
jekt-Verb-Kongruenz keinen Dezitbereich dar.
4.2.5 Kasusmorphologie (Schönenberger, Sterner und Roth-
weiler 2013)
Die Studie von Schönenberger et al. (2013) folgt der Kasusanaly-
se von Eisenbeiß et al. (2005/6) bei einsprachigen unauffälligen
Kindern und einsprachigen Kindern mit SSES (fünf unauffälli-
ge Kinder, Alter 2;6-3;6; fünf Kinder mit SSES, Alter 5;8-7;11). So
konnten Schöneberger et al. ihre Ergebnisse zu zweisprachigen
unauffälligen Kindern (vier Kinder, Erwerbsbeginn etwa 3;0,
KM 8-30) und zweisprachigen Kindern mit SSES (vier Kinder,
KM 3-36; vgl. Tabelle 1) direkt mit den Ergebnissen von Eisen-
beiß et al. (2005/6) vergleichen. Die Auswertung konzentrierte
sich auf den Nominativ, Akkusativ und Dativ und unterschied
zwischen strukturellem Kasus einerseits (Nominativ, Akkusa-
tiv sowie Dativ an indirekten Objekten von ditransitiven Ver-
ben (wie geben)) und lexikalischem Kasus andererseits (Dativ
nach Präpositionen oder bei zweistelligen Verben (wie helfen))
(Eisenbeiß et al. (2005/6).
15 Diese Analyse wurde nur bei -t-Partizipien durchgeführt, da bei
-n-Partizipien, in denen der Partizipstamm auf einen Nasal endet
(gekomm, gegang, gefang usw., die von den Kindern häug verwen-
det werden), nicht zu entscheiden ist, ob das -n-Sufx fehlt.
211
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Wie die unauffälligen einsprachigen Kinder im Alter von 2;6
bis 3;6 produzierten die unauffälligen zweisprachigen Kinder
kaum strukturelle Kasusfehler, sondern erzielten Korrektheits-
werte von über 90% in allen strukturellen Kasuskontexten. In
Kontexten für lexikalischen Kasus fanden sich deutlich mehr
Unsicherheiten, genau wie bei den einsprachigen Kindern,
und die Korrektheitswerte lagen etwa bei 70%-80% (s. auch
Rothweiler 2016).
Während also die früh-sequentiell zweisprachigen Kinder
ohne SSES ein vergleichbares Fehlerprol wie die jüngeren ein-
sprachigen Kinder aus der Studie von Eisenbeiß et al. (2005/6)
zeigten, ließ sich solch eine Parallelität zwischen ein- und
zweisprachigen Kindern mit SSES nicht belegen. Während die
einsprachigen Kinder mit SSES in allen strukturellen Kasus-
kontexten korrekte Formen in ca. 90% der Fälle produzierten,
aber nur 54% bei lexikalischem Dativ, fand sich dieses Bild bei
den zweisprachigen Kindern mit SSES nicht. Drei der Kinder
hatten deutliche Probleme mit strukturellem Akkusativ, wo-
mit sie sich sowohl von zweisprachigen unauffälligen Kindern
als auch von einsprachigen Kindern mit SSES unterschieden.
Darüberhinaus stellte der Nominativ auch für die zweisprachi-
gen Kinder mit SSES kein Problem dar. Im Hinblick sowohl
auf den strukturellen wie auf den lexikalischen Dativ war die
Datenlage unklar. Obwohl Schönenberger et al. (2013) für die
vier Kinder mit SSES jeweils 10 bis 15 Aufnahmen über einen
langen Erwerbszeitraum auswerteten (vgl. Tabelle 1), gab es
insbesondere für den Dativ nur eine kleine Zahl eindeutiger
Kasusformen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Frage, wie sich
der Kasuserwerb bei sequentiell-zweisprachigen Kindern mit
SSES insgesamt gestaltet, noch nicht beantwortet werden kann.
Die Besonderheit, dass der strukturelle Akkusativ für diese
Kinder ein Problembereich sein könnte, steht im Widerspruch
zu den Ergebnissen von Scherger (2015), die den Kasuserwerb
212
Monika Rothweiler
bei drei simultan zweisprachigen Kindern mit SSES longitudi-
nal untersuchte. In dieser Studie wird der Akkusativ eindeutig
vor dem Dativ erworben. Der Dativ bereitete den Kindern mit
SSES noch bis ins neunte Lebensjahr hinein Probleme.
4.2.6 SSES in der Erstsprache Türkisch
Der Sprachentwicklungsstand in der Erstsprache Türkisch
wurde für alle Kinder auf der Basis einer Spontansprachauf-
nahme ermittelt (Chilla und Babur 2010; Rothweiler, Babur und
Kroffke 2007; Rothweiler, Chilla und Babur 2010). Türkisch ist
eine agglutinierende Sprache mit einer hochgradig regulären
Verbal- und Nominalmorphologie.
Die Produktion von Verbexiven ist im einsprachigen Erwerb
früh korrekt. In einer Studie mit vier sprachunauffälligen und
drei sprachauffälligen Projektkindern fanden Chilla und Babur
(2010), dass die zweisprachigen unauffälligen Kinder bereits
mit drei Jahren Verben korrekt ektierten, auch im Hinblick
auf Tempus, Aspekt und Modalität, während bei den Kindern
mit SSES selbst im Alter von über vier Jahren noch Fehler auf-
traten: Neben korrekt ektierten Verben fanden sich Fehler in
der Person- und Numerusexion sowie unektierte Stämme in
Kontexten für die 3. Person Singular; d.h. die Kinder produ-
zierten Formen ohne Tempus-, Aspekt- und Modalitätsmarker
(vgl. Chilla und Babur 2010). Die Verwendung eines unek-
tierten Verbstamms ist im Türkischen in fast allen Kontexten
ungrammatisch und solche Formen treten im unauffälligen Er-
werb nur vor Abschluss des zweiten Lebensjahres auf. Chilla
und Babur (2010) schließen aus diesen Befunden, dass sich tür-
kischsprachige Kinder mit SSES im Bereich der Verbalexion
sowohl qualitativ als auch quantitativ von sprachunauffälligen
Kindern unterscheiden.
Rothweiler et al. (2007, 2010) untersuchten die Kasusmorpho-
logie bei zwei sprachauffälligen und drei sprachunauffälligen
213
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Projektkindern. Die beiden sprachauffälligen Kinder waren
bereits 5;5 bzw. 6;5 Jahre alt, zwei der sprachunauffälligen
Kinder 2;5 bzw. 3;1 und das dritte bereits 6;2 Jahre alt. Kasus
wird im Türkischen am Nominalstamm mit Sufxen markiert.
Im Türkischen werden sechs Kasusmorpheme unterschieden
(Dativ, Akkusativ, Genitiv, Lokativ, Ablativ und Instrumen-
tal), die in der genannten Reihenfolge erworben werden. Alle
Morpheme treten im unauffälligen Erwerb schon bei andert-
halbjährigen Kindern auf. Verschiedene Studien belegen, dass
die Kasusmorphologie vor Abschluss des dritten Lebensjahres
als erworben gelten kann. In den Projektdaten erzielten das
sprachunauffällige dreijährige und sechsjährige Kind Korrekt-
heitswerte von (fast) 100% mit allen Kasus außer dem Instru-
mental, der nur zu 83% (vom Dreijährigen), bzw. dem Genitiv,
der nur zu 85% (vom Sechsjährigen) korrekt markiert wurde.
Bereits das zweijährige Kind produzierte die meisten Kasus-
morpheme in zwei Drittel der Kontexte korrekt, außer Lokativ
und Ablativ, die zu 100% korrekt waren. Die beiden Kinder
mit SSES erzielten Korrektheitswerte von 72% bis 100% (89%
bzw. 83% im Durchschnitt). Obwohl die Korrektheitswerte
also auch bei den Kindern mit SSES hoch waren, unterschieden
sie sich signikant von denen der sprachunauffälligen Kinder,
insbesondere für Dativ und Akkusativ. Es traten sowohl Aus-
lassungs- als auch Ersetzungsfehler auf.
Zusammengefasst kann man sagen, dass der Erwerb von Verb-
und Kasusmorphologie bei sprachunauffälligen Kindern im
Türkischen früh und weitgehend fehlerfrei erfolgt. Das schlägt
sich in den Daten der sprachauffälligen Kinder insoweit nieder,
als auch in ihren Daten hohe Korrektheitswerte belegt sind, die
sich aber deutlich von den Werten sprachunauffälliger Kinder
unterscheiden.
214
Monika Rothweiler
5 Diskussion und Konsequenzen für die Diagnostik
5.1 Linguistische Marker für SSES und Sprachdiagnostik
Die Ergebnisse der verschiedenen Studien, die im Abschnitt
4.2 vorgestellt wurden, liefern umfangreiche Evidenzen da-
für, dass sich auch bei früh-sequentiell zweisprachigen Kin-
dern eine SSES im Deutschen als ein grundlegendes Dezit
im Bereich der Subjekt-Verb-Kongruenz und in der Besetzung
der niten und nicht-niten Verbpositionen ausprägt. Es gibt
keinerlei Hinweise darauf, dass die Erwerbsdezite bei zwei-
sprachigen Kindern gravierender sind als bei einsprachigen.
Dieser Eindruck wird dadurch gestützt, dass die Probleme der
ein- und zweisprachigen Kinder in der Studie von Rothweiler
et al. (2012) nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ver-
gleichbar sind, obwohl die zweisprachigen Kinder wegen des
späteren Erwerbsbeginns weniger Input hatten als die einspra-
chigen. Die Beobachtung, dass sich eine SSES durch die Zwei-
sprachigkeit nicht verstärkt, wurde auch aus anderen Studien
berichtet (vgl. dazu Paradis 2010).
Auch in zahlreichen anderen Sprachen, in denen Subjekt-
Verb-Kongruenz morphologisch am Verb markiert wird, gilt
dieser Bereich als verletzlich, d.h. dass Kinder mit einer SSES
mit dem Erwerb von Subjekt-Verb-Kongruenz Schwierigkeiten
haben (Leonard 2014: 81ff; de Jong 2015). Daher kann dieses
grammatische Dezit als linguistischer klinischer Marker für
eine SSES in verschiedenen Sprachen gewertet werden.
Im Rahmen der von der EU geförderten COST Action Langu-
age Impairment in a Multilingual Society: Linguistic Patterns and
the Road to Assessment (s. Fn. 3) wurde ein Elizitationstest zur
Überprüfung der Subjekt-Verb-Kongruenz entwickelt, der für
unterschiedliche Sprachen eingesetzt werden kann und damit
geeignet ist, Subjekt-Verb-Kongruenz in beiden Sprachen ei-
215
Spezische Sprachentwicklungsstörung
nes Kindes zu prüfen, vorausgesetzt dass in diesen Sprachen
Subjekt-Verb-Kongruenz kodiert wird. Der Test ist als Bild-
beschreibungsverfahren strukturiert und erlaubt Modikatio-
nen je nach Sprache (de Jong 2015). In der COST Action sind
weitere Verfahren für verschiedene sprachliche Bereiche, die
von einer SSES betroffen sind, entstanden bzw. bestehende
Verfahren weiterentwickelt worden, die alle den Anspruch ha-
ben, in mehreren Sprachen einsetzbar zu sein (Armon-Lotem
et al. 2015). Zur Überprüfung grammatischer Fähigkeiten wur-
den beispielsweise neben dem SVK-Test ein Test für Kasus und
einer für Objekt-Klitika entwickelt; außerdem ein Verständnis-
test für exhaustive w-Fragen und ein Satzwiederholungstest
(sentence repetition). Für welche Sprachen ein Test sinnvoll ein-
setzbar ist, hängt davon ab, ob das Phänomen in der jeweiligen
Sprache vorkommt,16 wie der unauffällige Erwerb verläuft, ob
das Phänomen in der jeweiligen Sprache von einer SSES be-
troffen ist und ob es möglicherweise Überschneidungen mit
Besonderheiten im Zweispracherwerb gibt. All die genannten
Verfahren müssen an eine gegebene Sprache angepasst wer-
den. So wurden in der COST Action zahlreiche Versionen des
sentence repetition-Tests entwickelt und pilotiert (Marinis und
Armon-Lotem 2015). Keiner der Tests ist bisher normiert, we-
der für den Erwerb als Erst- noch als Zweitsprache.
5.2 Sprachdiagnostik in der Erstsprache
Im Hinblick auf eine Diagnostik in der Erstsprache muss im-
mer berücksichtigt werden, dass sich Migrantensprachen, die
von großen Gruppen und über Generationen in einem Dritt-
16 Probleme mit Objekt-Klitika gelten z.B. im Französischen und
Griechischen als klinischer Marker für eine SSES. Objekt-Klitika
(Bsp. er hat‘s mir geschenkt) sind im Deutschen für den Gramma-
tikerwerb und für SSES nicht von derselben Bedeutung wie in ro-
manischen Sprachen und im Griechischen.
216
Monika Rothweiler
land gesprochen und erworben werden, verändern und dass
die Umgebungs- oder Gesellschaftssprache diese Verände-
rung beeinusst. Das bedeutet, dass das Türkische, das Kinder
in Deutschland erwerben, oder das Arabische, das Kinder in
Frankreich erwerben, neue, von der Mehrheitssprache gepräg-
te Eigenschaften angenommen und andere Merkmale verloren
hat. Selbst wenn es also für eine gegebene Erstsprache nor-
mierte Testverfahren gibt (wie z.B. für das Türkische), müssen
die Ergebnisse, die z.B. türkischsprachige Kinder in Deutsch-
land in diesen Tests erzielen, mit Vorsicht interpretiert werden
(Chilla und Babur 2010).
Hilfreich sind für die Migrationssituation adaptierte Verfahren,
wie z.B. das von Gagarina entwickelte Verfahren für das
Russische als Erstsprache in Deutschland (s. dazu Gagarina
2013).17 Für die Mehrheit der Sprachen aber, die von Migranten
in Deutschland als Erstsprache gesprochen und von ihren
Kindern erworben werden, ist der Stand der Forschung zum
unauffälligen Spracherwerb mehr als dürftig.18 Selbst für
besser erforschte Sprachen ist in vielen Fällen nur sehr
wenig über die Ausprägung einer SSES bekannt. Davon abge-
sehen besteht ein großes praktisches Problem für die Überprü-
fung der Erstsprache im Mangel an diagnostisch geschultem
Personal, das diese Sprache hinreichend gut beherrscht. Ein
standardisierter, am Computer durchzuführender Verständ-
nistest kann noch ohne die jeweiligen Sprachkenntnisse be-
gleitet und ausgewertet werden, jede Art von Sprachproduk-
tionserhebung aber kann nur von einer sprachkompetenten
Fachkraft durchgeführt und bewertet werden.
17 Das Verfahren ist als Download verfügbar:
http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/
docId/34780
18 So ist die Muttersprache vieler Flüchtlinge aus Eritrea ,Tigrinya,
eine semitische Sprache, für die kaum Erkenntnisse zum Erstspra-
cherwerb, geschweige denn zu SSES vorliegen.
217
Spezische Sprachentwicklungsstörung
5.3 Sprachdiagnostik in der Zweitsprache Deutsch
So sehr es also wünschenswert ist, dass eine SSES in beiden
Sprachen eines zweisprachigen Kindes ermittelt wird, so
schwierig gestaltet sich die Erfüllung dieses Anspruchs. Leo-
nard (2014) weist darauf hin, dass für die Diagnose einer SSES in
der Erstsprache eine Beeinträchtigung der Sprachentwicklung
in mindestens zwei sprachlichen Bereichen bzw. zwei Subtests
festgestellt werden muss. Dabei sollte in einem normierten und
diagnostisch hinreichend sensitiven Sprachentwicklungstest
die Leistung mindestens 1,25 bis 1,5 Standardabweichungen
unter dem Mittelwert liegen. Vor diesem Hintergrund ist es na-
heliegend, dass die Standardabweichung für die Feststellung
einer SSES bei zweisprachigen Kindern deutlich größer aus-
fallen muss. Thordardottir (2015: 343) empehlt für simultan
zweisprachige Kinder 1,75 bis 2 Standardabweichungen unter
dem Mittelwert. Diese Werte ändern sich, wenn die getestete
Sprache die dominante (1,5 bis 1,75) oder die schwache Spra-
che (2,25 bis 2,5) ist. Empfehlungen für sequentielle Zweispra-
chigkeit gibt Thordardottir nicht.
Vor diesem Hintergrund ist es für die sprachpädagogische Pra-
xis wichtig, zu wissen, wie sich eine SSES in der Zweitspra-
che Deutsch ausprägt. Dafür sind die in diesem Beitrag be-
richteten Ergebnisse von Bedeutung. Gerade der Erwerb der
Subjekt-Verb-Kongruenz wird von früh-sequentiell zweispra-
chigen Kindern sehr rasch gemeistert, bleibt aber bei vielen Kin-
dern mit einer SSES lange Zeit, bis in die Phase des Gebrauchs
komplexer Sätze, ein fehleranfälliger Bereich. Das muss nicht
für alle Kinder mit einer SSES gelten. So fanden Rice et al. (1997)
keine spezischen Probleme mit der Subjekt-Verb-Kongruenz
bei SSES, wobei sie allerdings nur prüften, ob ein verwendetes
Flexiv zum Subjekt passte, aber nicht, ob zu jedem gegebenen
Subjekt das Verb in der korrekten Form ektiert wurde. Der
Unterschied zu den Ergebnissen von Clahsen et al. (1997) und
218
Monika Rothweiler
Rothweiler et al. (2012) hat also wahrscheinlich mit methodi-
schen Unterschieden in der Analyse zu tun, möglicherweise
auch mit der Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen,
d.h. mit der großen Heterogenität von SSES. Es können andere
sprachliche Probleme im Vordergrund stehen, z.B. Artikelaus-
lassungen und Schwierigkeiten in der Kasusmorphologie, so
dass für eine sichere Diagnostik ein weit größeres Spektrum
an sprachlichen und außersprachlichen Faktoren berücksich-
tigt werden muss. Wie wichtig vor allem der Faktor Erwerbsbe-
ginn für mehrsprachige Kinder ist, belegt die Studie von Chilla
(2008): Kinder, die erst nach dem sechsten Lebensjahr mit dem
Erwerb des Deutschen begannen, produzierten im Bereich
Subjekt-Verb-Kongruenz und Satzstruktur Fehler, die auch bei
Kindern mit einer SSES vorkommen.
Im Gegensatz zur diagnostischen Situation für viele andere
Sprachen gibt es eine gute Grundlage für die Diagnostik in
Deutsch als Erstsprache wie auch in Deutsch als früh-sequen-
tieller Zweitsprache.19 Zum einen gibt es mittlerweile einige
Befunde, wie sich eine SSES bei früh-sequentiell zweispra-
chigen Kindern ausprägt, wie in diesem Beitrag gezeigt wur-
de. Zum anderen liegt mit LiSeDaZ (Schulz und Tracy 2011)
ein für einsprachige wie für früh-sequentiell zweisprachige
Kinder normiertes Testverfahren vor. Dieser Test berücksich-
tigt die für das Deutsche einschlägigen linguistischen Mar-
ker für SSES wie Subjekt-Verb-Kongruenz und w-Fragen und
eignet sich für die Diagnose von SSES bei ein- und mehrspra-
chigen Kindern, wie Grimm und Schulz (2014) zeigen konnten.
19 Weitere Ergebnisse sind aus einem aktuellen DFG-ANR-Projekt
zu Deutsch bzw. Französisch als früh-sequentielle Zweitsprache
bei Gruppen von Kindern mit Arabisch, Portugiesisch oder Tür-
kisch als Erstsprachen zu erwarten. Vgl. Lein et al. (2016);
http://www.fb12.uni-bremen.de/de/inklusive-paedago-
gik-sprache/forschungsprojekte/bilad.html
219
Spezische Sprachentwicklungsstörung
Zu der Überprüfung der Sprachentwicklung in der Zweit-
sprache mithilfe eines Sprachtests und der Einschätzung durch
eine Fachkraft sollte der Sprachentwicklungsstand in der Erst-
sprache erhoben werden, wenn möglich durch einen Sprach-
test, durch eine sprachkompetente Fachkraft und/oder über
Informationen der Eltern, z.B. mithilfe eines Elternfragebogens
(Thordardottir 2015).20 Zusätzlich müssen die üblichen Aus-
schlusskriterien erfüllt sein (s. dazu Abschnitt 2).
Abschließend kann festgehalten werden, dass sich das Wissen
über SSES bei mehrsprachigen Kindern und die diagnostischen
Möglichkeiten in beeindruckender Weise erweitert haben und
dass die damit verbundenen Fragen in zahlreichen Projekten
untersucht werden. Trotzdem ist zu berücksichtigen, dass
gerade der mehrsprachige Erwerb – je nach Erwerbsbeginn,
Sprachkonstellation, Inputquantität und -qualität und beein-
usst durch weitere Faktoren – so unterschiedlich sein kann,
dass die diagnostische Kompetenz einer auch in der Sprachdi-
agnostik und Sprachtherapie mit mehrsprachigen Kindern er-
fahrenen Fachkraft besonders wichtig für die Diagnose ist: Sie
entscheidet, welche Verfahren sie im diagnostischen Prozess
einsetzt und sie beurteilt die Ergebnisse auf der Grundlage ih-
rer Erfahrung.
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Unterricht und Förderung
228 Andreas Mayer
Vermittlung strategischer Lesekompetenz im inklusiven
Unterricht
Andreas Mayer
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem komple-
xen Prozess des Leseverständnisses auf Wort-, Satz- und
Textebene. Nach einer kurzen begrifichen Klärung wer-
den insbesondere die verschiedenen Formen der Textre-
präsentation erläutert, die Leserinnen und Leser insbeson-
dere bei der Verarbeitung von Sachtexten bilden. Daraus
werden Verstehensstrategien abgeleitet und exemplarisch
erläutert, die Lehrkräfte im Unterricht einsetzen können,
um Schülerinnen und Schüler bei der sinnentnehmenden
Verarbeitung von Texten effektiv zu unterstützen.
1 Einleitung
Trotz einer deutlichen Leistungssteigerung zwischen der ers-
ten (2000) und der bislang letztmaligen Erfassung (2012) des
Leseverständnisses in den internationalen Schulleistungsstu-
dien PISA schneiden immer noch etwa 14% aller Schülerin-
nen und Schüler aus Deutschland auf einem Niveau ab, das
ihnen der Einteilung des PISA-Konsortiums zufolge nur ba-
sale Lesefähigkeiten der Kompetenzstufe 1 attestiert (Prenzel
et al. 2013). Bei der Untersuchung im Jahr 2000 waren dies noch
23% (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006, Ar-
telt et al. 2001, 2002).
Kinder und Jugendliche auf dieser Stufe verfügen nur über ele-
mentare Lesefähigkeiten und sind ausschließlich in der Lage,
solche Texte zu verstehen, die ihnen in Inhalt und Form ver-
traut sind. Sie können die Kernaussage nur dann identizieren,
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 229
wenn die zentralen Informationen explizit benannt werden
und die Texte nur wenig konkurrierende Elemente enthalten,
die von den relevanten Informationen ablenken.
Dieses Ergebnis ist insbesondere vor dem Hintergrund alarmie-
rend, da Wissen zum größten Teil in Texten aufgehoben und
weitergegeben wird und ein ausreichendes Leseverständnis
deshalb für die Weiterentwicklung eigenen Wissens und eige-
ner Fähigkeiten innerhalb und außerhalb der Schule von zen-
traler Bedeutung ist (Lenhard und Artelt 2009). Nicht zuletzt
auch aufgrund der Bedeutung schriftsprachlicher Kommuni-
kation im privaten, schulischen und beruichen Alltag sind
Kinder und Jugendliche mit beeinträchtigtem Leseverständnis
in ihrer schulischen, beruichen und personalen Entwicklung
und der gesellschaftlichen Teilhabe gefährdet. Unterstützungs-
maßnahmen, die auf das Verstehen gelesener Texte abzielen,
stellen deshalb in allen schulischen Einrichtungen eine wesent-
liche Aufgabe in allen Unterrichtsfächern dar.
Insbesondere in inklusiven Kontexten stehen Lehrkräfte dabei
vor der Herausforderung, der Heterogenität der Schülerschaft
gerecht zu werden, sehen sie sich doch Kindern und Jugendli-
chen gegenüber, die teilweise selbständig Kinder- und Jugend-
literatur verschlingen, während andere noch massive Schwie-
rigkeiten mit der grundlegenden Lesefertigkeit haben.
Während der Großteil der Publikationen zu Schriftspracher-
werbsstörungen die spezische Problematik der Worterken-
nung sowie deren Ursachen und Möglichkeiten der Förderung
fokussiert, werden im vorliegenden Beitrag auf der Grundlage
(sprach-)wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Textverständnis
Maßnahmen skizziert, die Lehrkräfte in inklusiven Kontexten
berücksichtigen können, um einer heterogenen Lerngruppe ein
angemessenes Leseverständnis zu vermitteln.
230 Andreas Mayer
2 Begriffsklärung
Betrachtet man Denitionen zum Leseverständnis, wird deut-
lich, dass darunter mehr zu verstehen ist als die alleinige Re-
konstruktion der im Text explizit festgehaltenen Bedeutungen.
Vielmehr handelt es sich beim Prozess des Textverstehens um
eine aktive Konstruktionsleistung, bei der mentale Repräsen-
tationen der im Text enthaltenen inhaltlichen Aussagen gebil-
det und aktiv mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen zu neuen
differenzierteren Episoden verknüpft werden. Die Auseinan-
dersetzung mit dem Text lässt sich als ein Akt der Bedeutungs-
generierung verstehen, bei dem das Vorwissen der Leserinnen
und Leser und die objektive Textvorgabe interagieren (Artelt
et al. 2001). Diese Interpretation des Begriffs „Leseverständ-
nis“, der dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt, referiert
v.a. auf die sinnentnehmende Verarbeitung von Sachtexten.
Beim Lesen von literarischen Texten dürfte es sich um einen
Prozess handeln, bei dem darüber hinaus noch weitere Aspek-
te berücksichtigt werden müssten.
Beim komplexen Prozess des Leseverständnisses lassen sich
hierarchieniedrige Fähigkeiten auf Wort- und Satzebene und
hierarchiehohe Fähigkeiten auf Textebene unterscheiden, wo-
bei insbesondere die für die Verarbeitung auf Satz- und Text-
ebene beanspruchten Teilfähigkeiten nicht nur für das Lesen,
sondern für alle sprachlichen Verstehensleistungen relevant
sind (z.B. Dekodieren semantischer und grammatischer Struk-
turen, schlussfolgerndes Denken, Inferenzbildung).
Entsprechend deniert der „Simple-View-of-Reading” (Gough
und Tunmer 1986, Hoover und Gough 1990) das Leseverständ-
nis als Produkt aus Worterkennung und Sprachverständnis.
Während unter der Worterkennung die spezisch schrift-
sprachliche Fähigkeit der Umwandlung gedruckter Wörter in
Lautsprache verstanden wird (Kap. 2.1), referiert der Begriff
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 231
des Sprachverständnisses auf die semantisch-lexikalische und
syntaktisch-morphologische Verarbeitung sprachlicher Äuße-
rungen (Kap. 2.2). Ist eine der beiden Faktoren dieses Produkts
beeinträchtigt, muss darunter auch das Leseverständnis leiden.
Während die bekannten Entwicklungsmodelle zum Schrift-
spracherwerb (z.B. Günther 1986) ausschließlich die Entwick-
lung der Worterkennung im Blick haben, ergänzt der „Sim-
ple-View-of-Reading” diese Modelle durch den Aspekt des
Sprachverständnisses. Doch erfasst auch dieser Ansatz das
Leseverständnis nicht vollständig und sollte erweitert werden
durch die Fähigkeit, sich das Gesamtbild eines Textes zu kons-
truieren. Dazu gehören insbesondere die Fähigkeiten des infe-
renziellen Lesens, also die Integration von Hintergrundwissen,
das Erschließen von Informationen, die im Text nicht expli-
zit genannt werden und das Ziehen von Schlussfolgerungen
(Kap. 2.3).
3 Komponenten des Leseverständnisses
3.1 Worterkennung
Bei der Worterkennung handelt es sich um die Fähigkeit, ge-
druckte Wörter in Lautsprache umzuwandeln. Dafür stehen
kompetenten Leserinnen und Lesern zwei Verarbeitungswe-
ge zur Verfügung, die im Rahmen des „Dual-Route-Modells“
(Coltheart 2005) beschrieben werden.
Der eine Weg, der insbesondere zu Beginn des Schriftspracher-
werbs von zentraler Bedeutung ist, aber auch kompetenten Le-
serinnen und Lesern für das Lesen orthographisch unbekannter
Wörter oder Pseudowörter zur Verfügung steht, wird als
indirekte Lesestrategie oder phonologisches Rekodieren be-
zeichnet. Dabei werden die einzelnen Buchstaben des Wor-
tes bewusst verarbeitet und auf der Grundlage der gelernten
232 Andreas Mayer
Graphem-Phonem-Korrespondenzen (GPK) in die entspre-
chenden Laute umgewandelt. Diese werden in der phonologi-
schen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zwischengespeichert
und koartikulatorisch zu einem Wort synthetisiert. Das Ergeb-
nis dieses Umwandlungsprozesses stellt eine phonologische
Rohform dar, die aufgrund der wechselseitigen koartikulato-
rischen Beeinussung der Laute bei der natürlichen Ausspra-
che eines Wortes und der Bedeutung des Silbenkontextes bei
der lautlichen Realisierung von Vokalen mit der tatsächlichen
Aussprache nicht identisch sein muss, ihr aber aufgrund der
hohen Transparenz der deutschen Orthographie üblicherweise
recht nahekommt. Da der schriftsprachliche Anfangsunterricht
hierzulande üblicherweise stark einzellautorientiert ist und die
Vermittlung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen und des
synthetisierenden Lesens fokussiert, bilden deutschsprachige
Leseanfängerinnen und Leseanfänger zunächst oft ein künst-
lich synthetisiertes Wort, indem sie die im Erstleseunterricht ge-
lernten Lautwerte der einzelnen Buchstaben aneinanderreihen
(z.B. [e:nte:]). Erst über auditive Rückkopplungsprozesse und
einen Vergleich mit den im mentalen Lexikon gespeicherten
Einträgen (beim Satz- und Textlesen unter Ausnutzung von
Kontextinformationen) werden dann die tatsächliche Ausspra-
che und die Bedeutung des Wortes aktiviert [εntǝ].
Die Anwendung der indirekten Lesestrategie reduziert sich
aber nicht auf die Anwendung der GPK-Regeln. Auch das Er-
lesen von Wörtern durch die simultane Verarbeitung größe-
rer sublexikalischer Einheiten als einzelne Buchstaben (Silben,
häug vorkommende Buchstabenfolgen) kann dieser Strategie
zugeordnet werden. Es handelt sich dabei um einen wichtigen
Lernschritt, der zwischen dem buchstabenweisen Erlesen von
Wörtern und der direkten automatisierten Worterkennung an-
gesiedelt ist (Mayer 2016).
In der Folge des wiederholten phonologischen Rekodierens
von Wörtern bilden sich im orthographischen Lexikon suk-
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 233
zessive Repräsentationen derselben aus, die dann in der Kon-
sequenz mittels des zweiten Verarbeitungswegs, der direkten
lexikalischen Strategie gelesen werden können. Wörter, die
in orthographischer Form im mentalen Lexikon repräsentiert
sind, können ohne den Umweg der phonologischen Rekodie-
rung unmittelbar in korrekter Aussprache benannt und ver-
standen werden.
Auch wenn angemessene Fähigkeiten im Bereich der Worter-
kennung längst keine hinreichende Bedingung für das Lesever-
stehen darstellen, darf ihre Bedeutung im komplexen Prozess
des Leseverständnisses nicht unterschätzt werden, was einige
Autorinnen und Autoren dazu veranlasst, die Worterkennung,
operationalisiert über die Lesegeschwindigkeit als validen In-
dikator für das Leseverständnis zu interpretieren (z.B. Fuchs
et al. 2001, Perfetti 1985, Küspert und Schneider 1998).
Belege für die wechselseitigen Einüsse zwischen der Lesege-
schwindigkeit und dem Leseverständnis liefern bspw. Jenkins
et al. (2000, zit. nach Fuchs et al. 2001), die zeigen konnten, dass
die Textlesegeschwindigkeit einen signikanten Prädiktor des
Leseverständnisses darstellt und umgekehrt das Leseverständ-
nis einen maßgeblichen Beitrag für die Erklärung von Unter-
schieden im Bereich der Textlesegeschwindigkeit liefert.
Für einen entscheidenden Einuss der Lesegeschwindigkeit
auf die Sinnentnahme beim Lesen sprechen die Ergebnisse von
Fuchs et al. (2001). Neben den erwarteten signikanten Bei-
trägen der Lesegeschwindigkeit zur Erklärung individueller
Unterschiede bei einer standardisierten Erfassung des Lesever-
ständnisses konnten die Autorinnen und Autoren zudem zei-
gen, dass die Textlesegeschwindigkeit signikant stärker mit
dem Leseverständnis korreliert als verschiedene traditionelle
Überprüfungen des Leseverständnisses (z.B. Beantworten von
Fragen zu gelesenen Texten)(Reliabilität: r= .91 vs. r= .70 – .82).
234 Andreas Mayer
In einer Untersuchung mit über 1.000 Kindern ermittelte May-
er (2014) für das Ende der ersten und zweiten Klasse Zusam-
menhänge zwischen der Wortlesegeschwindigkeit und dem
Wort-, Satz- und Textverständnis in der Größenordnung zwi-
schen r= .71 – .79.
Die Bedeutung der automatisierten Worterkennung und damit
der Lesegeschwindigkeit für das Leseverständnis unterstrei-
chen auch Berninger et al. (2003: 102), die – ein intaktes Sprach-
verständnis voraussetzend – davon ausgehen
…that if the bottleneck in word reading is eliminated through
explicit code-based instruction, then reading comprehension
will develop normally.
Ein enger Zusammenhang zwischen der Worterkennung und
dem Leseverständnis ist zum einen deshalb anzunehmen,
da die Lesegeschwindigkeit ein Maß dafür darstellt, wie gut,
schnell und mühelos es einem Leser gelingt, auf die Bedeutung
gedruckter Wörter zuzugreifen, die grammatischen Strukturen
innerhalb von Sätzen und über Satzgrenzen hinweg zu deko-
dieren und im Text nicht explizit genannte Informationen zu
ergänzen. Je schneller der Wortschatz und die grammatische
Struktur von Wörtern und Sätzen verarbeitet werden kann
und Schlussfolgerungen gezogen werden können, desto höher
ist die Lesegeschwindigkeit (Fuchs et al. 2001). Zum anderen
setzt eine ausreichende Automatisierung der Worterkennung
wiederum Ressourcen frei für hierarchiehöhere Anforderun-
gen auf Satz- und Textebene (Lenhardt und Artelt 2009). Muss
eine Leserin/ein Leser einen Großteil der Wörter eines Textes
mittels der indirekten Lesestrategie verarbeiten, muss er also
ein zu hohes Ausmaß der vorhandenen Ressourcen auf die Le-
setechnik lenken, stehen für die grammatische Entschlüsselung
und das Bilden von Inferenzen kaum mehr Kapazitäten zur
Verfügung (LaBerge und Samuels 1974). Positiv ausgedrückt
kann die Aufmerksamkeit der Leserin/des Lesers dann auf die
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 235
hierarchiehöheren Anforderungen auf Textebene gelenkt wer-
den, wenn es ihr/ihm gelingt die einzelnen Wörter eines Tex-
tes weitgehend bewusstseinsfern mittels der direkten Strategie
zu erkennen. Für die Bedeutung der Lesegeschwindigkeit im
Kontext des Leseverständnisses sprechen die Ergebnisse von
Seuring und Spörer (2010), die zeigen konnten, dass auch ein
isoliertes Training der Leseüssigkeit ohne Strategievermitt-
lung zu einer signikanten Verbesserung des Leseverständnis-
ses führt. Auch Chard et al. (2002) kamen in einer Analyse des
Forschungsstandes zu dem Ergebnis, dass eine Verbesserung
der direkten Worterkennung in vielen Fällen mit Fortschritten
im Bereich des Leseverständnisses einhergeht, auch wenn das
nicht das eigentliche Ziel der Intervention war.
Sowohl die empirisch ermittelten Daten als auch die theore-
tischen Überlegungen haben unmittelbare Konsequenzen für
die Praxis der Förderung im Unterricht, da eine Steigerung der
Lesegeschwindigkeit damit zumindest indirekt als Förderung
des Leseverständnisses interpretiert werden kann.
Da sich leseschwache Kinder im deutschsprachigen Raum
v.a. durch eine beeinträchtigte Lesegeschwindigkeit charakte-
risieren lassen, benötigen sie systematische Unterstützung im
Bereich der automatisierten Worterkennung. Dabei handelt
es sich um ein nach wie vor vernachlässigtes Gebiet der Le-
sedidaktik, die in den letzten Jahren ihren Schwerpunkt ein-
seitig auf phonologisch orientierte Maßnahmen und die Un-
terstützung beim Erwerb der indirekten Lesestrategie legte.
Mittlerweile liegen einige empirisch evaluierten Programme
zur Förderung der Lesegeschwindigkeit vor, die in inklusiven
Kontexten mit den Kindern durchgeführt werden können, die
spezische Schwierigkeiten mit dem Erwerb der direkten Le-
sestrategie haben (Mayer 2012, Ritter und Scheerer-Neumann
2009).
236 Andreas Mayer
3.2 Wortschatz und Grammatik
Bezugnehmend auf den Faktor „Sprachverständnis“ im Modell
des „Simple-View-of-Reading“ stellen der Umfang und die Dif-
ferenziertheit des Wortschatzes einen bedeutenden Einuss-
faktor für das Leseverständnis dar. Um Sätze und Texte voll-
ständig verstehen zu können, ist es notwendig, die Bedeutung
zumindest des größten Teils der Wörter zu kennen bzw. sie
sich aus dem Kontext erschließen zu können (Joshi 2005).
Dasselbe gilt für syntaktisch-morphologische Fähigkeiten.
Grammatische Strukturen, die in der lautsprachlichen Moda-
lität nicht angemessen dekodiert werden können (z.B. subordi-
nierte Nebensätze, Passivsätze, Konjunktiv), dürften auch beim
Lesen nicht verarbeitet werden können. Aufgrund des Fehlens
nonverbaler Informationsträger und der üblicherweise kom-
plexeren syntaktischen Strukturen in der schriftsprachlichen
Kommunikation wirken sich Dezite in der Sprachverarbei-
tung auf das Leseverständnis vermutlich stärker aus als in der
Alltagskommunikation.
Es ist zudem anzunehmen, dass sich die Bedeutung semanti-
scher und grammatischer Fähigkeiten für das Leseverständnis
mit zunehmendem Alter und zunehmender sprachlicher Kom-
plexität der Texte erhöht. Während die Lesetexte in den ersten
beiden Jahrgangsstufen sprachlich noch so einfach sind, dass
sie auch von Schülerinnen und Schülern mit sprachlichen Be-
einträchtigungen verstanden werden können, sind die Texte ab
der dritten Klasse bereits so komplex, dass ihr Verstehen intakte
lautsprachliche Kompetenzen voraussetzt. Entsprechend kom-
men Marx und Jungmann (2000) in einer Überprüfung der An-
nahmen des „Simple-View-of-Reading“ für den deutschspra-
chigen Raum zu dem Ergebnis, dass Schwierigkeiten mit der
Worterkennung bei Leseanfängerinnen und Leseanfängern den
Hauptgrund für ein beeinträchtigtes Leseverstehen darstellen,
während mit zunehmend besseren Lesefertigkeiten das Hör-
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 237
verstehen die obere Leistungsgrenze im Leseverstehen bildet.
Einen höchst signikanten Zusammenhang zwischen seman-
tisch-lexikalischen Fähigkeiten und dem Leseverstehen ermit-
telten bspw. Ricketts et al. (2007) in einer Studie mit acht- und
neunjährigen Schülerinnen und Schülern (r= .63). Selbst nach
Kontrolle der nonverbalen Intelligenz und der Dekodierfähig-
keit lieferte der Umfang des Wortschatzes noch einen signi-
kanten Beitrag zur Erklärung der Unterschiede im Textlesever-
ständnis in Höhe von 17,8%. Dass der Umfang des Wortschatzes
nicht nur das Leseverständnis, sondern auch die Wortlesege-
schwindigkeit beeinusst, zeigten Berendes et al. (2006) in einer
Untersuchung mit Dritt- und Vierklässlern. Die überprüften re-
zeptiven lexikalischen Fähigkeiten stellten einen signikanten
Prädiktor für die Wortlesegeschwindigkeit in der dritten Klasse
dar und konnten etwa 40% der Unterschiede erklären.
Was die Ebene von Syntax und Morphologie angeht, ermittelte
Mayer (2014) signikante Unterschiede in der Größenordnung
von 1,5 Standardabweichungen zwischen Zweitklässlern mit
durchschnittlichem und unterdurchschnittlichem Lesever-
ständnis im Bereich der zwei Jahre vorher erfassten rezeptiven
grammatischen Fähigkeiten.
Schließlich konnten auch Catts et al. (1999) in einer Untersu-
chung mit 604 Zweitklässlern die Bedeutung lautsprachlicher
Fähigkeiten für das Leseverständnis eindrucksvoll belegen.
Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit beein-
trächtigtem Leseverständnis erzielte bei einer Überprüfung pro-
duktiver und rezeptiver semantisch-lexikalischer sowie gram-
matischer Fähigkeiten zum Ende des Vorschulalters unter-
durchschnittliche Ergebnisse, während dies nur bei 9% der
Kinder mit unauffälligem Leseverständnis der Fall war. Re-
gressionsanalysen machten zudem deutlich, dass die im Vor-
schulalter erfassten lautsprachlichen Fähigkeiten etwa 50% der
Unterschiede im Leseverständnis erklären konnten.
238 Andreas Mayer
Die skizzierten Forschungsergebnisse legen nahe, dass Schwie-
rigkeiten im Leseverständnis im Zusammenhang mit laut-
sprachlichen Schwierigkeiten auf semantisch-lexikalischer und
grammatischer Ebene stehen können. Aus praktischer Pers-
pektive hat dies zur Konsequenz, dass die im deutschspra-
chigen Raum aktuell fokussierten phonologisch orientierten
Trainingsmaßnahmen bei spezischen Schwierigkeiten im
Leseverständnis zu kurz greifen dürften und durch Maßnah-
men ergänzt werden müssen, die auf die zugrunde liegenden
sprachlichen Dezite abzielen (Stothart und Hulme 1992). Für
den deutschsprachigen Raum liegen in diesem Zusammenhang
empirisch evaluierte Konzepte aus der Sprachtherapie vor
(Motsch 2010, Motsch et al. 2016).
Was die Praxis der Förderung des Leseverständnisses angeht,
spielt hier die Strategie „Unklarheiten beseitigen“ (clarifying,
Kapitel 4.3) eine wesentliche Rolle, mit deren Hilfe Schülerin-
nen und Schüler motiviert werden sollen, ihre Aufmerksamkeit
auf unbekannte Wörter und nicht verstandene grammatische
Strukturen zu lenken und deren Bedeutung zu klären. Dies ist
von umso größerer Bedeutung, da das eingeschränkte Verste-
hen von Sprache für diese Kinder oftmals zur Tagesordnung
gehört und sie sich durch eine geringe Neugier auf neue Wör-
ter und eine fehlende Bereitschaft charakterisieren lassen, die-
ses Nicht-Verstehen zu signalisieren (Motsch et al. 2016).
3.3 Formen der Textrepräsentation
Ein ausreichend umfangreicher Wortschatz und intakte gram-
matische Fähigkeiten ermöglichen gemeinsam mit einer aus-
reichenden Lesegeschwindigkeit zunächst ein Verstehen auf
Wort- und Satzebene. Um ein vollständiges Bild der Inhal-
te des gelesenen Textes konstruieren zu können, müssen die
Informationen, die auf Satzebene gewonnen wurden, aktiv zu
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 239
einem Gesamtbild zusammengefügt und mit dem Vorwissen
zur Thematik verknüpft werden.
Um den Prozess des Textverständnisses erfassen zu können,
werden in der Literatur üblicherweise drei Formen der Text-
repräsentation unterschieden, die eine Leserin/ein Leser beim
sinnentnehmenden Lesen bildet und die ihm ein Verstehen auf
Textebene im Sinne der Denition (Kap. 1) ermöglichen (van
Dijk und Kintsch 1983, Graesser et al. 1997, Artelt und Len-
hardt 2009).
Die wörtliche Textrepräsentation (Surface Code) beinhaltet die
exakte Wortwahl und syntaktische Struktur der Sätze eines
Textes. Es handelt sich dabei um eine sehr kurzlebige Reprä-
sentation, die üblicherweise nur für den zuletzt gelesenen Satz
aufrechterhalten wird.
Die sogenannte propositionale Repräsentation (Text Base) bein-
haltet dagegen weder die präzise Wortwahl noch die Syntax,
sondern die im Satz explizit genannten Informationen. Dabei
werden die Bedeutungen der einzelnen Wörter und die syntak-
tische Struktur zueinander in Beziehung gesetzt und in Form
von Propositionen gespeichert, ein Prozess, der als lokale Kohä-
renz bezeichnet wird.
Bei diesen Propositionen handelt es sich um Funktions-Argu-
ment-Strukturen, in denen der semantische Gehalt eines Satzes
in Form einer Folge aus Prädikat und seinen Argumenten, Mo-
dikatoren oder Konnektoren dargestellt wird. Bspw. bildet im
Satz
(1) Der Löwe wird täglich um 12 Uhr in seinem Käg von
zwei Wärtern gefüttert.
das Vollverb den Ausgangspunkt der propositional repräsen-
tierten Satzsemantik, die dann in Abhängigkeit von der Valenz
des Vollverbs um notwendige Argumente und gegebenenfalls
um Angaben zur Zeit, dem Ort, quantizierende Modikato-
240 Andreas Mayer
ren sowie kausale, intentionale, temporale etc. Konnektoren
erweitert wird.
Der oben eingeführte Beispielsatz kann propositional folgen-
dermaßen ausgedrückt werden:
Proposition 1: FÜTTERN, ZWEI WÄRTER (Agens),
LÖWE (Objekt/Patiens)
Proposition 2: TÄGLICH 12 UHR (Zeit, P1)
Proposition 3: KÄFIG (Lokation, P1)
Um die Inhalte des ganzen Textes erfassen zu können, müs-
sen die in Form von Propositionen abstrahierten Informatio-
nen einzelner Sätze (= Mikrostruktur) zu einem Gesamtbild
zusammengefügt werden. Das Resultat der dabei ablaufenden
Prozesse der Verdichtung des Textinhalts auf das Wesentliche
wird auch als Makrostruktur bezeichnet (= globale Kohärenzbil-
dung).
Zu diesem Zweck werden üblicherweise bereits einige Schluss-
folgerungen gezogen und eine geringe Anzahl an Inferenzen
gebildet. Dabei handelt es sich um die Ergänzung von im Text
nicht explizit genannten Informationen durch die Integration
von Weltwissen und konkreten individuellen Erfahrungen.
Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995) zufolge handelt es sich
um die Fähigkeit, „zwischen den Zeilen zu lesen“.
Bspw. werden die meisten Leserinnen und Leser aus den in
Satz (2) explizit genannten Informationen die Schlussfolgerung
ziehen, dass das Glas auf dem Boden zerbrochen und kaputt ist.
(2) Nachdem Anna vor Wut das Glas auf den Boden gewor-
fen hat, lief das achtjährige Mädchen in ihr Zimmer.
Hinsichtlich der zu bildenden Inferenzen auf der Ebene der
propositionalen Textrepräsentation, muss eine Leserin/ein Le-
ser bspw. in der Lage sein, Kohäsionsmittel, d.h. sprachliche
Mittel, mit denen Beziehungen zwischen Wörtern, Satzteilen
und Sätzen ausgedrückt werden, korrekt zu verstehen. Im
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 241
oben genannten Beispielsatz müssen bspw. Pronomen („ihr
Zimmer“ = Annas Zimmer) und Substitutionen („das achtjäh-
rige Mädchen =Anna) korrekt zugeordnet und verarbeitet wer-
den (Mayer 2015).
Um Schülerinnen und Schüler bei der lokalen und globalen
Kohärenzbildung im Zusammenhang mit der Ausbildung der
Textrepräsentation effektiv unterstützen zu können, sind die
Strategien des Zusammenfassens (Kap. 4.4) und des mental
imagery (Kap. 4.6) von zentraler Bedeutung.
Für das Verstehen der im Text explizit benannten Inhalte ist
eine propositionale Repräsentation ausreichend. Für ein tiefe-
res Verständnis eines gelesenen Textes aber müssen zahlrei-
che im Text nicht explizit genannten Informationen und be-
reits vorhandenes Wissen zur Thematik ergänzt und zu einer
differenzierten mentalen Repräsentation verknüpft werden.
Der Prozess der Bildung dieses sogenannten Situationsmodells
(Situation Model) bewirkt, dass die aktuell beim Lesen verar-
beiteten Informationen keine isolierten Bedeutungseinheiten
darstellen, sondern mit dem bereits vorhandenen Wissen zu
neuartigen Episoden im Langzeitgedächtnis verknüpft wer-
den. Es handelt sich dabei um den Prozess, den Leserinnen
und Leser kennen, wenn sie einen Text lesen und sukzessive
ein Bild (oder ein Film) im Kopf entsteht, das deutlich mehr
Informationen umfasst als das, was explizit beschrieben wird.
Um diese Form der Textrepräsentation herzustellen, müssen
weit umfassendere Inferenzen gebildet, Schlussfolgerungen
gezogen und nicht explizit genannte Informationen ergänzt
werden als auf der Ebene der Textbasis. Neben allgemeinen
kognitiven Fähigkeiten spielen dabei das Vorwissen der Schüle-
rinnen und Schüler zum Inhalt des Texts und die konkreten Er-
fahrungen mit bestimmten Situationen eine wesentliche Rolle.
Je umfassender und differenzierter diese ausfallen, desto einfa-
cher können neue Textinformationen mit bereits vorhandenen
242 Andreas Mayer
Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis verknüpft werden.
Inferenzielles Lesen ermöglicht es, explizite Textinformationen
zu elaborieren, Ursachen zu attribuieren, Vorhersagen zu tref-
fen und Zusammenhänge zu verstehen. Graesser et al. (1997)
zufolge werden beim Lesen narrativer Texte v.a. Inferenzen zu
den Motiven und Zielen der Protagonisten, deren Charakterei-
genschaften und Emotionen sowie den Ursachen und Folgen
von Ereignissen gebildet.
Für die Konstruktion des Situationsmodells ist es hilfreich,
wenn Leserinnen und Leser mentale Bilder generieren können,
die explizite Textinformationen mit dem Vorwissen verknüp-
fen. Deshalb spielt in der schulischen Förderung die Aktivie-
rung von Vorwissen zu den Inhalten der Texte (Kap. 4.2) sowie
die Strategie des mental imagery (Kap. 4.6) eine besonders wich-
tige Rolle bei der Bildung eines angemessenen Situationsmo-
dells.
4 Verstehensstrategien
4.1 Übergeordnete Prinzipien
Lehrkräfte sollten das Leseverständnis ihrer Schülerinnen und
Schüler nicht primär überprüfen, sondern ihnen v.a. Hilfsmittel
an die Hand geben, die sie bei der Ausbildung eines ange-
messenen Leseverständnisses unterstützen. Neben der Le-
segeschwindigkeit sowie semantischen und grammatischen
Fähigkeiten spielen für ein tieferes Verständnis eines Textes,
insbesondere für die Ausbildung einer propositionalen Reprä-
sentation und eines Situationsmodells Textverstehensstrategi-
en eine zentrale Rolle.
Da leseschwache Kinder oftmals Schwierigkeiten haben, diese
Strategien spontan zu erwerben und anzuwenden, müssen sie
bei diesen Schülerinnen und Schülern systematisch und expli-
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 243
zit vermittelt, geübt und automatisiert werden (Palincsar und
Brown 1984).
Für alle im Folgenden erläuterten Strategien gilt deshalb, dass
dem Modell der Lehrkraft insbesondere zu Beginn der Förde-
rung eine zentrale Rolle zukommt. Sie erklärt, demonstriert
und modelliert die Strategien, indem sie ihre Gedanken bei der
Anwendung einer Strategie verbalisiert und die Bedeutung der
jeweiligen Strategie für das Verstehen des Textes betont. An-
schließend erhalten die Schülerinnen und Schüler die Möglich-
keit, sie durch angeleitete Übung sukzessive zu automatisieren
(Hartmann 2006). Die Anwendung der Strategien beim Lesen
von Texten ist dabei das Ziel, nicht aber zwingend der Aus-
gangspunkt der Förderung. So bietet es sich bei einigen Stra-
tegien an, deren Einsatz zunächst auf Satz- oder Absatzebene
oder auch anhand vorgelesener Texte einzuüben.
In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum
zur Förderung des strategischen Lesens das Konzept des re-
ziproken Lehrens nach Palincsar und Brown (1987) etabliert,
dessen Effektivität die Autorinnen sowohl für die therapeuti-
sche Einzelsituation als auch für die Förderung in Kleingrup-
pen belegen konnten (vgl. auch Rosenshine und Meister 1994).
Während die Lehrkraft die Strategien und Aktivitäten bei der
Besprechung eines Textabschnitts in einem ersten Schritt mo-
delliert und demonstriert, übernehmen die Kinder zunehmend
mehr Eigenverantwortung und wenden die Lesestrategien in
Kleingruppen beim Lesen von Texten an. Dabei übernehmen
die Mitglieder einer Gruppe abwechselnd die Rolle des Leh-
rers. Das „Lehrerkind“ entscheidet, welche Schülerin/welcher
Schüler welche Lesestrategie anwendet, gibt Rückmeldung
über die Qualität der Strategieanwendung und bietet gegebe-
nenfalls Hilfe an. Insbesondere in inklusiven Kontexten ist da-
bei aber zu berücksichtigen, dass leistungsschwächere Kinder
oftmals nicht über die kognitiven und motivationalen Fähig-
keiten verfügen, die anderen Mitglieder ihrer Gruppe anzu-
244 Andreas Mayer
leiten, worunter die Qualität der Strategieanwendung leiden
kann und sich auch andere Gruppenmitglieder nicht in ange-
messenem Maß an den Diskussionen beteiligen (Seuring und
Spörer 2010). Aus diesem Grund benötigen diese Schülerinnen
und Schüler über einen längeren Zeitraum die Unterstützung
und Anleitung der Lehrkraft, bevor sie diese Methode selbstän-
dig anwenden, während die leistungsstärkeren Schülerinnen
und Schüler bereits früh selbständig in Kleingruppen arbeiten
können.
Sinnvollerweise lässt sich ein Training des Leseverständnisses,
das sich auf die aktive Anwendung verschiedener Verstehens-
strategien konzentriert, erst umsetzen, wenn die Schülerinnen
und Schüler über angemessene Dekodierfähigkeiten verfügen.
4.2 Aktivierung von Vorwissen
Die Strategie „Aktivierung von Vorwissen“ geht von der An-
nahme aus, dass Texte umso besser verstanden und mit bereits
vorhandenem Wissen im Langzeitgedächtnis zu neuen diffe-
renzierteren Episoden verknüpft werden können (= Konstruk-
tion eines Situationsmodells), wenn vor der Begegnung mit ei-
nem Text wesentliche Hintergrundinformationen zur Thematik
zur Verfügung gestellt werden und auch der für das Verstehen
notwendige Wortschatz erarbeitet und geklärt wird. Auf den
Unterricht bezogen lassen sich in dieser Phase lehrerzentrierte
von interaktiven Methoden unterscheiden. In lehrerzentrierten
Methoden stattet die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler
mit dem notwendigen Vorwissen aus und klärt die Bedeutung
der für das Textverstehen wichtigsten Wörter. Interaktive Me-
thoden lassen sich dagegen dadurch charakterisieren, dass die
Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler in einem gelenkten
Unterrichtsgespräch motiviert, untereinander bereits vorhan-
denes Wissen auszutauschen und die Bedeutung potenziell
unbekannter Wörter mit verschiedenen Hilfsmittel zu klären
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 245
(z.B. Wörterbücher, Internet). Dole et al. (1991) konnten in die-
sem Zusammenhang zeigen, dass sowohl lehrerzentrierte als
auch interaktive Methoden das Textverstehen verbessern, die
Schülerinnen und Schüler in lehrerzentrierten Methoden aber
am meisten protieren. Die Autorinnen und Autoren erklä-
ren diese Resultate damit, dass Schülerinnen und Schüler in
lehrerzentrierten Methoden ausschließlich mit den Informati-
onen versorgt werden, die tatsächlich für das Verstehen des
Textes notwendig sind, während in interaktiven Methoden ge-
rade von leistungsschwächeren Kindern evtl. auch unrichtiges
oder irrelevantes Wissen verbalisiert wird. Dies hat unmittel-
bare Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung in inklusi-
ven Kontexten. Während leistungsstärkere Schülerinnen und
Schüler diese Strategie von Beginn an in Kleingruppen mittels
der interaktiven Methode einüben, sollten Kinder und Jugend-
liche, denen wenig Vorwissen zum Inhalt des Textes zur Verfü-
gung steht und die ihre Aufmerksamkeit erfahrungsgemäß auf
Nebensächlichkeiten ausrichten, zu Beginn der Förderung von
der Lehrkraft mit den notwendigen Informationen versorgt
werden.
In engem Zusammenhang mit dieser Strategie steht das Vor-
hersagen (Prediction). Nach der Phase der „Aktivierung von
Vorwissen“ sollten die Schülerinnen und Schüler spekulieren,
welche Informationen sie im Text erwarten könnten oder wel-
che über das Vorwissen hinausgehenden Fragen der Text be-
antworten könnte. Die Schülerinnen und Schüler können dazu
wichtige Hinweise im Text wie die Überschrift oder illustrie-
rendes Bildmaterial ausnutzen, um Inhalte zu antizipieren. Da-
mit die Anwendung dieser Strategie als hilfreich erlebt wird,
sollte die Lehrkraft bei der Textauswahl darauf achten, dass die
Überschrift und die Illustrationen tatsächlich Hinweise auf den
Inhalt liefern und die Erwartungen so in die richtige Richtung
gelenkt werden.
246 Andreas Mayer
4.3 Das Verstehen überwachen und Unklarheiten beseitigen
(Comprehension monitoring, Clarifying)
Im Zusammenhang mit den Komponenten Wortschatz und
Grammatik (Kap. 3.2) wurde bereits auf die Bedeutung dieser
Strategie hingewiesen. Deren Ziel besteht darin, die Kinder zu
motivieren, Wörter oder grammatische Strukturen zu identi-
zieren, die nicht vollständig verstanden wurden. Kinder mit
Problemen in diesem Bereich lassen sich aber häug dadurch
charakterisieren, dass ihnen die metakognitive Kompetenz der
bewussten Überwachung des Leseprozesses nur eingeschränkt
zur Verfügung steht und sie im Fall eines unbekannten Wor-
tes oder einer grammatisch nicht verstandenen Äußerung we-
der nachfragen noch ihr Nicht-Verstehen auf andere Weise
signalisieren. So wird das Nicht-Verstehen für sie zu einem
gewohnten, weithin akzeptierten Phänomen im privaten und
schulischen Alltag. Deshalb sollte das Finden noch unbekann-
ter Wörter und das Klären der Bedeutung mit Hilfe des Kon-
textes oder externer Hilfsmittel systematisch eingeübt und von
der Lehrkraft positiv verstärkt werden (Motsch et al. 2016). Da
betroffene Kinder bei der Suche nach sprachlichen Unklarhei-
ten in Texten oftmals überfordert sind, bietet es sich an, die
Strategie zunächst auf Satzebene einzuüben und potenziell un-
bekannte Wörter sowie komplexe sprachliche Strukturen mit
Symbolen zu markieren, um die Aufmerksamkeit auf sprach-
liche Hürden zu lenken und die Schülerinnen und Schüler zu
motivieren, das tatsächliche Verstehen des Gelesenen zu re-
ektieren (Mayer 2016).
Ferner könnten den Schülerinnen und Schülern Sätze oder
kurze Texte mit semantischen Inkonsistenzen und Wider-
sprüchlichkeiten angeboten werden, die entdeckt werden müs-
sen. (z.B.: Franz spielt im Garten vor dem Haus Fußball. Als die
Mama ihn rief, verließ er schnell sein Zimmer.)
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 247
Leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler könnten die Stra-
tegie dagegen von Anfang an in Kleingruppen einüben und
versuchen, nicht vertraute sprachliche Strukturen im Gespräch,
mit Hilfe von Kinderlexika, Wörterbüchern und des Internets
zu klären. Einige konkrete Übungen dazu nden sich bei Seif-
fert (2012).
4.4 Zusammenfassen (Summarizing)
Einige Autorinnen und Autoren betrachten das Zusammenfas-
sen (Summarizing) als die wichtigste Verstehensstrategie, da so
einzelne Textabschnitte auf ihre Kernaussagen reduziert und
damit die Herstellung globaler Kohärenz und die Konstrukti-
on eines Situationsmodells unterstützt werden (Palincsar und
Brown 1987, Seuring und Spörer 2010).
Insbesondere leseschwache Schülerinnen und Schüler kon-
zentrieren sich beim Lesen aber oftmals auf vertraut wirkende
Stellen unabhängig von ihrer Bedeutung im Zusammenhang
(Miller und Keenan 2009). Ein tieferes Verständnis und lang-
fristiges Behalten sind aber erst dann möglich, wenn die Aus-
sage auf das Wesentliche „verdichtet“ (Hartmann 2006: 40)
wird. Deshalb benötigen diese Schülerinnen und Schüler expli-
zite Hilfestellungen, um zentrale Informationen identizieren
und diese möglichst kurz in eigenen Worten wiedergeben zu
können (Seuring und Spörer 2010).
Um die Strategie zu erlernen, bietet es sich an, die Schülerinnen
und Schüler irrelevante Textstellen durchstreichen und beson-
ders wichtige unterstreichen zu lassen. Alternativ erhalten sie
die Aufgabe, sukzessive immer mehr unwichtige Sätze eines
Textes durchzustreichen, bis nur noch die Aussage mit dem
zentralen Inhaltsaspekt übrig bleibt.
Auch für diese Strategie gilt, dass ihre Anwendung beim Text-
lesen das Ziel, nicht aber den Ausgangspunkt der Förderung
248 Andreas Mayer
darstellen muss. Um zwischen relevanten und marginalen In-
formationen zu unterscheiden, könnten den Schülerinnen und
Schülern bspw. Sätze angeboten werden, in denen sie eine oder
mehrere Nebensächlichkeiten nden müssen. (z.B.: Kolumbus
wollte mit seinen Seeleuten in einem braunen Schiff den direkten See-
weg nach Indien entdecken.) Bevor die Schülerinnen und Schüler
selbst Zusammenfassungen zu gelesenen Abschnitten formu-
lieren, bietet es sich zudem an, dass die Lehrkraft zu jedem Ab-
schnitt eines Textes drei „Kernaussagen“ formuliert, aus denen
der zentrale Gedanke im „multiple-choice Verfahren“ ausge-
wählt werden muss.
4.5 Schlussfolgern (Inferenzbildung)
Kapitel 3.3 machte deutlich, dass es für den Prozess der glo-
balen Kohärenzbildung und die Konstruktion eines Situations-
modells notwendig ist, Schlussfolgerungen zu ziehen und im
Text nicht explizit genannte Informationen mittels Aktivierung
von Hintergrundwissen zu ergänzen (Inferenzen).
Insbesondere Schülerinnen und Schüler mit beeinträchtigtem
Leseverständnis und geringem Vorwissen zur Thematik des
Textes können hinsichtlich des Schlussfolgerns und der Infe-
renzbildung sowie der Ausbildung einer propositionalen Text-
repräsentation
• durch eine klare Strukturierung des Textes,
• die Vermeidung von „Pro-Formen“, Synonymen oder ande-
rer Substitutionen,
• durch Hinzufügen sprachlicher Mittel, die Zusammenhän-
ge, Ursachen, Konsequenzen etc. verdeutlichen,
• das Einfügen von Teilüberschriften und
• die Explizierung der im Originaltext nicht genannten Infor-
mationen
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 249
effektiv unterstützt werden (McNamara et al. 1995). Weitere
Kriterien für die sprachliche Optimierung von Texten nden
sich bei Mayer (2015).
Für die Praxis der Förderung in inklusiven Settings ist aber
zu berücksichtigen, dass das Angebot von Texten in „leichter
Sprache“ (vgl. auch Bock i.d.B.) bei Schülerinnen und Schü-
lern mit ausgeprägtem Vorwissen zur Thematik zu einer Re-
duzierung im Bereich des Leseverständnisses führt, vermut-
lich da die zu kohärenten und einfach zu lesenden Texte zu
einer oberächlichen Textverarbeitung verleiten (Graesser
et al. 1997).
4.6 Bildhaftes Vorstellen (Mental Imagery)
Kompetente Leserinnen und Leser zeichnen sich dadurch aus,
dass sie sich beim Lesen in eine aktive Interaktion mit den In-
halten begeben, während derer die expliziten Textinformatio-
nen mit dem Vorwissen zu mentalen Bildern und damit zu ei-
ner visuellen Form eines Situationsmodells kombiniert werden.
Im Zusammenhang mit dem Leseverstehen sollte die Auffor-
derung, mentale Bilder zu Textinhalten zu erzeugen zu einer
Entschleunigung des Leseprozesses führen, „wodurch die se-
mantische Verarbeitung des Gelesenen vertieft wird“ (Hart-
mann et al. 2013: 225).
Auch bei dieser Strategie ist zu beachten, dass die selbständige
Anwendung beim Lesen von Texten das Ziel, nicht aber den
Ausgangspunkt der Förderung darstellt. Hartmann (2006) so-
wie Hartmann et al. (2013, vgl. auch Center et al. 1999) schla-
gen in diesem Zusammenhang eine sukzessive Strategiever-
mittlung für die Unterrichtsarbeit vor, die auch in inklusiven
Kontexten problemlos umgesetzt werden kann.
Nachdem die Schülerinnen und Schüler gelernt haben, reale
Gegenstände zu betrachten und ein inneres Bild zu generieren,
250 Andreas Mayer
sollen sie Vorstellungsbilder zu Wörtern bzw. einfachen Sätzen
aufbauen. Dabei führt die Lehrkraft die Kinder durch den Vor-
stellungsprozess:
Stellt euch einen Stuhl vor. Wenn ihr dieses Bild sehen könnt,
schaut genau hin: Welche Farbe hat der Stuhl? Aus welchem
Material ist er hergestellt? Hat er eine Rückenlehne und Arm-
lehnen? Ist er gepolstert? Schaut das ganze Bild nochmals gut
an. Wenn ihr es klar seht, dürft ihr die Augen öffnen und eure
inneren Bilder zeichnen. (Hartmann et al. 2013: 229)
In einem zweiten Schritt lernen die Kinder generierte Bilder zu
erweitern oder zu verändern, indem ihnen sukzessive mehr In-
formationen zu einem Satz oder kurzen Text angeboten werden:
Stell dir ein Haus vor.
Es ist dreistöckig.
Es ist gelb angemalt. (Ebd.)
Haben die Schülerinnen und Schüler mit dem Generieren men-
taler Bilder zu Wörtern und Sätzen Sicherheit erreicht, wird
die Anwendung der Strategie auf längere Textpassagen ausge-
dehnt, die zunächst noch vorgelesen werden. Diese Vorgehens-
weise besitzt den Vorteil, dass die Strategie bereits angebahnt
werden kann, bevor die Kinder über ausreichende Textlesefä-
higkeiten verfügen. Erst wenn die Schülerinnen und Schüler
über eine ausreichende Lesefertigkeit verfügen, wird die An-
wendung der Strategie beim selbständigen Lesen von kurzen
Texten eingeübt, wobei auch hier dem Modell der Lehrkraft
zentrale Bedeutung zukommt.
Das Generieren mentaler Bilder ist ein vielversprechender An-
satz für die schulische Praxis, dessen Effektivität sowohl für
das Sprach- als auch das Leseverständnis durchschnittlich le-
sender und leseschwacher Kinder nachgewiesen wurde (Gam-
brell und Jawitz 1993, Center et al. 1999).
Vermittlung strategischer Lesekompetenz 251
5 Schlusswort
Das Verstehen von Texten ist ein komplexer Prozess, der an
zahlreiche unterschiedliche hierarchieniedrige und hierarchie-
höhere Fähigkeiten gebunden ist. Neben der Worterkennung
und dem Sprachverständnis spielen mit zunehmender sprachli-
cher und inhaltlicher Komplexität der Texte Strategien eine Rol-
le, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich aktiv mit
den Inhalten auseinander zu setzen. Theoretische Überlegungen
aus der Sprachwissenschaft sowie empirische Ergebnisse sollten
deutlich machen, welche Strategien für das Textverständnis von
besonderer Bedeutung sind und wie sie in inklusiven Settings
umgesetzt werden können.
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Sascha Zielinski & Michael Ritter
Der erweiterte Textbegriff im inklusiven Deutschunterricht
Sascha Zielinski & Michael Ritter
Der aktuelle Diskurs über Inklusion muss in allen Berei-
chen der Deutschdidaktik konsequenterweise zu einer
Neuperspektivierung der Gegenstands-, Lernprozess-,
und Bewertungsbetrachtung führen. In diesem Beitrag
soll der Lernbereich „Textschreiben“ im Fokus stehen.
Ausgehend von aktuellen Konzepten der Schreibdidaktik
ist mit Blick auf den Text als Gegenstand des Schreibens
herauszuarbeiten, welche Konsequenzen ein erweitertes
Gegenstandsverständnis für die Begleitung und Beurtei-
lung von Schreibprozessen im inklusiven Unterricht ha-
ben kann.
1 Anforderungen beim Textschreiben
Abb. 1: Ausschnitt aus einem Text von Erik (Ende 1. Klasse)
S w na mualar
h ei E hs e n
u n d ammn u s
Si amh
Sint en scnlrer
un Shreme
rga ra S H S h gsch
Da r SeHt U Sch
ra gitato
VogLL Imans
ISOrn
Si haruS e g L
257
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
S w na mualar
h ei E hs e n
u n d ammn u s
Si amh
Sint en scnlrer
un Shreme
rga ra S H S h gsch
Da r SeHt U Sch
ra gitato
VogLL Imans
ISOrn
Si haruS e g L
Erik müht sich beim Schreiben; das sieht man seinem Text
deutlich an. Mit großem Willen versucht er seinen Gedanken
eine schriftliche Form zu geben. Doch dieser Versuch droht
an den Normen des Schriftdeutschen zu scheitern. Was Erik
produziert, wirkt auf einen Betrachter als eine eher zufällige
und nicht regelgeleitete Aneinanderreihung von Buchstaben.
Eine kohärente Aussage sucht man in diesem Schriftstück ver-
geblich. Ist Erik also an seinem eigenen Anspruch gescheitert,
einen eigenen Text zu verfassen? Eine Perspektive, die den
schriftlichen Text als Produkt des Arbeitsprozesses in den Blick
nimmt, muss zu diesem Urteil kommen. Selbst wenn man in
der Schreibung hier und da erste Muster einer phonetischen
Umschrift entdecken mag, kann der Text als Ganzes seine
kommunikative Funktion schwerlich entfalten.
Gerade im Hinblick auf den Schriftspracherwerb wird das
Schreiben von Texten als große Hürde betrachtet (vgl. Krelle
2013: 53). Doch auch jenseits der ersten Schuljahre stellt das
komplexe Sprachhandeln bei der eigenen Textkonzeption
und -realisierung eine nicht unerhebliche Herausforderung
für viele Schülerinnen und Schüler dar. Die Ursachen liegen
zum einen in den verschiedenen Teilkompetenzen begründet,
die beim Textschreiben integrativ ineinander greifen müssen.
Martin Fix führt hier z.B. die Zielsetzungskompetenz, die in-
haltliche Kompetenz, die Strukturierungskompetenz und die
Formulierungskompetenz an (vgl. Fix 2008: 33). Bei der For-
mulierung von Gedanken im Medium der Schrift ist nicht nur
die Schlüssigkeit der Aussage und die Angemessenheit der
Wortwahl, sondern auch die Struktur der deutschen Alphabet-
schrift zu beachten, die an der Lautung der Wörter, an lexiko-
logischen und morpho-syntaktischen, an silbischen Aspekten
nicht jedoch an inhaltlichen Aspekten orientiert ist (vgl. Jeuk
und Schäfer 2013: 26; Röber 2009). Zum anderen stellen die Bil-
dungsstandards zum Ende der vierten Klasse sehr hohe An-
forderungen dar („verständlich, strukturiert, adressaten- und
258
Sascha Zielinski & Michael Ritter
funktionsgerecht schreiben“; KMK 2004: 11), indem sie eine
quasi ideale Textproduktion beschreiben (Baurmann und Pohl
2011: 75). Swantje Weinhold weist darauf hin, dass sich diese
Standards nur sehr geringfügig von denen der Sekundarstu-
fe unterscheiden (Weinhold 2014: 150). In diesem Sinne kann
als erstes Resümee festgehalten werden, dass das Textschrei-
ben als besonders komplexes und anspruchsvolles Lernfeld
im Deutschunterricht nicht unbedingt prädestiniert erscheint,
einen Ansatzpunkt für inklusionsdidaktische Überlegungen
darzustellen.
2 Didaktische Perspektiven auf das Schreiben in
Vielfalt – Ansätze und Grenzen
Demgegenüber existieren vor allem in der Grundschule im
Bereich der Deutschdidaktik seit langem Konzepte für einen
binnendifferenzierten und individualisierten Unterricht, von
denen auch der weiterführende Unterricht im Hinblick auf die
Heterogenität von Schülerinnen und Schülern protieren kann.
Beispielhaft zu nennen ist der Spracherfahrungsansatz, wie ihn
z.B. Hans Brügelmann (2000) konzeptionalisiert.1 Brügelmann
begreift den Erwerb der Schrift als eigenständige Konstrukti-
onsleistung der Kinder und macht ihre individuellen Schrift-
erfahrungen zum Ausgangspunkt des Lernens. Das Schreiben
eigener Texte steht hier von Anfang an im Mittelpunkt. Auch
die schreibdidaktischen Ansätze des freien Schreibens (Spitta
2002, Leßmann 2010) und des kreativen Schreibens (Spinner
1993, Kohl 2013) sind hier zu nennen.
1 Allerdings erfährt dieser Ansatz insbesondere von Vertretern
und Vertreterinnen einer sprachsystematischen Schriftspracher-
werbsdidaktik Kritik, u.a. aufgrund der Betonung der lautgetreu-
en Schreibung (vgl. u.a. Bredel 2015: 39f.).
259
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
Folgerichtig ist, dass diese Ansätze im Diskurs um Inklusion
aufgegriffen und teilweise in inklusiven Settings erprobt und
weiterentwickelt werden.2 Beate Leßmann z.B. realisiert ihr
Konzept der „Schreibzeit“ in einer inklusiven Klasse und zeigt,
wie Kinder ihre individuellen Texte schreiben und dabei von
ihren Peers in gemeinsamen Gesprächen unterstützt werden
(vgl. Leßmann 2014: 169). Bei einem von Mechthild Dehn und
Timm Christensen vorgestellten Setting geht es darum, in Aus-
einandersetzung mit einem Bild schreibend auch einen Zugang
zu den eigenen Vorstellungen zu nden und zu sich selbst in
Beziehung zu treten (vgl. Christensen und Dehn 2012: 25f.).
Dadurch wird besonders die persönliche Bedeutsamkeit des
Schreibens zum Motor des Lernens. Einen weiteren Weg ins
Schreiben von Texten stellt der Umgang mit Bilderbüchern
dar. Sie eignen sich vor allem für das Lernen in heterogenen
Gruppen, da sie sich „durch Vieldeutigkeit – etwa in Bezug auf
ihre perspektivische Erzählweise oder ihre symbolische und
stilistische Bildsprache – auszeichnen“ (Hoffmann und Naujok
2014: 221).
Die Potentiale der hier beispielhaft vorgestellten Arrangements
für einen inklusiven Unterricht liegen vor allem in den multi-
perspektivischen Zugängen zum Inhalt des Schreibanlasses. Ei-
nem Gemälde oder Bilderbuch kann sich auf vielfältige Weise
genähert werden, bspw. erzählend, aber auch darstellend und
schließlich auch schreibend. Das didaktische Arrangement ist
daher so gestaltet, dass es neben der Multiperspektivität der
2 Dabei stehen die Beschreibungen solcher Versuche immer in dem
Dilemma, einerseits die Heterogenität der Schülerinnen und
Schüler aufzuzeigen, die sich durch das Vorhandensein verschie-
dener Geschlechterrollen, sozialer Hintergründe, Einschränkun-
gen u.a.m. (vgl. Hinz 2002: 357) auszeichnet, andererseits jedoch
dem Versuch verpichtet zu sein, eine nicht diskriminierende
Sprache zu verwenden, die Menschen nicht eindimensional kate-
gorial stigmatisiert (vgl. Boban et al. 2014: 20).
260
Sascha Zielinski & Michael Ritter
Zugänge auch eine Flexibilität in der Anforderungsstruktur
aufweist. Hier lässt sich eine Verbindung zum inklusionsdi-
daktischen Konzept des „Kerns der Sache“ nach Simone Seitz
herstellen, das „die Frage nach möglichen Ähnlichkeiten inner-
halb der verschiedenen lernfeldbezogenen Zugangsweisen der
Kinder“ stellt (Seitz 2006: o.S.). Der Gegenstand muss hinrei-
chend offen sein, um die verschiedenen Perspektiven der Kin-
der zu integrieren und sich in einem oder mehreren Punkten
treffen zu können. Vielfalt wird hier also im Zugang zum Ge-
genstand mit Mehrperspektivität begegnet.
Betrachtet man allerdings das Schreiben als ein Werkzeug,
um mit dem Gegenstand produktiv umzugehen, schlagen die
Autorinnen und Autoren vor, dass nicht schreibende Kinder
jemand anderem – anwesenden Pädagoginnen und Pädago-
gen oder anderen Kindern – diktieren können (vgl. Christen-
sen und Dehn 2012: 26; Leßmann 2014: 170; Merklinger 2011).
Damit wird die schulische Anforderung, einen Text zu schrei-
ben, im Zusammentreffen mit den Lernvoraussetzungen der
Kinder, in diesem Falle der Fähigkeit, schreiben zu können,
zu einem distinktiven Merkmal, das die Lerngruppe einteilt
in Kinder, die die Anforderung ohne Unterstützung bewäl-
tigen können, und Kinder, die Unterstützung benötigen, um
das Ziel der individuellen Textproduktion zu erreichen. Hier
zeigt sich das behinderungserzeugende Potential der Anfor-
derung des Texteverfassens, das mithilfe unterstützender Ele-
mente (z.B. Diktieren) ausgeglichen wird. Das Diktieren stellt
zahlreiche Anforderungen an den Diktierenden, die auch an
den Schreibenden gestellt werden (z.B. die Verlangsamung des
Sprechens durch den Schreibprozess). Unbestritten ist, dass das
Diktieren eine produktive Möglichkeit der Förderung schrift-
förmiger Sprachverwendung ist (vgl. Merklinger 2011). Den-
noch erfolgt hier eine Trennung der Schülerinnen und Schüler
in Schreibende und Nichtschreibende, die vom Grundsatz her
die Trennung in Normallernende und Anderslernende im Sin-
261
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
ne einer Zwei-Gruppen-Theorie (Hinz und Boban 2013: 3) auf-
recht erhält. Zur Überwindung dieses inklusionstheoretischen
Problems wird daher im vorliegenden Beitrag die Erweiterung
des Text-, Schreib- und Lesebegriffs thematisiert.
3 Das Schreiben aus förderpädagogischer Perspektive
Vor allem in der Geistigbehindertenpädagogik existieren seit
langem Konzepte, wie der Umgang mit den Kulturtechniken
im Sinne einer umfassenden Teilhabe gestaltet werden kann.
Für das Lesenlernen haben in den 1970er Jahren Christoph
Hublow und Ernst Wohlgehagen einen erweiterten Lesebegriff
entworfen, der neben dem Wortlesen auch das Lesen von Situ-
ationen, von Bildern und Piktogrammen beinhaltet (Hublow
und Wohlgehagen 1978: 24 f.). Für das Schreibenlernen hat in
diesem Zusammenhang Werner Günthner den erweiterten
Schreibbegriff vorgelegt, bei dem er den „pragmatischen Kom-
munikationsaspekt“ (Günthner 2013: 139) herausstellt. Neben
Buchstaben umfasst er auch Kritzeleien, Bilder und buchstabe-
nähnliche Zeichen (vgl. ebd.). Für Jürgen Thamm hingegen ist
das Schreiben eine mögliche textproduktive Handlung (Thamm
1995: 167) neben dem „Drucken, Zeichnen, Malen, Ausschnei-
den, Aufkleben, Diktieren, Fotograeren, Filmen sowie deren
Kombination. Als Produkt der Handlungen entstehen xierte,
den Augenblick überdauernde Texte, die vornehmlich visu-
ell, aber auch akustisch vermittelt werden können“ (Thamm
1995: 166). Thamm fokussiert den darstellenden Aspekt des
Textes, den er zeichentheoretisch begründet. Schrift ist ein Zei-
chensystem, das sich vor allem durch seine Sprachbezogenheit
auszeichnet (vgl. Thamm 1995: 161). Thamm stellt unterschied-
liche Abstraktionsniveaus von Zeichen dar, „um ein über die
Schriftsprache hinausgehendes Ausdrucksinventar zu begrün-
den“ (ebd.: 163).
262
Sascha Zielinski & Michael Ritter
Die Potentiale dieser Ansätze bestehen darin, dass sie die hohe
Hürde des Lesens und Schreibens zu überwinden helfen, da
sie die Schrift nicht nur von ihrer Struktur als Alphabetschrift
her begreifen, sondern den pragmatischen und darstellenden
Aspekt hervorheben, der auch bspw. durch ikonograsche
Darstellungen realisiert werden kann. Christoph Dönges stellt
hierzu fest:
Ikonische Strategien bieten eine Alternative zur Verwendung
der Buchstabenschrift. Schreiben kann somit auch in der kom-
binierten Verwendung von Wörtern, Bildern und Zeichen er-
folgen. (Dönges 2015: 96)
Daher erfordere ein inklusiver Unterricht für das Textschrei-
ben einen erweiterten Schreib- und Textbegriff (vgl. ebd.: 97).
4 Textschreiben aus inklusiver Perspektive
Aus inklusiver Perspektive ist dabei zu betonen, dass es bei der
Erweiterung des Schreib- und Textbegriffes nicht um ein ent-
weder oder, sondern um ein sowohl als auch gehen muss. Werden
Kinder vor die Alternative zu schreiben oder zu malen gestellt,
bleibt es bei einer Einteilung in zwei Kategorien: Den Kindern,
die Texte im engeren Sinne verfassen können, und den Kindern,
denen diese Fähigkeit nicht zugetraut wird. Daher muss es im
Folgenden darum gehen, die beiden domänenspezischen Dis-
kurslinien (der Fachdidaktik und der Förderpädagogik) zu-
sammenzuführen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass zwar die
Expertise der Förderpädagogik genutzt wird, diese aber nicht
additiv zur fachdidaktischen Perspektive hinzugefügt werden
kann, sondern als Bestandteil des didaktischen Diskurses um
das Texteschreiben integriert wird (vgl. Hinz 2013: o.S.). Auch
dazu liegen bereits erste Ansätze vor:
Franziska Warnecke erprobte in einer inklusiven Klasse meh-
rere kreative Schreibanregungen, die potentiell einen Zugang
263
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
zu Schrift und Sprache für alle Kinder ermöglichen sollten.
Da sich nicht alle Kinder im engeren Sinne schriftlich äußern
konnten, wandte Warnecke den oben beschriebenen erweiter-
ten Schreibbegriff an (Warnecke 2014: 133). Dabei waren alle
Kinder in „gemeinsamen und differentiellen Lernsituationen“
(Wocken 2014: 134) an einem gemeinsamen Projekt nach „indi-
viduellem Vermögen“ (ebd.) beteiligt.
Michael Ritter und Johannes Hennies erweitern den Textbe-
griff in eine weitere Richtung, nämlich im Hinblick auf die
Grenzlinie zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Zwar
ndet das Mündliche auch im Rahmen des Diktierens einen
Eingang, doch bleibt das Produkt der schriftliche Text. Mit Ver-
weis auf das Modell konzeptioneller und medialer Mündlich-
keit und Schriftlichkeit nach Peter Koch und Wulf Oesterrei-
cher (1985) zeigen Ritter und Hennies, dass Schülerinnen und
Schüler einer heterogenen Lerngruppe in Auseinandersetzung
mit einem Schreibimpuls auf konzeptioneller Ebene zwar alle
schriftliche Texte verfassen konnten, die Übertragung in das
Medium des Schriftlichen allerdings für einige eine Hürde dar-
stellte (vgl. Hennies und Ritter 2014b: 182f.). Damit erweist sich
die alleinige Betrachtung des medialen, also des reinen Schrift-
bildes in diesen Fällen als unzureichend, da der Text erst durch
das Hinzuziehen der mündlichen Formulierungen der Auto-
rinnen und Autoren – die konzeptionell schriftliche Züge tra-
gen – zu einem vollständigen Text wird (vgl. ebd.).
Ritter und Hennies knüpfen damit an einen textlinguistischen
Diskurs um den Textbegriff an, der vor allem im Zuge der Ana-
lyse digitaler Texte semiotische Ansätze nutzt und den Text als
multikodales Gebilde beschreibt, innerhalb dessen verschiede-
ne Verknüpfungen unterschiedlicher medialer und konzeptio-
neller Kodierungen existieren, um einer zeitgemäßen Textuali-
tät gerecht zu werden (vgl. Eckkrammer 2002: 43).
264
Sascha Zielinski & Michael Ritter
5 Eriks Text
Das vorgestellte empirische Material knüpft hier an, indem es
ebenfalls die mündliche Formulierung des Autors in die Ana-
lyse mit einbezieht und nach den Bezugspunkten zwischen
mündlichem und schriftlichem Text fragt.
Eriks Text stammt aus dem Dissertationsprojekt von Sascha
Zielinski, in dem die Handlungsspielräume kreativer Schreib-
anregungen und deren Ausgestaltung in einer heterogenen
Lerngruppe analysiert werden. Im Sinne einer ethnogra-
phisch-orientierten Forschungsausrichtung wurde in einer
jahrgangsgemischten Klasse teilnehmend beobachtet und pro-
tokolliert. Neben der Transkriptauswertung werden auch text-
linguistische Analysen der entstandenen Kinderprodukte vor-
genommen.
Der zu analysierende Kindertext stammt von einem Jungen,
der am Ende des ersten Schulbesuchsjahres lernt. An diesem
Schulvormittag schrieben die Kinder in einer Doppelstunde ein
eigenes Märchen. Der ursprüngliche didaktisch-methodische
Vorschlag – „Rotkäppchen im Hubschrauber“ – stammt aus
der „Grammatik der Phantasie“ des italienischen Kinderbuch-
autors Gianni Rodari (Rodari 2008: 59), einer kommentierten
Sammlung von Erzähl- und Schreibanlässen. Im Rahmen eines
Sprachspiels werden hier aus einem Märchen markante Wörter
generiert (z.B. aus Rotkäppchen: Großmutter, Mädchen, Ku-
chen, Wolf) und per Zufall mit einem untypischen Wort kom-
biniert (z.B.: Hubschrauber), das im Sinne einer Irritation als
Störenfried fungiert (vgl. Spinner 1996: 82) und eine produktive
Kraft entfaltet, um eine neue Geschichte entstehen zu lassen.
Die Kinder bezogen sich an diesem Tag aber nicht auf ein ganz
bestimmtes Märchen, sondern sammelten Märchenwörter aus
unterschiedlichen Märchen und ordneten sie nach Personen
(z.B. König, Fee), Orten (z.B. Wald, Schlucht), Gegenständen
(z.B. Käppchen, Spinnrad) und Tätigkeiten (z.B. zaubern, schla-
265
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
fen). Dann zogen die Kinder aus einem Beutel Miniaturen, die
als Störenfriede fungierten. Darüber hinaus gab es noch weite-
re Miniaturen, vor allem Tiere, die die Kinder nutzen konnten.
Erik zog das Fahrrad und nahm sich später noch einen Hasen
und eine Maus.
Die ersten drei Zeilen, die Erik schrieb, lauten:
S w na mualar
h ei E hs e n
u n d ammn u s
Aufgrund der Kontextinformation, dass der Schreibauftrag für
die Kinder darin bestand, ein Märchen zu schreiben, kann hy-
pothetisch vermutet werden, dass die erste Zeile die märchen-
typische idiomatische Eröffnung „Es war einmal“ bezeichnen
soll. Aufgrund der ausgewählten Tiere kann für die folgenden
beiden Zeilen weiterhin angenommen werden, dass dort „ein
Hase und eine Maus“ geschrieben werden sollte. Erik ver-
schriftet dabei ansatzweise einzelne phonetische Eigenschaften
der Wörter, die als „Skelettschreibungen“ (Jeuk und Schäfer
2013: 77) bezeichnet werden können. Diese ersten drei Zeilen
des Textes verdeutlichen allerdings auch, dass der schriftli-
che Text allein nicht ausreicht, um seinen „kommunikativen
Zweck“ (Schwarz-Friesel und Consten 2014: 18) entfalten zu
können.
Diese dezitäre Einschätzung greift jedoch zu kurz, betrachtet
man, was Erik im Rahmen der Unterrichtseinheit tatsächlich
geleistet hat. In dieser Unterrichtsstunde wurde mehrmals die
Anforderung an Erik herangetragen, seinen Text vorzulesen
bzw. zu erzählen, was er geschrieben habe; einmal während
des Schreibprozesses von dem teilnehmenden Beobachter, ein-
mal von der Lehrerin und einmal von seinen Mitschülerinnen
und Mitschülern im Rahmen der Phase der Textpräsentation.
266
Sascha Zielinski & Michael Ritter
Der performative Text ist damit der medial mündliche Text.
Welche Rolle spielt dabei der medial schriftliche Text? Hätte
Erik auch ohne den medial schriftlichen Text den Text so er-
zählt? Natürlich lassen sich diese Fragen nicht mit Sicherheit
beantworten. Da die Bitte an Erik allerdings dreimal herange-
tragen wurde, lassen sich die medial mündlichen Texte unter-
einander vergleichen. Dabei wurden für die bessere Vergleich-
barkeit die Sinnabschnitte untereinander geschrieben.3
es war einmal vor langer langer zeit eine hase und eine MAUS (.)
es war einmal ein hase und eine maus (.)
es war einmal ein ein hase und ein könig (.)
und die haben ein FAHRRAD gefund‘n und die sind fahrrad
gefahren
sie haben ein fahrrad gefunden sie sind fahrrad gefahren
sie haben ein fahrrad gefunden sie haben fahrrad gefahren
und sind dann in eine SCHLUCHT gefallen ?
sie sind in eine schlucht gefa:hren ? (2)
sie sind in der schlucht gefallen
und der hase ist wieder hochgekomm (.)
und der hase ist wieder raufgekommen ? (2)
der hase ist raufgekommen
und dann ha:t der hase verstärkung geholt ? (2) verstärkung
geholt ? den vogel ? der hat die maus wieder hochgeholt? (3)
Und danach und der hase hat verstärkung geholt von dem vo:-
gel?(.) vogel hat die maus wieder hochgeholt (.)
der hase hat verstärkung geholt den vogel hat der maus gehol-
fen (.)
3 Transkriptionslegende am Ende des Beitrag
267
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
danach sind sie nach hause gegangen. bei dem rückweg haben
sie ein fahrrad gefunden und das haben die dann dem papa
geschenkt (.)
und dann haben sie nen fahrrad gefunden und sind nach hause
gegangen und haben das pa:pa geschenkt ha:ben sie das fahr-
rad papa geschenkt (.)
sie sind sie sind beim rückweg (.) nach hause gegangen sie ha-
ben beim rückweg ein ein fahrrad gefunden sie haben das ih-
rem papa geschenkt (3)
Handelt es sich hier um erzählte oder gelesene Texte? Betrach-
tet man das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs von Renate
Valtin, zeigt sich die anfangende Einsicht in die Laut-Buchsta-
ben-Beziehung beim Schreiben in der Skelettschreibung und
beim Lesen im kontextbezogenen „Benennen von Lautelemen-
ten, häug orientiert am Anfangsbuchstaben“ (Valtin 1997: 83).
Erik benennt allerdings keine Lautelemente, sondern er trägt
den Text üssig vor. Daher scheint er sich als Leser zu insze-
nieren, indem er den Text (in Wirklichkeit) erzählt. Zur Kon-
kretisierung der Anforderungen für das Erzählen von Texten
formuliert Sören Ohlhus in Anlehnung an Uta Quasthoff die
Aufgaben der Kontextualisierung, der Vertextung und der
Markierung (Ohlhus 2013: 184). Die Kontextualisierung, die
„Einbettung der Erzählung in eine gegebene Gesprächssitua-
tion“ (ebd.) ist durch die Anforderung, zu lesen oder zu er-
zählen, was er geschrieben hat, deutlich erkennbar. Der Fokus
liegt auf dem Papier der bereits existierenden Geschichte. Die
Anforderung der „Vertextung“ besteht darin, der Geschichte
eine Struktur zu geben. Auch wenn es sich nur um den Ge-
schichtenanfang handelt, kann hier bereits eine Struktur er-
kannt werden:
•Exposition: Es war einmal
•Eintritt der Notsituation: Fall in die Schlucht
268
Sascha Zielinski & Michael Ritter
•Lösung des Koniktes: Der Hase hat Verstärkung geholt.
•(Vorläuger) Abschluss: Sie sind nach Hause gegangen.
Schließlich erfordert die dritte Anforderung, die Markierung,
die Ausformulierung der Geschichte (vgl. ebd.). Betrachtet man
alle semantischen Bestandteile der Geschichte, fällt zunächst
die große Ähnlichkeit der Bestandteile der drei Textvarianten
auf. Der einzige gravierende Unterschied, das Vorkommen des
Königs in der dritten Textfassung, lässt sich damit erklären,
dass Erik den König (eine Fingerpuppe), kurz bevor er den
Text zum dritten Mal vorlas, eine ganze Weile auf dem Finger
hatte, ihm eine Stimme gab und er ihm dadurch vermutlich
sehr präsent war.
Auch das Fahrrad erweckt Aufmerksamkeit, dessen doppel-
tes Gefundenwerden die Leserin/den Leser zunächst irritiert.
Mehr noch als die Dopplung verwundert allerdings dessen
Identität in allen drei Textvarianten. Daraus lässt sich ableiten,
dass Erik die Geschichte assoziativ entwickelte und die Ideen
und Formulierungen während des Schreibprozesses wählte.
Die starke kognitive Anforderung des Textschreibens, gerade
am Anfang der Schreibbiograe (Weinhold 2000), lässt es nicht
verwunderlich erscheinen, dass das erste Fahrradnden offen-
sichtlich im Verlauf der weiteren Textkonzeption nicht mehr
präsent ist. Da aber dieser Bruch in allen drei erzählten Varian-
ten in gleicher Form und an gleicher Stelle auftritt, scheint es
hier eine Verbindung zu dem schriftlichen Text zu geben, die
sich zumindest für das zweite Auftreten der Buchstabenkom-
bination "Far" in dem Text nden lässt.
Betrachtet man die Ebene der Formulierungen genauer, fällt
auch hier der hohe Übereinstimmungsgrad auf. Dennoch sol-
len wiederum zuerst die Unterschiede betrachtet werden. Rein
quantitativ fällt auf, dass die dritte Textvariante die kürzeste
ist. Zum einen könnte es sich hier um ein Performanzphäno-
269
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
men aufgrund des Sprechens vor der gesamten Klasse han-
deln. Zum anderen stellt es auch eine (dadurch verursachte?)
Annäherung an den verschrifteten Text dar. So kann für den
ersten Satz relativ sicher festgestellt werden, dass die Formu-
lierung „vor langer langer Zeit“ nicht in dem schriftlichen Text
angelegt ist. Weiterhin fällt auf, dass vor allem in Bezug auf
den ersten Text bei der späteren Variante viele Konnektoren
wie „und“, „dann“ und „wieder“ entfallen. Die Sätze sind da-
durch kürzer, die Informationen dichter, auch wenn die kohä-
sive Struktur des Textes dadurch abnimmt.
Zu beobachten ist also, dass der Text sich im Hinblick auf seine
konzeptionelle Struktur verändert. Während er in der ersten
Variante auf Ebene der Formulierungen deutlich kohäsiver ist,
reduziert und verdichtet Erik seine Informationen mit zuneh-
mender Routine erkennbar. Gründe dafür können sein, dass
Erik mehr auf seine verschriftete Fassung Bezug nimmt, dass
er gedanklich stärker damit befasst ist, den richtigen Ablauf sei-
ner Geschichte zu erinnern, was seine Aufmerksamkeit von der
sprachlichen Formulierung ablenkt, oder auch dass er einfach
in einer gewissen Aufregung auf großer Bühne vor der gesamten
Klasse Verkürzungen vornimmt.
Auf jeden Fall zeigen alle drei Textvarianten eine gut nach-
vollziehbare Handlung, eine stringente Textstruktur, passende
Formulierungen und damit wichtige Bedingungen für die Rea-
lisierung der kommunikativen Funktion des Textes. Was in der
schriftlichen Variante nicht gegeben war, kann im Medium des
Mündlichen in den Strukturen der konzeptionellen Schriftlich-
keit ausgearbeitet werden. Der schriftliche Text ist in diesem
Prozess von zentraler Bedeutung, denn seine textkonzeptionel-
le Bedeutung wird beim Vergleich der Kontinuitäten der drei
Textfassungen und deren Bezug zur verschrifteten Variante
überdeutlich. Eine Einschätzung von Eriks Leistung, die ledig-
lich die medial schriftliche Fassung berücksichtigt, greift aber
offenkundig zu kurz. Eine angemessene Einschätzung muss
270
Sascha Zielinski & Michael Ritter
hier auch die mündlichen Ergebnisse mit einbeziehen, um
Eriks Leistung würdigen zu können. Mündlichkeit und Schrift-
lichkeit verlieren dabei ihren – in der Schule häug – streng
getrennten Charakter.
Die Unterschiede zwischen den Textfassungen bleiben in der
Situation unbemerkt, kein Kind oder Erwachsener themati-
siert sie. Nicht einmal die Frage, ob Erik seinen Text wirklich
liest, wird gestellt. Erik kann sich als Leser inszenieren. Er er-
lebt sich als kompetent, als Experte für seinen eigenen Text,
als Übersetzer vom Medium des Schriftlichen in das Mündli-
che. Die Fähigkeit, schriftliche Texte zu verfassen, wird hier
nicht zu einem Distinktionsmerkmal, das vorher einteilt, wer
diktiert, malt oder schreibt. Stattdessen setzte das Setting an
Eriks Kompetenzen an. Die scheinbare Überforderung mit dem
Aufschreiben wird zum produktiven Ansatzpunkt für die im
Wechselspiel von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit
entwickelte konzeptionell schriftliche Struktur des performa-
tiven Textes.
6 Schlussfolgerungen und Konsequenzen
Mit der Aufforderung zu schreiben ist auch das Risiko des
Scheiterns verbunden. Wäre Erik nicht gebeten worden, sei-
nen Text vorzulesen, läge nur der schriftliche Text vor, der
unverständlich geblieben wäre. Zur Chance wurde für Erik
hingegen, dass die Anforderung des Textschreibens in der Un-
terrichtssituation nicht auf das medial schriftliche Handeln be-
schränkt blieb. Ein vielfältigerer Interaktionsraum von münd-
lichen und schriftlichen Praxen hingegen zeigte sich als Chance
für die Entwicklung seiner persönlichen Potenziale. Will man
von diesem Einzelfall verallgemeinern, wird deutlich, welchen
Stellenwert die Binnendifferenzierung in heterogenen Grup-
pen hat. Hierfür braucht es Aufgaben, die für alle Kinder und
271
Der erweiterte Textbegri im inklusiven Deutschunterricht
Jugendlichen u.a. adaptiv, exibel elaborierbar und heraus-
fordernd sind (Hennies und Ritter 2014a: 228f.). Dabei geht es
weniger um die Abstufung von Aufgaben nach bestimmten
Anforderungsniveaustufen, sondern um offene Lernszenari-
en, die anspruchsvolle Aufgaben mit vielfältigen Zugängen
und Lösungsstrategien ermöglichen. Nicht für jedes Kind mag
Eriks Weg der geeignete sein. Die prinzipielle Erweiterung des
Schriftbegriffs in Bereiche medialer Mündlichkeit hinein und
die Überwindung tradierter Trennungen in diesen Bereichen
kann aber auf jeden Fall als ein wichtiger Schritt auf dem Weg
zu heterogenitätssensiblen Lernszenarien betrachtet werden.
Damit ist eine Neuperspektivierung des Lerngegenstandes
Texteschreiben verbunden, bei der sich Entwicklungen der
Fachdidaktik, Textlinguistik und der Förderpädagogik ergän-
zen und zu einem erweiterten Textbegriff führen.
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Wocken, Hans (2014): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen –
Baupläne – Bausteine. Hamburg: Feldhaus
Transkriptionslegende in Anlehnung an Bohnsack 2011 (S. 242):
(.) Pause, eine Sekunde
(3) Pause, 3 Sekunden
FAHRRAD betont gesprochen
: Dehnung
? stark steigende Intonation
276
Benjamin Uhl
Zwischen Grammatik und Text – zwischen Mündlichkeit
und Schriftlichkeit. Gemeinsames sprachliches Lernen mit
Geschichtenplänen
Benjamin Uhl
Der Beitrag zeigt, wie Schülerinnen und Schüler mit un-
terschiedlichen Lernausgangslagen in einem inklusiven
Deutschunterricht wichtige Besonderheiten des Texte-
schreibens kennenlernen können. Hierzu wird ein beson-
deres Förderinstrument (Geschichtenpläne) vorgestellt,
um Kindern, die in Bezug auf ihre sprachliche Entwick-
lung unterstützungsbedürftig sind, beim Gestalten einer
Erzählung zu helfen. Somit werden Kindern im Primar-
stufenalter im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts
grammatische, textuell-pragmatische und literar-ästheti-
sche Lerngelegenheiten eröffnet. Ein besonderer Fokus
liegt in dem Beitrag darauf, wie die Arbeit mit Geschich-
tenplänen als didaktisches Scaffolding so umgesetzt wer-
den kann, dass alle Schülerinnen und Schüler im Sinne
eines gemeinsamen Unterrichts protieren können.
1 Vorüberlegung – zur Verortung des hier vorgestellten
Unterrichtsmaterials
Wer Unterrichtsmaterial zur Sprachförderung in inklusiven
Kontexten konzipiert, steht aufgrund der individuellen Lern-
ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler vor einer gro-
ßen Herausforderung. Eine Hilfe bei der Konzeption eines un-
terrichtlich-didaktischen Vorgehens in inklusiven Kontexten
liefern die „Standards der sonderpädagogischer Förderung“
(Wember und Prändl 2009: 41 ff.)1. In diesen Standards wird
1 Die Standards der sonderpädagogischen Förderung wurden am
16.11.2007 auf der Hauptversammlung des Verbandes Sonderpä-
277
Zwischen Grammatik und Text
im Rahmen eines dualen Curriculums aufgezeigt, wie Curri-
cula der Allgemeinen Schulen und ein „sonderpädagogisches
Curriculum zur individuellen Förderung“ miteinander intera-
gieren (ebd.: 46). Herausgestellt wird hier, dass auch die son-
derpädagogische Förderung an den Bildungsstandards der all-
gemeinen Schulen orientiert sein sollte:2
Sonderpädagogische Förderung für Schülerinnen und Schüler
mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen orientiert sich
an den Bildungsstandards der Allgemeinen Schulen, welche
die angestrebten Kompetenzen und Qualikationen als Leis-
tungsstandards formulieren.3 Sonderpädagogische Förderung
sichert ein zeitlich und inhaltlich mit der gesamten Lerngrup-
pe abgestimmtes, systematisches und kumulativ aufbauendes
Lernen für Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf,
das die Erreichung der Bildungsstandards der Allgemeinen
Schulen durch möglichst alle Lernenden sicherstellen soll.
(Wember und Prändl 2009: 45)
Vereinfacht gesprochen bieten die Bildungsstandards und die
Curricula der allgemeinen Schulen also eine Orientierung,
was in sonderpädagogischen Kontexten thematisiert werden
kann. Das sonderpädagogische Curriculum zur individuellen
Förderung regelt dann im Sinne des dualen Curriculums das
Wie. Somit werden Leistungen eines adaptiven Unterrichts be-
nannt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Unterrichtsge-
genstand didaktisch so aufbereitet wird, dass auch Kinder mit
besonderem Unterstützungsbedarf diesen Unterrichtsgegen-
stand erarbeiten können.
dagogik e.V. verabschiedet. Mit Wember und Prändl 2009 liegt
ein Sammelband vor, in dem die 2007 verabschiedeten Standards
referiert und kommentiert werden.
2 Eine Ausnahme hierzu bilden Schülerinnen und Schüler mit den
Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Geistige Entwicklung“,
„die zieldifferent und nach eigenen curricularen Vorgaben zu un-
terrichten sind“ (Wember und Prändl 2007: 45).
3 Inwiefern eine solche Orientierung sinnvoll ist, kann an dieser
Stelle nicht diskutiert werden. Kritisch hierzu siehe Biewer (2012).
278
Benjamin Uhl
Bezogen auf diesen Beitrag ergibt sich mit Blick auf das duale
Curriculum folgende Ausrichtung: Thematisch geht es in dem
Beitrag darum, Lernende im Primarstufenalter für die Beson-
derheiten bestimmter grammatischer Strukturen zu sensibili-
sieren, die das Schreiben von Texten prägen. Dabei liegt ein
Fokus darauf, wie auch Kinder, die in Bezug auf ihre sprachli-
che Entwicklung Unterstützungsbedarf benötigen, sich dieses
Thema erschließen können. Dieser Unterstützungsbedarf kann
bestehen, weil bei einem Kind eine spezische Sprachentwick-
lungsstörung (siehe hierzu Rothweiler i.d.B) vorliegt, oder
aber, wenn die Schulleistungen eines Kindes eine Förderung
der sprachlichen Entwicklung nahe legen. Wie Sarimski 2012
zeigt, können schwache Schulleistungen und das Auftreten so-
zial-emotionaler Störungen häug auf den sozialen Status ei-
nes Kindes zurückgeführt werden:
Abb. 1: Zusammenhang zwischen Armut und Ausbildung von so-
ziol-emotionalen Störungen bzw. niedrigen Schulleistungen (Sa-
rimski 2012: 57)
279
Zwischen Grammatik und Text
Ein gemeinsamer Unterricht bei förderbedürftigen Kindern
aus sozial benachteiligten Familien steht demnach zum einen
(1) vor der Aufgabe, dem Kind Lernmöglichkeiten zur Verbes-
serung der Schulleistungen zur Verfügung zu stellen; außer-
dem ist es (2) wichtig, das Auftreten sozial-emotionaler Auffäl-
ligkeiten zu kompensieren. Hierbei spielt eine Förderung der
Sprachkompetenz eine elementare Rolle:
Für Kinder mit sprachlichen Problemen besteht die Gefahr, in
eine ungünstige Wechselwirkungsspirale hineinzugeraten: Sie
werden seltener als Spielpartner gesucht und vermeiden selbst
aus Angst vor kommunikativen Fehlschlägen den Kontakt, so-
dass für sie immer weniger Gelegenheit entsteht, ihre sozia-
len Kompetenzen zu erweitern und Sicherheit zu gewinnen.
(Sarimski 2012: 87)
Dies führt dazu, dass Kinder, die in ihrer sprachlichen Ent-
wicklung unterstützungsbedürftig sind, sozial isoliert werden
(siehe hierzu die Studie von Rice, Sell und Hadley 1991) und
dass sie häuger auffälliges Verhalten zeigen (Beitchman, Wil-
son, Brownlie, Walters, Inglis und Lance 1996).
Das im Folgenden präsentierte Material kann im inklusiven
Unterricht eingesetzt werden, um das Auftreten der eben be-
schriebenen Wechselwirkungsspirale zu verhindern. Um in
diesem Beitrag Möglichkeiten aufzuzeigen, wie alle Kinder die
Chance erhalten, wichtige Besonderheiten des Texteschreibens
kennenzulernen, ist zunächst zu klären, worin die Herausfor-
derungen beim Schreiben von Texten liegen. Dies soll einlei-
tend im nächsten Kapitel erfolgen.
2 Aufgabenbereiche des Schreibens und konzeptionelle
Grundlagen des Materials
Beim Schreiben von Texten lassen sich mit Becker-Mrotzek
(2007: 48) zwei verschiedene Aufgabenbereiche unterscheiden.
280
Benjamin Uhl
Zum einen müssen Kinder lernen, „sprachlich[e] Einheiten mit
den Mitteln der Schrift [festzuhalten]“ (ebd.). Dies bezeichnet
Becker-Mrotzek als „Verschriften“. Das Erlernen des Verschrif-
tens umfasst demnach das Ausbilden einer Schreibfertigkeit
und den Erwerb eines Schriftsystems einschließlich der Or-
thographie (siehe hierzu auch Becker-Mrotzek und Böttcher
2012: 54f.). In der Literatur wird das Erlernen des Verschrif-
tens als „Schriftspracherwerb“ bezeichnet (Fix 2006: 50; Feilke
1993: 17).
Wenn Kinder lernen, wie sie im Medium der Schrift „sprach-
liche Handlungen mittels Texten“ (Becker-Mrotzek 2007: 48)
vollziehen, spricht Becker-Mrotzek von „Vertexten“. Im Ver-
gleich zum mündlich-diskursiven Sprachhandeln ist das Ver-
texten mental ein komplexer Vorgang:
Der Text als Mittel der zerdehnten, schriftlichen Kommuni-
kation unterliegt grundsätzlich anderen Bedingungen als der
mündliche Diskurs. Der Schreiber muss seine sprachliche
Handlung in Abwesenheit oder sogar in Unkenntnis des Lesers
schreiben. An die Stelle des kooperierenden Hörers muss die
Antizipation des Lesers treten.
(Becker-Mrotzek und Böttcher 2012: 55)
Beim Vertexten sind vom Schreibenden mental mehrere Teil-
handlungen (Planen – Formulieren – Überarbeiten)4 zu absol-
vieren, die das Schreiben als „pragmatische[n] Sonderfall“5
(Fix 2006: 46) prägen: Obwohl das Schreiben eine soziale,
4 In der empirischen Schreibforschung wird seit dem Schreibpro-
zessmodell von Hays und Flower (1980) von diesen drei Teilhand-
lungen ausgegangen: „Zum Schreibprozess werden im Allgemei-
nen die Schritte des Planens, Formulierens und Überarbeitens ge-
rechnet“ (Becker-Mrotzek und Böttcher 2012: 19).
5 „Beim Schreiben liegt der pragmatische Sonderfall vor, dass es
zwar eine sozial interaktive, kommunikative Handlung ist, aber
Produzent und Rezipient zeitlich versetzt agieren“ (Fix 2006: 46).
281
Zwischen Grammatik und Text
d.h. kommunikative Handlung ist, sind alle Teilhandlungen
des Schreibens vom Schreibenden in der Regel alleine durch-
zuführen. Hierbei muss der Schreibende die Aufgabenstellung
beachten, sein Sprach- und Weltwissen organisieren und eine
Leserinstanz antizipieren. Abgrenzend vom Begriff „Schrift-
spracherwerb“ wird das Erlernen des Texteschreibens in der
Literatur als „Schreibentwicklung“ bezeichnet (Feilke 1993: 17).
Die Schreibentwicklungsforschung beschäftigt sich demnach
damit, wie sich bei Schülerinnen und Schülern „eine textuel-
le Handlungskompetenz im Medium geschriebener Sprache“
(ebd.) entwickelt.
Zwischen den eben angeführten Aufgabenbereichen des Schrei-
bens (Verschriften/Vertexten) besteht eine hohe Abhängigkeit:
Erst wenn das Verschriften zu einem gewissen Grad automati-
siert und routiniert abläuft, stehen dem Schreibenden kognitive
Ressourcen zur Bewältigung komplexer Vertextungsaufgaben
zur Verfügung. In diesem Sinne liest man bei Becker-Mrotzek
und Behrens (2014):
Grundlegend ist die üblicherweise in der Grundschule vermit-
telte Fähigkeit, Sprache mittels Schrift festzuhalten, denn eine
üssige Sprachproduktion unter Beachtung der Orthographie
ist Voraussetzung, um das Arbeitsgedächtnis für die eigentli-
che Textproduktion zu entlasten.
(Becker-Mrotzek und Behrens 2014: 55)
Das in diesem Beitrag vorgestellte Unterrichtsmaterial rich-
tet sich an Schülerinnen und Schüler, die noch keine üssige
Sprachproduktion im Medium der Schrift ausgebildet haben.
Durch das Material sollen die Kinder angeregt werden, wie
sie zunächst im Mündlichen besondere sprachliche Mittel ken-
nenlernen, die wichtig sind, um Texte zu schreiben. Das Ma-
terial soll somit dazu beitragen, dass auch die Schülerinnen
und Schüler, für die das Verschriften eines Textes eine große
Herausforderung darstellt, eine literale Handlungskompetenz
ausbilden können. Im Fokus stehen hierbei Erzählungen. Denn
282
Benjamin Uhl
gerade was das Gestalten einer Erzählung angeht, können
Kinder oft auf protoliterale Erfahrungen zurückgreifen, die sie
im Umgang mit gehörten und gesehenen Geschichten gewon-
nen haben.6
Das zeigt sich bspw. dadurch, dass sie an bestimmte märchen-
typische Figuren- und Handlungskonstellationen anknüpfen
(z.B. böser Drache entführt Prinzessin), oder dass bestimmte
oskelhafte Textelemente („es war einmal“; „und wenn sie
nicht gestorben sind...“) verwendet werden (siehe hierzu bspw.
Becker 2002: 32 oder Weinhold 2000: 195). So konnte Weinhold
zeigen, dass Erstklässlerinnen und Erstklässler, die noch stark
mit dem Verschriften beschäftigt sind, zwar schon Elemente
einer Geschichte in ihren Texten umsetzen können – eine kom-
plette Erzählung zu gestalten, ist für Kinder, bei denen das
Verschriften nicht automatisiert abläuft, aber sehr schwierig:
[D]ie Schreibanstrengung auf basaler Ebene ist zu groß, als
dass die Kinder im Sinne ihrer kommunikativen Absicht, eine
Geschichte zu erzählen, schriftlich fortfahren könnten.
(Weinhold 2000: 149)7
Das im Folgenden vorgestellte Material soll es Kindern ermög-
lichen, eine Erzählung zu gestalten und dabei die Schwierig-
6 Dehn, Merklinger und Schüler (2014: 3) sprechen in diesem Zu-
sammenhang von einem „Geschichtenfundus“: „Das Erzählen
orientiert sich an einem Fundus von gehörten, gelesenen, gesehe-
nen Geschichten, von Figurenkonstellationen und Handlungs-
schemata und von Text- und Genremustern.“
7 Um die hier skizzierte Herausforderung des Verschriftens zu um-
gehen, nutzt Merklinger (2011) das diktierende Schreiben. Beim
diktierenden Schreiben fungiert ein Erwachsener als Skriptor, der
von einem Autorenkind einen Text diktiert bekommt („der er-
wachsene Skriptor ist für den manuellen Aspekt des Schreibens
verantwortlich, also für die Verschriftung des Gesagten“ (Merklin-
ger 2015: 91)).
283
Zwischen Grammatik und Text
keiten, die aus dem Verschriften resultieren, zu kompensieren.
Als Instrument hierzu dienen Geschichtenpläne (Uhl 2016).
Im folgenden Abschnitt soll zunächst vorgestellt werden, was
Geschichtenpläne sind. Im Anschluss daran werden Lernmög-
lichkeiten aufgezeigt, die sich beim Einsatz des Förderinstru-
ments ergeben.
3 Geschichtenpläne
In dem vorgestellten Material werden Bild- und Textelemen-
te multimodal in Form von „Geschichtenplänen“ (Uhl 2016)
miteinander verknüpft. Geschichtenpläne visualisieren die
Grundstruktur eines narrativen Textes (siehe exemplarisch Ab-
bildung 2): In einem Geschichtenplan benden sich Platzhalter
mit unterschiedlichen Formen.
Zu diesen Formen kompatibel sind Figuren (eckige Form), Orte
(dreieckige Form) und Gegenstände (runde Form). Durch das
Einsetzen der Bilder entstehen kleine, individuelle Geschich-
ten.8
In dieser Kombination aus Bild-Text-Elementen liegt in dreier-
lei Hinsicht ein besonderes Lernpotenzial:
Zum einen gibt ein Geschichtenplan immer eine narrative
Suprastruktur vor, die mit Bildern befüllt werden kann. Im
gemeinsamen Ko-Konstruktionsprozess von Kind und Erzie-
her/-in bzw. Lehrer/-in können Lernende, für die die schrift-
liche Textproduktion eine zu große Herausforderung darstellt,
8 Im Original sind die Geschichtenpläne farbig. Zu den großen
Platzhaltern, die mit einem Bild „befüllt“ werden können, gibt
es – farblich passend – kleine Platzhalter. Dies dient zum Sicht-
barmachen von Rekurrenz (siehe Abschnitt 3.1 „Geschichtenplä-
ne und textuelles Lernen“).
284
Benjamin Uhl
an das Erzählen als sprachliche Handlungsform herangeführt
werden; Kinder mit unterschiedlichen Lernausgangslagen
können sich somit ein elementares literales Handlungswis-
sen im Medium der Mündlichkeit aufbauen. In dem Abschnitt
3.1 „Geschichtenpläne und textuelles Lernen“ sollen Lernmög-
lichkeiten vertieft werden, die sich in diesem Zusammenhang
ergeben.
Abb. 2: Geschichtenplan aus Uhl 2016. Im Original farbig
285
Zwischen Grammatik und Text
Zum anderen liegt mit dem Geschichtenplan ein Text vor, der
viele Elemente konzeptioneller Schriftlichkeit enthält. Über
die Auseinandersetzung mit den Geschichtenplänen werden
vielfältige Lernmöglichkeiten geboten, auf implizitem Wege
grammatische Strukturen zu entdecken, die für das Schreiben
von Erzählungen wichtig sind (bspw. das Präteritum als Er-
zähltempus (Uhl 2015a) oder den Unterschied zwischen deni-
tem und indenitem Artikel). Die sich aus diesem Blickwinkel
ergebenden Lernmöglichkeiten werden im Abschnitt 3.2 „Ge-
schichtenpläne und grammatisches Lernen“ behandelt.
Außerdem regen Bilder als Erzählimpuls unmittelbar zur
sprachlichen Gestaltung an. Dem Einsatz „ästhetischer Objek-
te“ wie dem Bild oder dem Film wird in inklusiven Kontexten
ein großes Potenzial zugesprochen (vgl. Kruse 2016: 4f). Bilder
regen aber nicht nur zu Sprachproduktion an, sie können auch
für sich erzählen, d. h. sie können Inhalte (wie beim Comic, dem
Bilderbuch oder der Graphic Novel) rein visuell ausdrücken.
Im Sinne eines „visual-literacy-Konzepts“ (Dehn 2014) werden
durch den Einsatz von Bildern viele literarästhetische Lern-
gelegenheiten angesprochen, denn „visuelle Wahrnehmung,
Vorstellung und sprachliche Gestaltung sind eng aufeinander
bezogen“ (Dehn 2014: 133). Die sich aus diesem Blickwinkel
ergebenden Lernmöglichkeiten werden im Abschnitt 3.3 „Ge-
schichtenpläne und ästhetisches Lernen“ besprochen.
3.1 Geschichtenpläne und textuelles Lernen
Empirische Studien (Augst et al. 2007) sowie die kommentier-
ten Bildungsstandards (Baurmann und Pohl 2009) beschreiben
die Schreibentwicklung bei Grundschülerinnen und Grund-
schülern anhand von vier verschiedenen Phasen:9
9 In einer ersten Phase neigen Kinder zu assoziativen und sponta-
nen Texten, die dadurch geprägt sind, dass die Schreibenden
„unmittelbar das zu Papier [bringen], was ihnen durch den Kopf
schießt“ (Baurmann und Pohl 2009: 81). Die zweite Phase ist da-
286
Benjamin Uhl
Entwicklungsphase Sprachlich-textuelle Leistung
1. Assoziative Texte Auswahl an Inhaltselementen
2. Verkettende Texte Sachlogische Verknüpfung von Inhaltselementen
3. Gegliederte Texte Ausbildung verschieden gestalteter Textteile
4. Textsortenfunktionale Texte Einlösen einer textsortenadäquaten Textfunktion
Abb. 3 : Phasen der Schreibentwicklung nach Baurmann und Pohl
(2009: 84)
Im Sinne des dualen Curriculums sollten Schülerinnen und
Schüler auch in sonderpädagogischen Kontexten die vierte
Entwicklungsphase erreichen können. Erzählungen der vier-
ten Phase sind durch zwei Eigenschaften geprägt: Die Erzäh-
lungen sind strukturierte Texte, in der Hinsicht, dass sie ein
narratives Textmuster aufweisen. Dieses narrative Textmuster
besitzt, wie Abbildung 4 zeigt, die Textmusterphasen „Orien-
tierung“, „Komplikation“ und „Auösung“ (siehe hierzu La-
bov und Waletzky 1967, Becker 2002, Augst et al. 2007, Uhl
2015a). Erzählungen der vierten Phase der Schreibentwicklung
sind außerdem durch besondere sprachliche Mittel gekenn-
zeichnet, die dazu dienen, eine Textfunktion umzusetzen. Für
Erzählungen als Bestandteil der homileiischen Kommunikati-
on kann diese Textfunktion als „unterhaltend“ charakterisiert
werden.10 Wichtige sprachliche Mittel, die diese Textfunktion
durch gekennzeichnet, dass einzelne Ereignisse des Textes sach-
logisch verkettet werden (vgl. Baurmann und Pohl 2009: 82). Für
das Schreiben von Erzählungen ist für diese Phase der Schreibent-
wicklung die Verwendung von „und dann“ als Konnektor ty-
pisch. Bei gegliederten Texten nutzen die Schreibenden dann ver-
mehrt ein Textmuster, so dass einzelne Textmusterphasen (wie
z.B. eine Einleitung oder ein Schluss) erkennbar werden. In der
vierten Phase gelingt es den Schreibenden, eine Textfunktion ein-
zulösen. Die Textfunktion erzählender Texte wird im Folgenden
dargelegt.
10 Erzählen „gehört in den Zusammenhang der Geselligkeit, also
des Austauschs von (und der Freude an) interessanten Erfahrun-
gen“ (Rehbein 1984: 71).
287
Zwischen Grammatik und Text
einlösen, sind u.a. Adjektive, Adverbien und expressive Ver-
ben (Uhl 2015b). Abbildung 4 illustriert mithilfe einer Beispiel-
erzählung die Verwendung eines narrativen Textmusters und
den Gebrauch der eben erwähnten sprachlichen Mittel, die
Emotionalität ausdrücken.
Plötzlich kam auf einmal
ein riesiger Schatten über
ihn. Der Geist schwebte
weg in eine Ecke da sah
er dass ein riesengro-
ßer Riese vor ihm stand
schnell schwebte er zur
Hexe und sagte „in dem
Schloss ist ein Riese“ sag-
te der Geist stotternd vor
Angst „und der Himmel
brennt bestimmt ist er so
groß dass er den Himmel
sogar anzünden kann.“ Da
erschrak die Hexe und
machte schnell einen Zau-
bertrank um den Riesen
zu verscheuchen und den
Himmel zu löschen.
Es war einmal vor
vielen Jahren ein ver-
lassenes Schloss. Dort
wohnten eine Hexe und
ein Geist. Der Geist
fragte die Hexe. „Was
machst du da?“ Die
Hexe antwortete „ich
zaubere an der Zauber-
kugel.“ Dann sagte der
Geist ich schwebe ein
bisschen durch [das]
Schloss und erschre-
cke die Fledermäuse.
Komplikation Das hat sie dann ganz
schnell und die Hexe hat
es geschat den Riesen
zu verscheuchen und den
Himmel gelöscht und
die Hexe sagte gut dass
du mich gewarnt hast so
konnten wir den Riesen
besiegen.“ Dann war
wieder alles friedlich der
Geist konnte dann wieder
in Ruhe rumspuken.
Orientierung Auösung
Abb. 4: Beispielerzählung mit narrativer Struktur (Orientierung –
Komplikation – Auösung)
288
Benjamin Uhl
Abbildung 5 zeigt, dass auch den Geschichtenplänen die eben
analysierte narrative Grundstruktur zugrunde liegt.
Doch eines Nachts kam
n ∧ und klaute ¢. Da
kam n und sagte: „Ich
werde überall nach ¢
suchen. “n suchte ∧ und
∧, n fand ¢ und ¢ aber
nicht das, was n suchte.
Es war einmal vor
langer Zeit, da lebten
n und n . Die beiden
wohnten ∧ . Eines Ta-
ges fand n ¢. ¢ geel
n sehr gut. Auch n war
ganz begeistert von ¢
, und sie spielten jeden
Tag damit.
Komplikation Als n gerade aufgeben
wollte, entdeckte n
plötzlich ∧ . n hatte das
Versteck von n gefunden
und brachte ¢ zurück. Da
freuten sich n und n .
Orientierung Auösung
Abb. 5: Narrative Struktur des Geschichtenplans
Damit bei der Arbeit mit den Geschichtenplänen auch emoti-
onale Mittel umgesetzt werden, können die eingeführten Fi-
guren, Orte und Personen mit weiteren Kärtchen kombiniert
werden (siehe Abbildung 6). Kombinierbar mit den Figuren
(eckige Form) sind Emoticons; kombinierbar mit den runden
und dreieckigen Formen sind Adjektive, die einer eher bil-
dungssprachlichen Sprachvarietät zugeordnet werden können.
Das Verwenden dieser Adjektive erweitert den Wortschatz der
Lernenden und verleiht den Erzählungen eine besondere (bil-
dungssprachliche) Qualität.
289
Zwischen Grammatik und Text
Abb. 6: Emotionale Mittel für die Geschichtenpläne
Ziel der Arbeit mit den Geschichtenplänen ist es zum einen,
bei den Lernenden ein Wissen über den prototypischen
Ablauf einer Erzählung aufzubauen. Zum anderen sollen
die Schülerinnen und Schüler für bestimmte sprachliche
Strukturen sensibilisiert werden, die das Erzählen als Textart
kennzeichnen (emotionale Mittel). Damit werden die Kinder
angeleitet, textsortenfunktionale Erzählungen zu gestalten. Es
kann angenommen werden, dass sich das über die Geschich-
tenpläne vermittelte Wissen positiv auf das Schreiben von Er-
zählungen auswirkt: Bereits 1980 machen Hayes und Flower
in ihrem Schreibprozessmodell darauf aufmerksam, dass bei
einer kompetenten Schreiberin/einem kompetenten Schrei-
ber Schreibpläne („stored writing plans“, Hayes und Flower
1980: 11) im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Das hier
290
Benjamin Uhl
eingesetzte Material soll zur Bildung solcher mentalen Schreib-
pläne anregen.11
Die Arbeit mit dem Geschichtenplan eröffnet darüber hinaus
noch eine weitere wichtige Lerngelegenheit, die gerade im
Kontext des Schreibens elementar ist und eine zentrale Schnitt-
stelle zum grammatischen Lernen bildet: Wie in Abbildung 2
erkennbar ist, weisen die Platzhalter unterschiedliche Farben
und Größen auf. Diese Visualisierungen dienen dazu, sichtbar
zu machen, dass auf einen Platzhalter referiert werden muss:
Dies wird bspw. am Anfang des Textes erkennbar (siehe Abb. 7).
In dem Beispiel sind Hexe und Drache als Figuren in die im
Original farbigen Platzhalter eingeführt (Hexe im roten Platz-
halter, Drache im grünen). Das Kind muss beim Vorlesen der
Erzählung nun die Referenz herstellen: Taucht ein kleines rotes
Quadrat auf, ist das in diesem Fall eine Referenz auf die Hexe.
Ein kleiner grauer Kreis ist in dem Beispiel eine Referenz auf die
Zauberkugel, ein gelbes Dreieck eine Referenz auf das Schloss.
Es entsteht somit für die Erzählung folgende Orientierung:
Es war einmal vor langer Zeit, da lebten eine Hexe und ein
Drache. Die beiden wohnten in einem Schloss. Eines Tages
fand die Hexe eine Zauberkugel. Die Zauberkugel/Sie geel
der Hexe/ihr sehr gut. Auch der Drache war ganz begeistert
von der Zauberkugel, und sie spielten jeden Tag damit.
11 In diesem Sinne argumentieren auch Becker-Mrotzek und Beh-
rens dafür, dass sich das Abrufen von Schreibplänen positiv auf
das Schreiben auswirkt „Als gesichert kann in jedem Fall gelten,
dass Textartenwissen eine Hilfe beim Schreiben darstellt: Es stellt
Strukturierungs- und Formulierungshilfen bereit und entlastet so
den Schreibprozess“ (Becker-Mrozek und Behrens 2014: 58).
291
Zwischen Grammatik und Text
Abb. 7: Kohäsionsmittel in der Erzählung
Die Kinder können mithilfe der Geschichtenpläne lernen, dass
einzelne Einheiten in einem Text zusammenhängen bzw. mit-
einander verknüpft sind. Sie erfahren, dass Figuren, Orte und
Gegenstände nochmals aufgegriffen werden (Rekurrenz) und
dass es Pronomen gibt, die sie anstelle dessen verwenden kön-
nen. Die Kinder erhalten somit eine implizite Lerngelegenheit
zum Erwerb von Kohäsionsmitteln.12 Das Verwenden von
Kohäsionsmitteln ist nach Bachmann (2002: 111) eine wichtige
12 Mit Nussbaumer 1991 können die über die Geschichtenpläne ver-
anschaulichten Kohäsionsmittel als „Verweismittel“ bestimmt
werden (siehe hierzu Nussbaumer 1991: 106). Zu Verweismit-
teln (wie z.B. Personal- oder Demonstrativpronomen) schreibt
Bachmann (2002: 107): „Diese sprachlichen Mittel [Verweismittel,
B.U.] verweisen auf andere Informationen, Aussagen, Begriffe,
Ausdrücke im Text oder nehmen solche wieder auf. Dies kann
grundsätzlich in zwei Richtungen geschehen: in vorausweisender
(Kataphora) oder in zurückweisender (Anaphora)“.
292
Benjamin Uhl
Unterstützung, die dem Rezipienten des Textes dabei hilft, den
Gesamtzusammenhang (Kohärenz) eines Textes herzustellen:
Textkohärenz liegt dann vor, wenn ein Rezipient beim Text-
verstehen – angeleitet durch die Textoberäche – einzelne In-
formationen als ein umfassendes Bedeutungs- oder Sinngan-
zes rekonstruieren bzw. interpretieren kann.
(Bachmann 2002: 110f.)
Die Kinder erhalten durch die Arbeit am Geschichtenplan also
die Chance, auf eine implizite Art und Weise die Funktion
von Verweismitteln in Erzählungen zu entdecken. Somit ler-
nen sie sprachliche Mittel kennen, die für das Herstellen von
Textkohärenz grundlegend sind. Doch es ergeben sich noch
weitere Lernmöglichkeiten, die im Folgenden besprochen wer-
den.
3.2 Geschichtenpläne und grammatisches Lernen
Feilke und Tophinke (2016) schreiben über die Zieldimension
des Grammatikunterrichts:
Das primäre Ziel für Grammatisches Lernen ist nicht gram-
matisches Wissen, sondern grammatisches Können. Gram-
matisches Können entsteht im Sprachgebrauch; seine Aneig-
nung vollzieht sich im alltäglichen Sprechen und Schreiben.
(Feilke und Tophinke 2016: 4)
Im Sinne dieses Zitats soll durch die Arbeit mit Geschichten-
plänen zum grammatischen Lernen angeregt werden. Über
das Gestalten einer Erzählung wird ein Kontext geschaffen,
der Kinder auf motivierende Art und Weise zur Sprachpro-
duktion anregt. Anders ausgedrückt: Das grammatische Ler-
nen wird im Kontext einer Erzählung versteckt. Die Arbeit
mit Geschichtenplänen zielt auf die Steigerung eines prozedu-
ralen, impliziten grammatischen Wissens.13
13 Gerade für die Konzeption von Fördereinheiten ist es wichtig,
die Kinder nicht mit explizitem Grammatikunterricht zu konfron-
293
Zwischen Grammatik und Text
Damit sich ein solches Wissen aufbauen kann, sind drei Dinge
wichtig: Das Kind muss (1) aus rezeptiver Sicht gehäuft mit ei-
ner bestimmten sprachlichen Struktur konfrontiert werden und
aus produktiver Sicht dazu angeregt werden, diese sprachliche
Struktur zu verwenden (vgl. Ruberg und Rothweiler 2012: 149).
Die dem Kind präsentierte sprachliche Struktur muss (2) einen
Kontrast enthalten, der Form und Funktion der Struktur sicht-
bar macht (vgl. ebd.: 142). Möchte man bei Kindern z.B. den
Kasuserwerb anregen, ist der Kontrast „da ist die Katze vs. ich
sehe die Katze“ ungünstig (Beispiel nach ebd.: 150). Außerdem
ist (3) das Feedbackverhalten einer Kooperationspartnerin/ei-
nes Kooperationspartners (Lehrkraft/Erzieher/-in) elementar
(zum Feedbackverhalten siehe die Ausführungen im nächsten
Abschnitt).
Durch die Arbeit mit dem Geschichtenplan kann der Genuser-
werb von Kindern gefördert werden (Es war vor langer Zeit,
da lebten ein Riese und eine Hexe). Verstärkt werden kann dies,
wenn man zusätzlich zu den Figuren, Orten und Gegenständen
noch die Karten einsetzt, die eine emotionale Involvierung in-
tensivieren (vgl. Abschnitt 3.1). So kann den Kindern in Bezug
auf den Genuserwerb gezeigt werden, dass Adjektive anders
ektieren, wenn das Bezugswort ein anderes Genus hat (wie
eine schlaue Hexe vs. ein schlauer Drache). Auch der Unterschied
zwischen Dativ und Akkusativ wird durch das Material sicht-
bar: „Auch der Riese war ganz begeistert von der Zauberkugel,
und sie spielten jeden Tag damit. Doch eines Nachts kam der
Zwerg in das Schloss und klaute die Zauberkugel.“ Ein besonders
tieren. Hierzu gehören auch Verbesserungen wie „Du hast den
Dativ verwendet – das ist falsch, hier muss der Akkusativ ste-
hen“. In diesem Sinne stellen Ruberg und Rothweiler (2012: 142)
bezüglich der Konzeption von Sprachförderangeboten die Frage:
„Wie lassen sich nun in einer Fördersituation gehäufte Kontexte
für eine bestimmte grammatische Struktur schaffen, ohne Gefahr
zu laufen, dass die Fördersituation zu einer konstruierten, sinn-
freien Grammatiklehrstunde verkommt?“
294
Benjamin Uhl
schwer zu erlernender Bereich des Deutschen ist die Verwen-
dung von Präpositionen (siehe hierzu Topalovic und Micha-
lak 2012: 240). Präpositionen regieren Kasus. Welcher Kasus
dies ist, muss jedoch wie das Genus eines Wortes im mentalen
Lexikon gespeichert werden. Erschwerend hinzu kommt im
Deutschen, dass es Wechselpräpositionen gibt, die je nachdem,
ob sie einen festen Ort oder eine Richtung anzeigen, variieren
(fester Ort: Die beiden wohnten in dem Schloss; Richtung: Eines
Tages kam der Zwerg in das Schloss). Auch zum Erlernen dieser
Besonderheit liefern die Geschichtenpläne also einen sprachli-
chen Input. Außerdem kann mithilfe der Geschichtenpläne der
Unterschied Denitheit vs. Indenitheit untersucht werden.
Nur Bekanntes wird mit denitem Artikel versehen (vgl. Hle-
bec 2013). Alles, was der Leserin/dem Leser zunächst noch un-
bekannt ist, erhält den indeniten Artikel. Am Anfang der Er-
zählung heißt es also: „...da lebte eine Prinzessin“, während es
– wenn die Prinzessin den Leserinnen und Lesern vorgestellt
wurde – heißt: „Eines Tages fand die Prinzessin...“
3.3 Geschichtenpläne und ästhetisches Lernen
Beim ästhetischen Lernen geht es in Anlehnung an Dietrich,
Krinninger und Schubert (2012: 9) „um Fragen der Persönlich-
keitsbildung in und durch ästhetische Erfahrungen“. Die Kon-
frontation mit Bildern als Erzählimpuls soll solche ästhetischen
Erfahrungen ermöglichen. So kann beim Betrachten und dem
Einsetzen der Bilder in den Geschichtenplan jedes Kind seine
eigenen Vorstellungen und Ideen einbringen. Wichtig für das
ästhetische Lernen ist, dass die Bilder also eine Vieldeutigkeit
zulassen und sich somit ein Raum für individuelle Interpreta-
tionen eröffnet: „Zu einem ästhetischen Objekt gibt es immer
mehr als den einen Gedanken, die eine Empndung, den ei-
nen Zugriff“ (Kruse 2016: 4). Durch die Kombination mit den
Emoticons soll das ästhetische Empnden der Kinder weiter in-
295
Zwischen Grammatik und Text
tensiviert werden. So werden die Figuren durch die Emoticons
emotional aufgeladen. Hierbei gibt es kein richtig oder falsch.
Ob es sich bspw. in Abbildung 8 um „das schlaue Mädchen“,
„die kluge Prinzessin“, „die belesene Fee“, „die kurzsichtige
Elfe“ oder einfach nur um „die Hexe mit Brille“ handelt, ist
auf die individuelle, ästhetische Empndung jedes einzelnen
Kindes zurückzuführen.
Abb. 8: Kombination aus Figurenkarte und Emoticon: „Die Hexe mit
Brille“
Ästhetisches Empnden steht somit in einem besonderen
Wechselwirkungsverhältnis mit der eignen Wahrnehmung:
Wenn wir also etwas ‚schön‘ nden (oder faszinierend, un-
heimlich, mitreißend oder anrührend traurig), wenn uns also
etwas auf die eine oder andere Weise gefällt, dann geht das
immer mit einem besonderen Verhältnis zur eigenen Wahr-
nehmung einher. (Dietrich, Krinninger und Schubert 2012: 14)
Wichtig für das ästhetische Lernen ist, dass es auf Grundlage
der individuellen ästhetischen Erfahrungen zu einem Aus-
tausch kommt. Ästhetisches Lernen soll demnach zu einer
„Praxis der Verständigung“ (Dietrich, Krinninger und Schu-
bert 2012: 30) anregen:
Schließlich gehört es zur ästhetischen Bildung unabdingbar
dazu, das Geschehen zu artikulieren, anderen und sich selbst
mitzuteilen. Die ästhetische Erfahrung drängt zum Ausdruck.
(Dietrich, Krinninger und Schubert 2012: 30)
296
Benjamin Uhl
Die Geschichtenpläne fordern die Kinder dazu auf, eine sprach-
liche Handlungsform zu realisieren, die zum Ausdruck von Er-
fahrungen prädestiniert ist: das Erzählen. Über das Erzählen
können individuelle Erfahrungen im Sinne des ästhetischen
Lernens kommunikativ verarbeitet werden.
Nachdem mit den letzten drei Abschnitten verschiedene Lern-
gelegenheiten benannt wurden, die sich mit dem Einsatz von
Geschichtenplänen ergeben, soll nun abschließend gezeigt
werden, wie eine Fördersituation gestaltet sein muss, bei der
Geschichtenpläne zum Einsatz kommen.
4 Geschichtenpläne als Scaffolding:
Didaktische Progression im gemeinsamen Unterricht
Wichtig bei dem Arbeiten mit den Geschichtenplänen ist, dass
das Befüllen des Geschichtenplans immer ko-konstruktiv ge-
schehen sollte. Für Ko-Konstruktion als besondere Form des
Scaffoldings ist charakteristisch, dass sie eine Lernsituation
umschreibt, die (zunächst) zwischen Lehrkraft bzw. Erzie-
her/-in und Kind besteht:
Im Ko-Konstruktionsprozess müssen die Handlungsanfor-
derungen so zwischen der pädagogischen Fachkraft oder an-
deren kompetenten Personen und dem lernenden Kind ver-
teilt sein, dass Ziele gemeinsam erreicht werden, die ohne
diese Form der Unterstützung nicht erreicht worden wären.
(Jungmann und Albers 2013: 67)
Die Rollenverteilung in dieser ko-konstruktiven Lernsituation
sollte je nach Kind und Situation variiert werden: Je selbststän-
diger ein Kind arbeiten kann, desto eher kann man es in die
Rolle der Produzentin/des Produzenten versetzen. Bei gro-
ßem Unterstützungsbedarf ist es wichtig, dass das Kind eher
297
Zwischen Grammatik und Text
die Rolle eines Rezipienten einnimmt. Die Arbeit mit dem Ge-
schichtenplan ist dann eine besondere Art von Vorlesesitua-
tion, in die sich das Kind durch das Befüllen der Platzhalter
einbringen kann. Kinder, die in Bezug auf ihre sprachliche Ent-
wicklung unterstützungsbedürftig sind, können durch „echte“
Vorlesesituationen überfordert werden.14 Im Sinne des hier
vorgestellten Materials schlägt Sarimski vor, Vorlesesituatio-
nen durch zusätzliches Material zu entlasten: „Für Kinder ist es
hilfreich, wenn die erzählte Geschichte zusätzlich durch Hand-
puppen oder Miniaturguren veranschaulicht wird“ (Sarimski
2012: 90).
Bei großem Unterstützungsbedarf im Bereich Sprache ist es
außerdem wichtig, dem Kind, wie im vorangegangenen Ab-
schnitt skizziert, einen sprachlichen Input zu bieten, der zum
Aufbau eines impliziten Grammatikwissens führt. Um den
Spracherwerb des Kindes anzuregen und es nicht zu demo-
tivieren, sind folgende Feedbacktechniken hilfreich, falls das
Kind Unterstützung in Hinblick auf die Verwendung gram-
matischer Strukturen benötigt (wichtig bei der Arbeit mit Ge-
schichtenplänen sind korrektives Feedback und Expansion –
auf direkte Korrekturen, die explizites Grammatikwissen zum
Gegenstand haben, sollte verzichtet werden).
14 „Das Vorlesen und das gemeinsame Anschauen von Bilderbü-
chern stellen hohe Anforderungen an die Sprachverarbeitungs-
kompetenzen von Kindern mit spezischer Sprachentwicklungs-
störung.“ (Sarimski 2012: 90)
298
Benjamin Uhl
Sprachlehrstrategie Beispiel
(K = Kind, E = Erzieherin)
Korrektives Feedback auf morphosyntaktischer Ebene:
K: Der Junge holt der Ball.
E: Stimmt. Der Junge holt den Ball.
K: Junge Ball holen.
E: Hm. Der Junge holt den Ball.
auf phonetisch-phonologischer Ebene:
K: Das ist eine Tatze.
E: Ja. Das ist eine Katze.
auf semantisch-lexikalischer Ebene:
K: Da is ein Wauwau.
E. Ja, das ist ein Hund.
Expansion (Erweiterung) K: Das ist ein Hund.
E: Oh ja. Da ist ein ganz kleiner Hund.
Transformation (Umformung) K: Das ist ein Hund.
E: Hm. Ein Hund ist das.
Extension K: Hundi belle.
E: Ja, der hat Angst.
Offene Frage E: Was macht denn der Junge da?
K: Der spielt mit Ball.
Abb. 9: Merkmale lehrender Sprache (Ruberg und Rothweiler
2012: 68)
Damit ist zunächst ein Vorgehen in einer Fördersituation be-
schrieben, in der eine Lehrkraft und ein zu förderndes Kind
sehr eng miteinander kooperieren. Ziel der Arbeit mit Ge-
schichtenplänen ist es, auch die Peers in Fördersituationen
miteinzubeziehen. Im Sinne eines „peer-mediated teaching“
(Odom, Chandler, Ostrosky, McConnell und Reaney 1992)
könnten Kinder ohne Unterstützungsbedarf in Hinblick auf die
sprachliche Entwicklung gemeinsam mit unterstützungsbe-
dürftigen Kindern eine Erzählung gestalten. In einem gemein-
samen Unterricht bietet der Einsatz von Geschichtenplänen
also die Möglichkeit, dass mehrere Schülerinnen und Schüler
kooperativ zusammenarbeiten. Dadurch, dass man Geschich-
299
Zwischen Grammatik und Text
tenpläne hinsichtlich Umfang und Komplexität variieren kann,
besteht eine gute Möglichkeit zur Differenzierung. Inwiefern
man Schülerinnen und Schüler in diesen gemeinsamen Lern-
situationen auch darin kompetent machen kann, die oben be-
schriebenen Feedbacktechniken zu nutzen, muss die empiri-
sche Forschung zeigen.15
Durch den Geschichtenplan gestalten Kinder eine Erzählung,
indem sie Bildkarten einsetzen. Zunächst schreiben die Kinder
also noch nicht. Mit anderen Worten: Sie lernen sprachliche
Mittel des Vertextens kennen, ohne dass sie dazu schon Ver-
schriften müssen. Die somit entstandene Erzählung kann vor-
gelesen, einer Lehrkraft diktiert oder abgeschrieben werden.
Zur Förderung der schriftlichen Erzählfähigkeit ist der nächste
Schritt in einer didaktischen Progression nicht mehr die Vorga-
be eines kompletten Geschichtenplans, sondern eine Visuali-
sierung in Form eines Geschichtenschemas. Abbildung 10 zeigt
den Aufbau eines Geschichtenschemas, das die verschiedenen
Textmusterphasen (Orientierung, Komplikation, Auösung)
sichtbar macht.
15 Denkbar wäre hier, dass Lernende mit unterschiedlichen Lern-
ausgangslagen „Erzähltandems“ bilden. Mit Hilfe der Geschich-
tenpläne könnten dann die leistungsschwächeren Schülerinnen
und Schüler durch die leistungsstärkeren bei der Konstruktion
einer Erzählung unterstützt werden. Für leistungsstärkere Kin-
der entsteht hierbei eine Lerngelegenheit, sich vertiefend mit den
Besonderheiten einer Erzählung auseinanderzusetzen; sie erhal-
ten somit ein „Expertenwissen“ über das prototypische narrative
Handlungsmuster und die besonderen sprachlichen Mittel, die
zur sprachästhetischen Ausgestaltung einer Erzählung wichtig
sind (vgl. Abschnitt 3.1). Dieses „Expertenwissen“ kann dann die
eigene Textproduktion der leistungsstärkeren Schülerinnen und
Schüler unterstützen (siehe hierzu Uhl i.V.).
300
Benjamin Uhl
Abb. 10: Visualisierung eines Geschichtenschemas
Pro Textmusterphase können wie bei dem Geschichtenplan
bestimmte Platzhalter eingesetzt werden. Es gibt aber keinen
vorformulierten Text mehr, d.h. die Formulierungsarbeit muss
jetzt vom Schreibenden selbst geleistet werden. Daher bietet es
sich an dieser Stelle an, der Schülerin bzw. dem Schüler pro-
totypische Formulierungshilfen an die Hand zu geben, die je-
weils kennzeichnend für eine Textmusterphase sind.
301
Zwischen Grammatik und Text
Formulierungshilfen als narrative Textprozeduren
Was muss ich beim Schrei-
ben einer Erzählung tun?
Wie formuliere ich das?
Prozedur Prozedurenausdruk
Einleitung vornehmen
Es war einmal
Vor langer Zeit.
Bir varmış bir yok-
muş
Hauptteil gestalten
Plötzlich
Auf einmal
Birdenbire
Aniden
Schluss gestalten
Wenn sie nicht ge-
storben sind, dann
leben sie noch heute.
...ve sonsuza kadar
mutlu yaşamışlar.
Deutsch Türkisch
Abb. 11: Formulierungshilfen für das Geschichtenschema
Man spricht hier in der Forschung von Textprozeduren
(vgl. Feilke 2014: 30f). Eine Textprozedur besteht aus einem
Prozedurenausdruck, also aus einer feststehenden Formu-
lierung wie „es war einmal“ und einer damit verbundenen
Handlung, in diesem Fall „in eine Erzählung einleiten“. Wie in
Abbildung 11 anhand des Türkischen gezeigt, existieren diese
Textprozeduren in analoger Form auch in anderen Sprachen
bzw. Kulturen.
Der nächste Schritt in einer didaktischen Progression zur
Schreibförderung von narrativen Texten liegt im Verzicht auf
das Geschichtenschema. Anstelle dessen gibt man den Kindern
nur noch Bildimpulse vor. Das kann zunächst noch eine Kom-
bination aus Bildimpuls und emotionaler Verstärkerkarte sein.
Ziel sollte es aber sein, dass Kinder nun ohne weitere Hilfen –
302
Benjamin Uhl
nur noch auf der Grundlage eines Bildimpulses – Erzählungen
schreiben. Dieser Aspekt ist gerade in einem inklusiven Un-
terricht wichtig, an dem Kinder mit unterschiedlichen Lern-
ausgangslagen gemeinsam lernen: Während unterstützungs-
bedürftige Kinder Erzählungen zunächst noch mit Hilfe eines
Geschichtenplans oder eines Geschichtenschemas anfertigen,
können leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler Erzählun-
gen auf der Grundlage von Bildimpulsen schreiben. Gerade im
Schreiben von Erzählungen liegt hierbei ein besonderes Poten-
zial: So geht es beim schriftlichen Erzählen in einem besonde-
ren Maße um eine poetische und sprachästhetische Ausgestal-
tung des Textes, was vor allem leitungsstärkere Schülerinnen
und Schüler anspricht.16
Abb. 12: Zusammenhang zwischen Schreibkompetenz und Ausprä-
gung des Scaffoldings im inklusiven Schreibunterricht
16 Siehe hierzu auch Abschnitt 3.3. oder Augst et al. (2007: 48), wo es
über die besondere affektive und ästhetische Qualität narrativer
Texte heißt: „Es geht [beim Erzählen, B.U.] darum, den Leser nicht
nur zur informieren, sondern spannend zu unterhalten, traurig
oder froh zu stimmen. Dies geschieht durch eine emotionale
Qualizierung der Ereignisse, aber auch durch ästhetische Eigen-
schaften des Textes.“
303
Zwischen Grammatik und Text
Die Visualisierungen in Form des Geschichtenplans bzw. Ge-
schichtenschemas fungieren also immer als Scaffolding, als
didaktisches Stützgerüst. Je mehr die Schreibkompetenz einer
Schülerin/eines Schülers steigt, desto mehr kann das didakti-
sche Stützgerüst wieder abgebaut werden (vgl. Abbildung 12).
Diese Adaptivität ermöglicht den Einsatz des hier vorgestellten
Unterrichtsmaterials im gemeinsamen Unterricht der Grund-
schule.
5 Geschichtenpläne im gemeinsamen Unterricht – ein Fazit
In dem Beitrag wurde mit dem Geschichtenplan bzw. dem
Geschichtenschema ein Förderinstrument vorgestellt, das sich
an Schülerinnen und Schüler wendet, für die das Verschriften
eines Textes eine große Herausforderung darstellt. Es wurde
gezeigt, dass sich durch dieses Förderinstrument textuelles,
grammatisches und ästhetisches Lernen verbinden lässt. Au-
ßerdem wurde skizziert, wie Geschichtenpläne als Scaffolding
in einem gemeinsamen Unterricht eingesetzt werden können.
Damit endet dieser Beitrag – die Arbeit mit Geschichtenplänen
als Förderinstrument im gemeinsamen Unterricht steht aller-
dings erst am Anfang: Jetzt ist es Aufgabe der empirischen
Deutschdidaktik, den konkreten Einsatz dieses Förderinstru-
ments zu evaluieren.
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Benjamin Uhl
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308
Katrin Hee
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören:
Möglichkeiten und Herausforderungen eines inklusiven
Unterrichts am Beispiel Erzählen
Katrin Hee
Der Beitrag ist im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhö-
ren situiert und fokussiert das Erzählen. Ausgehend von
sprachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Grundla-
gen zum Erzählbegriff sowie der Darstellung der Entwick-
lung der Erzählfähigkeit im gestörten wie ungestörten
Erzählerwerb versucht der Artikel den fachdidaktischen
„Kern“ respektive die Teilkompetenzen des Erzählens
herauszuarbeiten. Für jede dieser Teilfähigkeiten werden
didaktische Ansätze und Fördermöglichkeiten vorge-
stellt, die besonders geeignet sind, Erzählkompetenzen in
einem inklusiven Unterricht anzubahnen. Auf dieser Ba-
sis soll es aus Schülerperspektive allen Schülerinnen und
Schülern ermöglicht werden, einen Zugang zum Erzäh-
len zu erhalten; aus Lehrerperspektive sollen auf diese
Weise spezielle Herausforderungen für Schülerinnen und
Schülern mit Förderbedarfen gezielt – auch mit Blick auf
einzelne Teilfähigkeiten – erkannt werden, um gezielte
Förderkonzepte anzuschließen. Der Beitrag schließt mit
einem Plädoyer für einen weiten Erzählbegriff in inklusi-
ven Kontexten sowie mit einem Ausblick auf Desiderata
und Perspektiven eines inklusiven Unterrichts.
1 Grundlagen zum Erzählbegriff
‚Erzählen‘ ist sowohl im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhö-
ren als auch Schreiben – Texte verfassen verortet. Es wird in der
Schule vorrangig als Lernbereich mit Brückenfunktion kons-
309
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
tituiert, da der allgemeine Fokus auf der Entwicklung schrift-
sprachlicher bzw. konzeptionell schriftlicher Kompetenzen
liegt. Im vorliegenden Beitrag wird das mündliche Erzählen fo-
kussiert.
Eine zielgerichtete Förderung muss beim Gegenstand anset-
zen. Daher soll im Folgenden zunächst in aller Kürze geklärt
werden, was Erzählen ist, um dann im nächsten Teilabschnitt
zu klären, über welche Fähigkeiten Kinder für die Produktion
einer gelungenen mündlichen Erzählung verfügen müssen.
Erzählen kann als weites, heterogenes Feld entlang eines Kon-
tinuums angesehen werden. An den Extrempunkten dieses
Kontinuums werden in der Literatur unterschiedliche Begriffs-
paare vorgeschlagen:
konzeptionell mündlich konzeptionell schriftlich
Ehlich (1983) erzählen1erzählen2
Wagner (1986) Geechterzählungen Höhepunkterzählungen
Becker (u.a. 2009) erzählen im weiteren Sinn erzählen im engeren Sinn
Pohl (2003) pränarrativ narrativ
Abb. 1: Übersicht der Extrempole des Erzählens
Erzählen1 nach Ehlich (1983) auf der einen Seite des Kontinu-
ums kann als „eine Art Architerm für das ganze […] Wortfeld“
(Ehlich 1983: 129, zit. nach Pohl 2003: 7) als umfassende Be-
zeichnung für eine Tätigkeit verwendet werden, die u.a. be-
richten, beschreiben, schildern etc. mit einschließt (vgl. Ehlich
1983: 129; Becker 2009). Auf der gegenüberliegenden Seite des
Kontinuums ist mit erzählen2 eine „spezische Tätigkeit, deren
nominale Ableitung die Erzählung ist“ (Pohl 2003: 5) zu verste-
hen. Wagner (1986: 144ff.; zit. nach Abraham 2008: 49) unter-
scheidet zwischen „Höhepunkt-Erzählungen“, die u.a. eher
monologisch ausgerichtet sind und eine geschlossene Struktur
aufweisen, und „Geecht-Erzählungen“, die eher offen struk-
turiert, dialogisch und ‚episch‘ sind.
310
Katrin Hee
Nach Becker (2009) lässt sich erzählen2
charakterisieren als monologisch und diskursiv in der Weise,
dass ein einziger Erzähler einen längeren, deutlich vom Ge-
sprächsumfeld abgegrenzten Beitrag bringt. Dieser Beitrag ist
kohärent und temporal und kausal klar organisiert, einen auch
sprachlich als erzählwürdig markierten Inhalt transportierend.
Ebenso verfügt er über emotionale Qualizierung, die Wertun-
gen und Perspektive erkennen lässt. (Becker 2009: 65)
Diese Form des Erzählens stellt nach Ochs und Capps (2001)
eine Idealform des Erzählens dar, die im Alltag so kaum vor-
kommt (vgl. Becker 2009: 65).
Auch wenn erzählen ein sehr heterogener Begriff ist, so lässt
sich doch forschungsübergreifend ein kleinster gemeinsamer
Nenner nden, den Becker (2009: 64) folgendermaßen deniert:
Erzählen ist ein spezisch strukturierter abgegrenzter Teil des
Diskurses oder auch eine kohärente Ereignisfolge mit mindes-
tens einem Element der Diskontinuität oder Ungewöhnlich-
keit.
Eine Erzählung in diesem Sinne folgt einem typischen Aufbau,
einer story grammar, der eine Orientierungs-, Komplikations-
und Auösungsphase umfasst (vgl. Becker 2006b: 37), die La-
bov und Waletzky (1973) etwas detaillierter in sechs Phasen
darstellen: 1. Abstrakt (Worum handelt es sich?), 2. Orientie-
rung (Wer, wann, was, wo?), 3. Handlungskomplikation (Was
passierte dann?), 4. Evaluation (Was soll das Ganze?), 6. Resul-
tat (Wie ging es aus?), 6. Koda (Was ist die Moral?).1
1 Nicht jede Erzählung folgt allerdings diesem Schema, sondern so-
wohl Erwachsene wie auch Kinder realisieren durchaus unter-
schiedliche Varianten dieser Struktur (Kotthoff 2009: 45).
311
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
2 Forschungsstand zur Erzählkompetenz
2.1 Erzählkompetenz
Das Erzählen ist der Unterrichtsgegenstand im Bereich Münd-
lichkeit, der bisher am stärksten theoretisch wie empirisch unter-
sucht wurde und zu dem es m.W. bisher die meisten konzepti-
onellen Vorschläge gibt.2 Im Folgenden sollen unterschiedliche
Konzepte vorgestellt und im Anschluss zusammengeführt
werden. Ohlhus und Stude (2009) entwickeln in Anlehnung an
die in Quasthoff (2009) dargelegten Parameter zur Bestimmung
der Diskurskompetenz (Vertextung, Markierung und Kontextua-
lisierung) drei unterschiedliche Aufgaben resp. Kompetenzen,
die für das Erzählen relevant sind und die der Erzähler daher
mitbringen muss. So müssen die Erzähler beispielsweise zu-
nächst die Erzählsituation als solche herstellen, d.h. z.B. durch
ein erwähnenswertes Ereignis die Aufmerksamkeit der Hörer
gewinnen und so das 'Ticket[.]' (Sacks 1972; zit. nach Quast-
hoff 2001: 1297) für einen längeren monologischen Redebeitrag
sichern. Ohlhus und Stude (2009: 472) „nennen dieses Aufga-
benfeld das der Kontextualisierung der Erzählung.“ Das zweite
Aufgabenfeld ist die Vertextung: Hier geht es um die „(globa-
le) interne Struktur einer Erzählung“ (ebd.), d.h. die „Struktu-
rierung einer Erzählung um ein unerwartetes Ereignis, einen
Planbruch bzw. Konikt“ (ebd.) herum. Als letztes Aufgaben-
feld nennen die Autoren die (sprachliche) Markierung, bei der
es um „die Ebene der konkreten Formulierungen“ (ebd.) geht.
Mit Bezug auf die oben genannte Erzähldenition hat Becker
(2009) die von Ochs und Kapps (2001) vorgelegten Beschrei-
bungsebenen für Erzählungen für didaktische und entwick-
lungspsychologische Belange modiziert. Anhand dieser Be-
2 Vgl. u.a. Becker (2006b); Quasthoff et al. (2011); Schröder et
al. (2014).
312
Katrin Hee
schreibungsebenen können nicht nur die unterschiedlichen
Erzählformen eingestuft, sondern auch dazu genutzt werden,
die von Schülerinnen und Schülern zur Produktion dieser Er-
zählformen benötigte Kompetenzen und anschließend mögli-
che Förderkonzepte abzuleiten.3 Diese Beschreibungsebenen
sind: Erzählerschaft, Erzählwürdigkeit, Eingebundenheit (thema-
tische Integration), Linearität und Wertung (Ochs und Kapps
2001; Becker 2009).4 Knapp (2011: 39f.) unterscheidet folgen-
de Fähigkeiten, die als Handlungen beim Erzählen vollzogen
werden müssen: Orientieren, Wiedergabe von Ereignisfolgen,
Handlungslogische Zusammenhänge herstellen, Einbetten in über-
greifende Kommunikation, Strukturieren, Kontrastieren, Evalu-
ieren, Spannend und unterhaltsam erzählen. Bezieht man die in
Knapp (2011) sowie in Becker (2009) genannten Teildimensi-
onen respektive -kompetenzen5 auf das Erzählmodell nach
Labov und Waletzky (1973: 124), so ergibt sich folgendes Bild:
3 Für die Voraussetzungen für das mündliche Erzählen respektive
die dafür benötigten Kompetenzen siehe auch ausführlich Schel-
ten-Cornish (2008: 13).
4 Für eine ausführliche Darlegung siehe Becker (2009: 68ff.).
5 Auf eine ausführliche Darstellung der einzelnen Dimensionen
wird hier aus Platzgründen verzichtet. Sie sind in Becker (2009)
sowie Knapp (2011) dargestellt.
313
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Abb. 2: Erzählmodell; Grundmodell nach Labov und Waletzky
(1973: 124) erweitert durch Hee in Anlehnung an Knapp (2011), Be-
cker (2009) (vgl. zu Becker 2009 auch Ochs und Kapps 2001) sowie
Quasthoff (2009) (resp. Ohlhus und Stude 2009).
Die in dem Kreis eingeschlossenen Aspekte beziehen sich di-
rekt auf die von Labov und Waletzky (1973) herausgearbeite-
ten Erzählschritte. Struktur, Wiedergabe von Ereignisfolgen und
Linearität sind aus diesen globalen Schritten ausgelagert, da
sie – was durch den Kreis ikonisch darzustellen versucht wur-
de – auf die globale Struktur einer Erzählung, d.h. auf den ge-
samten Zyklus, bezogen sind.
Weiter ausgelagert sind diejenigen Aspekte, die sich nicht auf
die inhaltliche Struktur beziehen, sondern die sprachlichen As-
314
Katrin Hee
pekte einer Erzählung betreffen. Diese kommen in dem Mo-
dell von Labov und Waletzky (1973) nicht vor, gehören aber
dennoch zur Kompetenz, eine Erzählung zu produzieren – al-
lerdings auf einer anderen Ebene, was durch den Rahmen iko-
nisch darzustellen versucht wurde. Auf diese spezischen Er-
zähl-Kompetenzen wird im Folgenden zurückzukommen sein.
Für den schulischen Kontext ist ein wichtiges Ausbildungsziel,
die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, konzeptionell
schriftliche Erzählungen zu produzieren, d.h. Erzählungen, die
in der rechten Spalte in Abb. 1 zu verorten sind. In diesem Bei-
trag wird daher Erzählen mit Blick auf den hier interessieren-
den schulischen Kontext zusammenfassend als die Fähigkeit
verstanden, einen monologisch strukturierten, linearen, kohäsiven
und kohärenten, erzählwürdigen Text affektiv-involvierend und lite-
ral markiert zu produzieren.
Daraus ergeben sich folgende Dimensionen des Erzählens, aus
denen Teilkompetenzen der Erzählfähigkeit abgeleitet werden
können:
Monologische Strukturiertheit: Hierunter ist die Fähigkeit zu ver-
stehen, eigenständig einen längeren Redebeitrag zu verfassen.
Dazu gehören u.a., das Gegenüber für diesen längeren Beitrag
als Zuhörer zu gewinnen (z.B. in Form eines tickets), die Etab-
lierung eines Verstehens-Kontextes (Abstract) sowie die Los-
lösung vom interaktiven, dialogischen Erzählen hin zu einem
geplanten längeren monologischen Gesprächsbeitrag.
Lineare Strukturiertheit: Diese Dimension bezieht sich auf die
Vertextung bzw. die Struktur des Textes. Es geht darum, die
Ereignisse in chronologischer Reihenfolge und aufeinander
bezogen darzustellen sowie den Text als Ganzes um ein un-
gewöhnliches Ereignis/den Planbruch herum zu organisieren.
Kohäsivität und Kohärenz: Diese Dimension bezieht sich auf
sprachliche und konzeptuelle Zusammenhänge. Kohäsivität
drückt sich durch grammatische Verknüpfung sprachlicher
315
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Komponenten an der Textoberäche aus. Kohärenz bezieht
sich dagegen auf die Tiefenstruktur, d.h. den inhaltlich-kon-
zeptuellen Zusammenhang eines Textes.
Erzählwürdigkeit: Unter dieser Dimension ist die Fähigkeit zu
verstehen, aus verschiedenen Ereignissen dasjenige als zu Er-
zählendes auszuwählen, das einen Gegensatz zum normal cour-
se of events enthält, d.h. einen Planbruch oder ein ungewöhnli-
ches Ereignis aufweist.6
Affektive Involvierung: In dieser Dimension geht es nicht etwa
um die subjektive Begeisterung des Erzählers für seine Erzäh-
lung („emotionale Involviertheit“, Pohl 2007: 78). Eine emo-
tionale Beteiligung des Erzählers kann im Gegenteil negative
Auswirkungen auf die Erzählung haben, da es „zu einer Ver-
mengung innerhalb des Textsortenbezugs kommt (erzählen1
im Sinne Ehlichs)“ (Pohl 2007: 79). Vielmehr soll durch eine
narrative Dramatisierung, d.h. z.B. den textsortenspezischen
und -funktionalen Einsatz emotionaler sprachlicher Markierer
die Involvierung des Hörers („Emotionale Involvierung“, Pohl
2007: 79) erreicht werden.7
6 In der Forschung zu mündlichen Erzählungen wird nicht zwischen
Planbruch und Pointe unterschieden, obwohl das m.E. durchaus
sinnvoll erscheint. Betrachtet man beispielsweise die Bilderge-
schichte vom Fahrradunfall des „kleinen Herrn Jakob“ mit einer
anderen Person, so wäre der sprachlich zu etablierende Planbruch
der Zusammenprall der beiden Radfahrer. Die Pointe hingegen,
dass der kleine Herr Jakob aus den kaputten Rädern ein Tandem
baut, mit dem die beiden Verunfallten dann weiter fahren kön-
nen, muss in einem weiteren Schritt ausgeführt werden und stellt
eine eigene Anforderung dar. In Untersuchungen zu schriftlichen
Erzählungen wird diese Differenzierung vorgenommen (vgl.
z.B. Augst et al. 2007: 52).
7 Entsprechend ist in der Darstellung der Entwicklung emotionaler
Markierer nach Pohl (2007: 78f.) die „emotionale Involviertheit“
die erste, die der „emotionalen Involvierung“ die letzte Phase.
316
Katrin Hee
Literale Markiertheit: Literale Markiertheit meint eine Orien-
tierung an konzeptioneller Schriftlichkeit. Dies ist einerseits
bezogen auf konzeptionell schriftliche Struktur- und Aus-
drucksformen, aber auch auf eine für die Erzählung adäquate
Tempusmarkierung (für die meisten schulischen Erzählformen
das Präteritum). Becker (2009: 71) weist darauf hin, dass auch
der erzählerisch-funktionale Einsatz der Prosodie dieser Di-
mension zuzuordnen ist.
Auf diese Teilfähigkeiten werde ich exemplarisch bei den spe-
zischen Herausforderungen von Kindern mit besonderem
Förderbedarf sowie bei den anzusetzenden Förderkonzepten
zurückkommen.
2.2 Modellierung der Entwicklung der Erzählkompetenz allgemein
In der Forschung zur Erzählentwicklung dominieren zwei For-
schungsansätze: der kognitionspsychologische (Boueke und
Schülein 1991) sowie der interaktive nach Hausendorf und
Quasthoff (1996). Auch wenn beide von unterschiedlichen An-
sätzen ausgehend verschiedene Settings zur Untersuchung der
Erzählentwicklung wählen, kommen sie zu recht einheitlichen
Ergebnissen hinsichtlich der Erzählentwicklung. Kinder erzäh-
len zunächst, indem sie isolierte Äußerungen bruchstückhaft
und assoziativ-unverbunden aneinanderreihen (Phase der
„isolierten Ereignisse“ nach Boueke und Schülein 1991: 79). In
einem nächsten Schritt werden die Ereignisse in einer „linea-
ren Verknüpfung“ (ebd.: 79) temporal miteinander verbunden,
ohne dass Hinweise auf Absichten der handelnden Personen
oder auf die Ursache von Ereignissen gegeben werden. Ein ty-
pisches sprachliches Verknüpfungselement einer solchen Er-
zählung ist und dann. Der entscheidende Schritt zur Produktion
einer Erzählung erfolgt auf der nächsten Stufe der „handlungs-
logischen und strukturieren Texte“ (ebd.: 79f.): Hier ist zum
ersten Mal die Besonderheit einer Erzählung, der Planbruch
317
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
oder der Gegensatz zum normal course of events, herausgearbei-
tet, wodurch einzelne Teile unterschiedlich gewichtet werden.
Auch werden die Zusammenhänge für den Zuhörer verständ-
lich gemacht. In einem letzten Entwicklungsschritt („narrativ
markierter und strukturierter Text“, ebd.: 80f.) werden die
Texte zudem noch affektiv markiert, d.h. der Text wird nach
ästhetischen Gesichtspunkten angereichert und für den Hö-
rer interessant, d.h. narrativ-dramaturgisch gestaltet. Das Er-
zählschema nach Labov und Waletzky (1973) wird allerdings
z.T. noch unvollständig realisiert. Diese vierte und letzte Stufe
wird von den meisten Schülerinnen und Schülern am Ende der
vierten Klasse erreicht. Für didaktische Interessen von Bedeu-
tung ist, dass diese Fähigkeiten stark von der Erzählform (s.o.)
abhängen und daher z.B. bei Erlebniserzählung und Fantasieer-
zählung ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können (Becker
2005; 2009). So ist vor Schulbeginn die Erlebniserzählung als
„alltagssprachlich vermittelte Erzählung[.]“ (Becker 2006a: 62)
die Erzählform, in der die erzählerischen Fähigkeiten der Kin-
der am weitesten entwickelt sind.
Ein für die Erzählung charakteristisches und konstitutives
Merkmal, das sie auch von anderen verwandten Formen
wie dem Berichten unterscheidet, ist der Planbruch bzw. die
Evaluation (vgl. auch Feilke 2013: 4). Die Fähigkeit, diesen Plan-
bruch sprachlich zu markieren, entwickelt sich zunehmend in
der Grundschulzeit.
Diese Fähigkeiten sollen im nächsten Kapitel näher beleuchtet
werden.
318
Katrin Hee
2.3 Entwicklung pragmatischer und textgrammatischer Kompe-
tenzen am Beispiel ‚Erzählen‘ im gestörten und ungestörten
Spracherwerb
Um Geschichten zu erzählen, muss ein Sprecher in der Lage
sein, Zusammenhänge zu erkennen und darzustellen, die äuße-
re und innere Dimension eines Handlungsablaufs zu versprach-
lichen, die eigene Haltung zu markieren und sich auf den Hörer
auszurichten. Dies erfordert Fähigkeiten, die über die Fähigkeit
zur Bildung grammatisch korrekter Sätze hinausgehen, da die
Herstellung von Bezügen zwischen Sätzen notwendig ist. Die
Erwerbsaufgabe für das Kind ist es somit, Texte bzw. Erzäh-
lungen zu konstruieren, die nachvollziehbar gegliedert sind
und sich durch die Verwendung spezischer sprachlicher Mit-
tel auszeichnen. Wichtige textstrukturelle Funktionen sind die
Makrostruktur, die Mikrostruktur und die Erzählperspektive
(Kauschke 2012: 108f.).
Textgrammatische Kompetenzen sind deshalb relevant für das
Erzählen, da offensichtlich ein Zusammenhang zwischen ihrer
kompetenten Verwendung und der Fähigkeit, Erzählungen
zu produzieren, besteht.8 Ringmann und Siegmüller (2013: 46)
fanden in ihren Untersuchungen zu Erzählfähigkeiten von
Kindern mit unauffälligem und gestörtem Spracherwerb he-
raus, dass u.a. das „Fehlen von exiblen Vorfeldbesetzungen
und korrekten Nebensätzen […] sich in der Zukunft als kriti-
scher Vorläufermarker für die Entwicklung auf Textebene he-
rausstellen [könnte]“; dies könnte darauf hindeuten, dass „die
syntaktische Entwicklung eine Vorbedingung für die Entwick-
lung der Erzählfähigkeit ist“ (Ringmann 2013: 169).9
8 Vgl. die Studie von Bihop und Donlan (2005) sowie Ringmann
und Siegmüller (2013), ref. nach Ringmann (2013).
9 Auf andere, ebenfalls für das Schreiben von Texten relevante Stö-
rungen wie solche im Bereich der Wortschatzentwicklung oder
an der Schnittstelle der Ebenen Semantik-Lexikon und Syn-
319
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Auch im gestörten Spracherwerb lassen sich Regelhaftigkeiten
erkennen, die für die Förderung von Kindern mit Sprachent-
wicklungsstörungen bedeutend sind. So konstatiert Löfer
(2011: 93), dass sich „Kinder […] grammatische Strukturen in
meist ähnlicher Reihenfolge an[eignen] und „Kinder mit Stö-
rungen im Grammatikerwerb bilden keine völlig abstrusen
Sätze.“, d.h., dass sich auch in den Abweichungen Strukturen
erkennen lassen. Vielmehr lassen sich gerade mit Blick auf die
text- und satzgrammatischen Störungen systematische Ent-
wicklungsverläufe und Problembereiche aufzeigen.
Text- und satzgrammatische Abweichungen treten bei Schü-
lerinnen und Schülern mit SSES vor allem gegen Ende des
Kindergartens bzw. in der Grundschule auf (Siegmüller und
Kauschke 2006: 152; Ringmann und Siegmüller 2013: 38). Dies
ist auch genau die Zeit, in der sich dominant die Entwicklung
der Erzählfähigkeit vollzieht. Dass diese Störungen auch von
Laien erkannt werden können (Ringmann 2013: 272), bringt
auf der einen Seite den Nachteil mit sich, dass sie auch außer-
halb der Schule von anderen bemerkt werden, hat aber gleich-
zeitig den Vorteil, dass sie auch in einem inklusiven Unterricht,
in dem die Lehrperson nicht speziell für den Unterricht mit
Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf im
Bereich der sprachlichen Entwicklung ausgebildet ist, erkannt
und darauf aufbauend gezielte Fördermaßnahmen entwickelt
werden können. Die Auffälligkeiten können sich auf Makro-
und/oder Mikroebene zeigen; es können, müssen aber nicht
beide Bereiche betroffen sein (ebd.). Typische Auffälligkei-
ten von SSES-Kindern auf Mikroebene sind u.a. die geringere
kohäsive Textverknüpfung (Strong und Shaver 1991), vor al-
lem mit Blick auf kohäsive (teils auch falsch verwendete) Kon-
junktionen (Liles 1987; 1985; Miranda et al. 1998; Finestack et
tax-Morphologie (vgl. Siegmüller und Kauschke 2006) kann hier
aus Platzgründen nicht eingegangen werden.
320
Katrin Hee
al. 2006) und der nicht-adäquate Einsatz von Referenten (No-
minalphrasen und Pronomina) (Pfeffer 2015: 21; Schneider et
al. 1997, ref. nach Ringmann 2013: 173). Bei Kindern mit kom-
pensiertem Dysgrammatismus wird vor allem die Verwen-
dung von Nebensätzen bzw. die exible Besetzung des Vorfel-
des zur Herausforderung (Siegmüller und Ringmann 2013: 42).
Dies führt dazu, dass Aussagen lediglich aneinander gereiht
werden:
Eine gewichtete Geschichte zu erzählen, in der Problem, Hand-
lung und Konsequenz kausal aufeinander bezogen werden […],
ist diesen Kindern nur eingeschränkt möglich“ (ebd.).
Auf Makroebene zeigen sich vor allem Probleme bei der „Selek-
tion von Fakten“ (Pfeffer 2015: 18), der Verknüpfung des Textes
durch einen ‚roten Faden‘ (Pfeffer 2015: 18 u. 21), der einheitli-
chen Verwendung einer Tempusform (Pfeffer 2015: 21) sowie
der „Strukturierung der Geschichte um das ‚Problem‘ herum“
(Siegmüller und Ringmann 2013b: 39 u. 43).
Mikro- und Makroebene können in unterschiedlichem Ausmaß
betroffen sein. So zeigen Girolametto et al. (2001; zitiert nach
Ringmann und Siegmüller 2013: 38) in einer Untersuchung
von ehemaligen Late Talkern, dass diese zwar auf Satzebene
mit Gleichaltrigen vergleichbar waren, allerdings auf text-
grammatischer Ebene Abweichungen zeigten (zu ähnlichen
Ergebnissen kommen Fey et al. 2004, zitiert nach Ringmann
und Siegmüller 2013: 38f.). Insgesamt plädieren Ringmann
und Siegmüller (2013) dafür, dass bei Kindern mit SSES satz-
und textgrammatische Kompetenzen getrennt voneinander be-
trachtet werden sollten, da (a) trotz ausgebauter Fähigkeiten
auf Satzebene dennoch Probleme auf der Textebene vorliegen
können (vgl. Pfeffer 2015: 18) sowie (b) die Weiterentwicklung
auf Satzebene nicht unbedingt auch eine auf Textebene bedeu-
te. Einer Studie von Hesketh (2004) zufolge konnten Kinder
mit SSES bestimmte Satzstrukturen zwar auf Satzebene, die
321
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
gleichen Strukturen allerdings nicht auf Textebene realisieren
(vgl. Pfeffer 2015: 18). Dennoch müsse nach Ringmann und
Siegmüller (2013) zunächst die satzgrammatische Ebene aus-
gebildet sein, um textgrammatische Fähigkeiten zu erwerben,
was bei einer Förderung unbedingt zu beachten sei.
Zusammengefasst lassen sich die pragmatischen und text-
grammatischen Schwierigkeiten bei Erzählungen folgenden
Dimensionen respektive Komponenten einer Erzählung zu-
ordnen (Förderbedarfe rot markiert):
Abb.3: Pragmatische und textgrammatische Schwierigkeiten beim
Erzählen
322
Katrin Hee
3 Erzählen im inklusiven Unterricht: didaktische Ansätze
und Fördermöglichkeiten
Inklusiver Unterricht ist mehr als die Integration von Kindern
mit sonderpädagogischen Förderbedarfen in den Unterricht
(vgl. Amrhein und Reich 2014: 33). Im Rahmen dieses Beitrages
liegt der Schwerpunkt allerdings auf Menschen mit Behinde-
rung (ebd.) und fokussiert auf Kinder mit dem Förderschwer-
punkt Sprache.
Betrachtet man nun die in Kapitel 1 und 2 genannten „komple-
xen kognitiven und kommunikativen Anforderungen“ (Rie-
gert und Thäle 2015: 318), die das Erzählen erfordert, drängen
sich mit Blick auf einen inklusiven Unterricht die Fragen auf,
(a) was Erzählen fachdidaktisch im Kern ausmacht, welche As-
pekte also allen Schülerinnen und Schülern vermittelt werden
sollten, und (b) wie diese zu erwerbenden Fähigkeiten metho-
disch so aufbereitet werden sollten, dass alle Schülerinnen und
Schüler einbezogen werden (vgl. ebd.). Das folgende Kapitel
widmet sich diesen beiden Fragen.
Aus fachdidaktischer Sicht scheint es zunächst sinnvoll, von
den beiden o.g. Erzählformen erzählen1 und erzählen2 auszuge-
hen. Erzählungen können entsprechend auf einem Kontinuum
zwischen diesen Polen formuliert werden. Dies ermöglicht
es, gerade in einem heterogenen Lernerfeld, unterschiedliche
Wege zum Verfassen einer Erzählung zuzulassen und so in-
klusives Lernen zu ermöglichen. So können diejenigen Kinder,
die bereits ausgebaute erzählerische Fähigkeiten mitbringen,
bspw. stärker an monologischen Strukturen arbeiten, während
Kinder, die noch Unterstützung benötigen, im Sinne eines Scaf-
foldings einen erwachsenen oder kompetenten Erzählpartner
zur Seite haben. Mit diesem können sie an dialogischen Erzäh-
lungen arbeiten und von ihm Unterstützung durch z.B. Rück-
fragen, die auch Strukturierungshilfen sein können, erhalten.
Darüber hinaus scheint es m.E. durchaus sinnvoll, Erzählen
323
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
nicht nur als verbale Tätigkeit zu fassen, sondern auch non-
und paraverbale Fähigkeiten einzubeziehen. So könnten bspw.
ikonische Gesten durchaus zur Gestaltung eines Höhepunktes
genutzt werden. Eine Erweiterung des Erzählbegriffes in die-
sen Punkten ermöglicht es, die Bedürfnisse und Voraussetzun-
gen der einzelnen Schülerinnen und Schüler gerade in einem
inklusiven Unterricht zu berücksichtigen. Ebenfalls positiv auf
den Erzählerwerb wirkt sich – auch für Kinder im ungestörten
Spracherwerb – eine Fokussierung auf spezische und über-
schaubare Teilkompetenzen statt auf einer vollständigen und
komplexen Höhepunkterzählung aus (Feilke 2013: 8). Diese
Fokussierung auf Teilkompetenzen scheint daher gerade für
Kinder mit besonderen Förderbedarfen sinnvoll. Als Teilkom-
petenzen können beispielsweise die zur Realisierung der oben
genannten Bestandteile einer Erzählung notwendigen Fähig-
keiten verstanden werden. Daher sollen im Folgenden – vom
Gegenstand ausgehend – Fördermöglichkeiten für Kinder mit
und ohne Förderbedarf aufgezeigt werden, die jeweils auf die
konstitutiven Merkmale (Teilkompetenzen) einer Erzählung
bezogen sind. Die für die Realisierung der jeweiligen Teilkom-
petenzen relevanten sprachlichen Fähigkeiten sind für alle
Kinder gleichermaßen relevant und eignen sich daher für einen
inklusiven Unterricht in heterogenen Klassen.
3.1 Monologische Strukturiertheit
Geht man vom natürlichen Spracherwerb aus, so scheint das
Scaffolding durch einen Erwachsenen auch beim Erwerb der
Erzählfähigkeit eine wichtige Rolle zu spielen:
Zuerst sind Interaktionsfähigkeit [sic!] zu fördern, dann kommt
nach und nach und von selbst und angeleitet die kognitive Fä-
higkeit der Realisierung, Detaillierung, Gestaltschließung, Re-
levanzorientierung hinzu und Erzählaufgaben, die vorher nur
mit Zuhörerhilfe lösbar waren, können selbstständig gelöst
werden“ (Abraham 2008: 49).
324
Katrin Hee
Schröder et al. (2014: 230) stellen für Kinder mit besonderem
sprachlichen Förderbedarf mit Blick auf die globalstrukturelle
Dimension (Kontextualisierung) fest,
dass Kinder mit SES von der Zuhörerunterstützung zwar pro-
tieren können, aber weitere Hilfen für die Entwicklung der
interaktiven Selbständigkeit benötigen.
Im Bereich der Kontextualisierung respektive der Etablierung
eines Abstracts kann dies beispielsweise durch die Ko-Kon-
struktion eines Kontextes (z.B. durch den Aufbau eines Wo-
chenmarktes im Klassenzimmer als mehr oder weniger ‚realer‘
Kontext für eine ktive Erzählwelt) und eine anschließende Be-
lebung des Kontextes geschehen, indem dieser „räumlich, sen-
sorisch und semantisch erschlossen“ (Schröder et al. 2014: 233)
wird. Förderlich besonders „für Kinder mit sozialen Risiken
oder Sprachentwicklungsstörungen“ (Quasthoff et al. 2011: 19)
scheint auch das Dialogische Bilderbuchlesen zu sein.10
Auch die Auswahl des Erzähltyps kann Kindern hier eine
Hilfestellung geben. So können sich die Kinder nach Wie-
ler (2013: 256) bei Nacherzählungen und Fantasiegeschichten
„besser von der interaktiven Steuerung durch erwachsene
Partner lösen […] als bei Erlebnisgeschichten“. Ohlhus und
Stude (2009: 476) konstatieren, dass der „Grad an interaktiver
Unterstützung in mündlichen Erlebniserzählungen höher, als
er es in den Phantasieerzählungen ist“. Daher scheinen Nach-
erzählungen und Fantasieerzählungen besser geeignet zu sein,
um die monologische Strukturiertheit einer Erzählung einzu-
üben.11
10 Vgl. ausführlich zum Dialogischen Bilderbuchlesen Quasthoff et
al. (2011: 17ff.).
11 Dieser Befund gilt allerdings nur für den ungestörten Spracher-
werb und müsste empirisch auch für Kinder mit sonderpädago-
gischem Förderbedarf untersucht werden; auf Grund der bisher
sonst aber relativ ähnlichen Förderansätze im gestörten wie un-
325
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
3.2 Lineare Strukturiertheit
Nach Schröder et al. (2014: 230) lässt sich mit Blick auf die glo-
balsemantische Dimension (Vertextung)
[f]ür die Förderung der Kinder mit SES […] schließen, dass sie
sowohl bei der eigenständigen Produktion von Basisinformatio-
nen als auch bei der Verwendung von Informationen zu kogniti-
ven Konzepten anderer Personen Hilfen benötigen.
Auch hier scheint daher die Übernahme des Strukturierens
durch einen Erwachsenen (s.o.) sinnvoll. Für den gestörten
Spracherwerb stellen Ringmann und Siegmüller (2013: 37ff.) die
Rolle der Textgrammatik (vs. Satzgrammatik) für die Erzählfä-
higkeit heraus. Sie betonen, dass gerade die für Erzählungen
typische Makrostruktur einer Geschichte für Schülerinnen und
Schüler ein „Gerüst“ (S. 37), d.h. eine Hilfe sein kann, auf die
sie beim Erzählen zurückgreifen können. Diese Struktur mit
den Kindern zu erarbeiten, zu visualisieren und immer wieder
darauf zu verweisen, kann den Kindern helfen, nach und nach
eigenständig linear-strukturierte Erzählungen zu verfassen,
und eignet sich daher für Schülerinnen und Schüler mit und
ohne Förderbedarfe in einem gemeinsamen Unterricht. Mit
Blick auf die zwei unterschiedlichen Erzählungstypen nach
Wagner (1986) bietet es sich an, mit Geechtserzählungen zu
beginnen, da diese näher an der Mündlichkeit orientiert sind,
die Höhepunkterzählungen dagegen eher durch die Schrift-
lichkeit afziert sind.
gestörten Spracherwerb (vgl. z.B. das Scaffolding durch interakti-
ves Erzählen) wird hier zunächst davon ausgegangen, dass auch
Kinder mit Förderbedarf von Fantasiegeschichten protieren
können (vgl. auch die gelungene Fantasieerzählung eines Jungen
mit Schwierigkeiten auf allen sprachlichen Ebenen in Löfer 2011:
112f.). Zudem kommt auch Wieler (2013) in ihrer Untersuchung
von Kindern mit Migrationshintergrund zu den gleichen Ergeb-
nissen.
326
Katrin Hee
Als Erzählanlass wird in der fachdidaktischen Literatur für den
ungestörten Spracherwerb die Bildergeschichte durchaus sehr
kritisch gesehen (u.a. Bredel 2001: 4; Becker 2011: 199), da sie
Kinder bis zu einem Alter von sechs Jahren kognitiv überfor-
dere. Siegmüller und Kauschke (2006: 153) dagegen schlagen
für Kinder mit Förderbedarf vor, die Episoden einer Bilder-
geschichte als Bilder auszuteilen und diese ordnen zu lassen.
Da hier keine Geschichte produktiv-verbal formuliert werden
soll, scheint dies auch aus fachdidaktischer Sicht sinnvoll, um
zunächst überhaupt den Verlauf der Geschichte zu erarbei-
ten. Für diesen didaktischen Zweck scheinen Bildergeschichten
durchaus sinnvoll zu sein.
Für den Aufbau der Erzählstruktur können Symbole effektiv
genutzt werden. So schlagen u.a.12 Siegmüller und Kauschke
(2006: 153) vor, für die Erarbeitung der Makrostruktur einer
Erzählung mit den Kindern Symbole zu nutzen:
Diese können bei Schulkindern Schriftkarten mit kindgerech-
ten Ausdrücken (z.B. Start, Helden) sein oder bei Vorschulkin-
dern bildliche Symbole. Anhand einer Geschichte werden die
Symbole metasprachlich erklärt.13
Sinnvoll scheint auch ein Rollentausch zu sein: Dabei erzählt
das Kind die Geschichte, während der Erwachsene oder Mit-
schüler ohne Förderbedarf die Symbole der Makrostruktur der
12 Vgl. zur Symbolisierung der Erzählstruktur aber auch Schrö-
der et al. (2014: 236) sowie zum Aufbau der Makro-Struktur ei-
nes Märchens Siegmüller und Kauschke (2006: 178 ff.): Die Bild-
bzw. Schriftkarten zum Märchen werden zunächst vorgestellt,
anschließend wird das Märchen vorgelesen, wobei die Kinder die
entsprechende Karte zuordnen müssen; produktiv können die
Märchen ohne Bildmaterial für die Geschichte, aber mit Symbol-
karten für die Märchenstruktur verwendet werden.
13 Ein ausführlicher Beispielkasten zur Einführung und Verwen-
dung der Symbolkarten ndet sich in Siegmüller und Kauschke
(2006).
327
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
vom Kind erzählten Geschichte zuordnet. Bei einer Auslassung
oder Wiederholung kann der Erwachsene Rückmeldung geben
(vgl. Siegmüller und Kauschke 2006: 153). Dieses Setting ist als
Scaffolding konzipiert, d.h. im Laufe der Zeit wird die Unter-
stützung durch die Symbole immer stärker zurückgenommen.
3.3 Kohäsivität und Kohärenz
Typische Kohäsionsmittel sind Pronomen, Konjunktionen und
Temporaladverbien. Da Konjunktionen erst später erworben
werden als Pronomen, plädieren Siegmüller und Kauschke
(2006: 154) dafür, in der Förderung zunächst kohäsive Struk-
turen anhand der Pronomen und erst in einem zweiten Schritt
anhand der Konjunktionen durchzuführen. Zur Einübung von
Pronomen schlagen sie
Inputsequenzen [vor], bei denen verschiedene Referenten ein-
geführt werden, auf die im weiteren Verlauf durch eine Prono-
minalisierung verwiesen wird. (ebd.)
Dazu liest der Erwachsene oder ein Mitschüler ohne Förderbe-
darf eine Geschichte vor, während das Kind die entsprechen-
den Figuren hochhalten soll; der Referent soll dabei auch dann
erkannt werden, wenn nur das Pronomen genannt wird. Zur
Einübung der Verwendung von Konjunktionen schlagen die
Autoren vor, die temporalen Konjunktionen auszuagieren; die
kausalen können dagegen nicht ausagiert werden, und sind
folglich nur sprachlich produktiv möglich.
Ausgehend von der Annahme einer „Kontinuität im Spra-
cherwerb“, nach der Entwicklungen auf einer sprachlichen
Ebene (z.B. der Prosodie) den Erwerb auf einer anderen Ebene
(z.B. Wortstellungsregularitäten auf Ebene der Syntax) begüns-
tigen, bescheinigen Ringmann und Siegmüller (2013: 39f.) dem
prosodisch markierten Vorlesen positive Effekte auf Gram-
matik, der Syntax auf Textgrammatik. Entsprechend können
328
Katrin Hee
Erwachsene beim Vorlesen durch prosodisch markierte syn-
taktische Strukturen („prosodisches Bootstrapping“) die syn-
taktischen (textgrammatischen) Fähigkeiten fördern.
Auch im Bereich der Kohäsivität und Kohärenz scheint der
Erzählungstyp für die Realisierung der erzählerischen Fähig-
keiten eine Rolle zu spielen:14 Für die Kohäsion stellt Becker
(2011: 201) fest, dass es
[d]en Kindern […] bei den Phantasiegeschichten viel besser als
z.B. bei der Bildergeschichte [gelingt], Kohäsion herzustellen.
Auch im Bereich der Kohärenz sind
[f]iktionale Geschichten […] deutlich früher kohärent als Er-
zählungen selbst erlebter Geschichten. […] Dabei muss es nicht
um Drachen, Roboter und fantastische Welten gehen; gerade
auch Alltagsthemen können ktional entwickelt werden.
(Feilke 2013: 8).
Becker (2005: 24) zufolge eignen sich auch Erlebniserzählungen
gut, um einen Textzusammenhang herzustellen, da dort Prono-
men eindeutiger und angemessener verwendet werden, wäh-
rend Kindern dies bei der Bildergeschichte am schwersten fällt.
3.4 Erzählwürdigkeit
Diese Dimension scheint eine der am schwierigsten zu ver-
mittelnden Teilkompetenzen zu sein. Zumindest lassen diesen
Schluss erstens die oben genannten Erwerbsstufen im Erzähl-
erwerb, die den Ausbau der Erzählwürdigkeit vor allem in den
letzten beiden Stufen verorten, sowie zweitens der Blick auf
die wenigen Förderkonzepte für diesen Bereich zu. Nach Beck
und Hofen (1993: 217; zit. nach Bredel 2001: 4) helfen Bilder-
geschichten dabei, überhaupt erzählwürdige Ereignisse und
14 S. Fußnote 11.
329
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Stationen innerhalb einer Erzählung zu etablieren: Die Bilder-
folgen seien eine
Stütze bei der oft mangelnden Fähigkeit, aus einem Vorstel-
lungskomplex Wesentliches auszuwählen und sprachlich zu
fassen. Die Bilder einer Bildfolge lenken den Blick auf wesent-
liche Stationen des Erzählablaufs.15
Auch scheint zunächst das Erkennen des Planbruchs sowie in
einem zweiten Schritt ihre Verbalisierung eine sowohl kognitiv
wie auch sprachlich höchst anspruchsvolle Kompetenz zu sein.
Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Kinder erst in der
letzten der von Boueke und Schülein (1991) aufgestellten Stu-
fen im Erzählerwerb in der Lage sind, den Planbruch heraus-
zuarbeiten. Gleichzeitig gilt der Planbruch als das konstitutive
Merkmal einer Erzählung (u.a. Becker 2009: 70), das (gemein-
sam mit der affektiven Involvierung, die aber durchaus mit der
Erzählwürdigkeit verschränkt ist) eben genau den Unterschied
zwischen z.B. einem Bericht und einer Erzählung ausmacht.
Schröder et al. (2014: 234f.) berichten aus Erfahrungen in ihrem
bereits oben erwähnten Didaktisierungsvorschlag (Ko-Konst-
ruktion eines Kontextes, z.B. der Aufbau eines Wochenmarktes
im Klassenzimmer als Erzählkontext) davon, dass häug be-
reits in der Etablierung des Kontextes erzählwürdige Passagen
entstehen, die für Erzählungen genutzt werden können („To-
maten kullern von selbst herunter“).16 Diese könnten sonst aber
15 Vgl. aber die Befunde zu Bildergeschichten von Bredel (2001) und
Becker (2005; 2009; 2011), die den Einsatz von Bildergeschichten
durchaus höchst kritisch erscheinen lassen.
16 Inwieweit das Herunterkullern der Tomaten allerdings ein Ab-
weichen vom normal course of events darstellt, bleibt fraglich. Es
ließen sich sicher spannendere Ko-Kontexte etablieren, die mehr
Potential für ein ungewöhnliches Ereignis oder einen Planbruch
böten, wie z.B. ein plötzliches heftiges Gewitter auf dem Wochen-
markt oder das Zusammenbrechen des Marktstandes unter der
zu großen Last des Obstes und Gemüses etc.
330
Katrin Hee
auch leicht durch die Lehrperson vorgegeben werden („Ups!
Vielleicht hat er gar nicht so viel Geld dabei gehabt!“ Schröder
et al. 2014: 234). Sie plädieren in Bezug auf das gesamte Set-
ting als „räumlich, sensorisch und semantisch erschlossen[en]
Kontext“ (Schröder et al. 2014: 233) dafür, Missgeschicke und
Planbrüche spielen zu lassen.17 Dabei können Förderpersonen
zunächst eigene Erzählungen formulieren und so Modelle vor-
geben.
3.5. Affektive Involvierung
Die Dimension der Affektiven Involvierung ist – ähnlich wie
die der Erzählwürdigkeit, mit der sie höchst wahrschein-
lich auch verschränkt ist – am Ende des Erzählerwerbs an-
zusiedeln (vgl. den gestuften Erzählerwerb nach Boueke
und Schülein 1991).18 Für diesen Bereich lassen sich in der
sonderpädagogischen Literatur meines Wissens kaum För-
derkonzepte nden und auch in inklusiven Beiträgen wird nur
vereinzelt auf diese Dimension eingegangen. Schröder et al.
17 Vgl. zum didaktischen Nutzen von Rollenspielen im Erzähler-
werb auch Abraham (2008: 52) sowie Quasthoff et al. (2011: 126ff.)
(hier nden sich auch konkrete Fördermaterialien).
18 Pohl (2007: 77f.) verweist allerdings darauf, dass sich in den von
Boueke et al. untersuchten Daten „emotional geprägte Struk-
tur- und Ausdrucksformen“ erst in der letzten Stufe nden
lassen, da „Mimik, unterstützende Gestik und vor allem into-
natorisch-stimmliche Ausdrucksqualitäten“ nicht in die Tran-
skriptionen und damit auch nicht in die Analysen respektive das
Stufenmodell mit eingeossen sind. Andernfalls wäre eine „emo-
tionale Involviertheit“ (ebd.: 78) durchaus schon in früheren Er-
zählungen zu nden. Eine „emotionale Involvierung“ (ebd.: 79)
des Zuhörers dagegen ist auch in dem von Pohl dargestellten Ent-
wicklungsverlauf zur emotionalen Markierung die letzte Phase.
331
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
(2014: 231f.) weisen darauf hin,
dass die Relevanz und der kommunikative Sinn […] der Mar-
kierung des Planbruchs erst in ihrer funktionalen Verwendung
für die Kinder erfassbar wird, so dass diese nur im Handlungs-
oder Diskurskontext geübt und erworben werden können.
Dies bedeutet für schulische Lernsettings, dass authentische
Erzählsituationen geschaffen werden sollten, in denen die Zu-
hörerinnen und Zuhörer nicht wie bei der Vorlage einer Bilder-
geschichte die Erzählung und damit die Pointe bereits kennen,
sondern eine echte Zuhörerrolle innehaben.
Aus fachdidaktischer Sicht wird hier dafür plädiert, vor allem
in inklusiven Konstellationen die Modalität der Affektmarkie-
rung zu erweitern. So stellt Quasthoff (2009: 93) für Kinder im
ungestörten Spracherwerb fest:
Die Kinder nutzen in den konversationellen Erlebniserzäh-
lungen vor allem Ressourcen ihres Körpers, um erzählerische
Höhepunkte dramatisierend zu gestalten. Dazu gehören neben
prosodischen Markierungen und Onomatopoetica insbesonde-
re ikonische Gesten. Diese visualisieren Ereignisse oder Aspek-
te von Ereignissen, die tatsächlich stattgefunden haben und die
die Kinder somit vermutlich vor ihrem inneren Auge haben.
Aber auch in den Fantasieerzählungen verwenden die Kinder
häug ikonische Gesten, um ihre Erzählungen zu dramatisie-
ren. Hier werden Gesten ebenfalls hochgradig funktional ver-
wendet, um die geschilderten Ereignisse in einer Art Deixis am
Phantasma zu verbildlichen und in Szene zu setzen. Ikonische
Gesten konstituieren hier also Fiktionalität.
Und auch Abraham (2008: 52) weist darauf hin, neben der
verbalen unbedingt auch die para- und nonverbale Ebene zu
berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund scheint es – gerade
in heterogenen Lerngruppen sowie bei Kindern mit Förder-
bedarf – besonders sinnvoll, die Dimension der Markierung
um multimodale Elemente zu erweitern und eben auch Pro-
sodie, Gestik und Mimik als Affektmarker von Erzählungen
332
Katrin Hee
einzuüben. Entsprechend könnte beispielsweise im Bereich
der Affektivität bei fortgeschrittenen Kindern die verbale Aus-
drucksfähigkeit in den Blick genommen werden, während z.B.
Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache die Affektivität
durch gestische und mimische Mittel sowie Symbolkarten o.Ä.
ausdrücken könnten. Die so entstandenen Erzählungen sollten
dabei gleichberechtigt in einem die Unterrichtseinheit abschlie-
ßenden „Erzählforum“ vorgestellt und gewürdigt werden.
Zur Involvierung der Zuhörerinnen und Zuhörer respekti-
ve zur affektiven Gestaltung einer Erzählung tragen u.a. ab-
wechslungsreiche syntaktische Strukturen bei, während dies
durch die monotone Verwendung eines einheitlichen Satzbaus
verhindert wird. Eine Herausforderung bei der textgramma-
tischen Markierung bzw. der affektiven Ausgestaltung von
Erzählungen zeigt sich bei Kindern mit besonderem Förderbe-
darf häug in der Vorfeldbesetzung. Diese Position wird von
Kindern mit Sprachschwierigkeiten oftmals nicht besetzt, so
dass Aussagen lediglich „monoton“ aneinandergereiht werden
und durch eine ausbleibende Variation der Syntax keine Ge-
wichtung bzw. keine Markierung der Geschichte erfolgt. Zur
Förderung dieses Aspekts schlagen Siegmüller und Kausch-
ke (2006: 170) vor, zunächst metasprachlich zu klären, was
„Agens“, „Thema“, „Verb“, „langer Satz“, „kurzer Satz“ sowie
„vorn im Satz“ ist. Die Begriffe werden anhand von Symbol-
karten erarbeitet. Die Festigung erfolgt, indem das Kind in Sät-
zen mit unterschiedlichen Verbpositionen das Verb bestimmen
soll. Abschließend können anhand der Symbolkarten mit den
Kindern Variationen im Satzbau eingeübt werden.
3.6 Literale Markiertheit
Beim Ausbau literaler Fähigkeiten hat im ungestörten Sprach-
erwerb das Diktierende Schreiben (Merklinger 2010) große Er-
folge gezeigt. So können Kinder im vorschulischen Bereich an
333
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
konzeptionell-schriftliche Strukturen und Texte herangeführt
werden, indem sie einem erwachsenen Scriptor ihre Geschich-
ten diktieren, der sie wiederum bei seinem Schreibprozess lau-
tiert, um so die Langsamkeit des Schreibprozesses abzubilden.
Dadurch kommen die Kinder in eine Art „Schreibmodus“, in
dem sie ihre Formulierungen überdenken und verbessern und
so konzeptionell-schriftlichere Texte verfassen/diktieren. Die-
ses Konzept, das bisher nur für den ungestörten Spracherwerb
empirisch erprobt ist,19 könnte auch besonders gut für Kinder
mit dem Förderschwerpunkt Sprache geeignet sein.
Nach Quasthoff et al. (2011: 21) scheinen darüber hinaus häu-
ges Vorlesen (bestenfalls durch die Eltern, aber auch Mitschü-
ler) und passende Interaktions- und Instruktionsstrategien, die
von den Erwachsenen respektive Eltern oder geschulten Mit-
schülern angewendet werden, besonders geeignet zum Aus-
bau literaler Fähigkeiten.
Auch in diesem Bereich scheint eine Erweiterung von einer
rein verbalen Betrachtungsweise auf paraverbale Bereiche
didaktisch sinnvoll. So setzen im ungestörten Spracherwerb
bereits kleine Kinder eine Stimmenvielfalt respektive eine In-
szenierung fremder Stimmen als Mittel zur Unterscheidung
zwischen Erzähler- und Figurenstimmen ein:
Dreijährige sind im Prinzip in der Lage, in ihren Erzählungen
Figurendialoge prosodisch von narrativen Passagen abzuset-
zen. Mit fünf Jahren unterscheiden sie die übergeordnete Er-
zählerstimmen und Figurenstimmen problemlos. Mit sieben
bewältigen sie in der gesprochenen Sprache syntaktisch und
auch durch Pronomenwechsel die Überführung von Dialogen
in indirekte Redewiedergabe. (Kotthoff 2009: 46)
Diese paraverbale Inszenierung bzw. Markiertheit könnte in
heterogenen Lernklassen ebenfalls als literale Markiertheit ver-
19 Vgl. aber den Einsatz des Diktierenden Schreibens im Förderpro-
gramm DO-FINE (Quasthoff et al. 2011: 130 f.).
334
Katrin Hee
standen und entsprechend mit den Kindern eingeübt werden.
Kotthoff (2009) schlägt als Übungsmaterial Literatur-CDs vor,
in denen die Inszenierung fremder Stimmen als Modell dienen
kann.
Schröder et al. (2014: 235) schlagen ebenfalls vor, die literale
Markiertheit über Lernen am Modell zu fördern: So können die
Lehr- oder Förderperson, aber auch ggf. Mitschüler und Mit-
schülerinnen in dem oben beschriebenen Setting, in dem ein
Kontext „räumlich, sensorisch und semantisch erschlossen“
(Schröder et al. 2014: 233) ist, modellhaft die Außenperspektive
als Beobachter/-in einnehmen. Dies kann dadurch geschehen,
dass er/sie z.B. als Reporter/-in in der Szene auftaucht, der/
die einen Radiobericht verfasst und sprachlich darlegt, was
gerade geschieht. Später können die Kinder dann diese Rolle
übernehmen und werden „so allmählich in die Erzählrolle ein-
geführt“. Allerdings benötigen Kinder
[f]ür den Aufbau grammatischer Strukturen […] nicht nur
angemessene sprachliche Modelle in der Zielsprache (Input),
sondern vor allem viele Möglichkeiten, die Sprache anzuwen-
den, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern.
(Löfer 2011: 93)
Auch bei der Förderung der literalen Markiertheit scheint die
Auswahl des Erzähltyps eine Rolle zu spielen:
[D]ass Kinder sich bereits bei der mündlichen Produktion von
Nacherzählungen und Fantasiegeschichten besser von der in-
teraktiven Steuerung durch den Erwachsenen Partner lösen
können als bei Erlebnisgeschichten, […] lässt diese beiden Text-
sorten und Erzählgenres besonders geeignet erscheinen, „die
Erzähltätigkeit in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit zu för-
dern“. (Andresen 2009: 102; zit. nach Wieler 2013: 257)
Auch die Verwendung des Präteritums als literale Vergangen-
heitsform scheint durch Fantasieerzählungen gut zu gelingen
(vgl. Löfer 2011: 112f.).
335
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
3.7 Teilkompetenzen übergreifende Förderkonzepte
Bisher wurden Konzepte vorgestellt, die speziell zur Förderung
einzelner Teilkompetenzen beitragen können. Jenseits dieser
Konzepte nden sich in der Literatur auch andere, Teilkompe-
tenzen übergreifende Förderkonzepte respektive Methoden im
engeren Sinn, die m.E. eine Erwähnung verdienen.20
Ein großer Bereich lässt sich unter textfreien Medien subsum-
mieren. Wieler (2013) verweist in ihrer Untersuchung, in der
sie mehrsprachige Kinder anhand von Bildern Erzählungen
schreiben lässt, beispielsweise auf die kognitive Entlastungs-
funktion der Bilder, und das vor allem, aber nicht nur, für
Kinder, die Probleme mit dem Lesen haben. Auch der Einsatz
von Comics (Maack 2015) respektive Märchencomics (Riegert
und Thäle 2015), die ebenfalls auf einen schriftsprachlichen
Text verzichten, wird von den Autoren positiv dargestellt. Es
sollte dabei allerdings bedacht werden,21
dass Kinder zwischen sechs und acht Jahren im Allgemeinen
noch mit visuellen Reizen einen hohen kognitiven Aufwand
haben. Ein zu starker oder einseitiger Einsatz von Bildmateri-
al kann daher kontraproduktiv wirken. Oft wird nämlich zu
Gunsten der Bilder der sprachliche Anreiz vernachlässigt. Ge-
rade bei mehrsprachigen Kindern, die eventuell noch Dezi-
te im Lexikon aufweisen, kommt es dann zu Schwierigkeiten
bis hin zur Verweigerung. Sprachliche Vorlagen und Anreize
20 Vorschläge, Spiele und Übungen, die hier nicht näher themati-
siert werden, nden sich in Schelten-Cornish (2008), Schröder et
al (2014), Knapp (201) sowie Ringmann (2013). Weitere Vorschlä-
ge nden sich in Schröder et al. (2014: 235f.) zum modellhaften
Erzählen durch die Fachperson, Abraham (2008: 59-61) zu Phan-
tasiereisen sowie Maack (2015) zu veranschaulichenden Materia-
lien wie Stabpuppen.
21 Vgl. dazu auch die kritischen Ausführungen zum Einsatz von
Bildergeschichten weiter oben im Text.
336
Katrin Hee
können z.B. sein: Wortkärtchen, Reihenerzählungen, aber auch
Nacherzählungen oder Erzählkarten. (Becker 2006a: 69)
Ein weiterer Schwerpunkt in der Förderung der Erzählfähigkeit
kann in der teilweise auch bei den einzelnen Teilkompetenzen
bereits genannten Interaktivität bzw. Koproduktion einer Er-
zählung gesehen werden. Dieses Prinzip, das aus dem natür-
lichen Spracherwerb für die Sprachdidaktik (u.a. Hausendorff
und Quasthoff 1996) und Sonderpädagogik (u.a. Ringmann
2013; Löfer 2011) entdeckt und übernommen wurde, wird in
nahezu allen Beiträgen, die sich mit der Förderung des Erzäh-
lens im gestörten oder ungestörten Spracherwerb beschäfti-
gen, hochgehalten.22 So verweisen beispielsweise Anders und
Meissner (2015: 314f.) dezidiert auf das Potential koprodukti-
ven Erzählens in einem inklusiven Unterricht und auch Keim
(2009: 157) unterstreicht dies mit Blick auf mehrsprachige Kin-
der.23 Dieser Ansatz scheint mir sehr gut für einen inklusiven
Unterricht geeignet. So würde Heterogenität nicht als Hinder-
nis, sondern als Möglichkeit genutzt werden können, um in
Peer-to-Peer-Interaktionen die erzählerischen Fähigkeiten zu
verbessern. Maack (2015) dagegen stellt die positiven Effekte
von Peer-to-Peer-Interaktionen heraus: Durch die in den Schü-
ler-Tandems vertretene Erzähler- und Zuhörerrolle gibt es ei-
nen konkreten Adressaten und entsprechend eine echte Mo-
tivation, eine Geschichte zu erzählen.24 Gleichzeitig kann der
22 Vgl. u.a. Becker (2011); Kotthoff (2009); Löfer (2011); Ohlhus
und Stude (2009); Quasthoff (2009); Ringmann (2013); Schröder
et al. (2014); Siegmüller/Kauschke (2006).
23 Allerdings schränkt Keim ein, dass ein solcher Ansatz im regu-
lären Unterricht nicht durchführbar sei. Dies wäre allerdings zu
untersuchen.
24 Allerdings muss hier kritisch angemerkt werden, dass Maack von
einer Erzählung ausgeht, die allen Kindern in Form eines Comics
vorliegt. Ob es tatsächlich motivierend ist, sich eine Geschichte,
337
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Adressat durch Nachfragen den Erzählprozess unterstützen.
Ringmann (2013: 170) geht in ihrem Beitrag zur Therapie der
Erzählfähigkeit auf die „sechs Merkmale eines unbewusst ab-
laufenden, dialogischen Zusammenspiels zwischen Eltern und
Kindern“ nach Hausendorf und Quasthoff (1996) ein.25 Diese
impliziten, außerschulischen Mechanismen, in denen eine in-
tensive Auseinandersetzung zwischen Erwachsenem und Kind
gewährleistet ist, scheinen geeignet, sie in schulische Settings
zu übertragen. Wichtig dabei ist, dass der Erwachsene umso
mehr Aufgaben übernimmt, je weniger das Kind sich in die Er-
zählung einbringt. Quasthoff et al. (2011: 39) verwenden zur
Veranschaulichung die Metapher einer Wippe, die im Gleich-
gewicht bleiben muss.
Ein letzter großer Komplex im Bereich der Förderung der Er-
zählfähigkeiten scheint die reexive bzw. metakommunikative
Auseinandersetzung mit Erzählungen zu sein. So unterschei-
den Ohlhus und Stude (2009: 481ff.) bei der Förderung der
Erzählfähigkeiten zwischen der Reexion (z.B. gemeinsames
Nachdenken, was für eine Geschichte relevant sein könnte) und
dem Vollzug. Sie plädieren dafür, beides gleichermaßen zu be-
rücksichtigen und das jeweils auf den drei Ebenen Interaktion,
Modell, Instruktion; derart ergibt sich eine Kreuztabelle, die
zur Förderung auf unterschiedlichen Ebenen und durch unter-
schiedliche Methoden genutzt werden kann. Speziell für die
Förderung der Erzählfähigkeiten von Kindern mit besonderem
sprachlichem Förderbedarf weisen Siegmüller und Kauschke
(2006) in unterschiedlichen Bereichen immer wieder auf die Be-
deutung der Metakommunikation bzw. Reexion hin.
die man bereits kennt, anzuhören, ist stark zu bezweifeln. M.E.
sollte vielmehr gewährleistet sein, dass alle Schülerinnen und
Schüler eine eigene Geschichte erzählen und so eine authentische
Erzählsituation entsteht.
25 Vgl. zu den sechs Merkmalen ausführlich ebd.
338
Katrin Hee
4 Fazit und Ausblick
Es wurde zunächst Erzählen aus fachwissenschaftlicher und
fachdidaktischer Sicht bestimmt. In einem zweiten Schritt wur-
den ausgewählte Herausforderungen dargelegt, die bei Kin-
dern mit besonderen Förderbedarfen beim Erzählen auftreten
können. Auf dieser Grundlage wurden in einem dritten Schritt
didaktische-methodische Ideen und Konzepte vorgestellt, die
die für das Erzählen notwendigen Fähigkeiten unter Berück-
sichtigung einer heterogenen Lerngruppe fördern können.
Diese sollen im Folgenden auszugsweise knapp zusammenge-
fasst werden. Schließlich sollen Desiderata aufgezeigt und auf
(sich daraus ergebende) Perspektiven eingegangen werden.
4.1 Erzählen im inklusiven Unterricht
Soll Erzählen in einem inklusiven Unterricht mit einer hetero-
genen Lerngruppe vermittelt werden, ist es zunächst notwen-
dig, die aus fachdidaktischer Perspektive wesentlichen Kern-
aspekte des Erzählens herauszuarbeiten, um auf dieser Basis
allen Kindern einen Zugang zum Erzählen zu ermöglichen.
Mir scheinen hier durchaus die in der fachdidaktischen Lite-
ratur gängigen Teilkompetenzen eine brauchbare Grundlage
zu sein. Wichtig ist allerdings, diese für heterogene Lerngrup-
pen neu zu denieren bzw. eine Erweiterung ihrer Denition
vorzunehmen. So scheint es m.E. gerade für einen inklusiven
Unterricht notwendig, von einem erweiterten Erzählbegriff
(vgl. hierzu auch Anders und Meisner 2015: 314f.) auszuge-
hen, der auch dialogische Formen des Erzählens genauso wie
non- und paraverbale Elemente einschließt. Auf diese Weise
können allen Kindern die für das Erzählen konstitutiven Teil-
fähigkeiten vermittelt werden und dabei dennoch der jeweilige
Lernstand bzw. die Voraussetzungen der einzelnen Kinder in-
dividuell berücksichtigt werden.
339
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
Als besonders geeignete Konzepte mit inklusivem Lernpoten-
tial scheinen mir die interaktions- und ko-konstruktions-orien-
tierten Ansätze zu sein, da sowohl Kinder mit als auch ohne
Förderbedarf in besonderer Weise von ihnen protieren. Auch
das Diktierende Schreiben nach Merklinger (2010) verspricht
für einen inklusiven Unterricht großes Potential, da die He-
terogenität im Klassenzimmer genutzt werden kann: So kön-
nen in einer Peer-to-Peer-Interaktion z.B. stärkere Kinder die
Rolle des Scriptors übernehmen. Neben diesen stark interakti-
ven Strukturen stellen viele Ansätze die metakognitive Ausein-
andersetzung sowie die Darstellung mittels Symbolen heraus.
Auch diese Fördermaßnahmen scheinen mir für einen inklusi-
ven Unterricht besonders geeignet, da alle Kinder von diesen
Konzepten protieren können.
Desiderata und Perspektiven
Will man inklusiven Unterricht fachdidaktisch gestalten, ist es
zwingend notwendig, zunächst vom Gegenstand auszugehen
und diesen didaktisch für heterogene Lerngruppen aufzu-
bereiten. Eine Loslösung von der Sache/dem Gegenstand wird
mittlerweile in der fachdidaktischen Forschungslandschaft als
nicht sinnvoll eingeschätzt (vgl. Musenberg und Riegert 2015
sowie die Diskussionen rund um die Tagung der GFD in Ham-
burg 2015 und der daran anschließenden Tagung zur Inklusi-
on). Um den Gegenstand in den Mittelpunkt eines inklusiven
Unterrichts zu stellen und gleichzeitig allen Schülerinnen und
Schülern den Zugang dazu zu ermöglichen, ist es notwendig,
den jeweils fachdidaktischen Kern des Gegenstandes zu be-
stimmen. In diesem Beitrag wurde vorgeschlagen, für das Er-
zählen von den o.g. Teilkompetenzen auszugehen und diese
entsprechend der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler
neu zu denieren respektive weiter zu fassen. In einem en-
gen Austausch zwischen Sonderpädagogik und Fachdidaktik
müssten diese Überlegungen überdacht und ggf. verändert
340
Katrin Hee
werden. Außerdem müsste der fachdidaktische Kern für wei-
tere Unterrichtsgegenstände ermittelt und darauf aufbauend
Konzepte mit inklusivem Potential entwickelt werden. Gerade
für die oben vorgestellten Konzepte gilt, dass sie zum Großteil
entweder aus fachdidaktischen oder aus sonderpädagogischen
Kontexten stammen.26 Hier müssten Fachdidaktiker/-innen
und Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen zukünftig
gemeinsam über sinnvolle Lehr-Lern-Arrangements nachden-
ken.
Aus Forschungsperspektive ist zu konstatieren, dass „[e]ine in-
klusive Didaktik […] in Deutschland erst noch im Entstehen“
ist (Amrhein und Reich 2014: 31). Bedarf und Herausforderun-
gen sehen Amrhein und Reich (2014: 39f.) in der Grundlagen-
forschung im inklusiven Unterricht. Auch müsse die Rolle der
sonderpädagogischen Förderung fachübergreifend, aber auch
fachdidaktisch neu deniert werden. Insgesamt halten sie fest,
dass es „zu wenige Forschungsergebnisse“ (ebd.: 42) gibt. Ge-
rade was die empirische Überprüfung in inklusiven Settings
(wie beispielsweise eine Übertragung des Diktierenden Schrei-
bens nach Merklinger 2010) auf einen inklusiven Unterricht be-
trifft, gibt es m.E. derzeit keine Forschungsprojekte. Mit Blick
auf einen inklusiven Unterricht und die daraus resultierenden
Herausforderungen scheinen darüber hinaus eine stärkere
Zusammenarbeit und Kooperation und damit einhergehende
interdisziplinäre Forschungsprojekte zwischen Fachdidaktik
und Sonderpädagogik unerlässlich.
Es wurde in diesem Beitrag bei der Förderung der Erzählfä-
higkeit im inklusiven Unterricht für einen erweiterten Erzähl-
begriff plädiert, der sowohl dialogische Formen wie auch non-
verbale Elemente mitdenkt. Diesen Vorschlag gilt es nun im
Austausch zwischen Fachdidaktik und Sonderpädagogik zu
schärfen und zu konturieren und die entsprechenden Förder-
26 Vgl. aber das Förderprogramm DO-FINE.
341
Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören
angebote gemeinschaftlich zu überdenken. In einem zweiten
Schritt müssten diese konzeptuellen Überlegungen empirisch
überprüft werden.
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346
Matthias Knopp
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht – unter beson-
derer Berücksichtigung inklusiver Lehr-Lern-Kontexte
Matthias Knopp
Der folgende Beitrag fußt auf der grundlegenden Annah-
me einer zentralen – jedoch vernachlässigten Rolle – des
mentalen Lexikons für alle sprachlichen Lernprozesse in
der Erstsprache, auch in inklusiven Settings. Diese An-
nahme wird im Beitrag zunächst mit Bezug zur aktuellen
Forschungslage begründet. Die nachfolgende Explikation
der Struktur und der Funktionsweise des mentalen Lexi-
kons und seiner zentralen Einheiten aus Perspektive der
kognitiven Linguistik eröffnet drei sprachdidaktisch rele-
vante Perspektiven auf den Erwerb und die Erweiterung
des mentalen Lexikons: frühkindlicher Wortschatzer-
werb, Wortschatzvermittlung im erstsprachlichen Deut-
schunterricht, Wortschatzvermittlung im Unterricht für
DaZ oder DaF. Abschließend werden die Bedingungen
und Herausforderungen für die Wortschatzvermittlung
im inklusiven Deutschunterricht systematisiert und an-
hand bestehender didaktischer Modellierungen spezi-
ziert.
1 Einleitung
Wir wollen ihn. Wir brauchen ihn. Wir müssen ihn haben, den
Schatz! (Transkription M.K. aus Jackson 2002: 01:34:36)
Schatz kann vieles sein, z.B. ein Schmuckring, ein kubischer
Megatresor voller Goldmünzen, eine Menge an Erfahrung, die
Partnerin oder der Partner oder ein Inventar von Lexemen.
Hinsichtlich der letztgenannten Bedeutung weist Steinhoff
347
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
(2009a: 3ff) auf die Problematik der Metapher vom Wortschatz
hin. Auch im Kontext von Linguistik und Sprachdidaktik redu-
ziert diese Metapher Komplexität (übermäßig). Insbesondere
für den Bereich der Erstsprache (im Folgenden L1) erscheint
die Relevanz des Wortschatzes im Kopf (Aitchison 2012) ver-
gleichsweise unberücksichtigt respektive verborgen, so wie es
schließlich der Schatzmetapher inhärent ist.
Im folgenden Beitrag wird aus Perspektive der Sprachdidak-
tik und der Kognitiven Linguistik die These erörtert, dass eine
verstärkte Fokussierung auf den L1-Wortschatz während der
Schulzeit gerade für Schülerinnen und Schüler mit Förderbe-
darf gewinnbringend ist. Schließlich wurde vielfach darauf
hingewiesen, dass für den L1-Wortschatzerwerb im Schulal-
ter sowohl ein Forschungsdesiderat (vgl. Kleinbub 2011) als
auch ein Förderdezit bestehe (vgl. Steinhoff 2009a: 6): In der
Forschung liegt der Fokus vorrangig auf dem frühkindlichen
Wortschatzerwerb (vgl. z.B. Kauschke 2012), im Bereich der
Förderpraxis ist das Wortschatzlernen v.a. Gegenstand des
Bereiches Deutsch als Zweit- bzw. Fremdsprache (im Folgen-
den DaZ bzw. DaF; vgl. Philipp 2012; Feilke 2009; Steinhoff
2009a/b; Willenberg 2007, 2008). Dies ist aufs Ganze gesehen
erstaunlich, wenn man folgende Aspekte bedenkt:
a) Die Rolle des Wortschatzes ist überaus und (fächer)übergreif-
end relevant für sprachliche Lernprozesse. So steht dieser
z.B. in vielfältiger Wechselbeziehung zu anderen Basisqua-
likationen wie etwa der phonologischen oder der morpho-
logisch-syntaktischen (vgl. Ehlich, Bredel und Reich 2008)
und zeigt eine große Effektstärke (.67) auf den schulischen
Lernerfolg per se (vgl. Hattie 2013: 157f.). Gleichfalls be-
steht ein großer Zusammenhang zwischen Wortschatz und
Lesefähigkeiten (vgl. Artelt et al. 2007: 15f; Juska-Bacher
et al. 2016). Steinhoff bezeichnet den L1-Wortschatz als „Binde-
glied des Deutschunterrichts“ (2011: 4) bzw. als „Schaltestelle für
den schulischen Spracherwerb“ (2009a: 24).
348
Matthias Knopp
b) Ergebnisse empirischer Studien, z.B. DESI oder die Fallstudie
von Kilian und Isermann (2010), attestieren einer überraschend
großen Gruppe von Schülerinnen und Schülern mangelnde
Wortschatzkompetenzen: 40 % der in DESI getesteten Neunt-
klässler erreichen nicht das unterste Kompetenzniveau A
(= Kenntnis der häugsten Einträge im Grundwortschatz1;
vgl. Willenberg 2008: 76ff).
c) Das Konzept Bildungssprache (vgl. etwa Morek und Heller 2012)
schafft innerhalb der Institution Schule spezische Sprachan-
forderungen, die gutenteils über Anforderungen im Bereich der
Lexik bestimmt sind (vgl. ebd.: 73; Feilke 2012: 4; Komor und
Reich 2008).
Zum Inhalt meines Beitrags: Der ‚Schatz an Wörtern‘, über den
ein Individuum in sprachlich rezeptiver als auch produktiver
Hinsicht verfügt – bzw. verfügen soll, um erfolgreich und an-
gemessen an Kommunikation teilzuhaben –, ist im vorliegen-
den Beitrag zunächst Gegenstand theoretischer Betrachtungen.
Terminologische Unschärfen machen einleitend spezische Be-
griffsbestimmungen von Wort, lexikalischem Eintrag und menta-
lem Lexikon notwendig, die überdies zu einer Eingrenzung des
Gegenstandes Wortschatz beitragen (Kap. 2). Dieser theoreti-
schen und terminologischen Fundierung folgt der Versuch, die
unterschiedlichen sprachdidaktischen Perspektiven auf Wort-
schatz zu systematisieren (Kap. 3), um abschließend Bedingun-
gen der Wortschatzvermittlung in inklusiven Lehr-Lern-Kon-
texten zu spezizieren (Kap. 4).
1 Vgl. für eine kritische Perspektive auf das Konzept Grundwort-
schatz Merten 2011. Nach Kühn sind Grundwortschatzlisten
„wortschatzdidaktische Fossilien“ (2007: 161).
349
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
2 Bezugsgrößen: Wort, lexikalischer Eintrag, mentales
Lexikon
Man kann sich mit Hilfe von Wörtern verständigen, nicht aber
mittels grammatischer Regeln. Dennoch sind grammatische
Systeme und die Abfolge ihres Erwerbs weit besser erforscht
als der Wortschatz und der Wortschatzerwerb. Dabei sollte
doch klar sein, dass in jedem einzelnen Wort viel Grammatik
steckt. (Apeltauer 2010: 3)
Sprachliches Handeln ist komplex, es ist durchwegs situativ in
kommunikative Zusammenhänge eingebunden (soziale Kog-
nition; vgl. Rickheit, Sichelschmidt und Strohner 2002: § 6.1).
Struktur und Funktionsweise des Langzeitgedächtnisses (als
Ort der Wortspeicherung) sind aber wesentlich komplexer zu
konzeptualisieren, als es die Lexikon-Metapher von Pinker
(2011) u.a. mit ihrer Aufsplittung in eine Regelkomponente ei-
nerseits und das Lexikon andererseits nahelegt.
Mit Blick auf den Wortschatz eines Individuums ist zu fragen,
welche kognitiven Prozesse sich beim Zugriff auf den Wort-
schatz genau vollziehen, wie die Bedeutung von Wörtern im
Langzeitgedächtnis repräsentiert wird und wie diese jeweils
mit weiteren Informationen, z.B. über die graphematische oder
phonologische Gestalt eines Wortes, verknüpft ist.
Solche Fragen, die auch in den Kognitionswissenschaften noch
nicht hinreichend beantwortet sind (vgl. Rickheit, Weiss und
Eikmeyer 2010), erlauben gewissermaßen einen Blick in den
menschlichen Geist. In sprachdidaktischer Perspektive ist aber
vielmehr entscheidend, wie solche Wortschatzvermittlungs-
prozesse unterstützt werden können, denn „Wörter und Wen-
dungen sind zentral für das Verstehen von Äußerungen und
Texten“ (Feilke 2009: 6).
Ulrich bietet einen Überblick über verschiedene Impulse inner-
halb der Sprachdidaktik zur Stärkung der Rolle des Wortschat-
350
Matthias Knopp
zes im erstsprachlichen Unterricht (2011a: 20–23) und kommt
zu dem Schluss, dass die
Muttersprachendidaktik […] dies [d.h. die Beschreibung der
Strukturen und der Funktionsweise des mentalen Lexikons als
eine zentrale Aufgabe der Bezugsdisziplin Sprachwissenschaft;
M.K.] bisher kaum zur Kenntnis genommen [hat]. (Ebd.: 20)
Dies gilt meines Erachtens gleichermaßen für Spracherwerbs-
prozesse in inklusiven Unterrichtskontexten.
Einsichten der Kognitiven Linguistik in die Arbeitsweise und
Organisation des Wortschatzes helfen, Wortschatzvermitt-
lungsprozesse kohärent, erwerbsgerecht und am Verwen-
dungszusammenhang orientiert zu gestalten (vgl. Steinhoff
2009: 7). Sowohl der alltagssprachliche (in der Didaktik vorherr-
schende) Terminus Wortschatz als auch der fachwissenschaft-
liche Terminus Lexikon sind zu differenzieren (vgl. Schwarz
2008: 104ff.). Im Folgenden wird der Terminus Lexikon ver-
standen im Sinne von mentalem Lexikon. Diese Konzeption hebt
insbesondere auf die psychischen Aspekte der Verarbeitung
und Speicherung von lexikalischen Informationen ab (= Lexi-
kon3 nach Meibauer et al. 2015: 15f.).
Beim mentalen Lexikon geht man von variablen Zugriffen auf
die einzelnen Elemente aus: bei der Sprachproduktion etwa
über die Bedeutung eines Konzeptes (und folgend auf die pho-
netische/graphematische Form; siehe dazu im Detail Schwarz
2008: 208–237), bei der Sprachrezeption über die Formseite
(und nachfolgend die Bedeutung). Zugriffe können jeweils
über unterschiedliche der verbundenen Ebenen im mentalen
Lexikon erfolgen (vgl. Juska-Bacher und Jakob 2014). Zugriffe
können auch blockiert sein, wie Untersuchungen bei Aphasi-
kern zeigen (vgl. Aitchison 2012). Weitgehend unstrittig ist die
Annahme, dass das mentale Lexikon als ein dynamisches, sich
ständig weiter- und umstrukturierendes System zu verstehen
ist. Es ist vermutlich nach semantischen Feldern (neben ande-
351
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
ren Strukturformen, z.B. phonetischen) strukturiert, wie Asso-
ziationsexperimente belegen (vgl. Aitchison: 2012: § 8; Schwarz
2008: 223f.).
Strukturvorstellungen vom mentalen Lexikon lassen sich
grundsätzlich einteilen in serielle modulare Stufenmodelle und in-
teraktive, holistische Netzwerkmodelle (vgl. ebd.) respektive auto-
nome und interaktive Modelle (vgl. Schwarz 2008: 169ff). Aktuelle
Vorstellungen gehen von einer Art ‚neuronaler‘, aktivierbarer
Netzwerkstruktur des mentalen Lexikons aus (vgl. ebd.: 228f.;
Juska-Bacher und Jakob 2014: 55f.). Zentrale Einheiten sind
dabei die Wörter respektive Konzepte, d.h. „mentale Organisa-
tionseinheiten […], die die Funktion haben, Wissen über die
Welt zu speichern“ (ebd.: 108). Mentale Wortrepräsentationen
lassen sich in diesem Sinne allgemein als mehr oder minder
offene Konzepte mit abstrahierten Merkmalsbündeln beschrei-
ben, die unterschiedlich starke Verbindungen untereinander
eingehen.
Unabhängig von der Struktur des mentalen Lexikons und
der verschiedenen vermuteten Sprachverarbeitungsprozesse
lassen sich in linguistischer Perspektive die folgenden lexika-
lischen Mindestinformationen eines lexikalischen Eintrags im
mentalen Lexikon beschreiben; diese bestimmen gewisserma-
ßen (und idealiter) jeden Eintrag: semantische (Bedeutung; Re-
ferenz), lexikalische (Wortart), syntaktische, morphologische
und phonetisch-phonologische (auch: graphematische) Infor-
mationen (vgl. Rothweiler und Meibauer 1999: 11f.).
Steinhoff hebt, wie gleichfalls Feilke (2009), auf den Gebrauchs-
wert von Wörtern ab. Mit Wörtern kann man etwas tun, ihr
Wert liegt in ihrer Funktionalität, ihrem Wirkpotenzial, das sie
im besten Fall in der Interaktion entfalten. Steinhoff (2011: 5)
beschreibt dieses Potenzial sehr anschaulich anhand des Wor-
tes nochmal, das für eine 11-jährige Schülerin insofern das Lieb-
lingswort schlechthin ist, als dass es die Wiederholung genuss-
352
Matthias Knopp
voller Tätigkeiten bewirken kann (nochmal … ins Kino gehen,
eine Geschichte vorgelesen bekommen, eine Film ansehen
usw.). Dieser Gebrauchswert scheint mir eine zentrale Bezugs-
größe für den Bereich des lexikalischen Lernens in inklusiver
Perspektive zu sein. Dem entspricht der Befund, dass häu-
ger gebrauchte Wörter schneller im mentalen Lexikon aktiviert
werden als seltener gebrauchte (Worthäugkeitseffekt; vgl. Glück
2005: 111f.; Schwarz 2008: 228).
3 Perspektiven auf das mentale Lexikon
Die Linguistik liefert als Bezugsdisziplin der Sprachdidaktik
die fachwissenschaftliche Grundlage für die Wortschatzver-
mittlung im Deutschunterricht. Zentrale Erkenntnisse und
Annahmen über das mentale Lexikon aus Perspektive der
(Kognitiven) Linguistik wurden oben dargelegt. In sprachdi-
daktischer Hinsicht lassen sich grob folgende, hier relevante
Perspektiven auf den Erwerb und die Erweiterung des men-
talen Lexikons unterscheiden: frühkindlicher Wortschatzer-
werb, Wortschatzvermittlung im mutter- bzw. erstsprachli-
chen Deutschunterricht, Wortschatzvermittlung im Unterricht
für DaZ oder DaF. Für den unterrichtlichen Bereich sind Cur-
ricula und Bildungsstandards bindend; übergreifend relevant
ist zudem der Bereich der Störungen lexikalischer Fähigkeiten
(vgl. Günther 2002). Die beiden letztgenannten Bereiche wer-
den hier nicht weiter thematisiert. Für die Rolle des mentalen
Lexikons in Curricula und Lehrwerken siehe Polz 2011b, Wil-
lenberg 2011 sowie Ulrich 2011c: 23f.
Entsprechend der Erwerbsfolge ist zunächst die mündliche
Modalität (und Konzeption) zentral. Mit dem Eintritt in die
Schule ist der Lexikonerwerb zunehmend durch mediale und
auch konzeptionelle Schriftlichkeit – samt entsprechender Um-
strukturierungen des mentalen Lexikons – und durch die Ein-
353
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
beziehung von Fachwortschätzen (vgl. Feilke 2009: 5) geprägt.
Je nach Erwerbsalter und Kontext (L1, DaZ, DaF) erfolgen der
Erwerb und die Vermittlung systematisch und intentional
bzw. inzidentiell respektive implizit (vgl. Polz 2011a: 108).
Das mentale Lexikon lässt sich sowohl in quantitativer und
qualitativer Hinsicht als auch in Bezug auf die Aktanten-Ak-
tivität beschreiben: Quantität bezieht sich auf Wortschatzbreite
bzw. -umfang, Qualität auf Wortschatztiefe (vgl. Juska-Bacher
und Jakob 2014: 57ff); aktivitätsbeschreibende Parameter sind
produktiv/rezeptiv bzw. Mitteilungs- und Verstehenswortschatz.
Darüber hinaus ist das mentale Lexikon in syntagmatischer
und paradigmatischer Sichtweise zu charakterisieren: Die
syntagmatische fokussiert auf Gebrauchsbedingungen sowie
Syntax bzw. Morpho-Syntax, die paradigmatische u.a. auf Sy-
nonymie-, Hypo- und Hyperonymie-Beziehungen (vgl. Ulrich
2011b: 35ff).
Aussagen darüber, wie das mentale Lexikon einer Lernerin/
eines Lerners zu einem bestimmten Zeitpunkt in quantitativer
und qualitativer Hinsicht beschaffen sein sollte bzw. in der Re-
gel im jeweiligen Erwerbsalter ist, kranken an zwei grundle-
genden Problematiken: Einerseits beruhen Angaben über typi-
sche Umfänge (selten auch Qualitäten) zumeist auf sehr groben
Schätzungen und Extrapolationen:
Es können denn überhaupt alle in der Forschung kursieren-
den Zahlenwerte nur als Annäherungswerte gelesen werden,
zu verschieden sind die Erhebungsmethoden, zu vielfältig die
Parameter (Kilian 2011a: 97).2
2 Parameter sind etwa Sprache, Bildungsnähe/-ferne, Zähleinheit
(Lexeme, syntaktische Wortformen), erhobene Wortart, Modalität
(gesprochen/geschrieben; Rezeption/Produktion), Erhebungs-
methode, individuelle Entwicklungsbedingungen (vgl. Kilian
2011a: 97).
354
Matthias Knopp
Andererseits ist die Testung von Wortschatzumfang und -qua-
lität methodisch nicht unproblematisch (vgl. Willenberg 2011).
Damit verbunden ist die Frage, welche Menge von Wörtern
für eine Lernerin/einen Lerner zu einem bestimmten Zeit-
punkt bedeutsam ist (s.o.: Gebrauchswert) und ob die Bestim-
mung einer solchen Menge überhaupt sinnvoll und möglich
ist (vgl. Merten 2011). Hier zeigen sich merkliche Unterschiede
zwischen der Didaktik für das Deutsche als Erstsprache und
Zweit-/Fremdsprache. Für den Bereich DaF werden Umfang
und Qualität des Zielwortschatzes durchaus anhand frequenz-
analytischer Untersuchungen und sachlicher Ordnungsprin-
zipien expliziert – was für die Erstsprache vergleichsweise
komplex ist und nahezu vollständig unterbleibt (vgl. Kilian
2011b: 139f.).
3.1 Frühkindlicher Wortschatzerwerb
Der frühkindliche Wortschatzerwerb ist insbesondere für
den Zeitraum 0 bis 3 Jahre ausführlich beschrieben und empi-
risch belegt (vgl. für eine Übersicht Rothweiler und Meibauer
1999). Herausgearbeitet wurden der quantitative und der qua-
litative Verlauf des Erwerbs: In quantitativer Hinsicht liegen
insbesondere Daten zum Aufbau des Verstehenswortschatzes,
Sprechen des ersten Wortes und den Wortschatzspurt samt
nachfolgender Verlangsamung vor (vgl. Szagun 2011: § 5), in
qualitativer Hinsicht zum Erwerb des Wortverständnisses,
Produktion von Autosemantika und Benennungen von Aktio-
nen und Relationen mittels Verben und Adjektive.
Die einzelnen Phasen im Erwerb, die zeitlich und verlaufs-
mäßig interindividuellen Schwankungen unterliegen, stellt
Kauschke (2012) mit Rückgriff auf zahlreiche empirische Da-
ten dar:
355
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
Lexikon-
erwerb Beginn des Wortverstehens 9 Monate
Vorformen des Benennens (situations-
gebundene Protowörter) 10 Monate
Verstehen von ca. 50 Wörtern 1;4
Produktion erster Wörter 1;0–1;6
Produktion von 50 Wörtern 1;6 spätestens
2;0
Wortschatzspurt 1;6–1;9
Wortartenentwicklung 1. Phase:
personal-soziale Wörter, relationale
Wörter, Lautmalereien, Eigennamen,
einige Nomen
1;0–1;6 Monate
Wortartenentwicklung 2. Phase: No-
menwachstum, Beginn des Verber-
werbs
1;6–2;6 Monate
Wortartenentwicklung 3. Phase: Verb-
zuwachs, Funktionswörter, Pronomen 2;6–3;0
Über- und Untergeneralisierungen 2;0–3,0
Erwerb hierarchischer Organisation
des mentalen Lexikons (z.B. Ober- und
Unterbegriffe), Verstehen von seman-
tischen Relationen
3;0 bis Schulal-
ter
Erwerb der Wortbildung: Kompositi-
on und Derivation ≈ 2 bis 5 Jahre
Abb. 1: Zentrale Schritte im Lexikonerwerb (im Rahmen des
Spracherwerbs; Tabelle entnommen aus Kauschke 2012: 174); die
Zeitangaben stellen Orientierungswerte dar.3
Mit Blick auf die oben beschriebene Strukturierung und Funk-
tionsweise des mentalen Lexikons wird deutlich, dass der erst-
sprachliche Wortschatzerwerb nicht im Sinne eines listenhaften
3 Vgl. für eine Übersicht über den Wortschatzerwerb von der frü-
hen Kindheit bis zum Schulalter, auch in DaZ-/DaF-Perspektive,
Leimbrink 2015: 48f.
356
Matthias Knopp
Vokabellernens zu konzeptualisieren ist, sondern als komple-
xer und zentraler Teil des gesamten Spracherwerbsprozesses:
Ein Kind muss im Spracherwerb mehr leisten
als eine Liste von Wörtern zu speichern, wenn es seinen Wort-
schatz aufbaut. Der Aufbau des Lexikons ist ein wesentlicher
Bestandteil des kindlichen Spracherwerbs, der phonetisch-pho-
nologische [und orthographische sowie graphematische, M.K.],
semantisch-pragmatische, morphologische und syntaktische
Aspekte umfasst und zueinander in Beziehung setzt. Indem
das Kind ein neues Wort lernt, muß es vielschichtige Informati-
onen über dieses Wort aufnehmen, diese Informationen mitei-
nander verknüpfen und Assoziationen zu schon bestehenden
Lexikoneinträgen aufbauen.
(Rothweiler und Meibauer 1999: 12)
Der Aufbau des mentalen Lexikons reicht laut Anglin (2005)
weit über die frühe Kindheit hinaus.
3.2 Wortschatzvermittlung im erstsprachlichen Deutschunterricht
In der Schule erfolgt der Übergang zur Schriftlichkeit und es
wird verstärkt das Lernen aus Texten vermittelt und einge-
fordert. Damit verbunden sind vielfältige und umfangreiche
Erweiterungen, Vertiefungen und Umstrukturierungen des
mentalen Lexikons (vgl. Feilke 2009). Während die explizite
und systematische Wortschatzarbeit im Fremdsprachenunter-
richt im Vordergrund steht (s.u.), wird diese im erstsprachli-
chen Unterricht selten zum Thema gemacht: „Die lexikalische
Kompetenz scheint auch didaktisch wie ein blinder Fleck der
Forschung“ (ebd.: 6). Dieser Eindruck verstärkt sich mit vor-
anschreitender Schulstufe: In der Primarstufe ist die Wort-
schatzarbeit zwar ebenfalls kein explizit formulierter Lernbe-
reich, jedoch spielt diese fraglos eine entscheidende Rolle im
Anfangsunterricht respektive für den (Schrift-)Spracherwerb
an sich (vgl. Polz 2011b: 365ff).
357
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
Erweiterung und Vertiefung des Schülerwortschatzes nden
im muttersprachlichen Deutschunterricht in Fortsetzung des
Wortschatzerwerbs während des kleinkindlichen Spracher-
werbs […] weitgehend implizit und unsystematisch statt.
(Ulrich 2011b: 42)
Über die Sekundarstufe I bis zur Sekundarstufe II tritt neben
die Erweiterung des Wortschatzes in stärker werdendem Maße
die Vertiefung, d.h. die qualitative Aufwertung und Umstruk-
turierung des Wortschatzes, insbesondere hinsichtlich der Ar-
beit mit schriftlichen Texten (vgl. Leimbrink 2015: 45ff). In der
Sekundarstufe II ndet traditionell nur selten systematischer
Sprachunterricht statt, Sprache wird, wenn überhaupt, vorwie-
gend unter historischen und strukturellen Aspekten betrachtet
(vgl. Polz 2011: 393).
Insgesamt lässt sich für die Rolle des mentalen Lexikons in der
Schulzeit festhalten, dass
der Wortschatzerwerb in der Erstsprache noch immer weitge-
hend als gleichsam natürliche Ausstattung des Menschen im
Rahmen des ungesteuerten Spracherwerbs gilt und daher der
erstsprachliche Unterricht – wenn überhaupt – auf die Erzeu-
gung deklarativen und problemlösenden Wortschatzwissens
ausgerichtet ist, kaum aber auf die Erzeugung auch prozedura-
len und metakognitiven Wissens in Bezug auf die Produktion
und Rezeption von Wörtern der Erstsprache.
(Kilian 2011c: 160f.)
3.3 Wortschatzvermittlung für das Deutsche als Zweit- oder
Fremdsprache
Anders als im erstsprachlichen Wortschatzerwerb kann beim
zweit- bzw. fremdsprachlichen Erwerb auf bereits erworbene
lexikalische Kompetenzen zurückgegriffen werden (vgl. Feil-
ke 2009: 10). Nichtsdestotrotz stellen Wortproduktion und
-rezeption in der Fremd- bzw. Zweitsprache eine große Her-
358
Matthias Knopp
ausforderung für Lernende dar (vgl. Masum 2012). Fehlende
Entsprechungen zwischen Erst- und Zielsprache können die
Erweiterung des mentalen Lexikons und Zugriffe auf Einträge
in diesem erschweren. Die Erstsprache spielt aber eine nicht
zu unterschätzende Rolle für den Erwerb der Zielsprache.
Vermutlich besteht eine Verbindung zwischen erst- und ziel-
sprachlichem mentalen Lexikon (bzw. separaten Netzwerken,
vgl. Leimbrink 2015: 49) insofern, als dass neue lexikalische
Einträge immer in Relation zu bereits vorhandenen angelegt
werden (vgl. Michalak 2009). Für beide Bereiche, d.h. DaZ und
DaF, kann attestiert werden, dass die Wortschatzvermittlung
generell expliziter als im L1-Unterricht erfolgt, wenngleich
Kühn (2010: 1252) einwendet, dass auch
in den Bereichen Deutsch als Fremd- und Zweitsprache eine
kohärente, erwerbsorientierte und kompetenzbezogene wort-
schatzdidaktische Konzeption [fehlt], die darauf abzielt, die
Sprachhandlungskompetenzen der Schüler aufzubauen und
zu fördern […].
Insgesamt zeigt sich in allen drei Perspektivierungen die zen-
trale Rolle des mentalen Lexikons im Spracherwerbsprozess.
Gleichfalls fehlen bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Kilian und
Isermann 2010; Knopp, i.V.) entsprechende empirische Studien
zum Wortschatzerwerb und zur Unterrichtswirklichkeit, in der
die gesteuerte Wortschatzvermittlung ja größtenteils stattn-
det. Eine extensive Theorie zum Wortschatzlehren und -lernen
existiert bislang ebenfalls nicht (vgl. Köster 2001: 891).
4 Wortschatzvermittlung im inklusiven Deutschunterricht
Aus den bisherigen Darlegungen geht hervor, dass die Kennt-
nis von Wortbedeutungen und entsprechenden Verwendungs-
bedingungen als zentrale Voraussetzung für sprachliche Ver-
stehens- und Mitteilungsprozesse auf allen Ebenen verstanden
359
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
werden muss. Dies gilt gleichermaßen für die Erstsprache wie
für DaF/DaZ. Eine systematische Vermittlung lexikalischer
Kompetenz (oder „Wortschatzkompetenz“; Ulrich 2011d: 130f)
im Deutschunterricht hat das Ziel,
bei Schülerinnen und Schülern eine lexikalisch-semantische
sprachliche Handlungsfähigkeit zu erzeugen, die es ihnen gestat-
tet, in verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikations- und
Praxisbereichen kommunikative und kognitive Aufgaben pro-
duktiv und rezeptiv erfolgreich zu lösen und eigene Ziele ent-
sprechend verfolgen zu können. (Kilian 2011b: 133)
Dass diese Anforderungen gleichfalls für den Deutschunter-
richt in inklusiven Settings zu explizieren sind, ist einleuch-
tend und mit der Darlegung des Forschungsstandes in Kap. 2
und Kap. 3 begründet. Idealiter verhilft der inklusive Deutsch-
unterricht allen Lernenden zumindest dazu,
• einen möglichst umfangreichen rezeptiven und produktiven
Wortschatz zu speichern,
• das Bedeutungsprol […] eines Lexems mit seinen Haupt- und
Nebenbedeutungen sowie den jeweiligen semantischen Merk-
malen zu kennen, […]
• bei Bedarf den der jeweiligen Situation angemessensten Aus-
druck aus dem mentalen Lexikon abzurufen,
• die Sprechhandlungen/Sprechakte und die Handlungssequen-
zen/Skripts zu beherrschen, in denen ein Lexem gewöhnlich
verwendet wird,
• die Gebrauchsbedingungen eines Lexems mit Blick auf seine
Konnotationen […] zu beachten […] (Ulrich 2011b: 43)4
Dass diese Fähigkeiten nicht immer gleichermaßen ausgebil-
det werden können, ist evident (z.B. je nach Zugang der Ler-
nenden zum schriftlichen Symbolsystem); jedoch skizzieren
die o.g. Lernziele ein Kontinuum lexikalischer Teil-Kompeten-
4 Ulrich deniert seine Kompetenzziele vorrangig aus der Perspek-
tive einer lexikonorientierten Wortschatzdidaktik.
360
Matthias Knopp
zen, auf dem Lernende im Erwerb fortschreiten können. Über
lexikalische Fähigkeiten, auch basale, zu verfügen, wird hier
gewissermaßen als grundlegende Basiskompetenz verstanden.5
Entsprechend der obigen Darlegungen ist sowohl der Umfang
des mentalen Lexikons als auch seine Qualität wenn möglich
zu erweitern; und dies jeweils in produktiver und rezeptiver
Hinsicht. Bezieht man die Perspektiven auf das mentale Lexi-
kon aus Kap. 2 auf Ossners analytisches Modell der Arbeits-
bereiche des Deutschunterrichts (2008: 9), so wird deutlich,
wie übergreifend relevant das mentale Lexikon ist (vgl. auch
Steinhoff 2009a: § 7): Die Beschreibungsdimensionen von
Wortschatz sind in Bezug zur sprachlichen Realisierung zu be-
trachten:
Bedingungen
sprachlichen
Handelns Wortschatz-
medial...
umfang qualität:
Wortwissen:
semantisch
formal
relational
rezeptiv mündlich
schriftlich
produktiv mündlich
schriftlich
Abb. 2: Realisierungsformen von Sprache in Bezug zu den Dimensi-
onen des mentalen Lexikons (die Konzeption sprachlicher Äußerung
spielt natürlich ebenso eine Rolle, auch in lexikalischer Hinsicht,
wurde aber hier aus Darstellungsgründen ausgespart).
5 Was letztlich der Forderung von Ulrich (2011c, 2013) oder Willen-
berg (2007, 2008, 2011) entspricht, die Rolle des L1-Wortschatzes
verstärkt im (Deutsch-)Unterricht zu berücksichtigen.
361
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
Entsprechend der für die Deutschdidaktik neuen Herausfor-
derungen6 durch inklusive Settings sind bestehende Konzepte
für die Wortschatzvermittlung sowie Erkenntnisse der Kogni-
tiven Linguistik (und anderer Disziplinen, etwa der Psycho-
linguistik) zum mentalen Lexikon zunächst zu adaptieren,
und auf ihre Wirksamkeit sowie Angemessenheit zu über-
prüfen. Gegenwärtig ist Wortschatzvermittlung im inklusiven
Deutschunterricht (noch) kein Thema in der an und für sich
schon raren Forschungsliteratur (vgl. Christensen und Dehn
2012; Lanig 2013; Dietz, Sasse und Wind 2014; Trumpa et
al. 2014; Franz, Trumpa und Esslinger-Hinz 2014; Pompe 2015).
Hier scheint sich die Vernachlässigung des L1-Wortschatzes
(Willenberg 2007) gewissermaßen im Bereich spezischer För-
derbedarfe fortzusetzen. Was eine ‚inklusive Deutschdidak-
tik‘ an sich angeht, ist als „Forschungsdezit […] vor allem zu
konstatieren, dass es bisher kaum fundiertes Handlungswis-
sen […] gibt“ (Klauß 2014: 14), – weshalb insbesondere exem-
plarische Unterrichtsbeispiele momentan (erste) Meilensteine
auf dem Weg zu einer Fachdidaktik darstellen, die inklusive
Lehr-Lern-Situationen berücksichtigt (vgl. Hennies und Ritter
2014). Beiträge, die sich explizit auf Wortschatzarbeit beziehen,
liegen bislang nicht vor.
Gewinnbringend sind in dieser Hinsicht aber Konzepte wie
das empraktische Diktierende Schreiben (vgl. Merklinger und
Osburg 2014): Die Textproduktion wird dabei gewissermaßen
arbeitsteilig und für den Schreiber/die Schreiberin entlastet
prozessiert: Sie erfolgt qua Diktat an einen Skriptor, der/die
die Verschriftung/-textung laut im Schreibtempo mitspricht.
Das mündliche Diktieren bietet damit Lernern, die noch nicht
über mediale Schriftlichkeit verfügen, eine Zugriffsmöglich-
keit auf die spezischen (medialen und konzeptionellen) Be-
6 Wobei der Umgang mit Heterogenität schon immer genuine Auf-
gabe des Deutschunterrichts war.
362
Matthias Knopp
dingungen und Möglichkeiten schriftlicher Sprachproduk-
tion (und Rezeption) im Sinne von Distanzkommunikation.
Dies wirkt sich auch auf lexikalischer Ebene aus, etwa wenn
wortgenau formuliert wird oder die Verbindung von Wort-
form und -bedeutung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät
(vgl. ebd.: 84; 86f.). Denn anders als bei der solitären Textpro-
duktion, bei der die kognitiven und sprachlichen Ressourcen
des Schreibers/der Schreiberin für die vielfältigen Teilpro-
zesse beim Schreiben eingesetzt werden (müssen), kann hier
das Formulieren der Schreibidee als solche sowie das For-
mulieren einzelner Wendungen und Wörter im Vordergrund
stehen. Diese kognitive und sprachliche Entlastung bietet u.a.
auch Raum für Prozesse der Wortndung/-aktivierung, Ver-
netzung oder die Abwägung funktionaler und/oder stilisti-
scher Angemessenheit einzelner Wörter.
Auch in inklusiven Lernsettings hat sich das diktierende
Schreiben als Lernsituation bewährt, da es zum einen allen
Kindern die Möglichkeit bietet, ihre (komplexen) Sprach-
muster zu erproben, zum anderen, da es förderdiagnostischen
Charakter haben kann. (Merklinger und Osburg 2014: 78)
Eine weitere didaktische Konzeption, die mit Blick auf den in-
klusiven Deutschunterricht gewinnbringend erscheint, ist der
Wortschatzdidaktische Dreischritt nach Kühn (2007, 2010): Dem
Kennen eines Wortes (Isolieren und Semantisieren) folgt das
Erlernen seiner Verwendungsweise und das In-Relation-Setzen
zu anderen Wörtern (Variieren und Vernetzen), dem wieder-
um das Können, d.h. das Anwenden, folgt (Kontextualisieren
und Reaktivieren; vgl. Feilke 2009; Steinhoff 2009a/b). Unter
der Maßgabe einer verstärkten inneren Differenzierung und
Zielgruppenorientierung kann diese Trias aus Bedeutungs-
anreicherung, Vernetzung und Anwendung ein fruchtbarer
Ansatz für die Wortschatzvermittlung im inklusiven Deut-
schunterricht sein. Dazu müssen je individuelle Zugänge für
die Lerner zum Schrift-/Symbolsystem berücksichtigt werden.
363
Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht
So sind z.B. bei starken kognitiven Beeinträchtigungen hapti-
sche Zugänge zu Konzepten von Autosemantika denkbar, die
die Verbindung mit dem entsprechenden Signiant stimulieren
bzw. verstärken.
Grundsätzlich erscheinen folgende Maximen, die nicht exhaus-
tiv zu verstehen sind, gewinnbringend für die Wortschatzar-
beit im Deutschunterricht (und fächerübergreifend über diesen
hinaus) in stark heterogenen Klassen:
• Das mentale Lexikon ist weniger als statisches Inventar, sondern
vielmehr als dynamisches, kommunikatives Werkzeug zu verste-
hen, das sich ständig wandelt (vgl. Steinhoff 2009).
• Lexikalische Einheiten sind insbesondere qua Gebrauch (in-
nerhalb authentischer, für das Individuum nachvollziehbarer
Gebrauchskontexte) gut erlernbar (= individuelle Erfahrungs-
räume); die wiederholte Aktivierung in konkreten Verwendungs-
kontexten dient der dauerhaften Memorierung und Vernetzung
im Langzeitgedächtnis.
• Die ‚Verwendungsrelevanz‘ lexikalischer Einheiten – und damit
die Menge bedeutsamer Einheiten – ist vom Individuum und sei-
nen kommunikativen Bedürfnissen und Fähigkeiten abhängig.
Zu berücksichtigen sind je nach individuellen Lernvoraussetzun-
gen unterschiedliche Darbietungsformen (Kanäle, Medien, Zei-
chensysteme).
• Lexikalische Einheiten sind „Wörter und Wendungen“ (Feilke
2009), sie umfassen über die Wortebene hinausgehende Einheiten
wie „Kollokationen, Phraseologismen oder syntaktische Konst-
ruktionen“ (Steinhoff 2009a: 9). Solche Einheiten sollten ebenfalls
Lerngegenstand sein.
• Wortschatzvermittlung sollte entwicklungsorientiert (s.o. Abb. 1)
und im Hinblick auf alle sprachlichen Ebenen (Sprechen und Hö-
ren; Schreiben und Lesen) erfolgen.
• Entsprechend der Struktur des mentalen Lexikons sollten lexika-
lische Einheiten von vornherein „in vernetzter Form gelernt wer-
den“ (Michalak 2009: 39). Aus- und Umbau des mentalen Lexi-
kons sollten systematisch erfolgen, z.B. durch die Gruppierung
von Wörtern in Wortfeldern oder die Suche nach semantischen
Oppositionen.
364
Matthias Knopp
5 Ausblick
Nimmt man die Schaltstellenfunktion des mentalen Lexikons
(Steinhoff 2009a/b) ernst, so scheint das mentale Lexikon be-
sonders geeignet, Situationen des gemeinsamen Lernens am
gemeinsamen Gegenstand aus unterschiedlicher Perspekti-
ve und mit unterschiedlichen Formen der Bearbeitung sowie
mit gemeinsamer Aufmerksamkeit (Tomasello 2013: 128ff) zu
schaffen. Wörter und Wendungen können als vielfältige und
mehrdimensional zugängliche Ausgangspunkte respektive
Angelpunkte für das sprachliche Lernen fungieren. Etwaige Ef-
fekte auf den Spracherwerbsprozess müssen in authentischen
Lehr-Lern-Situationen empirisch überprüft werden, wozu sich
in Zukunft durch die zunehmende Umsetzung der Inklusions-
bestrebungen immer häuger Möglichkeiten eröffnen. Hierfür
bieten sich zunächst Explorationsstudien an. Insgesamt fehlen
der Sprachdidaktik Erkenntnisse über Verläufe und Geling-
ensbedingungen von inklusivem Deutschunterricht; solche
sind – folgt man der Annahme der zentralen Rolle des men-
talen Lexikons beim sprachlichen Handeln – auch mit Fokus-
sierung auf die Wortschatzvermittlung sowohl theoretisch als
auch empirisch zu modellieren.
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Professionalisierung
und Lehrer*innenbildung
373
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
Entwicklung von Lehrerprofessionalität unter inklusiver
Perspektive – Impulse für eine reexive Praxis
Bianca Roters & Susanne Eßer
Reexionskompetenz gilt neben fachlicher, pädagogi-
scher und fachdidaktischer Expertise als ein wichtiges
Merkmal von Lehrerprofessionalität. Die inklusive Ent-
wicklung unseres Bildungssystems erfordert in beson-
derem Maße, Routinen auf der Basis neuer Erkenntnis-
se kritisch zu hinterfragen, um unterrichtliches Handeln
immer wieder neu der breiter werdenden Heterogenität
der Lerngruppen anzupassen. Lehrerhandeln ist immer
geprägt durch eigene subjektive Theorien und Einstel-
lungen (beliefs) zu inklusiven Lehr- und Lernprozessen,
die in einem möglichen Spannungsfeld wahrgenommen
werden zu neuen Anforderungen an die eigene Profes-
sionalität. Über alle Professionalisierungsphasen hinweg
gilt es, dieses Spannungsfeld aufzugreifen und reexiv
zu entwickeln. Als hilfreiches Reexionsinstrument bie-
tet sich ein Unterrichtsentwicklungsmodell an, welches
Erkenntnisse aus Bildungswissenschaft, Fachdidaktik,
-wissenschaft und Sonderpädagogik vereint. Eingebettet
in etablierte Strukturen für Reexionsprozesse wird eine
Entwicklung der Lehrerprofessionalität unterstützt, die
als adaptive Lehrkompetenz sichtbar wird.
1 Einleitung
Für das deutsche Schulsystem hat die Unterzeichnung der
UN-Behindertenrechtskonvention die Konsequenz, dass die
Heterogenität der Klassen sich noch weiter auffächert, insbe-
sondere um die Schülerinnen und Schüler, die aufgrund einer
374
Bianca Roters & Susanne Eßer
Behinderung bzw. Entwicklungsbeeinträchtigung sonderpäd-
agogische Unterstützung benötigen. Dabei beinhaltet die Bil-
dungsqualität die beiden Komponenten der Förderung der
kognitiven und sozialen Entwicklung auf der einen und die
Förderung von Werten und Einstellungen sowie gesellschaftli-
chen Verantwortungsbewusstseins auf der anderen Seite. Eine
entsprechend optimale Lernumgebung verknüpft körperliche
Gesundheit und emotionales Wachstum untrennbar mit kog-
nitiver Entwicklung, der Ausprägung sozialer Kompetenzen
und dem Erlangen von Grundfertigkeiten.
Das hoch spezialisierte Förderschulsystem ist im Zuge dieser
Entwicklung in Prozessen der Umstrukturierung begriffen. Die
Expertise für sonderpädagogische Förderung gilt es in das all-
gemeine Schulsystem zu überführen und unter neuen Qualitä-
ten zu nutzen. Es gilt einen Schul- und damit verbunden einen
Unterrichtsentwicklungsprozess zu beschreiten, der individu-
elle Förderung optimiert und die Arbeit an einem gemeinsamen
Lerngegenstand für alle Schülerinnen und Schüler ermöglicht.
Auf der Ebene des Unterrichts können ausgehend von Prinzi-
pien des „Guten Unterrichts“, die für jede Schülerin und jeden
Schüler bestmögliche individuelle Lern- und Entwicklungs-
fortschritte ermöglichen, weitere Entwicklungen ihren Aus-
gang nehmen. Aus sprachdidaktischer Perspektive kann die
Einführung inklusiver Unterrichtsformate als Weiterführung
einer konsequenten Differenzierung und notwendiger Indivi-
dualisierung zur Gestaltung einer optimalen Lernumgebung
für alle Schülerinnen und Schüler gedacht werden.
Diese Veränderungen erfordern in hohem Maße eine adaptive
Expertise der Lehrerinnen und Lehrer, die sich als Professiona-
lisierungsmerkmal über alle Aus- und Weiterbildungsphasen
entwickelt.
Schnell (2012) sieht im Konzept der adaptiven Lehrkompetenz
eine Vereinigung von Sachkompetenz, diagnostischer Kompe-
375
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
tenz und Klassenführungskompetenz. Zur weiteren Konkreti-
sierung zitiert sie Guldimann:
Einer mit hoher adaptiver Lehrkompetenz ausgestatteten
Lehrperson gelingt,
• bei aller Individualität und Heterogenität der Schülerinnen
und Schüler,
• in genauer Kenntnis des Unterrichtsinhalts,
• unter Ausschöpfung eines didaktischen Repertoires und
• durch Führung und Begleitung des Lernenden, einer Lern-
gruppe oder Schulklasse den Unterricht so zu gestalten, dass
möglichst viele Schülerinnen und Schüler ihren Voraussetzun-
gen und Möglichkeiten entsprechend lernen und verstehen
können. Eine Lehrperson mit adaptiver Lehrkompetenz schafft
optimale Voraussetzungen für einen guten Unterricht.
(Schnell ebd.: 215)
Professionalisierungsprozesse von Lehrerinnen und Lehrern
nehmen ihren Ausgang in der universitären Ausbildung, füh-
ren über den Vorbereitungsdienst in der zweiten Phase in eine
Berufspraxis, die durch lebenslange Lernprozesse zu weiterer
professioneller Praxis beiträgt. Nach Hattie (2014: 35) haben
diese die Zielperspektive, dass Lehrpersonen sich fortwährend
mit der Art und Qualität des Effekts befassen, den sie auf jede
Schülerin und jeden Schüler haben.
Die gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonfe-
renz und Kultusministerkonferenz zur „Lehrerbildung für
eine Schule der Vielfalt“ (2015) sieht Inklusion als Leitbild und
allgemeine Anforderung der Lehrerbildung. Ein phasenüber-
greifender Einsatz von Reexionsinstrumenten kann zu einer
reexiven Auseinandersetzung mit dem
professionellen Selbstkonzept angehender Lehrkräfte hinsicht-
lich der eigenen Haltung und Einstellung zum Thema schuli-
scher Inklusion führen. (Ebd. : 4)
Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, in Schulen eine Kultur
der Reexion zu etablieren, um die herausfordernden Situati-
376
Bianca Roters & Susanne Eßer
onen, die sich nicht nur aus der inklusiven Umgestaltung des
Bildungssystems ergeben, mit professionellem Handeln zu ge-
stalten. Meyer (o.J. : 11) spricht sich in Anlehnung an Feindt für
eine Etablierung sogenannter „Strukturorte der Reexivität“ in
der Lehrerbildung aus.
2 Reexionskompetenz als Merkmal inklusiver Lehrer-
professionalität
Mit Abels (2011) lässt sich Reexionskompetenz folgenderma-
ßen denieren:
Didaktische Reexionskompetenz wird hier gesehen als die
Kompetenz, das eigene didaktische Handeln und die eigenen
didaktischen Entscheidungen im Kontext einer pädagogischen
Situation im Nachhinein zu überdenken und explizit zu be-
gründen, um bewusst daraus zu lernen, mit dem Ziel eines
persönlichkeitswirksamen Bildungsprozesses. (Abels 2011: 56)
Aus professionstheoretischer Sicht gilt Reexion als Schlüs-
selbegriff, Handlungsroutinen problemorientiert zu begegnen
(u.a. Schön 1983, 1988). Da Reexionskompetenz ein wichtiges
Merkmal von Lehrerprofessionalität ist (Roters 2012), kommt
ihrer Entwicklung in Professionalisierungsprozessen – neben
dem Ausbau der fachlichen, pädagogischen und fachdidakti-
schen Expertise (u.a. Shulman 1986, 1987) – eine besondere Be-
deutung zu. Die Arbeit in heterogenen Gruppen erfordert nach
internationalen Standards eine hoch ausgeprägte Reexions-
kompetenz der Lehrkräfte (Europ. Agentur für Entwicklungen
in der sonderpädagogischen Förderung 2011).
Wie die wissenspsychologische Expertiseforschung (Berliner
1992; Leinhardt und Greeno 1986; Bromme 1992) gezeigt hat,
wenden erfahrene Lehrpersonen im Unterricht nicht nur auto-
matisiert Wissen und Regeln an, sondern treffen situativ und
kontextgebunden – auf der Basis ihres Erfahrungswissens – un-
377
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
terrichtliche Entscheidungen. Die Ergebnisse der betreffenden
Forschung zeigen, dass es deutliche Unterschiede zwischen
Novizen und Experten gibt. Sie nehmen Facetten eines kom-
plexen Unterrichtsgeschehens anders wahr und strukturieren
entsprechend ihre Schemata unterrichtlicher Prozesse, die sich
u.a. in einer reektierten Erfahrung entwickeln. Grundlegen-
der Unterschied zwischen Novizen und Experten ist ihre kog
nitive Wahrnehmung unterrichtlicher Situationen (Bromme
1992: 42).
Während Novizen durchaus sehr detailliert eine Situation im
Unterricht beschreiben können, bleiben sie jedoch im Hinblick
auf das didaktisch-methodische Potenzial dieser Unterrichts-
situation an der Oberäche. Im Unterschied zu Novizen sehen
Experten dagegen weniger Details der Situation. Sie nehmen
eine anders gelagerte „kognitive Gliederung des Unterrichts-
geschehens“ (Bromme 1992: 54) vor.
Die Erkenntnisse der Expertiseforschung können durchaus
auch ausbildungspraktisch gewendet werden. Denn: Das pro-
duktive Zusammenspiel von Wissen und Können in theoriege-
leiteten und praxisorientierten Ausbildungsphasen ermöglicht
die Ausbildung von Erfahrungswissen:
[D]ie (erfolgreiche) Tätigkeit von Lehrkräften [beruht] auf Wis-
sen und Können […], das in der Ausbildung in theoretischen
und praktischen Phasen gewonnen und dann durch die Be-
rufserfahrung weiter entwickelt wurde. (Bromme 2008: 159)
Um nicht hilfreiche und starre Routinen auf der Basis neuer
Erkenntnisse kritisch hinterfragen zu können und unterricht-
liches Handeln immer wieder neu an Situationen und Hand-
lungsspielräumen ausrichten zu können, ist ein hohes Maß an
Reexionskompetenz notwendig.
Die über reexive Prozesse angeregte professionelle Deutung
von Einzelfällen in spezischen unterrichtlichen Situationen
erfordert von der Lehrkraft eine hohe Flexibilität und ausge-
378
Bianca Roters & Susanne Eßer
prägtes professionelles Wissen zu fachspezisch ausdifferen-
zierten Lehr- und Lernprozessen. Dies gilt insbesondere auch
für einen inklusiven Unterrichtskontext, in dem es Aufgabe
der Lehrkraft ist, auf der Basis ihrer Expertise inklusive Lern-
gelegenheiten bereitzustellen, in denen die Schülerinnen und
Schüler ein differenzierendes Lernangebot erhalten, welches
ihnen optimale Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
Die Studien der Europäischen Agentur für Entwicklungen in
der sonderpädagogischen Förderung (2011) zeigen, dass die
Reexionskompetenz der Lehrkräfte sich insbesondere darin
zeigt, dass
• sie offen sind für andere Lösungen und diese Suche aktiv gestal-
ten.
• sie über die Verantwortlichkeit ihres Handelns auf die Lebens-
chancen der Lernenden nachdenken und Aufrichtigkeit zeigen.
• sie in der Praxis die Praxis reektieren und ein durch Untersu-
chung und Forschung informiertes Urteil (Bezug nehmend auf
Schön 1983) entwickeln.
• sie in ihrer Praxis eine kreative Umsetzung extern entwickelter
Rahmenbedingungen für Unterricht und Lernen zeigen.
• sie überlieferte Wahrheiten (Bezug nehmend auf Pollard et
al. 2005) hinterfragen.
Ein inklusiver (Sprach-)Unterricht, der von individueller Diffe-
renzierung geprägt ist, setzt schon in der Unterrichtsplanung
voraus, dass eigene subjektive Theorien und Einstellungen (be-
liefs) zu inklusiven Lehr- und Lernprozessen hinterfragt und
ggf. im Hinblick auf die Zielsetzung angepasst werden. Zu be-
rücksichtigen ist dabei die nachhaltige Rolle der beliefs, die nur
schwer veränderbar scheinen. Gleichzeitig wird das Professi-
onsverständnis, was Lehrkräfte wissen und können sollten,
vor dem Hintergrund „tief verankerter kultureller Überzeu-
gungen“ (Blömeke 2014: 445) diskutiert. Beliefs könnten einen
Einuss auf unterrichtliche Kompetenzen haben:
379
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
Vor allem das Sich-selbst-verantwortlich-fühlen [sic] impli-
ziert für den pädagogischen Kontext, dass Kompetenzen auch
durch Beliefs beeinusst sein könnten, wie es Klieme und Har-
tig 2007 formulieren. (Langner 2015: 30)
Das Spannungsfeld, das durch individuelle beliefs, kulturell ge-
prägte Überzeugungen und neue Anforderungen an Professio-
nalität möglicherweise von Lehrkräften wahrgenommen wird,
sollte deshalb bereits in frühen Professionalisierungsphasen,
z.B. in der universitären Ausbildung, aufgegriffen und reexiv
(im Team, z.B. mit Mentoren in Praxisphasen) entwickelt wer-
den. Professionalisierung in diesem Sinne wird als Entwick-
lungsmodell verstanden.
3 Lehrerprofessionalisierung als Entwicklungsprozess –
Universitäre Ausbildungsphase
Das Leitbild des reektierenden Praktikers (Schön 1983, 1989),
das dem oben skizzierten Professionalitätsverständnis zugrun-
de gelegt wird, ist über alle Professionalisierungsphasen in der
Lehrerinnen- und Lehrerbildung – insbesondere auch unter in-
klusiver Perspektive – tragfähig. In einem solchen Professiona-
litätsverständnis geht es mit Blick auf die universitäre Ausbil-
dungsphase darum, Wissen über inklusive Unterrichtskontexte
zu vermitteln und theoriegeleitet reektieren zu lernen, sowie
Lerngelegenheiten zu schaffen, in denen die Studierenden ihre
kategoriale Wahrnehmung (im Sinne der Expertiseforschung
als situation awareness, Endsley 2006) kontinuierlich ausbauen
und ihre Urteilsfähigkeit über unterrichtliche Prozesse stärken
können.
Aus professionstheoretischer Perspektive, die Lehrerprofessi-
onalität als Entwicklungsprozess versteht, kann schon in der
ersten Ausbildungsphase eine Sensibilisierung hinsichtlich in-
klusiver Werte, Strukturen und Praktiken im schulischen Bil-
dungssystem angebahnt werden.
380
Bianca Roters & Susanne Eßer
Unter dem Blickwinkel, dass der professionelle Umgang mit
Inklusion eine allgemeine Anforderung an alle Lehreraus- und
Lehrerweiterbildungsphasen kennzeichnet, werden mit der
gemeinsamen Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz
und Kultusministerkonferenz zur „Lehrerbildung für eine
Schule der Vielfalt“ Vorschläge für die übergreifende Gestal-
tung der einzelnen Phasen der Lehrerbildung und der Über-
gangsgestaltung gemacht.
Die für den Lehrerberuf benötigten Kompetenzen schließen
neben Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auch Einstel-
lungen und Haltungen gegenüber Vielfalt ein, die durch pro-
fessionsbezogene, erfahrungsbasierte und theoriegestützte Re-
exion entwickelt und durch Praxiserfahrung erlebbar werden
müssen. (KMK & HRK 2015: 3)
Studienabsolventinnen und -absolventen sollen demnach über
anschlussfähiges fachdidaktisches Wissen verfügen, welches
auch „fundierte Kenntnisse über Merkmale von Schülerin-
nen und Schülern, die den Lernerfolg fördern oder hemmen
können“ einschließt (KMK 2015: 4). Bezogen darauf sollen sie
in der Lage sein, Lernumgebungen differenziert zu gestalten.
Ausdrücklich wird hier die Berücksichtigung verschiedener
Dimensionen von Heterogenität angesprochen, die auch, aber
nicht nur im Sinne der Behindertenrechtskonvention der UN
zu verstehen sind (KMK & HRK 2015: 4).
Gemeinsam wird von der Kultusministerkonferenz und der
Hochschulrektorenkonferenz empfohlen, integrative Konzep-
te, die Bildungswissenschaft, Fachdidaktik und Fachwissen-
schaft vereinen, für die Implementation inklusionsspezischer
Themen in die Curricula umzusetzen (HRK und KMK 2015: 4).
Die folgende Abbildung zeigt ein Unterrichtsentwicklungsmo-
dell, das aus diesen Überlegungen heraus in multiprofessionel-
lem Austausch zwischen Sonderpädagogik und Fachdidaktik
für das Fach Englisch entwickelt wurde.
381
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
Im Schaubild wird ein integrativer und interdisziplinärer An-
satz verfolgt. Im Zentrum steht das Leitziel der interkulturel-
len Handlungsfähigkeit, realisiert in kommunikativen Hand-
lungssituationen, dem sich ein moderner Englischunterricht
verpichtet fühlt. Über speech acts, z.B. asking for information,
kann die sprachliche Handlungssituation in Unterrichtssituati-
onen realisiert werden.
Abb. 1: Unterrichtsentwicklungsmodell für einen binnendifferenzie-
renden Englischunterricht, der auf verschiedene Dimensionen von
Heterogenität ausgerichtet ist (Roters und Eßer 2016)
Über den Ansatz der speech acts wird die Arbeit am gemeinsa-
men Gegenstand für alle Schülerinnen und Schüler (im Sinne
von Feuser 1989) realisiert. Feusers Modell zu einem inklusiv
gestalteten Unterricht stellt die Arbeit am gemeinsamen Ge-
genstand in den Mittelpunkt eines binnendifferenzierenden
382
Bianca Roters & Susanne Eßer
Unterrichts (1989). In seiner entwicklungslogischen Didaktik
entfaltet er die Vorstellung einer Arbeit an einem gemeinsa-
men Lerngegenstand auf unterschiedlichen Erfahrens- und Er-
kenntniswegen.
Auf der zweiten Ebene werden die Kompetenzbereiche der
Sekundarstufe I für das Fach Englisch (vgl. KLP NRW, Sek I)
aufgeführt, die wiederum von den Gestaltungsprinzipien ei-
nes binnendifferenzierenden Englischunterrichts auf der drit-
ten Ebene gerahmt werden (vgl. Gestaltungsprinzipien eines
modernen Englischunterrichts, u.a. Haß 2006, 2013; Suhrkamp
2010; für task-based language learning u.a. Müller-Hartmann und
Schocker-v. Ditfurth (2004); für allgemeindidaktische Prinzipi-
en guten Unterrichts vgl. Meyer 2004, für Kriterien guten Un-
terrichts im Referenzrahmen Schulqualität NRW). Dabei sind
die Kategorien nicht als trennscharf zu betrachten, sondern
können sich in der jeweiligen Unterrichtssituation durchaus
überlappen.
Eingebunden ist ein Konzept von classroom management, wel-
ches sich an die Forschungen von Evertson (2006, 2012) anlehnt.
Dieses ist zu verstehen als ein gemeinsam gestalteter Rahmen,
der Schülerinnen und Schülern (individuell) strukturierte Lern-
umgebungen schafft, die ihnen bestmögliche Lern- und Ent-
wicklungschancen bieten. Im Fokus steht dabei die Ausprä-
gung eines proaktiven Lehrerverhaltens, das die Grundlage
für einen entwicklungsfördernden Unterricht bildet, der für
alle ausreichend Lernchancen bereithält.
Das Unterrichtsentwicklungsmodell wurde als mögliche Re-
exionsfolie für die Planung exemplarisch für den inklusiven
Englischunterricht entwickelt, dennoch könnten die aufge-
zeigten Dimensionen in jeweils abgestimmter Form auf den
Sprachunterricht im Allgemeinen übertragen werden. Folgen-
de Aspekte können sich dementsprechend im Unterricht abbil-
den:
383
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
• Planung, Durchführung und Evaluation des Unterrichts (z.B. Pri-
mat der Mündlichkeit, Relevanz, Motivation, Lebensweltbezug,
…)
• Regeln und Rituale (z.B. klare Kommunikation der Unterrichts-
ziele und Erfolgskriterien)
• Unterrichtsklima (z.B. emotionale Sicherheit: Gelegenheit zum
risk-taking, Fehler als Fenster zum Lernprozess)
• Grad der Schülerverantwortlichkeit (z.B. unterschiedliche Lern-
strategien)
Anknüpfungspunkte für einen differenzierenden Unterricht
bietet ergänzend das Konzept des Scaffolding und ndet des-
halb hier ebenfalls Berücksichtigung. Scaffolds im Sinne von
Lerngerüsten können als Hilfestellungen den Lernprozess un-
terstützen. Für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierig-
keiten (Hasselhorn und Gold 2013: 465) und für die, die eine
Fremd-/Zweitsprache lernen, ist das Scaffolding zur erfolgrei-
chen Gestaltung von Lern- und Entwicklungsprozessen maß-
geblich. Gibbons und Hammond (2005: 8 ff) betonen die Be-
deutsamkeit der sozialen Interaktion im Lernprozess, die auch
in Vygotskys Konzept der Zone der nächsten Entwicklung be-
schrieben wird. Die Lehrkraft richtet den Fokus auf die indivi-
duellen Lernpotentiale, identiziert das Vorwissen der Schü-
lerinnen und Schüler und unterstützt aufgabenbezogen einen
Lernprozess, in dem sich Lernende zunehmend zu größerer
Selbstständigkeit entwickeln können. Die Ansätze bieten nach
ihrem Verständnis einen Rahmen für Planung und Reexion
pädagogischer Praxis. Gibbons und Hammond binden Scaffold-
ing an die konkrete Aufgabe an:
It is this task-specic support, designed to help the learner in-
dependently to complete the same or similar tasks later in new
contexts, which we understood to be scaffolding.
(Gibbons und Hammond 2005: 10)
384
Bianca Roters & Susanne Eßer
Diese Scaffolds werden, sobald die „Zone der nächsten Ent-
wicklungsstufe“ (Vygotsky 1978) erreicht ist, wieder zurück-
genommen. Durch Scaffolding:
• erfährt die Lernerin/der Lerner, wie sie/er etwas machen kann.
• erhalten die Lernenden eine Strukturierungs- und Organisations-
hilfe für den Lernstoff (z.B. advance organizer).
• bekommen sie die notwendige Unterstützung, um eigenständig
den nächsten Kompetenzschritt vornehmen zu können.
• erfährt die Lernerin/der Lerner, was sie/er machen kann, damit
sie/er ähnliche Aufgaben später alleine bewältigen kann.
Als ein spezielles Merkmal des Unterrichts im inklusiven Kon-
text ist die Teamarbeit zu nennen (Kategorie „Kooperation“).
Diese vollzieht sich nicht durchgängig in einer Doppelbeset-
zung im Unterrichtsalltag, ist aber in Planungszusammenhän-
gen in Form verbindlicher Absprachen (Lern- und Entwick-
lungsplanung) zu leisten. Dabei geht es nicht ausschließlich
um die Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern der
allgemeinen Schule und Sonderpädagoginnen und Sonderpä-
dagogen, sondern auch um die Kooperation der in einer Klasse
bzw. Stufe unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer sowie der
Schülerinnen und Schüler.
Im äußeren Kreis (Ebene 4) werden im Schaubild zentrale
Entwicklungsbereiche aufgeführt, die für die Förderung von
Schülerinnen und Schülern in den zieldifferenten Bildungs-
gängen Lernen und geistige Entwicklung grundlegend sind
(vgl. KMK-Empfehlungen für die Förderschwerpunkte Lernen
1999 und geistige Entwicklung 1998). Heimlich und Kahlert
(2014) stellen mit ihren inklusionsdidaktischen Netzen, deren
Darstellung hier adaptiert und für den Englischunterricht mo-
diziert wurde, ein Modell vor, welches den anspruchsvollen
Unterricht im Fach mit den Ansprüchen und Möglichkeiten
der Entwicklungsbereiche Motorik/Wahrnehmung, Denken/
Lernstrategien (Kognition), Soziales Handeln/Emotion und
Kommunikation umspannt. Die Anregungen, die zur Förde-
385
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
rung in den Entwicklungsbereichen gegeben werden, können
ebenso positive Impulse auf die Lernprozesse der Klassen-
gruppe haben.
3.1 Einbindung des Unterrichtsentwicklungsmodells in
forschende Lernprozesse
Das in Abbildung 1 dargestellte Modell kann Ausgangspunkt
für studentische Forschung in der ersten Phase und Reexions-
impuls für die unterrichtliche Praxis in heterogenen Lerngrup-
pen sein. Auf mögliche Verwendungskontexte und Reexions-
folien wird im Folgenden mit Blick auf die unterschiedlichen
Professionalisierungsphasen Bezug genommen.
Eine Möglichkeit, Lernprozesse zu individualisieren und ei-
nen biograschen Zugang zu integrieren, stellt das forschen-
de Lernen dar. Studierende entwickeln in einem solchen Se-
minarkontext, ggf. ausgehend von biograschen Erfahrungen,
eigene Fragestellungen zu schulischen und unterrichtlichen
Kontexten, die sie in kleinen empirischen Studien bearbeiten
(Schneider 2009; Roters et al. 2009).
Gerade in der universitären Ausbildungsphase können praxis-
orientierte Lerngelegenheiten bereitgestellt werden, in denen
sich die Studierenden ohne unmittelbaren Handlungsdruck
Wissen über inklusiven (Sprach-)Unterricht und inklusive
Lehr- und Lernprozesse erarbeiten können, welches sie wiede-
rum in Praxisphasen, z.B. dem Praxissemester, ausbauen kön-
nen. Ein Ziel ist die langfristige Entwicklung einer multipers-
pektivischen Sichtweise auf Unterricht und die individuellen
Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler.
Abbildung 2 stellt den zirkulären Ablauf eines forschenden
Lernprozesses dar und verdeutlicht, wie theoretische Zugänge
mit Fragen aus der Praxis in Beziehung gebracht werden kön-
nen.
386
Bianca Roters & Susanne Eßer
Abb. 2: Ablauf eines forschenden Lernprozesses
Über einen solchen forschend-reexiven Zugang zu
schulischer Praxis könnte beispielsweise Sprachunterricht
unter einer inklusiven Fragestellung beobachtet werden, die
die heterogenen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schü-
ler und/oder Differenzierungsformen im Unterricht in den
Blick nimmt.
Das Unterrichtsentwicklungsmodell (vgl. Abbildung 1) könn-
te – unter Bezugnahme auf entsprechende theoretische Grund-
lagen – für die Operationalisierung der Fragestellung als Ree-
xionsfolie zugrunde gelegt werden.
387
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
3.2 Inklusive, sprachdidaktische Fragestellungen und Inhaltsbe-
reiche für forschende Lernprozesse
Ausgehend von der Prämisse, dass jede Schülerin/jeder Schü-
ler Förderbedarfe hat (Reich 2014: 265ff.), könnten die Studie-
renden in ihrem forschenden Lernprozess Förderbedarfe (mit
bestehenden oder eigens entwickelten Instrumenten) diagnos-
tizieren, Kompetenzprole einzelner Schülerinnen und Schüler
erstellen und so ihre eigene Diagnosefähigkeit kategoriengelei-
tet ausdifferenzieren. Die Rückbindung der Beobachtungen in
der schulischen Praxis kann in begleitenden Seminaren erfolgen.
Um die Heterogenität von Lernprozessen im Seminarkontext
abzubilden, ist es aus hochschuldidaktischer Perspektive denk-
bar, in Studierendengruppen eine gemeinsame Fragestellung
auf der Basis des Modells (vgl. Abbildung 1) zu entwickeln.
Mögliche Fragestellungen könnten sein:
• Wie werden Schülerinnen und Schüler unterstützt, die „Zone der
nächsten Entwicklungsstufe“ (Vygotsky) zu erreichen? (Katego-
rie „Scaffolding“)
• Auf welche Weise unterstützen (unterschiedliche) Formen der Vi-
sualisierung Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler? (Kate-
gorie „Visualisierung“)
• Welche Facetten des Classroom Managements liegen dem beobach-
teten Unterricht zugrunde, z.B. Regeln und Rituale? (Kategorie
„Classroom Management“)
• Welche Vorstellungen und fachlichen Überzeugungen zu „gutem
Unterricht“ verbalisieren Lehrkräfte? (Kategorie „Heterogenität
gewinnbringend nutzen“)
• Nach welchen Kriterien wählt die Lehrkraft binnendifferenzie-
rende Aufgaben aus? Bzw. welche Aufgabenformate werden an-
geboten, um unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zum fachli-
chen Kern zu eröffnen? (Kategorie „herausfordernde Aufgaben“)
• Welche Teamstrukturen gibt es an den Praktikumsschulen und
welche Themen werden bearbeitet? (Kategorie „Kooperation“)
• Welche Vorerfahrungen und/oder Fortbildungsmaßnahmen ha-
ben Lehrkräfte in inklusiven Settings? (Kategorie „Kooperation“)
388
Bianca Roters & Susanne Eßer
• Falls Team-Teaching oder Kooperation zwischen Fachlehrerin/
Fachlehrer und Sonderpädagogin/Sonderpädagoge gegeben ist:
Wird der Unterricht gemeinsam geplant? Wie werden Abspra-
chen getroffen? (Kategorie „Kooperation“)
Diese müssten dann auf dem Erfahrungshintergrund schuli-
scher Kontexte realisiert werden:
Bedeutsam sind die theoretische Reexion der praktischen Er-
fahrung, und zwar stärker deren Intensität als die Dauer der
Ausbildung. [...]. Das Lernen aus der eigenen Erfahrung und
die Reexion mit anderen darüber scheint für die Wirksamkeit
sehr bedeutsam zu sein. (Dubs 2008: 18)
Voraussetzung für die praktische Realisierung eines solchen
Vorgehens ist der Abgleich der Rahmenbedingungen an den
jeweiligen Praktikumsschulen, damit das Forschungsdesign
im Feld aufrechterhalten werden und die Datenerhebung er-
folgen kann.
Gemeinsame kleinere Forschungsprojekte können auch inso-
fern anschlussfähig an Diskurse der Individualisierung und
Differenzierung sein, als strukturierte Arbeit im Team Abspra-
chen und Schwerpunktsetzungen erforderlich macht, in denen
die Studierenden auch für den späteren Lehrerberuf in inklu-
siven Kontexten nützliche Kompetenzen ausbilden können.
Langner (2015) kritisiert sehr pauschal:
StudentInnen lernen im Rahmen der Hochschuldidaktik we-
der ein individualisiertes und binnendifferenziertes Arbeiten
kennen, noch werden Motive für den LehrerInnenberuf thema-
tisiert und eine kritische Perspektive auf das eigene Handeln in
ausreichendem Maße entwickelt. (Langner 2015: 323)
Forschende Lernprozesse im Team und facettenreiche Reexi-
onsgelegenheiten (vgl. Roters 2012) können den Studierenden
schon in der ersten Ausbildungsphase ermöglichen, Unterricht
inklusiv und multiperspektivisch zu betrachten und die eigene
Haltung gegenüber inklusiven Prozessen kontinuierlich wei-
389
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
terzuentwickeln. Ihre Zusammenarbeit bietet darüber hinaus
ein Praxisfeld für die unterschiedlichsten Facetten der Team-
arbeit, verbundenen mit Schwierigkeiten und entsprechenden
Lösungsansätzen (vgl. den Aspekt „Kooperation“).
Mit Hattie lässt sich mit Blick auf die universitäre Ausbil-
dungsphase auch dahingehend argumentieren, dass nicht so
sehr bestimmend ist, was die Lehrkräfte machen, sondern am
wichtigsten ist, dass sie die Auswirkungen ihres Tuns evaluie-
ren (Hattie 2014: 17).
Mit Blick auf schulische Praxisphasen wie dem Praxissemes-
ter NRW könnte die Teilnahme der Studierenden an multipro-
fessionellen Teams in ihren Praxisphasen ihnen ermöglichen,
ihre Diagnosefähigkeiten zu erweitern, vor dem Hintergrund
ihres Erfahrungswissens reexiv zu bearbeiten und weiterzu-
entwickeln. Hier ergeben sich im kollegialen Austausch neue
Perspektiven und persönliche Ziele, die wiederum auch zum
Gegenstand des phasenübergreifenden Entwicklungsportfo-
lios der Studierenden gemacht werden können.
Auf der Basis der empirischen Daten, die die Studierenden im
forschenden Lernprozess gesammelt haben, und vor der Folie
(alternativer) theoretischer Zugänge könnten eigene beliefs re-
ektiert werden. Auf diese Weise wird durch den forschenden
Lernprozess die Entwicklung einer theoriegeleiteten und pra-
xisorientierten Reexionsfähigkeit ermöglicht. Im Anschluss
an das Praxissemester könnten die eigenen Beobachtungen
von Unterricht vor der Folie des Modells in Abbildung 1 erneut
(theoriegeleitet) reektiert werden.
Inwieweit Verhaltensveränderungen durch reexive Interven-
tionen in universitären Settings die beliefs der Studierenden, die
sich zum Teil auch aus eigenen schulischen Erfahrungen gene-
rieren, beeinusst, ist aus empirischer Sicht eine relativ offene
Frage. Es fehlen zum jetzigen Zeitpunkt geeignete Studien, die
die längerfristigen Effekte bestimmter Ausbildungsmodule ab-
bilden.
390
Bianca Roters & Susanne Eßer
4 Lehrerprofessionalisierung als Entwicklungsprozess:
Inklusiver Unterrichtskontext und Implikationen für
die Schulentwicklung
Der Aufbau eines umfassenden inklusiven Bildungssystems
verändert grundsätzlich die beruiche Realität für alle Lehr-
kräfte. (Hillenbrand und Melzer 2013: 194)
Im Rahmen eines dreijährigen Projektes zur Inklusionsorien-
tierten Lehrerbildung (Teacher Education for Inclusion – TE 4I)
der Europäischen Agentur für Entwicklungen in der sonder-
pädagogischen Förderung (2012) ist unter Beteiligung von 25
Mitgliedsländern ein Prol für alle Lehrerinnen und Lehrer er-
mittelt worden, die in den Lehrerberuf einsteigen. Um einen
Rahmen von zentralen Werten und Kompetenzbereichen her-
um werden professionsspezische Facetten inklusiv arbeiten-
der Lehrerinnen und Lehrer aufzeigt, die im Schulalltag und in
unterrichtlichen Situationen realisiert werden:
Zentraler Wert Professionsspezische Facetten
Wertschätzung der Vielfalt
der Lernenden – Differenz
der Lernenden wird als Res-
source und Bereicherung für
die Bildung wahrgenommen.
•Auffassungen von inklusiver Bil-
dung
•die Einstellung der Lehrkräfte
zur Heterogenität der Lernenden
(beliefs)
Unterstützung aller Lernen-
den – die Lehrkräfte haben
hohe Erwartungen an die
Leistungen aller Lernenden.
•Förderung des akademischen,
praktischen, sozialen und emoti-
onalen Lernens aller Lernenden
•Effektive Ansätze des Lehrens in
heterogenen Klassen
Zusammenarbeit mit ande-
ren – Kooperation und Team-
arbeit sind von zentraler Be-
deutung für alle Lehrerinnen
und Lehrer.
•Kooperation mit Eltern und Fa-
milien
•Kooperation mit anderen Fach-
kräften aus dem Bildungsbereich
391
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
Persönliche beruiche Wei-
terentwicklung – Unterrich-
ten ist eine Lerntätigkeit und
Lehrkräfte übernehmen Ver-
antwortung für ihr lebenslan-
ges Lernen.
•Lehrkräfte als reektierende Prak-
tiker
•Lehrer-Erstausbildung als Funda-
ment für kontinuierlich fortgesetz-
tes beruiches Lernen und Weiter-
entwicklung der Lehrkräfte
Abb. 3: in Anlehnung an: Europäische Agentur für Entwicklungen in
der sonderpädagogischen Förderung: „Ein Prol für inklusive Leh-
rerinnen und Lehrer“ (2012: 8f.)
In diesem Prol wird explizit die Verantwortung der Lehre-
rinnen und Lehrer für die Gestaltung ihres lebenslangen Lern-
prozesses angesprochen. Auf dem Fundament der Lehreraus-
bildung ndet weiteres beruiches Lernen unter Reexion der
Praxis statt. Das in Abbildung 1 vorgestellte Unterrichtsent-
wicklungsmodell bietet dafür eine geeignete Grundlage. In sei-
ner Komplexität erfordert es eine ausgeprägte Professionalität
der Lehrkräfte. Nach Wischer (2008) stellt die innere Differen-
zierung generell hohe Ansprüche an das Handeln der Lehre-
rinnen und Lehrer. Um eine Unterrichtsgestaltung in dieser
Komplexität zu praktizieren, ist es erforderlich, die Unterrichts-
entwicklung als Bestandteil der Trias der Schulentwicklung zu
betrachten. Die Organisations- und die Personalentwicklung
bestimmen als weitere Elemente dieser Trias maßgeblich den
Erfolg des Prozesses der inklusiven Entwicklung im Bildungs-
system.
Insofern richtet sich mein Plädoyer ganz entschieden auf eine
Strategie der kleinen Schritte, bei denen besonders auch die ei-
genen Kompetenzen sowie die der Lerngruppe, aber auch die
schulspezischen Bedingungen berücksichtigt werden. Die
zahlreich vorliegenden Instrumente und Verfahrensvorschlä-
ge wären hierbei dann nicht als Maßstab für die eigene Praxis,
sondern als Angebot und Fundgrube zu nutzen.
(Wischer 2008: 721)
392
Bianca Roters & Susanne Eßer
In diesem Sinne können einzelne Facetten als Impulse zur wei-
teren Ausschärfung der eigenen Profession ausgewählt, umge-
setzt, reektiert und adaptiert werden. Aspekte der Personal-
entwicklung an inklusiven Schulen sind nach Werning (2012:
52 f.) Forschung und Selbstbeurteilung, Reexion und Feed-
back sowie Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Eingebettet
in Kooperationsprozesse mit Kolleginnen und Kollegen kön-
nen professionelle Kompetenzen und Handlungsfähigkeiten
erweitert werden (Werning 2012: 56; vgl. auch die Kategorien
„Kooperation“ und „Strukturierung der Lernumgebung“).
Für Rolff steht die „dauerhafte Verbesserung der pädagogi-
schen Qualität von Unterricht und Schule“ im Mittelpunkt
seines als Trias angelegten Schulentwicklungsmodells (Rolff
u.a. 2010). Grundlegend für das moderne Verständnis von
Schulentwicklung ist der Wandel im Selbstverständnis jedes
einzelnen Lehrers, das sich vom Denken ausschließlich auf sich
und seine Klasse bezogen, hin zu einem Denken für und im
System der Schule vollziehen muss. Arnold (2011: 128 ff.) stellt
in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Teamentwicklung
nicht vielleicht sogar als Königsweg der Schulentwicklung be-
zeichnet werden kann.
Boban und Hinz (2003: 18) beschreiben in ihrer deutschen Ad-
aption des „Index für Inklusion“ einen Schulentwicklungspro-
zess, in dem jede einzelne Schule im Sinne einer inklusiven
Schulentwicklung gefordert ist, über ihre Haltungen und Wahr-
nehmungen, ihre Werte, ihre Gewohnheiten und Ordnungen
kritisch nachzudenken und neue Praktiken und Strukturen
zu entwickeln. Will man Exklusion in der Bildung abschaffen,
müssen Veränderungen in den Inhalten, Ansätzen, Strukturen
und Strategien vorgenommen werden. Entscheidend für den
Prozess ist, dass es dabei nicht singulär um Veränderungen im
Bereich Unterricht geht, sondern dass der Gesamtprozess im
Blick bleibt, indem sowohl die Schulkultur als auch die struk-
turellen Gegebenheiten in der Schule gleichermaßen berück-
393
Entwicklung von Lehrerprofessionalität
sichtigt werden. In Abbildung 4 werden das Drei-Wege-Mo-
dell nach Rolff (2012: 25) mit den drei Dimensionen des Index,
die sich zu einem Dreieck fügen, verschränkt.
Abb. 4: Zusammenhang Trias Schulentwicklung und Entwicklungs-
dreieck des „Index für Inklusion“
5 Ausblick
Inklusion markiert einen Übergangsprozess in unserem Schul-
system, der auch Auswirkungen auf die Professionalität der
Lehrkräfte und deren individuelle Professionalisierungspro-
zesse hat. Eine nachhaltige Verbindung der verschiedenen
Aus- und Weiterbildungscurricula zwischen den unterschied-
lichen Phasen ist in Entwicklung begriffen.
394
Bianca Roters & Susanne Eßer
Um der Reexionsfähigkeit der Lehrkräfte in ausgeprägter
Kompetenz Geltung zu verschaffen, bedarf es deren Wertschät-
zung und institutionalisierter Strukturen in allen drei Phasen
der Lehrerbildung.
Insbesondere dem von Amrhein (2014) angesprochenen reexi-
ven Umgang mit dem Ungewissen kommt eine hohe Bedeutung
angesichts der Schaffung eines inklusiven Bildungssystems in
den Strukturen eines tradierten selektiven Schulsystems zu.
Die von Feuser (2013) beschriebene Anforderung an die Lehr-
kräfte, dieses Paradox auf der individuellen Handlungsebene
immer wieder neu zu klären, bedarf einer begleitenden Unter-
stützung. Eine Ergänzung professioneller Reexionsverfahren
durch individuelle Coachingprozesse wäre hier notwendig.
Hillenbrand u.a. (2013, 53 f.) konstatieren, dass die Einführung
eines Mentorensystems zum Berufseinstieg, losgelöst von Be-
wertungsprozessen, zu mehr Selbstwirksamkeit und einem hö-
heren Engagement der Lehrkräfte führt.
Vielleicht läge hier auch eine Chance, die notwendige Ver-
knüpfung von Einstellungen, Wissen und Handeln herzustel-
len (Hillenbrand u.a. 2013: 51f.) und Lehrkräfte darin zu un-
terstützen, Zutrauen in die eigene Handlungskompetenz zu
entwickeln.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
401
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ann-Kathrin Arndt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Leibniz Universität Hannover (Leibniz School of Education,
Institut für Sonderpädagogik). Ihre Forschungs- und Arbeits-
schwerpunkte: Multiprofessionelle Kooperation, inklusive
Schulentwicklung, Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek ist Professor für deutsche
Sprache und ihre Didaktik am Institut für deutsche Sprache
und Literatur II und zugleich Direktor des Mercator-Instituts
für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Uni-
versität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Be-
reich der Gesprächs- und Schreibdidaktik sowie der sprachli-
chen Bildung.
Prof. Dr. Anne Berkemeier ist an der PH Heidelberg in den
Bereichen Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik des Deut-
schen tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte betreffen den Erst- und
Zweitschrifterwerb im multilingualen Kontext, die Förderung
mündlicher und schriftlicher Kommunikationskompetenzen,
die funktional- pragmatische Grammatikdidaktik sowie die
DaZ-Förderung (inklusive Seiteneinstieg).
Dr. Bettina M. Bock ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am In-
stitut für Förderpädagogik/Institut für Germanistik der Uni-
versität Leipzig im Forschungsprojekt „Leichte Sprache im
Arbeitsleben (LeiSA)“. Ihre aktuellen Forschungs- und Arbeits-
schwerpunkte liegen in den Bereichen Schriftlichkeit, inklusi-
ve Sprachdidaktik, zielgruppenorientierter Sprachgebrauch,
Sprache und Partizipation.
Moritz Börnert ist akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für
Inklusionspädagogik mit den Schwerpunkten Forschungs-
methoden und Diagnostik an der Universität Potsdam. Seine
Forschungs- und Arbeitsinteressen liegen in den Bereichen der
sonderpädagogischen Diagnostik sowie der Förderung kogni-
tiver Prozesse.
402
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Jannis Bosch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
für Forschungsmethoden und Diagnostik in der Inklusions-
pädagogik der Universität Potsdam. Sein Forschungsschwer-
punkt liegt im Bereich der motivationalen Konsequenzen sozi-
aler Vergleichsprozesse.
Susanne Eßer M.A. (Schulmanagement) ist Referentin für In-
klusion und Förderschulen in der Qualitäts- und Unterstüt-
zungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW). Ihr
Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der inklusiven Bildung.
Nach langjähriger Tätigkeit in den Bereichen Lehrerfortbil-
dung und Schulentwicklungsberatung liegt ihr Schwerpunkt
jetzt in der inklusiven Unterrichtsentwicklung.
Dr. Diana Gebele ist akademische Rätin a.Z. am Institut für
Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln.
Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich
des Erwerbs und der Didaktik des Deutschen als Zweit- und
Fremdsprache sowie in der inklusiven Sprachdidaktik.
Jana Grubert ist akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für
Inklusionspädagogik mit den Schwerpunkten Forschungs-
methoden und Diagnostik an der Universität Potsdam. Ihre
Forschungs- und Arbeitsinteressen liegen in der Lehrkräf-
teprofessionalisierung, vor allem im Bereich diagnostischer
Kompetenzen bezüglich sozial-emotionaler Merkmale von
Schülerinnen und Schülern.
Dr. Katrin Hee ist akademische Rätin a.Z. am Institut für
Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln.
Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich
der Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft mit einem Fokus
auf den mündlichen Sprachgebrauch, besonders in Bezug auf
den Unterrichtsdiskurs sowie die Sekundäre Literalisierung/
Distanzsprachliche Sozialisierung. Weitere Forschungsschwer-
punkte sind die Jugendsprachenforschung, die (ethnographi-
sche) Gesprächsanalyse sowie die Gesprochene-Sprache-For-
schung.
403
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Matthias Knopp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-
stitut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu
Köln. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im
den Bereichen Sprache und sprachliches Lernen in digitalen
Medien, Schreibprozessforschung, Textproduktion und men-
tales Lexikon, Sprachdidaktik und Inklusion.
Pawel R. Kulawiak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr-
stuhl für Forschungsmethoden und Diagnostik in der Inklu-
sionspädagogik an der Universität Potsdam. Sein Forschungs-
interesse gilt den Gelingensbedingungen sozialer Partizipation
aller Kinder in heterogenen Schulklassen.
Prof. Dr. Andreas Mayer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sprach-
heilpädagogik (Sprachtherapie und Förderschwerpunkt Spra-
che) an der LMU München. Seine Arbeits- und Forschungs-
schwerpunkte liegen im Bereich der Theorie und Praxis
gestörter Schriftspracherwerbsprozesse und der spezischen
Akzentuierung des Unterrichts bei Kindern mit sprachlichen
Beeinträchtigungen.
Prof. Dr. Michael Ritter ist Professor für Grundschuldidaktik
Deutsch/Ästhetische Bildung am Institut für Schulpädago-
gik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg. Er arbeitet und forscht zu Fragen des Text-
schreibens, insbesondere unter den Bedingungen heterogener
Lernvoraussetzungen, zum Bilderbuch in Theorie, Rezeption
und Didaktik und zur konzeptionellen Grundlegung eines
Deutschunterrichts in der inklusiven Schule.
Dr. Bianca Roters ist Referentin für Fremdsprachen in der Qua-
litäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule
(QUA-LiS NRW). Ihre Forschungs- und Publikationsschwer-
punkte liegen im Bereich der Fremdsprachenlehrerprofes-
sionsforschung, hier insbesondere in Bezug auf die Entwick-
lung von Reexionskompetenz, sowie in der Unterrichtsent-
wicklung unter besonderer Perspektive der inklusiven Fremd-
sprachendidaktik.
404
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Monika Rothweiler vertritt den Förderschwer-
punkt Sprache/Sprachbehindertenpädagogik in der Lehrein-
heit Inklusive Pädagogik im Fachbereich Erziehungs- und
Bildungswissenschaften an der Universität Bremen. Ihre For-
schungs- und Publikationsschwerpunkte liegen in der Sprach-
erwerbsforschung (Grammatik, Lexikon), mit einem Schwer-
punkt zum Spracherwerb unter besonderen Bedingungen wie
dem Vorliegen einer genuinen Sprachentwicklungsstörung
oder einer Hörbeeinträchtigung sowie im Kontext von Mehr-
sprachigkeit, darüber hinaus in der Sprachdiagnostik und
-förderung sowie der Entwicklung von auf den kindlichen
Spracherwerb bezogenen Weiterbildungsmaterialien für Erzie-
herinnen und Erzieher.
Anja Schaefer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl
für Forschungsmethoden und Diagnostik in der Inklusionspä-
dagogik an der Universität Potsdam. Ihr Forschungsschwer-
punkt liegt im Bereich der sozialen Integration von Kindern in
der Klassengemeinschaft.
Dr. Benjamin Jakob Uhl ist akademischer Rat am Institut für
Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Uni-
versität Paderborn. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die
Schnittstelle von grammatischem und textuell-pragmatischem
Lernen sowie Erzähldidaktik, Schreibentwicklungsforschung
und inklusive Sprachdidaktik.
Prof. Dr. Rolf Werning ist Professor an der Leibniz Universität
Hannover und leitet die Abteilung Pädagogik bei Lernbeein-
trächtigungen. Er war u.a. Mitglied der Expertenkommissionen
zur Reformierung der Lehrerbildung in Berlin, Baden-Würt-
temberg und Nordrhein-Westfalen sowie beratendes Mitglied
der Autorengruppe Bildungsberichterstattung für das Schwer-
punktkapitel „Menschen mit Behinderungen im Bildungssys-
tem“. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im
Bereich inklusive Pädagogik, Lehrerinnen- und Lehrerbildung,
Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen und Beratung.
405
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Jürgen Wilbert ist Professor für Inklusionspädagogik
mit den Schwerpunkten Forschungsmethoden und Diagnostik
an der Universität Potsdam. Seine Forschungs- und Arbeitsin-
teressen liegen in der Entwicklung diagnostischer Messmo-
delle für inklusionspädagogische Fragestellungen sowie der
Entwicklung statistischer Modelle zur Analyse von Einzelfall-
daten.
Sabine Wilmes ist Referentin für die Bildungskooperation
Deutsch in Südamerika am Goethe-Institut São Paulo. Einer
ihrer Tätigkeitsschwerpunkte ist die Beschäftigung mit Kon-
zepten zur Vermittlung des Deutschen an Lernende mit un-
terschiedlichen Erstsprachen und Ausgangsvoraussetzungen.
Sie hat das Lehramt für Sonderpädagogik studiert und sich in
ihrer beruichen Tätigkeit am Goethe-Institut, an Universitäten
und Forschungsinstituten in Deutschland, Italien und Brasilien
insbesondere mit Sprachstandserhebungen und Sprachförder-
instrumenten im Bereich der Zweit- und Fremdsprachvermitt-
lung beschäftigt.
PD Dr. Alexandra Zepter (Ph.D.) ist akademische Oberrätin
a.Z. am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Uni-
versität zu Köln. Ihre Forschungs- und Publikationsschwer-
punkte liegen im Bereich der Sprachdidaktik, hier insbesondere
in Bezug auf die Bedeutung der Sinne, Motorik und Emotionen
für die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen (Schreiben, Le-
sen, Sprechen und Zuhören), überdies in der Mehrsprachig-
keitsdidaktik (DaZ, DaF), Inklusionsdidaktik und Orthogra-
phiedidaktik.
Sascha Zielinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-
stitut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Mar-
tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungs-
und Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen des kreati-
ven Schreibens in inner- und außerschulischen Kontexten, der
inklusiven Deutschdidaktik sowie der rekonstruktiven For-
schungsmethoden in der Fachdidaktik.