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Migration in einer turbulenten Weltordnung

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Abstract

Menschen wandern und besiedeln neue Gegenden seit Anbeginn der Kulturgeschichte der Menschheit. Stets galt und gilt es, eine (neue) Lebensperspektive aufzubauen. Zusätzlich flüchten Menschen vor Gewalt und Tod und kämpfen für ihr Über-Leben – insbesondere im 20. und im frühen 21. Jahrhundert. Durch den Strukturwandel der internationalen Politik aufgrund von „moderner“ Kriegsführung und transnationalen Interdependenzen (Sicherheit, Ökonomie, Ökologie und Wertekollisionen) verändert sich die Welt in einer nie dagewesenen Schnelligkeit und in einem globalen Ausmaß. Mit einem historischen Blick wird in diesem Beitrag gezeigt, inwieweit Migration und ihre unterschiedlichen Formen in einem quasi-evolutionären Prozess transformiert worden sind. Von der Nomadenmigration über die Besiedelungsmigration/Kolonialisierung findet sich Migration unter modernen Bedingungen zu den Formen der Arbeitsmarktmigration und der Gewalt- und Fluchtmigration wieder. Tatsächlich scheint sich derzeit ebenfalls eine neue post-moderne Form der Migration zu entwickeln, die der Autor als Existenz-Migration bezeichnet. Die globalen Ursachen hierfür liegen vor allem im Anstieg von gesellschaftlichen gewaltsamen Auseinandersetzungen bzw. in innergesellschaftlichen Kriegen der letzten 50 Jahre, im starken Anstieg der Weltbevölkerung, in den massiven Umweltdegradierungen und -zerstörungen und im Klimawandel begründet. Eine Theorie der Migration muss demnach auf diesen Zusammenhängen notwendigerweise aufbauen.
Migration in einer turbulenten Weltordnung
Alexander Th. Carey
1. Desastres de la Guerra(Goya)
Eine immer schneller erlebbare Spirale des Wandels in einer postindustriellen
(Welt-)Gesellschaft bringt es mit sich, vor Zweifeln und Irrungen sicher geglaubte
Pfeiler im individuellen Erfahrungshorizont doch neu zu überprüfen und zu
hinterfragen. Durch eine mit dieser Entwicklung einhergehende
Individualisierung und Enttraditionalisierung (vgl. Beck 1986, S. 112ff.) auf der
einen Seite und eine immer weitergehende Konglomeratisierung und Einbindung
in immer größere System- und Organisationszusammenhänge1 andererseits,
werden Mitglieder der (Welt-)Gesellschaft vermehrt auf sich selbst und auf ihre
natürlichenRessourcen zurückgeworfen, die als Residualkategorie verstanden
werden, also ihrer unmittelbaren, unter Umständen auch scheinbaren Kontrolle
unterliegen. Durch strukturelle Einbrüche bleibt es den in diesen Kontexten
lebenden Menschen vielfach verwehrt, ihre ureigenen, zur Verfügung stehenden
Ressourcen, z.B. Arbeitskraft, gesellschaftlich-ökonomisch zu verwerten. Als
schlimmster Fall eines strukturellen Einbruchs muss wohl der Krieg bzw. die
Auseinandersetzung mit physischer Gewalt genannt werden. Kaum jemals sind
1 Unter anderem hat Habermas mit seinem paradigmatischen Lebenswelt- und Systemansatz (Theorie
des kommunikativen Handelns 1981) auf dieses Spannungspotenzial aufmerksam gemacht. Dabei stellt
er eine Bedrohung, wie bei Husserl, der subjektiv-lebensweltlichen Bereiche der Gesellschaft fest, die
er in der griffigen als auch polemischen Formel einer Kolonialisierung der Lebensweltfestmacht
(vgl. von Beyme 1994, S. 260ff.). Diese konstatierte Bedrohung ist von vielen modernen Theoretikern
trotz aller phänomenologischer und terminologischer Variation auch gesehen worden: bei Karl Marx
(MEW, Bd. 23) war es z.B. ein zentraler Gedanke, dass sich der kapitalistische Produktionsprozess,
der sich von der konkreten Arbeit und einer Orientierung der Menschen am Gebrauchswert der
Produkte abwendet, mehr und mehr in die Handlungslogik des wirtschaftlich-rechnerischen Denkens
verstrickt. Die so einhergehende Monetarisierung führte zu ebensolchen Effekten wie die von Weber
als Damoklesschwert bezeic hnete Verbürokratisierung (1958). Die daraus resultierenden theoreti schen
Überwindungs- und Vermittlungsleistungen führten bei Marx zur Basis-Überbau-Konzeption, bei
Weber zum charismatischen Herrschaftstypus und letztendlich bei Habermas zur alle Lebensbereiche
durchdringenden Verrechtlichung mit einer positiv zu bewertenden Entkoppelung von System und
Lebenswelt (von Beyme 1994, S. 266ff.). Als Negativbeispiel kann man hier Luhmann (1986, S. 75)
und seinen autopoietischen Systemansatz nennen, der keinen Anlass sah, System und Lebenswelt so
grundsätzlich gedanklich zu trennen.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 2
die Schrecken des Krieges so eindringlich dargestellt worden wie von dem
spanischen Maler Goya in seinen „Desastres de la Guerra“: Tod und Verderben,
Folter und Repression, Flucht und Vertreibung, Hunger und Krankheit,
Vergewaltigung und Verstümmelung. Goya lebte im Umfeld des „guerilla“, des
„kleinen Krieges“, den die Spanier gegen die napoleonischen Besatzungstruppen
führten. In diesem ersten „“modernen““ Kampf zeigten sich die typischen
Merkmale irregulärer Kriegführung und damit wurde auch die Zivilbevölkerung
immer mehr in solche Auseinandersetzungen hineingerissen. Seit dem zweiten
Weltkrieg hat es weltweit, meist außerhalb Europas, über 200 neue kriegerische
Konflikte (Bürgerkriege, zerfallende Staaten, Sezessionen) gegeben.
So schilderte der Palme-Bericht schon Anfang der 1980er Jahre die
allgemeinen, verheerenden Auswirkungen gegenwärtiger kriegerischer Konflikte
auf ganze Länder und Gesellschaften:
„Kriege und innenpolitische Konflikte wurden so häufig und mit solcher
Brutalität ausgetragen, dass Schätzungen der eingetretenen Verluste
nahezu wertlos sind. Es mag der Hinweis genügen, dass seit 1945
Millionen durch Soforteinwirkung getötet, etliche Zehnmillionen
verwundet oder mit Krankheiten infiziert und Hunderte von Millionen von
den ökonomischen und sozialen Auswirkungen konventioneller Kriege
betroffen wurden (...). Für die Bewohner dieser vom Krieg heimgesuchten
Gebiete wird das Leben oft unerträglich. Ihre Dörfer werden bombardiert
und durch Regierungstruppen, die nach Aufständischen suchen, vollends
verwüstet, ihre Nahrungsmittel, ihr Besitz, ihre Verdienstmöglichkeiten, ja
manchmal sogar ihre Kinder werden ihnen von aufständischen Gruppen
weggenommen, und so bleibt den Bewohnern kaum eine andere Wahl als
zu fliehen und die unbekannten Gefahren für das eigene Leben in
ausländischen Notlagern gegen die bekannten Schrecken eines (...) Krieges
im eigenen Land zu vertauschen. Kriege an sich sind schon schrecklich
genug. Doch ihre unmittelbare Hinterlassenschaft, nachdem das Töten
aufgehört hat, ist zumindest ebenso entsetzlich: Ganze Völker sind
entwurzelt, das traditionelle Gemeinschaftsleben ist zerstört, und die
Gesellschaft sieht sich außerstande, mit den ökonomischen und politischen
Turbulenzen ringsum fertig zu werden. Nur wenige vom Krieg
heimgesuchte Gesellschaften entgehen der Geißel einer Hungersnot. Unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind die Auswirkungen einer
Hungerkatastrophe noch lange spürbar, nachdem die Menschen wieder
genug zu essen haben (...). Was die sozialen Auswirkungen (...) betrifft, so
Migration in einer turbulenten Weltordnung 3
sind sie ungleich verheerender. Es dauert Jahrzehnte, bis der Puls des
Lebens wieder im normalen Rhythmus schlägt“ (United Nations 1982, S.
82f.).
Diese Menschen werden zwangsläufig physisch und psychisch verletzt, auf die
eine oder andere Art diskriminiert, von vielen organisationalen als auch sozialen
Bindungen desintegriert und ausgeschlossen. Vorher als selbstverständlich
vorausgesetzte Grund- und Freiheitsrechte werden negiert, in Sprachspielen für
die jeweilige Bezugsgruppe instrumentalisiert und somit für friedensgeleitete
Diskurse entwertet. Das freudianische Unbehagen (vgl. Freud 1963, S. 419-506).
bricht auf und manifestiert sich in Gueltaten der Superlative. In diesem
Zusammenhang erweist sich Gerechtigkeit nicht nur als eine juristische, sondern
auch als eine wichtige anthropologische und psychologische Konstante (vgl.
Carey 1999). Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach der Integrationsleistung
von Gemeinwesen, die heutzutage durch vielfältige Turbulenzen und
Grenzerfahrungen, sei es ökonomischer, demographischer oder ökologischer Art,
herausgefordert werden. Konflikte werden auf lokalen, staatlichen,
internationalen, nicht zu vergessen psychischen Ebenen in mehrfacher Hinsicht
potenziert und (re-)aktiviert. Einerseits existieren (globale) Bedrohungen, die
jeden ohne eigenes Dazutun oder Verschulden zum Opfer machen können. Die
Möglichkeiten, sich um das eigene Überleben oder um den eigenen Schutz zu
kümmern, sind begrenzt oder gar nicht vorhanden. Andererseits stellen sich die
Konfliktpotenziale in vielfältiger Weise dar, so dass es zu einer kumulativen
Entwicklung von Konfliktlinien kommt, die ihre Gefährlichkeit darin zeigt, dass
Kausalitätsstrukturen nicht eindeutig oder gar nicht entschlüsselt werden können
und dass lokale und individuelle Ereignisse große globale Auswirkungen haben
können (‚Schmetterlingseffekt‘; vgl. Lorenz 1993). Das führt zu einer
Überforderung im individuellen Bereich, die sich in Rückzugsverhalten (z.B. alle
Arten von Suchtphänomenen, Verdrängungs- und Vergangenheits-
Romantisierungsprozesse) oder in Überwertigkeits-Gefühlen manifestiert (z.B.
Vergewaltigungen, Diskriminierungen, Vertreibungen, Krieg und Gewalt; siehe
Erdheim 1984), und im strukturellen Bereich, die mit den Begriffen der
Unübersichtlichkeit, und ‚Steuerungsunfähigkeitcharakterisiert wird. Daher
stellt sich die Aufgabe, strukturelle, genauer institutionelle
Kommunikationsformen zu finden, die der aufgezeigten Problematik Rechnung
tragen und die Konfliktauseinandersetzungen in eine „ungefährliche“, d.h.
gewaltarme und friedensorientierte Sprache übersetzen können.2
2 Eine Antwort wird in Kap. Xxxy gegeben.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 4
Aus diesem Kontext heraus flohen und fliehen Menschen seit Anbeginn
der Kulturgeschichte der Menschheit bis in die Gegenwart: vor Hunger und
Umweltkatastrophen, vor Krieg und Verfolgung, in das nächste Dorf oder in ein
anderes Land. Sie suchten Obdach, bekamen dieses, konnten bleiben oder sie
gingen weiter oder wieder zurück. Erst im 20. Jahrhundert wurden erste
Vereinbarungen auf internationaler Ebene zum Schutz von Geflüchteten zuerst im
Rahmen des Völkerbunds geschlossen. Die Genfer Flüchtlingskonvention von
1951 gilt als ein Meilenstein in der Geschichte des Flüchtlingsrechts. Allerdings
haben bis zum heutigen Tag nicht alle Staaten der Welt die Konvention
unterzeichnet und ratifiziert; ein globaler Schutzraum für geflüchtete Menschen
existiert bis heute nicht.
Somit ist Migration immer in Zusammenhang mit Rahmenbedingungen
globaler/nationaler/regionaler/kommunaler Strukturen zu sehen. Grundsätzlich
können wir seit den 1990er Jahren einen Strukturwandel globaler Beziehungen
voraussetzen (vgl. Carey 1999). Die entscheidenden Phänomene können
folgendermaßen beschrieben werden:
1) In den letzten Jahrzehnten fanden vier gleichzeitig ablaufende
Entwicklungen statt, nämlich eine
a) zunehmende Globalisierung politischer, wirtschaftlicher und sozialer
Kommunikation auf den verschiedensten Ebenen;
b) das Entstehen von Großregionen als neue Zwischenebene internationaler
Beziehungen;
c) das Wiedererstarken ethnisch oder religiös geprägter
Kollektividentitäten, häufig mit militanten politischen Zielen;
d) die Zunahme der Zahl und der Art von internationalen Akteur_innen,
insbesondere die große Anzahl von Non-Governmental Organizations,
aber auch von multinationalen Unternehmen/Konzernen, die besondere
Machtpositionen bezüglich zentraler Lebensbereiche (Arbeit, Ernährung,
Gesundheit) aufweisen können.
2) Durch die Überwindung des Ost-West-Konflikts und des Zustands der
Bipolarität hat sich die „alte“ Friedenspolitik im Sinne von Frieden über
Abschreckung verabschiedet. Stattdessen entstehen neue Konflikte, oftmals
mit bürgerkriegsähnlichem Charakter, mit ungebremster Eskalationsdynamik.
Dazu kommen eine Reihe an zerfallenden Staaten (Nord- und Ostafrika, Sub-
Sahara, Naher Osten). Globale Politik ist unsicherer und schwerer
überschaubar geworden.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 5
3) Im Zuge von Fragmentierungsprozessen wird das kollektive
Selbstbestimmungsrecht der Völker dazu genützt, neue „Staatlichkeiten“ zu
fabrizieren. So entsteht eine Renaissance politisierten Denkens in ethnischen
oder nationalen Horizonten.
4) Nicht nur durch die Globalisierung vieler wirtschaftlicher und
kommunikativer Transaktionen und die Zunahme weltweiter
Interdependenzen entstehen Risiken. Auch atomare und ökologische
Bedrohungspotenziale führen zu einem Handlungsbedarf global, regional und
national agierender Akteur_innen.
5) Aus den oben genannten Prozessen und Faktoren resultieren neue und von
der Menschenanzahl her in die Millionen gehende Migrationsströme, die sich
einerseits um die regionalen Konfliktzonen „ansiedeln“3 und andererseits die
industrialisierten Staaten des globalen Nordens (die ‚OECD-Welt‘,
insbesondere Europa) zu erreichen versuchen.
Daher besteht derzeit eine große Nachfrage nach neuen globalen und regionalen
Steuerungsregimen: für Krisen und Konflikte, für Finanz- und Wirtschaftskrisen
von (europäischen) Staaten, für Migrationsströme im Allgemeinen und
Flüchtlingsströme im Besonderen, die nicht nur, aber auch nach Europa fließen.
Um sich mit Migration zu beschäftigen, ist es notwendig, sich im nächsten Schritt
mit den globalen Dilemmata zu beschäftigen, die aufzeigen, unter welchen
strukturellen Rahmenbedingungen das Handeln global agierender Akteur_innen
stattfindet.
2. Globale Dilemmata
In diesem Zusammenhang ist die Dilemmapyramide von Senghaas (1996) eine
gute Beschreibung für die globalen Dilemmata, die im Folgenden erläutert wird.
Sicherheitsdilemma:
Bekannt ist das Sicherheitsdilemma (vgl. die systematische Darstellung bei Buzan
1991), welches das Verhalten politischer Einheiten in einem Umfeld „struktureller
Anarchie“, d.h. der Abwesenheit einer übergeordneten politischen Instanz,
beschreibt. Der Ost-West-Konflikt ist ein typisches Beispiel: Er spitzte sich
3 In (auch noch nach Jahrzehnten) provisorischen Lagercamps mit mehr oder weniger gut ausgestatteter
Infrastruktur in Ländern, die wirtschaftlich kaum in der Lage sind, diese Menschen zu versorgen.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 6
unaufhaltsam bis zur Androhung der gegenseitigen Vernichtung zu. Das
Sicherheitsdilemma ist so alt wie die Koexistenz organisierter Kollektive.
Mit der Ungewissheit über die Absichten und das Verhalten anderer fühlt
sich jede politische Einheit in ihren Handlungsmöglichkeiten von der Gegenseite
entweder eingegrenzt oder im Extremfall in ihrer Existenz bedroht. Die
Akteur_innen glauben, sich nur auf die eigenen Kräfte und Ressourcen stützen zu
können (self-reliance). Es werden Abwehr- und Durchsetzungsstrategien in
Verbindung mit einem Wettrüsten entwickelt. Da jeder unter diesen Bedingungen
existiert, produziert das Sicherheitsdilemma eine Eskalation und
Verselbständigung der Strategiemechanismen und der Rüstungsproduktion.
Diesem Dilemma liegt also ein potentiell gewaltträchtiger Charakter inne. Die
Überwindung des Sicherheitsdilemmas muss im typischen Problem der defizitären
Erwartungsverläßlichkeit4 liegen, d.h. zum Beispiel in der Etablierung einer
hegemonialen Ordnung, von vertraglich angelegten Sicherheitsgemeinschaften
oder internationalen Organisationen. Heutzutage findet sich diese Konfliktstruktur
in vielen regionalen Konflikten in Lateinamerika, Afrika, im Nahen Osten und
Asien (insbesondere zwischen Pakistan/Indien oder zwischen Nordkorea und
Südchina, Japan, China und USA).
Entwicklungsdilemma:
Ein weiteres strukturelles Dilemma, das Entwicklungsdilemma, existiert noch
nicht so lang wie das Sicherheitsdilemma, nämlich erst seit ungefähr 150 bis 250
Jahren (Carey 1999, S. 37ff.). In einer stetig vernetzten Welt und
unterschiedlichen Entwicklungsniveaus werden spezifische Problemlagen aktuell,
die mit den Begriffen ‚Problem nachholender Entwicklung‘,
‚Verdrängungswettbewerb‘ und ‚Peripherisierungsdruck‘ umschrieben werden
können. Mit dem Auseinanderklaffen von Know-how, organisatorischen
Fähigkeiten und technologischen Innovationen entfaltet sich das ökonomische
System in Spitzen- und Nachzüglerökonomien. Ohne Schutzbarrieren sind die
weniger leistungsfähigen Ökonomien dem Verdrängungswettbewerb durch die
starken ausgeliefert. Drastisch konnte man dies nach der Einführung der
Währungsunion in der ehemaligen DDR (1. Juli 1990) miterleben. Ökonomien,
die sich gegenüber dem Konkurrenzdruck nur unvollkommen behaupten können,
werden peripherisiert. Das Problem der „nachholenden Entwicklung“ stellt sich
4 Erwartungsverläßlichkeit meint hier die Transparenz der Handlungsabsichten aller wesentlichen
Akteure, die Kalkulierbarkeit ihrer Interessen und eine weitgespannte Koordination ihres Handelns
(Senghaas 1994, S. 124f.).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 7
also durch die Bedingungen einer hierarchisierten Weltwirtschaft. Das
Entwicklungsdilemma ist nun nicht mehr nur im globalen Süden virulent, sondern
existiert ebenfalls in Ost- oder Südeuropa.
Der Ansatz zur Überwindung des Entwicklungsdilemmas liegt in einer
Ankoppelung an die Leitökonomie (Assoziation) oder gegebenenfalls, bei
mangelnden eigenen Ressourcen oder Schutzvorkehrungen, in der Abkoppelung
(Dissoziation). Politisch virulent ist eine ökonomische Randständigkeit und
Diskriminierung, da dies meistens verbunden ist mit politischer Rechtlosigkeit und
kultureller Überfremdung, die mit Ethnopolitik bzw. mit einer Politik des
Ethnonationalismus5 beantwortet wird.
Nicht nur ökonomische oder politische sondern auch ökologische
Zerrüttung in den Entwicklungsregionen verursachen Ströme an Geflüchteten, die
in alle Welt gehen und kaum regional aufgefangen werden können. Der OECD-
Raum ist hiervon betroffen. Auch der Drogen-, der Menschenhandel und der
Terrorismus finden zusätzlich ihre ‚Märkte‘. Militantes Verhalten wird sich bei
ansteigenden Frustrationen vermehren und als angemessenes
Kommunikationsmedium angesehen werden (vgl. Wöhlcke 1991). Hier ist der
Nahe Osten ein deutliches Beispiel für Ethnonationalismus.
Ökologiedilemma:
Der problematische Umgang mit der Natur und den erdgebundenen Ressourcen
wird immer öfters thematisiert. Hierbei wird dem Homo oeconomicus, einem
egoistisch denkenden Nutzenmaximierer (vgl. Sen 1984, S. 200-229), ein Homo
oecologicus mit einem zyklisch-evolutiven Bewusstsein der Gemeingüter6
gegenübergestellt. Obwohl dieses Problemfeld schon seit längerem existiert,7
5 Ethnopolitik bedeutet, dass die (politische) Identität zur Disposition steht. Es geht hier nicht um
sachorientierte Interessenpolitik, sondern stark um konstitutive Bedingungen politischer
Gemeinschaften. Auf dieser emotionalen Ebene werden Volksgruppenzugehörigkeit, Sprache und
Religion relevant. Bei Ethnonationalismus steht die Herausbildung einer eigenen „nat ionalen“ Identität
über Sicherung der Territorialität, Etablierung einer Nationalökonomie und Homogenisierung im
Vordergrund.
6 Gemeingüter sind Güter, die von allen genützt werden (können) und von deren Genuss niemand
ausgeschlossen werden kann. Auf die Schädigung oder Zerstörung der Gemeingüter durch rational
kalkulierte Nutzenmaximierung machte schon Hardin (1968, S. 1243ff.) aufmerksam.
7 Die Verkarstung des Balkangebietes ist zum Beispiel auf die Abholzung für den antiken römischen
Schiffsbau zurückzuführen. Macchie, ein immergrünes Gebüsch des Mittelmeerraums, ist durch
Abholzung entstanden. Auf Madagaskar ist durch die Methode des wandernden Brandfeldbaus und
durch Überweidung nur noch 1/81/5 der natürlichen Vegetation erhalten. Auch durch seine bloße
Anwesenheit greift der Mensch in die Ökosysteme ein; siehe Krause & Langer 1996, S. 101-119;
Seibold 1992, S. 52ff.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 8
politisch brisant wurde es erst seit kürzester Zeit, da die Vernetztheit ökologischer
Kreisläufe und ihre globalen Auswirkungen so nach und nach zu Tage treten.
Ein Anfangspunkt war die erste in Stockholm abgehaltene
Umweltkonferenz der UNO von 1972 (Sand 1986, S. 177). Als ökologische
Problemlagen wurden exemplarisch genannt: der Verlust genetischer Ressourcen,
das Aussterben von Pflanzen und Tieren (Artenvielfalt), die Zerstörung regionaler
Ökosysteme (z.B. das Wattenmeer), die Abholzung von Wäldern, insbesondere
der tropischen Regenwälder, die fortschreitende Desertifikation, die Luft-,
Gewässer- und Meeresverschmutzung, Verknappung der Süßwasservorräte, die
Übersiedlung von Ballungsräume, die Erosion des Bodens, Zerstörung der
Ozonschicht in der Stratosphäre (Ozon-Loch) mit gleichzeitigem Ozonanstieg in
Bodennähe (Smog), der Treibhauseffekt mit Ansteigen des Meeresspiegels etc.
Somit werden im Sinne einer ‚Weltrisikogesellschaft‘8 Bedrohungen transnational
verteilt. Es betrifft jeden, ob Industrieland oder Entwicklungsland.9 Wir können
demnach feststellen, dass die aktuellen Gefahren- und Konfliktlagen eine
Vermischung von militärischen Machtkalkülen, ökonomischen
Peripherisierungsmechanismen und die (mehr oder weniger gute) Verarbeitung
ökologischer Bedrohungspotenziale sind, die insgesamt auf das
Migrationsgeschehen bzw. Lebenssituationen von Menschen (insbesondere auf
Menschen, die im globalen Süden leben) einwirken und damit als potenzielle
Fluchtfaktoren wirken.
Die folgenden zwei Faktoren sind als „Prozess-Faktoren“ anzusehen, die
die Entwicklung und Steuerung von Migrationsregimen10 erschweren (können)
(vgl. Butollo 2016, S. 215ff., der eine sehr gute und kritische Betrachtung von
globalen Migrationsregimen unter ökonomischer Perspektive liefert.).
Vollständigkeitshalber sollen diese noch kurz beschrieben werden.
Koordinationsdilemma
Mit der Entwicklung zur globalen Gesellschaftswelt werden grenzüberschreitende
Kontakte (Verkehr, Information, Kommunikation etc.) und mobile Personen zum
Normalfall (vgl. Weiß 2017; Carey 1999). Besonders in politischen
Handlungsfeldern führt die Dichte der Interaktionen zu einer Informationsflut und
8 In einer Risikogesellschaft geht es nicht mehr um die Beseitigung eines Mangels an
Bedürfnisbefriedigung, sondern um die Verteilung bzw. um die Beseitigung der Zivilisationsrisiken
durch Gefährdungslagen (Beck 1986, S. 61ff.). Vgl. auch Senghaas-Knobloch 1992, S. 53-71.
9 Allerdings, darauf weist Meyer-Abich hin (1996, S. 221ff.), werden die Entwicklungsländer und
insbesondere die LLDC (least und less developed countries) unter den globalen Veränderungen am
meisten zu leiden haben. Er spricht deshalb vom neuen Öko-Kolonialismus.
10 Regime ist der Begriff für ein spezialisiertes Regelwerk.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 9
führt zu einer Steigerung an Komplexität, z.B. staatliche Finanzierung,
wohlfahrtsstaatliche Leistungen, globaler Warenaustausch, Wettbewerbsdruck,
Umweltkatastrophen, kommunale Industrien, Medien/Informationen, kulturelle-
religiöse Konflikte (vgl. auch Willke 1996, S. 35ff.), demzufolge auch zu einem
höheren Erwartungs- und Steuerungskompetenzdruck an die verantwortlichen
Akteur_innen („Revolution der steigenden Erwartungen“, v. Beyme 1991, S. 131).
In diesem Zusammenhang wurde das Schlagwort der „Unregierbarkeit“ geprägt,
das erstmals im Bericht der „Trilateralen Kommission“ popularisiert wurde (vgl.
Crozier et al. 1975; siehe auch Streeck 2015).
Eine hochmobile und mit einem dichten, kommunikativen
Interaktionsnetz ausgestattete Gesellschaft weist ein Politisierungspotenzial auf,
das auf Kurzfristigkeit und auf Partikularinteressen angelegte Rationalitäten
exponentiell verstärkt und so einen kontraproduktiven Gesamteffekt für das
politische System ergibt (vgl. Riescher 1994). Für die Aufgabe einer kollektiven
Positionsoptimierung existiert deshalb unabdingbar ein Koordinationsbedarf
individuellen Handelns. Koordinationsstrukturen müssen folglich in
unterschiedliche Kontexte eingebettet werden. Ob Sicherheits-, Entwicklungs-
oder Ökologiedilemma - in jedem Bereich erfordert die Koordinationsaufgabe
spezifisch eigene Strukturen. Diese Dilemmata können sich auf internationaler
Ebene durch synergetische Effekte überlagern und verstärken. Damit wird eine
Institutionalisierung der Koordinierung für alle Bereiche und darüber hinaus nötig.
Werteorientierung:
Damit die oben beschriebenen Strukturen ihrer Aufgabe gerecht werden (können),
bedarf es einer Fundierung in eine gemeinsame Wertebasis, die überhaupt neben
dem Problemdruck eine Verregelung der globalen Beziehungen voranbringt
(vgl. Carey 1999). Ohne eine „gemeinsame Sprache“ (bildlich gesprochen) ist ein
Kooperations- und Koordinationsprozess nicht möglich. Auch der Turmbau zu
Babel musste nach erfolgter Sprachverwirrung scheitern. Die normativ-
moralische Interdependenz (als Teil der Werteorientierung) hat die Aufgabe, für
eine „gemeinsame Sprache“ zu sorgen und den Austausch über Werte und
Begrifflichkeiten aufrechtzuerhalten. Da auch in diesem Bereich ein
Koordinationsdilemma existiert (Herausforderung des Universalismus gegen den
Partikularismus, Globalismus gegen Regionalismus) (vgl. auch Benhabib 2016),
sind demgemäß die institutionelle und die normativ-moralische Interdependenz
als zentrale Aufgabe globaler Politik anzusehen.11
11 Das bedeutet, dass Regelungen zur Aushandlung von kulturellen und normativen Werten geschaffen
werden müssen.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 10
Die nächsten Abschnitte zeigen Migration als kulturanthropologisches und
historisches Phänomen auf, welche unsere Lebenswirklichkeiten schon immer
begleitet haben.
3. Migration als ein kulturanthropologisches Phänomen
Wie anthropologische Studien beweisen, war die Wanderung von Menschen von
Anfang an ein Teil unserer Lebenssituation (vgl. Six-Hohenbalken & Tosic 2009).
Nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse begannen die Wanderungen,
insbesondere des homo sapiens, zuerst in Ost- und Südafrika.
Aus einer historischen Perspektive kann man Migration in vier Formen
unterteilen, wobei man gegenwärtig den Beginn einer fünften Migrationsform
beobachten kann (siehe unter Kapitel 5). Die historisch erste Form ist die
Nomadenmigration, die für uns Menschen bis zur Neolithischen Revolution (vgl.
Noll 2010, S. 32ff.) (10.000 v.Chr. bis ca. 6.000 v. Chr.) die nahezu alleinige
Vergemeinschaftungsform war. Ihr wirtschaftliches Kennzeichen sind archaische
Jäger-, Sammler- und Hirtengesellschaften. Für Europa war die
Nomadenmigration bis ins 13. Jahrhundert nach Christus, um diese Zeit
insbesondere durch Mongol_innen, von Bedeutung. Nomadenmigration hat
heutzutage allerdings nur noch eine marginale Bedeutung (vgl. Leder 2005, S. 19-
22). Durch ökologische und politische Veränderungen wird das Leben der
Nomad_innen heute bedroht. Die traditionellen Wanderrouten sind durch die
moderne Infrastruktur stark eingeschränkt. Zu den bekanntesten nomadischen
Völkern gehören die Tuareg aus der Sahara, die Mongolen, die Aborigines in
Australien oder Pygmäen in Mittelafrika. Als nomadische Völker in Europa
können die Samen aus Skandinavien genannt werden.
Die zweite Migrationsform sind die Besiedelungsmigrationen und
Kolonialisierung. Nach der Sesshaftwerdung (Neolithische Revolution) einiger
(wandernder) Völker und der Bildung von Proto-Staaten (z.B. Antike Nil-Kultur
[Alt-Ägypten], Mesopotamien, Südliches China) entstanden Gesellschaften, die
den geografischen Raum zur Besiedlung der Erde nutzten. In Form mehrerer
Wellen wurden der europäische Raum (zuerst der Mittelmeer-Raum und
Palästina)12, der Orient (insbesondere Persien, Indien und Südostasien) und Nord-
12 Die archäologischen Datierungen der sesshaften Landwirtschaft mit Getreideanbau zeigen die
Besiedlungsrichtungen für den europäischen Kontinent auf: von Südosten nach Nordwesten (Britische
Inseln) verlaufend. Vgl. u.a. Bacci 2015, S. 13ff.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 11
/Südamerika (ohne Kontakt zu den anderen Kontinenten) besiedelt (vgl. u.a. Bacci
2015, S. 13ff.). Die wichtigsten Faktoren hierbei waren zum einen die
Fortpflanzung und das demografische Wachstum, zum anderen die Fähigkeit, den
Lebensort zu wechseln. Die durchschnittliche Ausbreitungsgeschwindigkeit in der
prähistorischen Besiedlung von Land beläuft sich auf einen guten Kilometer pro
Jahr (vgl. Ammerman & Cavalli-Sforza 1971, S. 674688). Mit der immer dichter
besiedelten Erde, insbesondere in den letzten 2000 Jahren, waren die
Möglichkeiten unangefochtener Verbreitung immer seltener.
Als eine Hochphase für eine neue europäische Besiedlungsmigration kann
die so genannte Völkerwanderung (‚Barbarian Migration‘) angesehen werden.
Durch den Einfall der Hunnen (als nomadisierendes Reitervolk) im Jahr 375
n.Chr. aus dem Osten haben sich Bevölkerungen vieler germanischer Stämme
nach Süden und Westen Europas aufgemacht, um neues Siedlungsland zu suchen.
Gründe waren neben Bevölkerungszuwachs und damit verbunden Landnot
ebenso Eroberungs- und Kriegslust. Als Folge wurde das Ende des (West-)
Römischen Reiches eingeläutet (vgl. Fehr & von Rummel 2011).
Unter den Besiedlungsmigrationen ragt das im 11.-14. Jahrhundert Geschehene
besonders heraus: die Migration nach Osteuropa (vgl. im Folgenden Bacci 2015).
Aufgrund von Pest und einer demografischen Depression in West- und
Mitteleuropa (starker Rückgang der Bevölkerung) entstanden in diesen
Jahrhunderten drei Migrationswellen:
Südliche Migration: Besiedlung der Donaugebiete in Richtung der
ungarischen Ebenen;
„Mittlere“ Migration: von den Niederlanden bis zu Thüringen, Sachsen
und Schlesien, die germanischen Kulturen nach ‚Österreich‘;
Nördliche Migration: Besiedlung der Ostseeküste, Baltikum und
Gründung von Städten wie Rostock und Königsberg.
Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein gesteuerter, organisierter und
geplanter Migrationsprozess von den Fürsten Markgraf von Meißen und den
Bischöfen und Rittern des Deutschen Ordens durchgeführt13. Die slawische Ur-
Bevölkerung wurde hierbei nach Osten verdrängt (wie bei den Kelten bei der
Besiedelung von Mittel- und Westeuropa bzw. Jahrzehntausende früher bei den
13 Im 12. Jahrhundert: Kolonisation von Holstein, Mecklenburg und Brandenburg; im 13. Jahrhundert:
Immigration ins östliche Brandenburg, Pommern, Schlesien, in den Norden von Mähren; im 14.
Jahrhundert: Höhepunkt der Besiedlung von Preußen und Gründung vieler Städte in Osteuropa (vgl.
Bacci 2015).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 12
Neandertaler-Stämmen gegenüber der Besiedelung durch den Homo sapiens). Die
damaligen Migrationsgründe waren:
dünn besiedeltes und unbebautes Land im Osten;
hohes handwerkliches Niveau im Gegensatz zu Osteuropa (Jagd, Fischfang
und Wanderagrikultur): Schmiedekunst, Wassermühlen, Ackerbau
(Pflüge, Äxte und Geräte) und Viehzucht;
relativ kurze Entfernungen zwischen Herkunfts- und Zielgegenden
Werbung über die Fürsten: Zuweisung eines Hofes von etwa 20 Hektar
Land; Ansiedlung in einem Dorf, frei von jeglicher Belastung, konnte
vererbt, verkauft und wieder verlassen werden;
Familienstruktur im Herkunftsland: Großfamilien und restringierte
Erbfolge, d.h. Söhne und Töchter ohne Erbschaften.
Die Folge war starkes demografisches Wachstum und Verstärkung der Migration;
die Migrationsgeschwindigkeit, d.h. die Besiedelungsgeschwindigkeit waren
beinahe 1000 Km in einer Dauer von drei Jahrhunderten.
Die nächste große Besiedelungsmigration im Rahmen einer globalen
Kolonialisierung der Erde geschah in den vier Jahrhunderten von 1500-1900 nach
Übersee. Europa, das in den vorhergehenden Jahrhunderten Ziel von
Einwanderungsströmen gewesen war, wird jetzt Ursprung von
Auswanderungsbewegungen. Die erste überseeische Expedition war 1502 mit
einer Flotte von 32 Schiffen mit durchschnittlich 80 Personen von Spanien nach
Santa Domingo (mit Lebensmittel, Wasser, Gepäck, Werkzeug, Rohstoffe,
Saatgut, Pflanzen und lebendige Tiere). Von 1506-1515 stießen pro Jahr ca. 30
Schiffe aus spanischen Häfen. Von 1590-1620 waren es bereits jährlich 100
Schiffe nach Übersee!14 Die Besiedlungen (neben Deportationen) gingen in die
gesamte Welt hinaus und beläuft sich auf Millionen von Menschen: Nord- und
Südamerika, die afrikanischen Küstenregionen und Nordafrika, Indien, Australien
(Zuwanderung seit 1787/1788; zuerst über Deportation von Gefangenen),
Neuseeland und die Mikronesische Inselterritorien: Karolinen, Marshallinseln,
Nördliche Marianen (insbesondere durch Deutschland). Die letzte (reine)
Besiedlungswelle findet sich in Sibirien von 1892 bis 1908, welches durch den
14 Ziel und Zweck der überseeischen Migration waren neben der Besiedelung die wirtschaftliche
Ausbeutung (Rohstoffe, Edelmetalle, wie Gold, Silber) und der Aufbau von Gewerbe und Industrien.
Das Problem war das massive Sterben der einheimischen Bevölkerung aufgrund von Krankheiten,
dadurch entstand ein Mangel an Arbeitskräften. Durch die epidemiologische Trennung von Viren und
Bakterien in Amerika und Australien ist die einheimische Bevölkerung an europäischen Erregern
massiv erkrankt und eine große Anzahl an einheimischen Menschen gestorben. Gesamtbevölkerung
im spanischen Süd- und Mittelamerika in vorkolumbianischer Zeit: 40 Mio., 1570 9 Mio. und 1620
nur noch 4 Mio. (vgl. Bacci 2015).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 13
Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891-1916) stark unterstützt und über das
zaristische Russland (seit 1896) über „Kundschafterwesen“ (staatlich finanzierte
Pioniermigranten; Übernahme von Krediten und Fahrtkosten und günstige
Konditionen für eine Ansiedlung) gesteuert worden ist.15
Die Besiedelungen gingen, bei dem Vorhandensein einer Ur-
Bevölkerung, zum größten Teil mit gewaltsamen Verdrängungen und mit großem
Leid der einheimischen Bevölkerung einher. Die Phase bloßer
Besiedlungsmigrationen ist historisch vorbei, da es keine unbesiedelten Flächen
auf der Erde mehr gibt, die aufgrund klimatischer Lebensbedingungen noch
besiedelbar wären. Sollte es in ferner Zukunft möglich sein, andere Planeten zu
besiedeln, dann würde die Form einer Besiedlungsmigration wieder an Bedeutung
gewinnen. Eine andere Konsequenz wären die Auswirkungen der globalen
Klimaveränderungen, die eine neue Migrationsform begründen können.
4. Moderne Formen von Migration
Die aktuell (aus historischer Perspektive) modernen Migrationsformen sind vor
allem die Arbeitsmarktmigrationen und die Gewalt- und Fluchtmigrationen.
Seitdem es „Arbeitsmärkte“ gibt, migrieren Menschen zu den „Arbeitsmarkt-
Orten“ hin, wo es eine Nachfrage nach Erwerbsarbeit gibt oder wo eine Nachfrage
antizipiert wird. Die ersten lokalen Arbeitsmärkte entstanden im 14. und 15.
Jahrhundert in den neu aufblühenden Städten der Renaissance und der
neuzeitlichen Handelszentren (Hanse, Venedig und Norditalien, Niederlande,
Augsburg, Niederlauf des Rheins) (vgl. Noll 2010). Im 16. Jahrhundert entstanden
erste überregionale Arbeitsmärkte: Nordseeküste, Pariser Gegend, Madrid und
Kastilien, Küsten von Katalonien bis zur Provence, Poebene bis zum Apennin,
südliche Toskana, Rom, Latium und Korsika (vgl. im Folgenden Oltmer 2016 und
Bacci 2015). In dieser Form überformte die Arbeitsmarktmigration die bereits
andauernde Besiedlungsmigration, transformierte diese und verstärkte die
überseeische Migration.
Eine besondere Mischform von Arbeitsmarkt- und Gewaltmigration bildet
der afrikanische Sklavenhandel im 18. Jahrhundert. Seit Anfang des 15.
Jahrhunderts wurde für Europa der Zuckerrohranbau in Nordamerika, den
karibischen Inseln und den Küstenregionen von Südamerika intensiviert.
15 Zuwanderung von jährlich 90.000 (1892), 223.000 (1899) bis auf 758.000 (1908); das Ziel war die
Erschließung von Rohstoffen und den Aufbau einer guten Ausgangsposition zur Erschließung von
China (vgl. Oltmer 2016).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 14
Begonnen hat der Zuckerrohranbau auf den Kanarischen Inseln, Madeira,
Kapverdischen Inseln vor Westafrika. Zuckerrohranbau benötigt jedoch hohe
Kapitalinvestitionen und einen hohen Arbeitskräfteeinsatz. Aufgrund der hohen
Arbeitskräftenachfrage wurden aus Afrika stammende Menschen mit Hilfe der
lokalen afrikanischen Herrscher gefangen genommen und versklavt.
Afrikanische Sklav_innen wurden gemeinhin als resistenter gegen Krankheiten
angesehen als die einheimische amerikanische Bevölkerung. Die Portugiesen
übernahmen die Handelsnetzwerke und belieferten damit auch die amerikanischen
Inseln und Produktionsstandorte. Im Laufe der Zeit wurde die Produktpalette
diversifiziert: Tabak, Kaffee und Baumwolle (von südliches Nordamerika,
Karibik und Brasilien). Im 17. Jahrhundert wurden 1,2 Mio. Afrikaner deportiert;
von 1700 bis 1800 (Hochphase): 4,2 Mio. Menschen; bis 1867: 3,4 Mio.
Menschen. Die Herkunftsräume waren Westafrika, das westliche Zentralafrika
von Senegal bis Angola, aber auch Indischer Ozean und Arabien. Da der Wert
eines Sklav_innen sehr hoch war16, lieferten die Portugiesen an die afrikanischen
Herrscher europäische Waren wie z.B. Textilien, Waffen, Salz, Pferde, Alkohol
und Tabak. Die interkontinentalen Bewegungen für die Plantagenökonomie liefen
Mitte des 19. Jahrhunderts aus.
Wie bereits dargestellt veränderte sich die Besiedlungsmigration zu einer
Arbeitsmarktmigration. Ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nahm die
europäische Auswanderung die Merkmale eines globalen Massenphänomens an.
Hintergründe der Massenabwanderung aus Europa waren:
Wachstum der europäischen Bevölkerung aufgrund von
Agrarmodernisierung und Industrialisierung (das Bevölkerungswachstum
war höher als Arbeitsbedarf in den Städten);
Hoher Bedarf an Arbeitskräften in Übersee;
Kolonialisierungswellen der europäischen Großmächte und eine erste
ökonomische Globalisierung Ende des 19. Jahrhunderts;
Aufgrund von technischen Innovationen (Fahrzeuge, Schiffstechnik und
verbesserte Telekommunikationstechnik) ist die Mobilität leichter:
Anstieg der Binnenmigration, kürzere Zeitdauern bei der
Überseeschifffahrt (Reisedauer nach Nordamerika: Segelschiff: 44 Tage;
Dampfschiff: nur noch 14 Tage);
16 Im Gegensatz zur heutigen modernen Sklaverei durch illegalisierte Arbeitsmigrant_innen aus dem
globalen Süden: Landwirtschaft (in Südspanien und Polen), Pflege (vor allem Osteuropa), Prostitution
und Bau (markant auch bei Welt-Bauprojekten, z.B. Olympiaveranstaltungen, Fußballstadien für
Weltmeisterschaften).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 15
Stärkere Verelendung und Verarmung (Pauperisierung);
Missernten und Wetterveränderungen (harte und lange Winter);
Keine „freien“ Siedlungsgebiete in Europa mehr;
Unterdrückung von Freiheit durch autoritäre politische Nationalstaaten.
Die größten globalen Arbeitsmärkte waren im 19. und 20. Jahrhundert die USA17,
die Mandschurei18, das Mündungsdelta des Irrawaddy im britischen Burma durch
den Reisanbau von indischen landwirtschaftlichen Arbeitswanderern, das
Mekong-Delta im französischen Vietnam mit landwirtschaftlichen Produkten, wie
Reis, Tee, Soja, und die Insel Ceylon (Tee) mit Indern aus den Regionen Kerala
und Tamil Nadu. Außerdem war Australien für die Weltwirtschaft im
Allgemeinen und Großbritannien im Besonderen aufgrund seiner wichtigen
ökonomischen Leitbranche wichtig: Zucht von Merinoschafen und der Export von
Wolle für die expandierende Textilindustrie. Ferner wurden dort 1851 Gold und
Opale gefunden. Dies führte zu einer rapiden Steigerung der europäischen und
chinesischen Zuwanderung (Britische Bergbaukolonie). Argentinien ist nach den
USA das weltweit wichtigste Ziel europäischer Überseemigration gewesen. Durch
eine landwirtschaftliche Modernisierung und wertvolle Bergbauprodukte
beteiligte sich Argentinien vermehrt am Welthandel. Seit 1870er Jahren war und
ist Argentinien einer der wichtigsten globalen Exporteure von Rindfleisch
(Viehwirtschaft), Weizen, Mais, Wolle und Leder. Als neues ökonomisches
Migrationsmodell entstand die transatlantischen Saisonwanderungen aus Italien
[Golondrinas] Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg. Das südliche
Afrika wurde innerhalb eines Jahrzehnts19 durch die Funde von Gold in
Witwatersrand/Transvaal in den 1885er Jahre, Diamanten am Orange River (der
späten 1860er Jahren) und Kupfer in Nord-Rhodesien (später: Sambia) zu einem
Zuwanderungsland par excellence durch Zuwanderung vor allem durch
afrikanische Arbeiter aus Basutholand, Lesotho, Njassaland, Malawi, Mosambik.
Aus Kostengründen wurden vom indischen Subkontinent für landwirtschaftliche
Produktionen (Zuckerrohr, Gerber-Akazie [für medizinische Zwecke und
17 Die USA als großer Arbeitsmarkt entstand durch einen agrar- und industriewirtschaftlichen Boom
(z.B. Anteil an der globalen Baumwollproduktion von 0,5 % (1791) zu 68 % (1850) und die territoriale
Expansion/Erweiterung) (Oltmer 2016).
18 Die Arbeitsmöglichkeiten in der Mandschurei waren: Erschließung von Bergwerken, Bau von
Eisenbahnen, Waldarbeit, Anbau von Sojabohnen. 1889 lag der Export von Sojabohnen und -
produkten bei 81 % der Gesamtausfuhr an Produkten. Seit 1880: Steigerung der Zuwanderung der Han-
Chinesen (aus den Provinzen Shandong und Hebei) und Japaner. In den späten 1920er Jahren gab es
eine Zuwanderung im Umfang von jährlich einer Million Menschen (ebd.).
19 Johannesburg (Zelt und Hüttendorf in 1886) entwickelte sich innerhalb eines Jahrzehnts zur
Großstadt (ebd.).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 16
Lederverarbeitung], Teesträucher, Bananenstauden) indische Arbeiter und
Dienstleister angeworben.
Summa summarum war Europa für Jahrhunderte eher ein
Auswanderungskontinent. Erst nach Ende des 2. Weltkriegs begann die (Massen-
)Zuwanderung im Rahmen der Dekolonisation nach (West-)Europa. Die
modernen globalen Arbeitsmärkte sind heutzutage die OECD-Länder,
Argentinien, Südafrika, Australien und Neuseeland, Japan und die Arabische
Halbinsel. Der ökonomische Strukturwandel in den OECD-Ländern seit den
1970er Jahren bedeutete einen Niedergang alter Industrien (Eisen- und
Stahlindustrie, Textilindustrie, Bergbau), die großflächige Rationalisierung und
Automatisierung mit der Folge eines Sinkens der Nachfrage nach unqualifizierten
bzw. einfachen Arbeitskräften. Daher bewegen sich die speziellen
Arbeitswanderungen von unqualifizierten/einfachen Arbeitskräften vorrangig in
die Golfstaaten, Malaysia, Thailand, Taiwan und Südkorea.
Eine andere moderne Seite von Migration ist die Gewalt- bzw. die
Fluchtmigration. Formen von Gewaltmigration (Flucht, Vertreibung,
Deportation) sind dadurch gekennzeichnet, dass staatliche, halb- und zum Teil
auch parastaatliche Akteure (Über-)Lebensmöglichkeiten und körperliche
Unversehrtheit, Freiheit und politische Partizipationschancen, Souveränität und
Sicherheit von Einzelnen oder Kollektiven so gefährden, dass diese Menschen ihre
Herkunftsorte verlassen müssen oder sie gezwungen werden, diese zu verlassen.
Der Begriff der Flucht verweist auf die Reaktion auf Gewalt oder
Gewaltandrohung, die zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen,
genderspezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Das
bedeutet, dass institutionelle oder organisierte Akteure ihren Zwang unter
Androhung und Anwendung von Gewalt legitimieren und räumliche Bewegungen
erzwingen, z.B. über Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen. Weitere
Ziele können auch sein, Zwangsarbeitskräfte zu gewinnen oder (Teile von)
Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen bzw. zur
Sicherung und Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen.
Fluchtmigration kann ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert bis in die
heutige Zeit in unterschiedlichen Kontexten verfolgt werden: durch Kriege oder
Bürgerkriege verursacht, Flucht vor Unfreiheit (vor Leibeigenschaft, Sklaverei
oder Soldatenpressen) sowie Flucht vor Verfolgung aufgrund von religiös-
konfessionellen, teilweise auch ethnisch-religiösen Zugehörigkeiten (vgl.
Lachenicht 2016, S. 10-17). Der afrikanische Sklavenhandel wurde bereits oben
dargestellt. In Europa war in dieser Zeit vor allem auch die Verfolgung von
Migration in einer turbulenten Weltordnung 17
Andersgläubigen akut, weil man diese Menschen als Gefahr für Staat und Kirche,
für Orthodoxie und gesellschaftlichen Frieden ansah. In Europa änderte sich dies
erst mit der Etablierung von Glaubens- und Religionsfreiheiten mit der
Amerikanischen beziehungsweise Französischen Revolution im 18. Jahrhundert.
Zu den bekanntesten Beispielen für erzwungene Migrationen im Europa
gehören die Verfolgung der Juden seit der Zeit der Kreuzzüge oder die
Ausweisung der Sepharden (auf der Iberischen Halbinsel lebende Juden) im Jahre
1492 im Zuge der Reconquista, der „Rückeroberung“ des heutigen Spanien und
Portugal durch christliche Fürsten von den muslimischen Herrschern (vgl. Gerber
1994, S. 115144; Benbassa & Rodrigue 2000, S. 2228). Die muslimischen
Untertanen der spanischen Krone wurden dann in Folge ebenfalls systematisch im
frühen 17. Jahrhundert vertrieben beziehungsweise teilweise zwangsdeportiert,
insgesamt 270.000 bis 300.000 sogenannte Morisken (vgl. Harvey 1990, S. 331
335; Terpstra 2015, S. 2 f.). Auch andere Glaubensgemeinschaften wurden im
Spätmittelalter aufgrund ihres Glaubens verfolgt: christliche „Ketzer“ wie die
Albigenser oder die Anhänger von John Wycliffe (etwa 13301384) und Jan Hus
(etwa 13691415), die Hussiten.
Die Verfolgung und Flucht von Andersgläubigen nahm mit der
Reformation stark zu. Zwischen dem frühen 16. und dem späten 18. Jahrhundert
wurden Tausende von Menschen vertrieben bzw. mussten flüchten: Täufer,
Hutterer, Mennoniten, Wallonen, Hugenotten, niederländische Katholiken,
Puritaner, Quäker, Böhmen, Herrnhuter, Salzburger Protestanten, Protestanten aus
der Steiermark und aus Kärnten, katholische Akadier (heutiges Nova
Scotia/Kanada), French Prophets und Shaker (vgl. Kroeker 2014, S. 1–8; Terpstra
2015 (Anm. 2), S. 1–7). Radikale Anglikaner, die sogenannten Puritaner, verließen
ab den 1620er Jahren England, um in den englischen Kolonien in Nordamerika
(Plymouth, Rhode Island und Boston) neue Gemeinwesen zu errichten. Es folgten
englische Katholiken (Kolonie Maryland) und ab den 1650er Jahren
Presbyterianer und Quäker, die nach 1680 eine dauer-hafte Bleibe in Pennsylvania
fanden. In den 1730er Jahren wies der Fürstbischof von Salzburg „seine“
Protestanten aus, die in Preußen und der britischen Kolonie Georgia in
Nordamerika eine neue Heimat fanden (vgl. Wilson 2000, S. 217245).
Gerade in diesem Kontext entwickelte sich das maßgebliche
Rechtsinstitut des Asyls im europäischen Recht (vgl. Lachenicht 2016, S. 10-17).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 18
Hierfür war das Edikt von Potsdam20 von 1685 ein wichtiges Rechtsinstrument für
Asyl und Integration für Hugenotten und andere Flüchtlingsgruppen.
Insgesamt gilt das 20. Jahrhundert als das ‚Jahrhundert der Flüchtlinge‘
(vgl. Oltmer 2016a, S. 18ff.). Hintergründe waren insbesondere die beiden
Weltkriege und die globale Dekolonisation.21 Der Zweite Weltkrieg soll
Schätzungen zufolge (nur) in Europa 60 Millionen Geflüchtete, Vertriebene und
Deportierte mobilisiert haben. Das sind mehr als zehn Prozent der Bevölkerung
des Kontinents. Die gleiche Zahl gilt für den Ersten Weltkrieg mit zusätzlich 7-8
Millionen Kriegsgefangenen (vgl. Oltmer 2016, S. 80). Nach dem Kriegsende
entstanden nach den beiden Weltkriegen Folgewanderungen, insbesondere von
jeweiligen Minderheiten in einem (ggf. neu gegründeten) Land. Dazu zählten zum
einen Rückwanderungen von Geflüchteten, Evakuierten, Vertriebenen,
Deportierten oder Kriegsgefangenen. Außerdem führten die Bestrebungen der
Siegerstaaten, die Bevölkerung ihres (zum Teil neu gewonnenen) Territoriums zu
homogenisieren, ebenfalls zu Ausweisungen, Vertreibungen oder
Fluchtbewegungen von Minderheiten (vgl. z.B. Gatrell 2013; Schwartz 2013).
Bis in die heutige Zeit liegen die Hauptursachen von Flucht und Gewalt
im Handeln autoritärer Systeme, insbesondere durch nationalistische,
faschistische und kommunistische Systeme auf der einen Seite, andererseits in
Regionen der Staatslosigkeit: um soziale Homogenität durch gewaltsame
Nivellierung von Lebensverhältnissen und Lebensentwürfen zu erreichen, um
„ethnische“ oder „rassische“ Homogenität zu erzwingen (wie insbesondere im
nationalsozialistischen Machtbereich). Als Fazit kann man sagen, dass das Europa
im 20. Jahrhundert eigentlich das Hauptproblem der globalen Flüchtlingsfrage
war: Europa als Kriegsschauplatz und Europa als Träger eines weltumspannenden
Kolonialismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden infolge des Kalten Krieges und
der Dekolonisation folgende Folgen (vgl. Oltmer 2014, S. 2646):
Arbeitsmigration fand zwischen Ost und West nicht mehr statt. Die einzigen
Bewegungen beschränkten sich meist auf Flucht oder Ausweisung von
20 Das Edikt gewährte Hugenotten die Etablierung von „Colonien“ mit eigenen Kirchen, Schulen,
eigenem Recht, Steuerfreiheit für zehn Jahre, Land und Baumaterialien, Finanzhilfen beim Aufbau von
Handwerksbetrieben und Manufakturen (vgl. Lachenicht 2016, S. 10-17).
21 Vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande (in den späten 1940er Jahren),
Frankreichs (in den 1950er und frühen 1960er Jahren), des British Empire (in den 1940er Jahren) sowie
Portugals (Anfang der 1970er Jahre) brachte umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit
sich. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1980 kehrten insgesamt fünf bis sieben Millionen Europäer
im Kontext der Dekolonisation aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten auf den europäischen Kontinent
„zurückdarunter viele, die weder in Europa geboren waren noch je in Europa gelebt hatten (vgl.
Oltmer 2016a, S. 18ff.).
Migration in einer turbulenten Weltordnung 19
Dissidenten aus dem Osten in den Westen. Bei vereinzelten Destabilisierungen
von „östlichen“ Staatswesen und deren kurzzeitigen Zusammenbrüche der
Grenzregime führte dies zur Abwanderung Zehn- oder Hunderttausender.22
Militärische Konflikte führten im letzten Drittel des 20 Jahrhunderts und
im 21. Jahrhundert ebenfalls zu Millionen an Geflüchteten: Palästina (seit 1948,
insbesondere seit 1973), Vietnam (seit Mitte der 1970er Jahre), Afghanistan (seit
Ende 1979 [Invasion durch die Sowjetunion] und wieder beginnend seit 2001 mit
dem Einmarsch der westlichen Allianz) und Iran („Iranische Revolution“ 1979).
Aktuelle Konflikte haben wir in Europa (Jugoslawien [in den 1990er Jahren],
Ukraine), im Nahen Osten (Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen), in Ostafrika
(Äthiopien, Somalia, Sudan/Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste,
Mali, Nigeria), in Südasien (Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in Lateinamerika
(Kolumbien).
Die Zahlen für die vergangenen Jahrzehnte ermittelten Geflüchteten
schwanken. Eindeutige Hochphasen im globalen Fluchtgeschehen sind die frühen
1990er Jahre (mit dem Zerfall von Jugoslawien) und die Mitte der 2010er Jahre
(o.g. Konflikte im Nahen Osten und Nordafrika). Derzeitige Fluchtmigrationen
finden sich vor allem in aller Regel in der Nähe der vornehmlich im Globalen
Süden liegenden Herkunftsstaaten mit einem relativ geringen Anteil von
Fluchtmigration nach Europa hinein.
5. Post-Moderne Migrationsform
Oben wurden die globalen Dilemmata eingeführt, vor allem das
Sicherheitsdilemma, das Entwicklungsdilemma und das ökologische Dilemma.
Die ersten zwei Dilemmata decken im Grunde genau die bekannten modernen
Migrationsformen ab: die Gewalt- und Fluchtmigration gehören in den Bereich
des Sicherheitsdilemmas, die Arbeitsmarktmigration korrespondiert mit dem
Entwicklungsdilemma. Das neue Ökologiedilemma weist auf die wahrhaft
globalen Auswirkungen menschlich gemachter Fehlentwicklungen in
ökologischen Kreisläufen hin. Für das 21. Jahrhundert können wir folgende
Entwicklungen konstatieren:
weiterer gravierender Anstieg der Weltbevölkerung vor allem in China ,
Indien und Südostasien;
22 Das galt vor allem für die Ereignisse in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich
für die Auflösung des „Ostblocks“ in den späten 1980er und Anfang der 1990er Jahren.
Migration in einer turbulenten Weltordnung 20
massive Urbanisierungen im globalen Süden: Lateinamerika, Afrika,
Asien;
gravierende Veränderungen der Umwelt: Klimawandel, Artensterben
(insbesondere von Bestäubungsinsekten [Bienen] und Vögel),
Verschmutzung der Meere, Überfischung, Verknappung von Trinkwasser
und Verödungen, Überdüngung, Belastungen der Nahrungskette,
schlechte Energieeffizienzen, Feinstaubbelastungen und sonstige
Belastungen (Strahlen etc.), Anstieg an Emissionen (Kohlendioxid,
Kohlenmonoxid, Ruß, FCKW).
Deshalb könnte aus dem Ökologiedilemma eine neue Migrationsform
resultieren, welches man als Existenz-Migration bezeichnen könnte. Diese
Migrationsform ist derzeit nach Ansicht des Verfassers in ihren Anfängen global
tatsächlich zu beobachten.
Migration ist demnach trotz der unterschiedlichen Ursachen und
Kausalitäten ein altes Phänomen, welches jedoch in Zeiten der Globalisierung
neue Komplexitäten hervorruft. Die Suche nach ganzheitlichen, globale
Perspektiven integrierenden Lösungen unter den strukturellen
Rahmenbedingungen internationaler Politik wird noch andauern. Aufgrund der
vielen Schicksale von Menschen, die „unterwegs“ sind, braucht es jedoch schnell
Regeln und Strukturen, die die Menschenrechte beachten und eine Perspektive
zur „transnationalen“ Lebensbewältigung beinhalten.
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Chapter
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Welche unterschiedlichen Gruppen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Europa mit unterschiedlichem Ziel und unterschiedlichem rechtlichen Status in Bewegung waren, zeigt der Beitrag von Jochen Oltmer. Die Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 umfassten Kriegsheimkehrer, DP's (Displaced Persons), Flüchtlinge, Evakuierte, Umsiedler, ehemalige Zwangsarbeiter, Vertriebene und Deportierte. In Deutschland erreichten diese Wanderungsströme in den 1940er und 1950er Jahren ihren Höhepunkt. Sie sind in ihrer Vielschichtigkeit nicht allein auf die Auswirkungen der Systemkonfrontation im Kalten Krieg zu reduzieren. Oltmer beschreibt Deutschland als einen Schauplatz von Massen(zwangs)wanderungen und bezieht dabei auch die Abwanderung von Deutschen ins Ausland, beispielsweise in die USA, nach Kanada und Australien, ein. Spätestens seit den 1960er Jahren glichen sich die deutschen Migrationsverhältnisse dem europäischen Muster an. Nun stand nicht mehr ausschließlich das Chiffre "Flucht und Vertreibung" im Mittelpunkt, vielmehr die Anwerbepolitik der Bundesrepublik mit dem Ziel, ausländische Arbeitskräfte für den westdeutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. (Zitiert aus der Einleitung von Bispinck/ Hochmuth)
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Die folgenden Ausführungen streben danach, Grundlinien der (bundes)deutschen Migrationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg zu skizzieren und sie einzubetten in die Genese der europäischen Migrationsverhältnisse. Der Beitrag konzentriert sich auf die Bedingungen, Formen und Folgen der Etablierung eines europäischen Arbeitsmigrationsregimes seit den späten 1940er Jahren, geht aber auch auf neue Migrationsmuster nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ein. Ziel ist es, durch die Auseinandersetzung mit langen, Jahrzehnte überblickenden Linien des historischen Wandels einen Beitrag zu leisten, die migratorischen Prozesse und Strukturen der Gegenwart in Deutschland und Europa verstehen und erklären zu können.
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Migration ist ein globales Zukunftsthema. Debatten über die Folgen des Wachstums der Weltbevölkerung, den Zustrom von Flüchtlingen aus aller Welt oder die Alterung der Gesellschaften im reichen "Norden" zeigen dies in aller Deutlichkeit. Nur selten wird jedoch klar gesehen, dass Migration und Integration Ergebnis historischer Prozesse und staatlich verordneter Politik sind. Jochen Oltmers souveräner Überblick zeigt die Hintergründe, Formen und Konsequenzen globaler Migration in der Neuzeit und schildert die großen Bevölkerungsbewegungen, die die Welt im 19. und 20. Jahrhundert fundamental geprägt haben. Den jüngsten Entwicklungen widmet diese überarbeitete und aktualisierte Auflage besondere Aufmerksamkeit.
Book
The religious refugee first emerged as a mass phenomenon in the late fifteenth century. Over the following two and a half centuries, millions of Jews, Muslims, and Christians were forced from their homes and into temporary or permanent exile. Their migrations across Europe and around the globe shaped the early modern world and profoundly affected literature, art, and culture. Economic and political factors drove many expulsions, but religion was the factor most commonly used to justify them. This was also the period of religious revival known as the Reformation. This book explores how reformers' ambitions to purify individuals and society fueled movements to purge ideas, objects, and people considered religiously alien or spiritually contagious. It aims to explain religious ideas and movements of the Reformation in nontechnical and comparative language.