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Racial Profiling und antirassistischer Widerstand als Raumpraxis!

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Abstract

Im folgenden Beitrag werden wir Racial Profiling und den Widerstand dagegen aus einer räumlich-urbanen Perspektive betrachten. Den Begriff Racial Profiling verwenden wir dabei in einem engen Sinne von dis kriminierenden Personenkontrollen durch die Polizei und die Zollwache und verstehen ihn als Ausdruck von institutionellem und strukturellem Rassismus. Grundlage bildet die Annahme, dass soziale Prozesse nicht raum- und ortlos sind, sondern immer in bestimmten Räumen stattfinden, die selber aus sozialen Prozessen resultieren. Aus dieser Perspektive sind Rassismus wie auch Antirassismus stets verortet und finden in spezifisch sozial formierten Räumen statt. Rassismus realisiert sich in Form von Racial Profiling durch die Polizei in öffentlichen, städtischen Räumen, oft gerade in Räumen von zentraler und infra struktureller Bedeutung wie in Bahnhöfen, an Flughäfen oder in Ausgangsvierteln.
Heidrun Aigner, Sarah Kumnig (Hg.):
STADT FÜR ALLE!
Analysen und Aneignungen
mandelbaum kritik & utopie
Inhalt
Heidrun Aigner und Sarah Kumnig
7 Vorwort und Überblick
ANALYSEN
Sarah Schilliger
14 Urban Citizenship
Teilhabe für alle– da, wo wir leben
Tania Araujo und Marissa Lobo
36 maiz ist nicht hierhergekommen, um über die
Migrant_innen zu reden– maiz ist gekommen,
um über euch zu reden!
Verschriftet von Martha Kuderer und Romina Weleba
Sheri Avraham und Niki Kubaczek
56 Die urbanen Undercommons
Autonomie der Migration und Politik der
Nachbar_innenschaft
ANEIGNUNGEN
Katharina Morawek
80 Alle, die hier sind, und die noch kommen werden
Über das (Schweizer) Demokratiedefizit und
neue Modelle politischer Teilhabe
Sarah Kumnig
96 Wohnraum für wen?
Sozialer Wohnbau in Wien als Verhandlungszone
städtischer Teilhabe
Ali Asghar Mohammadi und Georg Mayr
113 Ausgrenzungen und Sprache
Erfahrungen aus der Praxis von PROSA
Rea Jurcevic, Tarek Naguib, Tino Plümecke,
Mohamed Wa Baile & Chris Young für die
Schweizer Allianz gegen Racial Profiling
122 Racial Profiling und antirassistischer Widerstand als
Raumpraxis
Kieberei, was geht?! Initiative gegen Polizei auf
unseren Straßen
149 Sicherheit für Alle!
Praktische Schritte hin zu einer Stadt ohne Polizei
LEFÖ und Red Edition im Gespräch mit
Sandra Jurdyga und Brigitte Temel
171 Sex Work is Work
Sexarbeiter_innen haben Lust auf Rechte
Annika Rauchberger
191 Stadt für Alle?
Bettelverbote als Instrumente städtischer Kontrolle
über den öffentlichen Raum
Katharina Röggla
208 Wie geht Stadt für Alle aus Sicht der offenen Jugendarbeit?
Happy Akegbeleye, Petja Dimitrova,
Clifford Erinmwionghae, Heidrun Aigner
228 Naija Akatarians: „Our Message is the Power of the
Migrants“
245 Autor_innen und Initiativen
122
REA JURCEVIC, TAREK NAGUIB, TINO PLÜMECKE, MOHAMED WA BAILE &
CHRIS YOUNG FÜR DIE SCHWEIZER ALLIANZ GEGEN RACIAL PROFILING
Racial Profiling und antirassistischer
Widerstand als Raumpraxis
Im folgenden Beitrag werden wir Racial Profiling und den
Widerstand dagegen aus einer räumlich-urbanen Perspektive
betrachten. Den Begriff Racial Profiling verwenden wir dabei in
einem engen Sinne von dis kriminierenden Personenkontrollen
durch die Polizei und die Zollwache und verstehen ihn als Aus-
druck von institutionellem und strukturellem Rassismus. Grund-
lage bildet die Annahme, dass soziale Prozesse nicht raum- und
ortlos sind, sondern immer in bestimmten Räumen stattfinden,
die selber aus sozialen Prozessen resultieren. Aus dieser Perspektive
sind Rassismus wie auch Antirassismus stets verortet und finden
in spezifisch sozial formierten Räumen statt. Rassismus realisiert
sich in Form von Racial Profiling durch die Polizei in öffentli-
chen, städtischen Räumen, oft gerade in Räumen von zentraler
und infra struktureller Bedeutung wie in Bahnhöfen, an Flughäfen
oder in Ausgangsvierteln.1 Diese öffentlich-städtischen Räume
sind nicht bloße Raumbehälter, in denen Arbeit oder Freizeit statt-
findet, sondern diese öffentlichen Räume werden unter anderem
durch rassistische Polizeipraktiken mit hervorgebracht. Oder mit
1 Praktiken, die Teil von Racial Profiling sind, finden auch in weiteren Räu-
men statt, etwa in den Einsatzwagen der Polizei, in den Kontrollzentralen
von Videoüberwachungssystemen usw. In diesem Beitrag fokussieren wir
auf den öffentlichen Raum.
123
den Worten von Henri Lefebvre: „Der (soziale) Raum ist ein (sozi-
ales) Produkt.“2 (Lefebvre 2009: 26). Auf Grundlage der Ziele
und Initiativen der Bewegung Allianz gegen Racial Profiling ent-
werfen wir hier eine raumsensible Analyse von Racial Profiling.
Die inter- und transdisziplinär ausgerichtete Bewegung hat zum
Ziel, Aktivitäten zu entwickeln und zu stärken, mit denen dis-
kriminierende Polizeikontrollen bekämpft werden.3 Sie vernetzt
und unterstützt Betroffene von Racial Profiling in der Schweiz,
macht Medienarbeit und koordiniert politische Stellungnahmen.
Sie versucht in öffentliche und institutionelle Diskurse einzuwir-
ken, um die Deutung der Polizei, bei Racial Profiling handle es
sich um Ausnahmeerscheinungen oder individuelles Fehlverhal-
ten, herauszufordern und diese Praxis stattdessen als systemati-
sches Problem anzuprangern. Damit versucht die Allianz auch in
die Produktion von Räumen einzugreifen und dominante, rassisti-
sche Raumproduktionen zu destabilisieren. Als einer der zentralen
Faktoren für die Mobilisierung bestehender und neuer Aktivitäten
operieren Rechtsverfahren wie dasjenige von Mohamed Wa Baile
gegen die Stadtpolizei Zürich, das immer wieder und in unter-
schiedlichen räumlichen Arenen als Ermutigung zur kollektiven
Mobilisierung oder in ermahnender Weise– je nach Perspektive
auftritt. Im Folgenden wollen wir vier räumlich-urban orientierte
Blicke auf Racial Profiling und den Widerstand dagegen richten.
Dafür legen wir (1) zunächst unser analytisches Instrumentarium
dar und ordnen (2) die Praktiken des Racial Profiling durch die
Polizei in einen rassismustheoretischen Rahmen ein. Dann stellen
2 Die Übersetzungen von Lefebvre stammen von den Verfasser*innen und
orientieren sich an Schmid 2005.
3 Zu den Aktivitäten im Rahmen der Allianz gegen Racial Profiling zählen
unter anderem jene der Kollaborativen Forschungsgruppe zu Racial Pro-
filing sowie jene des Forschungskollektivs „Rassismus vor Gericht“, wel-
ches kritisches Wissen zu Racial Profiling dokumentiert und produziert.
124
wir (3) anhand von Interviews mit Betroffenen von Racial Profi-
ling dar, wie die Polizeikontrollen deren Erleben des öffentlichen
städtischen Raumes beeinflussen, was ihre Aneignung des Raumes
erschwert und begrenzt und wie sie auf diese Andersbehandlungen
reagieren. In der Folge erörtern wir (4), wie vor Gericht rassisti-
sche Polizeipraktiken legitimiert werden, aber auch, wie der weiße
Raum der Gerichtsverhandlung antirassistisch unterminiert wer-
den kann. Schließlich demonstrieren wir (5) anhand der Praxis von
inszenierten Tribunalen die Schaffung von alternativen, antirassis-
tischen Räumen der Kommunikation.
Die Produktion städtischen Raums: Racial Profiling und
antirassistischer Widerstand als Raumpraxis
Lefebvre unterscheidet drei Dimensionen der Produktion von
(städtischen) Räumen: „räumliche Praxis“, „Repräsentationen des
Raums“ und „Räume der Repräsentation“ (Lefebvre 2009: 38ff.).
Was etwas sperrig klingt, ist ein Versuch, die Herstellung von Räu-
men durch alltägliche menschliche Tätigkeit analytisch in drei
zentrale Aspekte aufzuteilen. Diese fokussieren auf das Materielle,
Physische des Raums, auf (machtvolles) Wissen und auf die vielfäl-
tigen Bedeutungen, die Menschen den Räumen geben, in denen
sie leben. Diese Dimensionen können zwar analytisch getrennt
werden, sind aber dennoch als gleichzeitige Momente der Produk-
tion von Raum zu denken (vgl. Schmid 2005: 208). Sie beziehen
sich einerseits auf die Produktion neuer Räume, andererseits auf
die Aneignung bereits bestehender Räume, wobei auch Produk-
tion und Aneignung nicht strikt zu trennen sind (Belina 2013: 79).
Die erste, die materiell-praktische Dimension der Raumproduktion,
bei Lefebvre „räumliche Praxis“ genannt, umfasst das Zusammen-
spiel etwa von Gebäuden, Straßen, Beleuchtung, unseren Körpern
usw. sowie Praktiken wie: zur Arbeit eilen, schlendern, Gebäude
bauen, wohnen usw. Räume haben immer eine materielle Dimen-
125
sion, und Menschen sind durch die Materialität ihrer Körper ste-
tig in Räume eingebunden. Dies sind kollektive Prozesse, Raum
wird erst durch die Summe der räumlichen Praktiken aller Akteure
hervorgebracht. Die zweite Dimension der Raumproduktion (bei
Lefebvre: die Repräsentationen des Raumes) fokussiert auf Wissen
und umfasst machtvolle, technische, wissenschaftliche und recht-
liche Entwürfe und Vorstellungen von Raum und Räumen. Ikoni-
sche Stadtansichten, statistische Karten oder Gesetze über Verkehr,
Raumplanung oder Staatsbürgerschaft sind Beispiele für Reprä-
sentationen, die Räume mitproduzieren. Diese Vorstellungen von
Räumen sind von Wissensbeständen geformt, teilweise von impli-
zitem, auch unbewusstem, Wissen, teilweise von öffentlich verfüg-
barem Wissen. Über Vorstellungen von Räumen wird in öffentli-
chen Debatten verhandelt und gestritten, wobei die Durchsetzung
von bestimmten Repräsentationen von Räumen Dominanzver-
hältnisse (wie u.a. rassistische) miterzeugt. Zur Frage steht dann:
Wer und was ist in einem Raum, in einer Stadt erwünscht, wer/
was nicht? Was wird als legitim angesehen, wem werden Freihei-
ten zugestanden, wer wird als Problem definiert? Die dritte, sym-
bolische Dimension von Raumproduktion nennt Lefebvre „Räume
der Repräsentation“. Damit sind die vielfältigen Bedeutungen
gemeint, die wir alle den Räumen, in denen wir leben, zuschreiben
(Belina 2013: 47–48, 55–57). Lefebvre spricht bei dieser Dimen-
sion vom „gelebten Raum“ (Lefebvre 2009: 39). Dieser beinhaltet
auch sehr subjektive sowie kollektive subkulturelle, marginalisierte
Bedeutungen, die oft im Gegensatz zu den hegemonialen Reprä-
sentationen von Raum stehen. Die materiell-praktische Produk-
tion und Aneignung von Räumen geht dabei immer mit der sym-
bolischen Produktion beziehungsweise Aneignung einher. Räume
werden im Zuge jeglicher sozialer Praxis symbolisch aufgeladen
und von den Benutzer*innen als Räume mit Bedeutung erlebt. So
kann ein städtischer Platz ein Symbol wichtiger politischer Ereig-
126
nisse sein, ein Straßenzug kann für eine Bewohnerin ein Zuhause
bedeuten. Räume können auch negativ aufgeladen sein, etwa
wenn der Ort einer erlebten Polizeikontrolle mit Angst besetzt
ist oder ein Stadtteil für gefährlich gehalten wird. Die Raum-
produktion beinhaltet damit strukturell Momente des Konflikts,
die durch die Unterscheidung der drei Dimensionen klarer wer-
den sollen. Diese Konflikte entstehen dadurch, dass dominante–
oft staatliche– Vorstellungen eines Raums auf eigensinnige und
widerständige Bedeutungen treffen. Die Bedeutung eines Raums
kann im Zuge seiner Aneignung „kippen“, indem die dominan-
ten Repräsentationen des Raums infrage gestellt und ausgehebelt
werden. Betrachten wir Racial Profiling im Lichte der drei Dimen-
sionen von Lefebvre, so handelt es sich dabei zunächst um eine
materiell-räumliche Praxis, die durch den Einsatz von Fahrzeu-
gen, Barrieren, Handschellen, Körpern von Polizist*innen oder
die Wahl von Patrouillenrouten usw. entsteht und damit städti-
sche Räume (mit-)produziert. Racial Profiling beruht zugleich auf
rassistischen Repräsentationen von Räumen, zum Beispiel auf der
Aufteilung der Welt in eine moderne, weiße „erste Welt“ im glo-
balen Norden und eine rückständige, nichtweiße Welt im glo-
balen Süden. In teils expliziter, teils impliziter und unbewusster
Weise knüpfen polizeiliche Strategien und Handlungen an sol-
che Repräsentationen an. Diese Repräsentationen in öffentlichen
Diskursen als rassistische aufzudecken, kann Teil einer Strategie
gegen Racial Profiling sein. Racial Profiling produziert schließ-
lich für die rassistisch Kontrollierten Räume des Unbehagens oder
der Angst, Räume, in denen die Polizei jederzeit auf sie zugrei-
fen kann, während für weiße Menschen ein „Freiraum“ produziert
wird, da meist die „Anderen“ kontrolliert werden. Damit wird die
Teilhabe an Gesellschaft, die auch durch die Aneignung öffentli-
cher Räume möglich wird, nur bestimmten Personengruppen in
vollem Umfang ermöglicht. Die Arbeit der Allianz gegen Racial
127
Profiling setzt auf allen Ebenen Lefebvres an. Bestehende räumli-
che Praktiken sollen destabilisiert werden, durch Aneignung und
Umnutzung– und sei es nur vorübergehend– etwa durch antiras-
sistische Aktionen wie Straßentheater oder Infokampagnen oder
indem Passant*innen auf diskriminierende Polizeikontrollen aus-
drücklich reagieren. Das sind Ansätze zu antirassistischer räumli-
cher Praxis, sowohl in ihrer materiell-praktischen als auch in ihrer
symbolischen Dimension. Dabei geht es nicht nur um städtische
Straßen und Plätze, sondern auch um den Gerichtssaal und den
Theatersaal als Räume, die selber und deren Rolle in der Produk-
tion von dominanten Raumrepräsentationen verändert werden
sollen. Auch die dominanten Repräsentationen städtischer Räume
und deren Institutionalisierung in Gesetzen oder Karten sollen als
rassistisch und repressiv problematisiert werden, etwa durch poli-
tische und mediale Interventionen. Das Ziel solcher antirassisti-
schen Raumpraxen ist, dass diskriminierungsfreie Räume ermög-
licht werden, wodurch die Stadt erst zu einer Stadt für Alle wird.
In welchem Kontext Diskriminierung und Rassismus begrifflich
in diese Analyse integriert werden können, davon ist im Folgen-
den die Rede.
Racial Profiling als institutioneller und struktureller Rassismus
„Stadtluft macht frei.“ Dieser Sinnspruch, der einem mit-
telalterlichen Rechtsgrundsatz entstammt, formuliert eine par-
tielle Freiheit und markiert den städtischen Raum als beson-
deren Ort: Während auf dem Land jeder Mensch entweder als
Gemeinschaftsangehörige*r, als bekannt oder als „fremd“ erkannt
wird, konnte die Stadt schon im Mittelalter etwa zur Flucht aus
der Leibeigenschaft dienen, ließ in der Industrialisierung die „dop-
peltfreien Lohnarbeitenden“ und die Soziale Frage entstehen.
Die Stadt gilt in der Postmoderne als Hort einerseits der (prekä-
ren) Kreativproduktion als auch der Hoffnung auf eine revoltie-
128
rende „Multitude“ (Hardt/Negri 2003), etwa in Form von Kämp-
fen für ein „Recht auf Stadt“ (Lefebvre 2016). Doch die „Freiheit“
der sich entwickelnden liberalen Gesellschaften war immer eine
ambivalente und keinesfalls für alle geltende: Zwar ist der öffent-
liche Raum– nicht nur, aber insbesondere der Stadt– auch mit
Rechtsprinzipien, wie der individuellen Bewegungsfreiheit, der
prinzipiellen „Unschuldsvermutung“, dem daran angekoppel-
ten Verbot „verdachtsunabhängiger Kontrollen“ sowie dem Ver-
bot von Diskriminierungen verknüpft,4 aber diese grundlegenden
Freiheitsrechte gelten nicht für alle gleich, sondern sind für man-
che Bevölkerungsgruppen beschränkt. Der öffentliche Raum ist
also keinesfalls für jede und jeden in gleicher Weise „offen“. Eine
Reihe von Personen wird dort von der Polizei, von Sicherheits-
diensten oder auch von Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft
als vermeintlich außerhalb der Norm gesehen und diskriminie-
rend behandelt. Bettelnde, Jugendliche in Gruppen, Drogenge-
brauchende, Obdachlose, Punks, allgemein Personengruppen,
die nicht in gewollter Weise am Konsum teilnehmen, aber auch
Sexarbeitende oder Personen, die Kleinstgewerbe betreiben, sind
von Schikane und Vertreibung mittels diverser Maßnahmen (z.B.
durch ständige Kontrollen, Demontage von Sitzgelegenheiten,
Beschallung etc.) betroffen. Darüber hinaus wird der (Frei-)Raum
für Personen mit sichtbaren Merkmalen, die sie als vermeintlich
nichteinheimisch, als nichtweiß oder als Muslim*in markieren,
beschränkt, und das trotz völkerrechtlicher Vorgaben, EU- und
nationalstaatlicher Regelungen sowie Polizeigesetzen und -codi-
4 Verbote der Diskriminierung gehören zu den gewichtigsten Grundsätzen
im internationalen Menschenrechtsschutz, im europäischen Unionsrecht
sowie in nationalen Verfassungsrechten. Sie verbieten unter anderem jede
Form von Rassismus sowie (nicht qualifiziert gerechtfertigter) Benach-
teiligung aufgrund sensibler Merkmale wie der Herkunft, Religion, dem
Geschlecht oder einer Behinderung.
129
zes, die diskriminierende Handlungen verbieten. Übertragen auf
die heutige Zeit muss deshalb der historische Ausdruck „Stadtluft
macht frei“ auch als Chiffre für die Notwendigkeit von Kämpfen
für Aufenthalts-, Gestaltungs- und Bewegungsfreiheit gelten, mit
denen in diskriminierende nationalstaatliche Regelungen und ras-
sistische Praxen staatlicher Institutionen interveniert wird. Diskri-
minierende Polizeikontrollen, die aufgrund von rassifizierten und
ethnisierten Merkmalen erfolgen, sind dabei geradezu ein paradig-
matischer Fall von institutionellen und strukturellen Rassismen.
Als Gegenstück zu intentionalem oder auf unbewussten Vorurtei-
len beruhendem Rassismus bilden institutionelle und strukturelle
Formen Ausdrucksweisen von Rassismus ab, die in üblichen Defi-
nitionen eher ausgeblendet sind. Wenn Rassismus als vergangenes
Phänomen oder als heute allenfalls am rechten Rand vorzufinden-
des Problem dargestellt wird, bleiben wesentliche Mechanismen
seiner Alltäglichkeit ungeklärt. Für ein umfassendes Verständnis
von Racial Profiling ist deshalb eine Rassismusanalyse notwendig,
die über vorurteilsbezogene und intentionale Rassismen hi naus
strukturelle und institutionalisierte Aspekte – wie diskriminie-
rende Effekte allgemeiner Normen und Werte einer Gesellschaft,
Gesetze, die auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zielen– mitein-
bezieht. Strukturelle Rassismen sind dabei als ein Grundproblem
moderner Gesellschaften, als verortet im Fundament von Kon-
zepten und Denksystemen, zu verstehen (vgl. u.a. Bonilla-Silva
1996 u. 2003). Vorstellungen etwa einer fortschrittlichen westli-
chen Kultur und eines entwicklungsbedürftigen globalen Südens
sowie viele weitere Stereotype erleichtern und legitimieren diskri-
minierende Zugriffe auf die Körper der „Anderen“. Mit einem sol-
chen moderne- und gesellschaftskritischen Ansatz wird Rassismus
130
in seinen verschiedenen Ausprägungen5 sowie in seinen Wand-
lungen6 fassbar, sodass Rassismen im Plural (Hall 2000: 11) zu
untersuchen sind.
Von strukturellen Rassismen analytisch zu unterscheiden
sind institutionelle Rassismen, die aus den formalisierten Abläu-
fen von Organisationen, Behörden oder Einrichtungen des öffent-
lichen Rechts resultieren (Feagin/Feagin 1978; Gomolla 2010).
Neben schriftlich kodifizierten Regeln sind es insbesondere die
impliziten Routinen, Führungsstile, amtlichen Anweisungen und
Kommunikationsformen, die rassistische Stratifikationen und
Diskriminierungen begünstigen. Institutionelle Diskriminierung
zeigt sich beispielsweise in Bildungssystemen, auf dem Wohnungs-
markt, im Erwerbssektor, im Gesundheitswesen und eben auch in
diskriminierenden Polizeikontrollen. Gesellschaftliche Erwartun-
gen werden hier in Institutionen– wie der Polizei und dem Grenz-
wachtkorps– zu Handlungspraxen, mit denen Minderheiten kon-
trolliert und überwacht werden, dies insbesondere dann, wenn in
den medialen Diskursen und politischen Debatten rassistische
Muster leichter mobilisiert werden. Für Minoritäten führt das zu
einem allgemeinen Versagen gesellschaftlicher Institutionen wie
der Polizei, da diese nicht der Aufgabe nachkommen, einen ange-
messenen Schutz und Service für People of Color und Schwarze
bereitzustellen (vgl. Macpherson 1999). Im Unterschied zu indi-
viduell-interaktionellen Diskriminierungen sind institutionelle
(wie auch strukturelle) Rassismen in der Regel nicht intentional
begründet und werden oft eher mittelbar deutlich, etwa in Form
von Ausschlüssen oder eingeschränkten Partizipationsmöglichkei-
5 Etwa als Anti-Schwarze-Rassismus, Antimuslimischer Rassismus, Anti-
Slawischer Rassismus, Antisemitismus, Antiromanismus etc.
6 Wie dem staatlichen, biologischen, kulturalistischen, color-blind, post-
rassialistischen, neoliberalen etc. Rassismus.
131
ten, die nur bestimmte Bevölkerungsgruppen oder diese überpro-
portional häufig treffen. Racial Profiling bezeichnet auf Grund-
lage eines analytischen Rassismusverständnisses Polizeipraktiken,
bei denen Personen aufgrund rassifizierter oder ethnisierter Merk-
male– vor allem Hautfarbe und (tatsächlicher oder zugeschriebe-
ner) religiöser Symbole– vermehrt Kontrollen unterzogen werden
(vgl. KOP 2016). Zwar sind die Auswirkungen für die Indivi-
duen unmittelbar merkbar, wenn sie aufgrund ihrer vermeintli-
chen Herkunft als Sicherheitsrisiko ausgemacht und deshalb wie-
derholt kontrolliert werden, aber das rassistische Muster wird erst
im Austausch in der Community von People of Color und wei-
teren Minoritäten sowie mit einem gesellschaftskritischen Blick
auf die Polizeipraxis sichtbar. Da vor allem Schwarze, People of
Color, Jenische7, Roma und Muslim*innen von Anhaltungen im
öffentlichen Raum, von Kontrollen des Ausweises, der Taschen,
der Kleidung bis hin zu Leibesvisitationen betroffen sind, liegt
hier eine systematische Diskriminierung vor, die für diese Perso-
nengruppen die Freiheiten des öffentlichen Raums beschränken
und darüber hinaus weitere Wirkungen (Vertrauensverlust gegen-
über der Polizei, Vermeidung von Räumen, überangepasstes Ver-
7 Als Jenische bezeichnet sich eine Bevölkerungsgruppe meist ursprünglich
fahrender Gewerbetreibender. Wesentliches vereinendes Merkmal ist die
gemeinsame Sprache. Von ca. 100.000 Jenischen vor allem in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz leben in der Schweiz um die 30.000,
darunter etwa 3.000 bis 5.000 fahrende. Die jenische Sprache gründet auf
dem Deutschen mit Lehnwörtern aus dem Romanes, dem Hebräischen
und dem Rotwelschen. Als Minderheit waren sie auch historisch einer
Reihe von Diskriminierungen ausgesetzt. Seit dem 19. Jahrhundert und
bis in die 1970er Jahre zwangen staatliche Behörden durch vielerlei Maß-
nahmen die Fahrenden sesshaft zu werden. Unter anderem wurden zwi-
schen 1926 und 1973 ca. 600jenische Kinder von ihren Familien getrennt
und in Heimen und als sogenannte „Verdingkinder“ platziert (vgl. Huon-
ker 2009).
132
halten, Scham, Schuldzuweisungen an sich selbst) erzeugen. Legi-
timiert werden diskriminierende Kontrollen, indem Polizist*innen
etwa auf Erfahrungswerte und Einschätzungslagen verweisen. Mit
solchen Rechtfertigungsnarrativen wird jedoch umso mehr der
sowohl institutionalisierte als auch strukturell begründete Charak-
ter dieser rassistischen Praktiken deutlich. Denn wenn Personen
aufgrund äußerer, als Normabweichung klassifizierter oder ver-
meintlich fremd wirkender Eigenschaften unter Generalverdacht
gestellt und einer Andersbehandlung durch die Polizei unterzogen
werden, stellt sich die Stadt für diese Personengruppen in ganz
anderer Weise dar. Eine Gesellschaft, die den öffentlichen Raum
und daran gekoppelte Freiheiten aber nur für die Mehrheitsbe-
völkerung zur Verfügung stellt und Minoritäten anhand sichtba-
rer Merkmale als potenzielle Gefahr, als stetig zu Überwachende
und zu Kontrollierende konstituiert, muss als rassistische bezeich-
net werden. Die Wirkungen solcher Andersbehandlungen werden
im Folgenden anhand einer Interviewstudie mit Personen, die (all-
täglich) dem Risiko von rassistischen Polizeikontrollen ausgesetzt
sind, geschildert.
Erlebter Raum: Rassismuserfahrung, Wirkungen und
Umgangsstrategien
Die Kollaborative Forschungsgruppe zu Racial Profiling in
der Schweiz8 hat seit dem Frühjahr 2016 30Interviews mit Per-
sonen durchgeführt, die Racial Profiling erleben. Ziel der Unter-
suchung ist es, die Bandbreite an diskriminierenden Polizeikon-
trollen sichtbar zu machen, die unterschiedlichen Erfahrungen
der Betroffenen zu dokumentieren und mit den Forschungser-
gebnissen eine Grundlage für eine antidiskriminatorische Praxis
8 Mitglieder sind neben den Autor*innen Daniel Egli, Ellen Höhne, Sarah
Schilliger, Florian Vock und Claudia Sumirah Wilopo.
133
von Aktivist*innen und Institutionen zu schaffen. Hierfür wur-
den Schwarze Schweizer*innen sowie Schweizer People of Color,
Geflüchtete, Sans-Papiers, Roma, Jenische, Sexarbeiterinnen und
Musliminnen mit Kopftuch befragt. So unterschiedlich die Poli-
zeikontrollen jeweils ablaufen und wirken, es lassen sich viele
Gemeinsamkeiten in den Berichten der Interviewpartner*innen
finden. Alle sehen einen klaren Zusammenhang der Kontrollen
mit ihrer Hautfarbe beziehungsweise ihrem vermeintlich frem-
den Aussehen. Die meisten berichten von häufigen Kontrollen
und dem ständigen Risiko, beim Einkauf, Spazierengehen oder
aus dem Pendler*innenstrom herausgepickt zu werden. Die über-
wiegende Mehrheit spricht von mit den Kontrollen zusammen-
hängenden sehr negativen Gefühlen wie Demütigung, Scham,
Angst, Wut und Ohnmacht. Ebony Amer9 etwa sagt dazu: „[D]
ieses Ausgeliefertsein, man kann machen, was man will, schluss-
endlich kann einem eh alles im Mund herumgedreht werden und
man hat keine Zeugen oder ja, man steht einfach alleine da.“ Die
Gefühle klingen allerdings zumeist nicht nach kurzer Zeit wie-
der ab, sondern erzeugen oft auch langfristige Folgen: „Es tut sehr
weh, da rüber zu reden. Es sind alte Wunden […]. Sie sind immer
noch da und sie sind wie ein Souvenir. Es schmerzt. Es ist auch
psychisch.“ (Ahmed Abdu) Solche Ereignisse können das Verhält-
nis zur Polizei nachhaltig stören und zu einem tiefen Vertrauens-
verlust führen: „Und wenn ich Polizei auf der Straße sehe, dann
nehme ich einen anderen Weg, dann gehe ich eine Abkürzung
oder so. Ich möchte nicht den Polizisten begegnen.“ (Tota Sino)
9 Alle Interviews wurden pseudonymisiert. Die Auswertung der Gesamt-
untersuchung ist derzeit in Arbeit und wird 2018 erscheinen. Im Folgen-
den sind aus Platzgründen nur einige der Interviewten mit Zitaten reprä-
sentiert.
134
Unterschiede in den Erzählungen machten sich in Bezug auf
die Umgangsstrategien bemerkbar. Viele Betroffene arrangieren
sich anfangs mit ihrer Situation oder machen sich gar selbst Vor-
würfe: „Du fühlst dich so minderwertig, wenn die Polizei dich
kontrolliert. Ich frage mich: Wieso immer ich? Steht etwas auf
meiner Stirn?“ (Ahmed Abdu) Mehrere Interviewpartner*innen
berichten, dass sie bestimmte Orte in der Stadt meiden und nicht
am Bahnhof oder an anderen Orten mit viel Polizei warten. Einige
schildern, dass sie sich extra chic kleiden, um Kontrollen möglichst
zu vermeiden: „[W]hen I have an important meeting […], when I
need to go to Hauptbahnhof […] for example, I wear a nice clas-
sic suit with the hat, just to not be recognized by the police and
catch me before this important meeting for me.“ (Tahar Baznani)
Einige Interviewte erklärten auch, dass sie sich nach regel-
mäßigen Kontrollen oft entmutigt fühlen, insbesondere dann,
wenn sie in solchen Situationen keinerlei Hilfe von Passant*innen
erhalten. Kaum eine Interviewte konnte von Personen berichten,
die sie während der Kontrolle unterstützt oder auch nur danach
gefragt hätte, wie sie sich fühlte. Mehrere schildern aber, wie
Passant*innen ihren Blick entweder vom Geschehnis abwandten
oder die Situation genau verfolgten, aber eher abfällig oder sensa-
tionsheischend zuschauten. Eine solche Reaktion wirke oftmals
wie eine zweite Verletzung der kontrollierten Person: „After being
checked, I felt totally uncomfortable, especially in public trans-
port. […] Because the people, society looks differently.“ (Chandra
Macasche)
Manche Interviewte versuchen, sich aufgrund ihrer Erfah-
rung möglichst unauffällig in der Öffentlichkeit zu bewegen:
„Nein, wenn du farbig bist, dann behältst du besser deinen Mund
zu, und lebst möglichst diskret.“ (Luzie Cluzet) Einige meiden
etwa den Augenkontakt mit Polizeibeamt*innen. Andere wiede-
rum sind der Meinung, dass der direkte Augenkontakt ein selbst-
135
bewusstes Auftreten impliziert und sie dies weniger verdächtig
aussehen lasse. Viele Interviewte lassen sich zwar ihr Recht auf
Teilnahme an Gesellschaft und Öffentlichkeit nicht nehmen, füh-
len sich aber in ihrer Mobilität eingeschränkt, haben ein ungutes
Gefühl, wenn sie sich in öffentlichen Räumen bewegen oder sind
jederzeit auf eine nächste Kontrollsituation gefasst: „I am not try-
ing to avoid, but I always expect it.“ (Chandra Macasche) Auf-
grund dessen gibt es einige, die sich aus der Öffentlichkeit oder
aus bestimmten Bereichen beinahe vollständig zurückziehen, wie
Tahar Baznani berichtet: „Many friends are scared– not going
to places like Centre Ville, Langstrasse, Oerlikon.“ Diese greifen
meist auf sogenannte „safe spaces“ zurück, also Orte, von denen
sie wissen, dass sie dort nicht ständigen Kontrollen ausgesetzt sind
und sich dort freier bewegen können. Als konkrete Orte, an denen
sie sich sicherer fühlen, benennen manche Interviewpartner*innen
ihr eigenes Zuhause, aber auch Treffpunkte politischen Engage-
ments, wie der „Autonomen Schule Zürich“, von Migrant*innen
selbstverwaltete Räume zum Deutschlernen und zur politischen
Bildung, während manche die Existenz von safe spaces für sich ver-
neinen und linkskulturelle Räume wie etwa die „Reitschule“ in
Bern eher meiden, da in deren Umkreis mit mehr Kontrollen zu
rechnen sei. Viele berichten aber auch, wie sie sich in unterschied-
licher Weise aktiv gegen diskriminierende Polizeikontrollen weh-
ren, etwa indem sie die Polizeibeamt*innen nach dem Grund für
die Kontrolle fragen und dadurch deren Verhalten infrage stel-
len. Dabei zeigt sich auch das Bedürfnis nach Solidarität, um den
Kampf um das Recht nicht alleine und isoliert austragen zu müs-
sen: „I am very glad that I could meet people […]. Because apart
from them it’s really depressive to go through this for so many
years.“ (Jay Anderson)
Den Wunsch, die Rassismuserfahrung nicht ohnmächtig und
alleine ertragen zu müssen, sondern sich mit anderen Schwarzen,
136
People of Color und weißen Alliierten kollektiv zu engagieren,
drückt ein weiterer Interviewter so aus:
„Es ist so befreiend, was jetzt alles passiert. Ich bin es nicht
gewohnt, und es ist nicht selbstverständlich: 2015 haben
wir uns einmal pro Monat nur unter schwarzen Menschen
getroffen, haben uns ausgetauscht als Betroffene. […] Und
heute gibt es ein Forschungsprojekt, Prozessbeobachtung,
diese Unterstützung, das ist so interessant […]. Die negati-
ven Gefühle, die die Erinnerung an die Polizeikontrollen aus-
lösen können, gibt es nicht mehr. Ich bin befreit durch den
gewaltfreien Widerstand, den es heute gibt. Das Gefühl der
Erniedrigung ist weg.“
Dieses Zitat stammt von Mohamed Wa Baile, der am 16.März 2015
eine Buße (Geldstrafe) von 100Franken erhalten hatte, weil er sich
weigerte, der polizeilichen Anordnung, sich auszuweisen, Folge zu
leisten. Mohamed Wa Baile zog das Verfahren mit Unterstützung
der Allianz gegen Racial Profiling bis vor das Bundesgericht, wo
es derzeit anhängig ist. Sein Fall bildet eine wichtige Orientie-
rung vieler Aktivitäten der Allianz, wie die folgenden Ausführun-
gen zur Beobachtung der erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung
am 7.November 2016 vom Bezirksgericht Zürich zeigen.
Gerichtsraum: Prozessbeobachtung als antirassistische Praxis
„Auch ich, Herr Wa Baile, wünsche mir eine Welt, in der
keine Vorurteile sind, für meine Kinder. Aber befolgen Sie wei-
ter die polizeilichen Anweisungen.“10 Das Zitat ist ein Ausschnitt
aus dem inoffiziellen Schlusswort des Richters, der am 7.Novem-
10 Vgl. Prozessbericht des Forschungskollektivs „Rassismus vor Gericht“,
abrufbar unter: www.stop-racial-profiling.ch/de/forschung/prozessbe-
obachtungsgruppe, betreffend: Bezirksgericht Zürich, GC 160218-L/U,
Urteil vom 7.November 2016.
137
ber 2016 Mohamed Wa Baile verurteilte, weil dieser sich im Feb-
ruar 2015 geweigert hatte, einer polizeilichen Anordnung am
Hauptbahnhof Zürich Folge zu leisten und sich auszuweisen.
Zur Verhandlung vor Gericht kam es, weil Mohamed Wa Baile
nicht mehr bereit war, sich rassistischen Polizeikontrollen wider-
standslos zu unterziehen.11 Er legte gegen die Buße Einspruch ein
und mobilisierte an die hundert Personen, die sich mit ihm am
Tag der Gerichtsverhandlung solidarisierten. Die Präsenz zahlrei-
cher People of Color und antirassistischer Alliierter, die den Pro-
zess beobachteten, war sicherlich ausschlaggebend dafür, dass der
Richter versuchte, sich einerseits mit dem Anliegen des Verurteil-
ten zu solidarisieren, aber andererseits dennoch die Polizei und den
Rechtsstaat als unfehlbare Autorität zu legitimieren. Im gesamten
Wortlaut liest sich die Passage im Protokoll der Prozessbeobach-
tungsgruppe wie folgt:
„Richter: ‚Ich respektiere und verstehe Ihr Anliegen, Herr Wa
Baile [schaut Wa Baile an]. Sie wehren sich dagegen, dass
Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Ich
verstehe die Leute, die sich dafür einsetzen. Setzen Sie sich
weiter dafür ein, auch wenn Sie wohl einen langen Atem
dafür brauchen werden. Aber wenn Sie es tun, tun Sie es wei-
terhin friedlich, so wie Sie es heute getan haben. Und damit
Sie es auch weiterhin tun können, ist es wichtig, dass Sie
den Anweisungen der Polizei Folge leisten. Auch ich, Herr
Wa Baile, wünsche mir eine Welt, in der keine Vorurteile
sind, für meine Kinder. Aber befolgen Sie weiter die polizei-
lichen Anweisungen. Vertrauen Sie diesem Rechtsstaat. Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Vertrauen Sie weiter-
hin darauf. Das Gesetz will eben auch, dass Sie den Polizis-
ten Folge leisten.‘ Mohamed Wa Baile lacht. Daraufhin der
11 Siehe weitere Ausführungen in Mühlemann/Naguib/Piskoty, S.32ff.
138
Richter: ‚Lachen Sie nicht.‘ Wa Baile entgegnet: ‚Ich muss
lachen, weil ich es immer wieder erfahren habe.‘“
Die Sequenz zeigt das Potenzial, wie durch antirassistische Inter-
ventionen im Gerichtsraum der institutionelle Rassismus der Jus-
tiz entlarvt und rassistische Routinen in der Praxis von Gerichten
irritiert werden können. Das vom Richter vorbereitete pädago-
gische Verteidigungsplädoyer in eigener Sache war als Monolog
geplant, wurde aber schließlich durch den Widerspruch des soeben
Verurteilten und die hör- und sichtbare Solidarität des Pu blikums
durchkreuzt. Der Kommentar illustriert, wie im Gerichtssaal
öffentliche Räume als weiß imaginiert werden. Es offenbart den
Paternalismus und die fehlende Empathie eines Richters, der zwar
über die juristische Macht verfügt, aber kein oder kaum Wissen
darüber hat, wie selektiv Rassismus wirkt und was es für People of
Color bedeutet, wenn die Rassismuserfahrung verharmlost oder
gar negiert wird. Während der gesamten Verhandlung geht der
Richter nicht mit einem Wort auf die Argumentation der Anwäl-
tin von Mohamed Wa Baile ein, die in ihrem Plädoyer ausführ-
lich aufzeigte, weshalb die Kontrolle rassistisch diskriminierend
war und was dies mit der Kultur und den Routinen der Polizei zu
tun hat. Anstatt sich mit den rechtlichen Argumenten zum Diskri-
minierungsverbot auseinanderzusetzen, flüchtet sich der Richter
in abstrakte und technokratische Ausführungen zur Frage, wann
sich eine Person einer polizeilichen Anordnung widersetzen dürfe.
Offenbar verfolgte der Richter das Ziel, Rassismus zu de-
thematisieren. Dabei ist er allerdings mit einer ungewohnten
antirassistischen Mobilisierung konfrontiert. Dass ein schwarzer
Mann, der von der Polizei bestraft wurde, die polizeiliche Autorität
infrage stellt und dabei von einem breiten Kollektiv getragen wird,
stellt die Routinen des Gerichts und sein Personal vor die Heraus-
forderung, sich zum Rassismusproblem zu verhalten. Das führt
zur paradoxen Situation, dass der Richter versucht, sich mit dem
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Anliegen des Kampfes gegen Rassismus irgendwie zu solidarisie-
ren, ohne über Rassismus zu sprechen, und daher unglaubwürdig
wirkt und unbeholfen agiert, weil die eigentliche Absicht dahin-
ter ist, die polizeiliche Autorität und die Autorität des Rechtsstaats
Zeichnung im Gerichtssaal des Bezirksgerichts Zürich, Verhandlung vom 7.
November 2016, © Allianz gegen Racial Profiling, Zeichnerin: Marina Rosset.
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nicht zu beschädigen. Letztlich bewirkt dies in gewisser Weise das
Gegenteil, weil dadurch der institutionelle Rassismus des Gerichts
deutlich sichtbar wird.
Die Dialog-Passage zeigt daher auch, wie die Öffentlichkeit
des Gerichtsraums dafür genutzt werden kann, Rassismuserfah-
rung und antirassistische Kritik in den Diskurs und die Institutio-
nen einzubringen. Anstatt sich von den zahlreichen Hürden beim
Zugang zum Recht und vor dem Gerichtsgebäude behindern zu
lassen, schleusten Mohamed Wa Baile und die hundert Solidari-
schen durch ihre couragierte Präsenz Kritik in das Justizsystem
ein. Damit wurde die Buße wegen Nichtbefolgens polizeilicher
Anordnung, die vonseiten der Polizei systematisch dazu verwendet
wird, willkürlich und rassistisch Kontrollierte einzuschüchtern, zu
einem Krisenexperiment für Gebäude, Personal und die Organi-
sation des Gerichts. Anstatt die polizeiliche und juristische Macht
zu akzeptieren, wurde an die Justiz und Rechtsgemeinschaft das
Angebot gemacht, eine Sprache zu finden, die Rassismus nicht
als moralisches Verhaltens- und Einstellungsproblem eines Einzel-
nen, sondern als politische Herausforderung und gesellschaftliche
Verantwortung begreift. Daran anschließend wurde im Rahmen
der Aktivitäten der Allianz gegen Racial Profiling das kulturpo-
litische Format des „Tribunals“ entwickelt, mit dem der struktu-
relle Rassismus auf die Anklagebank gesetzt wird mit dem Ziel,
diesen öffentlich zu verhandeln. Wie die folgenden Ausführun-
gen zeigen, werden dabei fiktive und tatsächliche Elemente eines
Rechtsverfahrens kombiniert, was zum einen dem pädagogisch-
didaktischen Anspruch geschuldet ist und zum anderen der eman-
zipatorischen-widerständigen Stoßrichtung entspringt.
141
Kulturpolitische Intervention: Tribunale als antirassistische
Raumtransformation
„One story becomes the only story.“
Chimamanda Ngozi Adichie
Tribunalleiterin: Herr Wa Baile, bevor wir diese Befragung been-
den und zu Ihrer Beschreibung kommen, haben Sie Fragen an
Herrn X [Polizist]?
Mohamed Wa Baile: Ich möchte auf dieses Wegschauen
Bezug nehmen, das als Grund angegeben wurde, weshalb ich von
dem Polizisten angehalten wurde: War ich der Einzige, der den
Blick von Ihnen abgewandt hat, oder gab es noch andere Leute,
die sich gleich verhalten haben? Und wenn ja, warum haben Sie
nur mich kontrolliert, oder wurden andere auch gestoppt, die sich
gleich verhalten haben?
Polizist: Wir kontrollieren sehr viele Personen. Auch an die-
sem Tag kontrollierten wir diverse andere Personen. Bezugneh-
mend auf den abwendenden Blick, das ist immer eine Wahrneh-
mung einer einzelnen Person. Meine Wahrnehmung war, dass Sie
Ihren Blick abgewandt haben, weil Sie vielleicht etwas zu verber-
gen hatten. Dies war für mich ausschlaggebend für eine Kontrolle.
Wir machen eine Kontrolle nur, soweit diese nötig ist. Es spielt
keine Rolle, ob die Person eine weiße oder schwarze Hautfarbe
hat. Wir kontrollieren auch viele Personen, welche eine weiße
Hautfarbe haben. Wir müssen uns aber immer wieder rechtferti-
gen, wenn wir dunkelhäutige Personen kontrollieren, da der Ras-
sismusvorwurf oft auftaucht.
Mohamed Wa Baile: Meine Frage ist noch nicht beantwortet.
Ich möchte wissen, wie viele Personen den Blick von Ihnen eben-
falls abgewandt haben und ob diese auch kontrolliert wurden. Ist
das nicht ein normales, menschliches Verhalten, sich von ande-
ren Menschen abzuwenden, wenn man keine Beziehung zu die-
sen aufbauen möchte?
142
Polizist: Ich habe das Gefühl, dass ich vorher genau dies
beantwortet habe. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
Mohamed Wa Baile: Hätten Sie diese Frau [zeigt auf weiße
Richterin] oder diesen Mann [zeigt auf einen weißen Mann im
Publikum] auch gestoppt und kontrolliert, wenn sie oder er auch
weggeschaut hätte?
Polizist: Sind meine Kollegen und ich Rassisten?
Mohamed Wa Baile: Ich unterstelle Ihnen und Ihren Kol-
leginnen und Kollegen nicht, dass Sie Rassist*innen sind, mir ist
aber bewusst, dass ich wegen meiner Hautfarbe kontrolliert wurde.
Polizist: Sie werfen uns vor, wir seien Rassisten.
Mohamed Wa Baile: Mein Vorwurf richtete sich an die Insti-
tution Polizei, an die Struktur.
Polizei: Ich bin hier als Privatperson gekommen und nicht
als Institution.
Dies ist eine Szene aus dem Skript eines Tribunals zu
Ra cial Profiling. In diesem künstlerischen Format wird eine
Ge richtsverhandlung inszeniert, wobei die Darsteller*innen teils
Schauspieler*innen sind, meist aber Personen, die auch außerhalb
der Inszenierung in das Thema involviert sind: People of Color,
die Racial Profiling erfahren haben, antirassistische Aktivist*innen
und manchmal Angehörige der Polizei. Mit dem Tribunal wird
an Beispielen laufender Gerichtsverfahren über rassistische Poli-
zeikontrollen sowie deren institutionelle und strukturelle Bedin-
gungen informiert und versucht, Widerstand zu praktizieren und
aufzuzeigen. Dabei werden reale Aussagen aus Verfahrensdoku-
menten wie Beschwerdeschriften, Protokolle von Einvernahmen
von Zeug*innen und Beschuldigten, Urteilen und Medienbe-
richten zitiert, die für das Publikum und die Darsteller*innen die
Gewaltförmigkeit von Racial Profiling und Muster des Distan-
zierens, Verharmlosens und Rechtfertigens vonseiten der Polizei
erlebbar machen. Dies ist mit dem Anspruch verbunden, leich-
143
ter Einsicht und Verständnis für die Mechanismen des Rassismus
zu gewinnen. Darüber hinaus ist die Organisation von Tribuna-
len für mich, Mohamed Wa Baile, als schwarzer Mensch in der
Schweiz, Teil des langen Weges von mir, um der Öffentlichkeit
klarzumachen, dass rassistische Polizeikontrollen ungerecht sind.
Dieser Weg führte mich vom zivilen Ungehorsam– unter ande-
rem meine Verweigerung, mich auszuweisen– bis zum Gericht,
wo ich ebenfalls für meine Rechte kämpfe. Das reichte aber wie
bei vielen anderen People of Color nicht, da Polizei und Justiz
diskriminierende Kontrollen durch ihre Eingewobenheit in ras-
sistische Strukturen nicht als Unrecht und verurteilungswürdig
erkennen können. Das Tribunal ist demgegenüber eine antiras-
sistische Intervention, die dem Gerichtsraum, in dem Rassismus
und Racial Profiling als Praxis geschützt werden, einen alterna-
tiven, ermächtigenden Raum entgegenstellt. Das Tribunal ver-
sucht durch den Perspektivwechsel Racial Profiling als instituti-
onelle und strukturelle Form von Rassismus sichtbar zu machen.
In diesem Sinne bringt das Tribunal viele Geschichten, viele Per-
spektiven von People of Color zum Sprechen. So wie die Autorin
Chimamanda Ngozi Adichie uns vor der Gefahr warnt, nur eine
einzige Geschichte zu hören und damit ein bedenkliches Missver-
ständnis zu riskieren, sollen im Tribunal verschiedene Perspektiven
und Erzählungen eine Bühne erhalten, das heißt einen Raum, in
dem sie eine Stimme haben und gehört werden können.
Der dramaturgische Ablauf des Tribunals lehnt sich an eine
Gerichtsverhandlung an und kann wie folgt aussehen: Die Lei-
terin beziehungsweise der Leiter des Tribunals stellt zu Beginn
der Verhandlung die Anwesenden und das Vorgehen vor und
beginnt dann mit der Befragung des Beschuldigten zum spezifi-
schen (realen!) Fall von Racial Profiling. Auch der*die Polizist*in
(ob Schauspieler*in oder reale*r Angehörige*r der Polizei) stellt
dem Beschuldigten Fragen, bevor dieser selber durch die Tribu-
144
nalleitung zum Fall befragt wird. Falls ein*e Schauspieler*in diese
Rolle übernimmt, nutzt er beziehungsweise sie ausschließlich
Argumente, die Angehörige der Polizei tatsächlich in Pressemit-
teilungen, Briefen oder vor Gericht schon verwendet haben. Der
Beschuldigte erhält daraufhin die Gelegenheit, der Polizei Fra-
gen zu stellen. Von der Verteidigung werden anschließend wei-
tere Betroffene von Racial Profiling aufgerufen, die über ihre eige-
nen Erlebnisse von Racial Profiling berichten. Mit den weiteren
Berichten wird das Licht, das bis dahin auf den Beschuldigten und
sein Verhalten gerichtet war, auf Racial Profiling als routinehafte,
institutionalisierte Praxis der Polizei gerichtet. Dadurch wird der
Beschuldigte, der auf der Anklagebank sitzt, weil er sich weigerte
einer Polizeikontrolle Folge zu leisten, zum Ankläger der Polizei,
und der Einzelfall wird auf die politische Ebene eines systemati-
schen gesellschaftlichen Problems des institutionellen und struk-
turellen Rassismus gehoben. Damit dieses soziale Problem vom
Publikum besser verstanden wird, zieht der*die Tribunalleiter*in
auf Antrag des Beschuldigten und seiner Anwältin noch weitere
Zeug*innen wie Forschende oder Mitarbeitende von NGOs hinzu.
Anschließend wird die Verhandlung zum Publikum hin geöffnet,
das eigene Beobachtungen einbringen und Fragen stellen kann.
Ebenfalls möglich ist, die Polizeiführung als Akteurin in die Ver-
handlung einzuladen, damit auch diese befragt werden und sich
erklären kann. Durch das Setting des Tribunals, einer gezielten
Anordnung und Dramaturgie wird zumindest für die Dauer der
Veranstaltung ein Raum für Geschichten und Erfahrungen von
Personen geschaffen, die Racial Profiling am eigenen Leib erleben.
In diesem Raum, den es so kaum gibt, werden die Berichtenden
nicht durch ablenkende Fragen verunsichert und deren Sichtweise
wird weder infrage gestellt noch abgewertet. Hier wird auch nicht
wie im Gerichtssaal jede Geschichte als Einzelfall von den anderen
abgetrennt, sondern die Gesamtsicht soll möglich werden. Durch
145
die Beteiligung des Publikums kommt es schließlich zu einer Kom-
munikation, die im Gerichtssaal so nicht zugelassen würde, aber
die auch im Alltag kaum vorkommt. Durch das Zitieren von rea-
len Protokollen aus Befragungen von Polizist*innen sowie Äuße-
rungen in den Medien von Führungspersonen der Polizei, wird für
die betroffenen People of Color und Schwarzen ein emanzipato-
rischer Raum geschaffen und die Gewaltförmigkeit des Rassismus
für das Publikum erfahrbar. Es entsteht idealerweise ein Raum,
wo gängige Vorstellungen von Rassismus, Gleichheit oder Polizei
dekonstruiert werden können, Solidarisierung möglich wird und
eventuell auch blinde Flecken eigener rassistischer Vorstellungen
und Handlungsweisen reflektierbar werden. Das Ziel des Tribu-
nals ist es, das Gericht zu den Menschen zu bringen und durch
den Perspektivenwechsel einen neuen sowohl öffentlichen als auch
geschützten Raum der Verhandlung über Rassismus zu schaffen.
Fazit
Öffentlicher Raum ist ein besonderes Gut, ein Raum, in dem
für alle Menschen in gleicher Weise gesellschaftliche Freiheits-
und Gestaltungsrechte erlebbar und in dem alle vor Eingriffen
in die persönliche Integrität geschützt sein sollten. Öffentlicher
Raum wird aber nicht einfach bereitgestellt, sondern ist immer
ein Produkt sozialer, räumlicher Praktiken, eben auch der Kon-
trollpraktiken der Polizei. Wenn Stadt aber nicht von allen ange-
eignet, gestaltet und ohne Angst genutzt werden kann, gilt das
Öffentliche nicht für alle gleich. Der städtische Raum ist dann
nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen „ihr Raum“, während er
für andere ein Raum der Kontrolle, der willkürlichen Anhaltun-
gen, Durchsuchungen und der öffentlichen Stigmatisierung ist.
Für die Einen ist er damit zumeist Freiraum, für die Anderen vor
allem ein Raum der Beschränkung, der Angst und Unsicherheit.
Diese Produktion des sozialen Raums analysiert Lefebvre als Pro-
146
zesse der Entfremdung und Aneignung, indem er die Stadt auf
unterschiedlichen Ebenen als materiellen, als Wissens- und Reprä-
sentationsraum analysiert. Unter Bezugnahme auf die analytische
Trennung Lefebvres haben wir in diesem Beitrag die raumbilden-
den und subjektivierenden Wirkungen von Racial Profiling in den
Blick genommen. Sichtbar wird hiermit, wie diskriminierende
Polizeipraktiken Menschen anhand von phänotypischen Merk-
malen (vor allem dunkler Hautfarbe) und religiösen Symbolen zu
einem vermeintlichen Sicherheitsproblem stilisieren und für diese
einen Raum der Unsicherheit schaffen. People of Color, Schwarze,
Jenische, Roma, Sinti und Muslim*innen werden dadurch sowohl
konzeptionell, symbolisch als auch physisch zu Nicht-Dazugehöri-
gen gemacht. Doch der auf verschiedenen Ebenen und durch dif-
ferente Praktiken konstituierte Raum ist kein statischer und kei-
ner nur von staatlichen beziehungsweise städtischen Organen und
Institutionen erschaffener, sondern ein Raum der multiplen Ver-
hältnisse und diversen Akteure. In diesem Sinne nimmt sich auch
der Widerstand gegen Racial Profiling auf verschiedenen Ebenen
Raum. Hier setzt die Arbeit der Schweizer Allianz gegen Racial
Profiling an, indem in Raum interveniert, Erfahrungen mit Racial
Profiling dokumentiert und antirassistisches Engagement unter-
stützt wird. So beteiligt sich die Allianz an der Entwicklung und
Ausweitung von neuen räumlichen Praktiken und an der Inter-
vention in Diskurse, um die Omnipräsenz und die weitreichenden
Wirkungen von Racial Profiling zu skandalisieren. Insbesondere
geht es dabei auch darum, den als weiß konstituierten öffentli-
chen Raum materiell und symbolisch anzueignen und Raum für
die Thematisierung von Rassismus zu schaffen. Ob im Gerichts-
saal, auf der Theaterbühne oder auf Straßen und Plätzen– es geht
darum, rassistische Repräsentationen städtischer Räume zu pro-
blematisieren und die Stadt als Freiraum, als Ort und Raum von
allen und für alle Bewohner*innen zu gestalten. Im Ergebnis füh-
147
ren die Praktiken im besten Fall dazu, dass ganz grundlegend neue
Räume der Repräsentation und des Wissens geschaffen werden,
in denen Rassismus nicht mehr als Einstellungs- und Verhaltens-
problem von Individuen verharmlost, sondern als ein strukturelles
Problem verhandelt und angegangen wird. In diesem Sinne sind
diskriminierende Polizeikontrollen nicht vorrangig isolierte Fehl-
leistungen Einzelner, sondern vor allem Ausdruck von institutio-
nellem Rassismus in der Polizei.
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... In addition, feminist, materialist, and abolitionist work further directs our focus to the resistance that people offer against discriminatory and racist policing practices. In our work, we have likewise addressed issues of resistance to racial profiling, which we elaborate later in this text Schilliger 2020;Kollaborative Forschungsgruppe 2019;Jurcevic et al. 2018). ...
Chapter
Full-text available
Racial profiling is a form of state violence that has profound and impactful consequences and constitutes a significant social issue. Drawing on intersectional analyses of policing and criminalization, this chapter seeks to enhance our understanding of racial profiling, its complexities, and its effects. Relying on empirical data from Switzerland and Germany, we propose directing attention toward three specific aspects within the context of policing in Europe. First, we argue that the complex and multifaceted instances of racial profiling necessitate an examination of numerous, interconnected forms of inequality, surveillance, and violence. Second, we argue that it is necessary to highlight intersecting and intertwined institutional assemblages that create, support, and sustain policing practices within the punitive state apparatus. Third, we emphasize the importance of acknowledging the differences in both the consequences faced by individuals subjected to racial profiling and their diverse responses to such experiences. By exploring various facets of inequality, institutional dynamics, and individual experiences, our objective is to show how an intersectional approach can enrich the depth of analysis concerning racism and contribute to a more comprehensive analysis of struggles against police violence.
Article
Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern hat der Begriff der ‚institutionellen Diskriminierung‘ in Deutschland wenig Tradition. In der wissenschaftlichen Forschung, der Berichterstattung in den Medien, im politischen und pädagogischen Handeln werden Rassismus, Sexismus oder Diskriminierungen ‚behinderter‘ Menschen primär als Resultat von Vorurteilen einzelner Personen oder relativ klar einzugrenzender sozialer Gruppen (z. B. rassistische oder rechtsextremistische Orientierungen sozio-ökonomisch marginalisierter Jugendlicher) definiert. Dabei wird vielfach unterstellt, diskriminierende Praktiken stellten eine Art ‚Unfall‘ dar – eine Ausnahmeerscheinung in einer gesellschaftlichen Praxis, in der demokratische Prinzipien der Fairness und Meritokratie die Regel sind.
Article
The study of race and ethnic conflict historically has been hampered by in- adequate and simplistic theories. I contend that the central problem of the various approaches to the study of racial phenomena is their lack of a struc- tural theory of racism. I review traditional approaches and alternative ap- proaches to the study of racism, and discuss their limitations. Following the leads suggested by some of the alternative frameworks, I advance a struc- tural theory of racism based on the notion of racialized social systems. "The habit of considering racism as a men- tal quirk, as a psychological flaw, must be abandoned." -Frantz Fanon (1967:77) he area of race and ethnic studies lacks a _ sound theoretical apparatus. To compli- cate matters, many analysts of racial matters have abandoned the serious theorization and reconceptualization of their central topic: rac- ism. Too many social analysts researching racism assume that the phenomenon is self- evident, and therefore either do not provide a definition or provide an elementary definition (Schuman, Steeh, and Bobo 1985; Sniderman and Piazza 1993). Nevertheless, whether im- plicitly or explicitly, most analysts regard rac- ism as a purely ideological phenomenon.
The danger of a single story
  • Chimamanda Adichie
  • Ngozi
Adichie, Chimamanda Ngozi: The danger of a single story. TED talk; www. ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story/ transcript (Zugriff: 9. 10. 2017).
Discrimination American style. Institutional racism and sexism
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  • Clairece Feagin
  • Booher
Feagin, Joe R./Feagin, Clairece Booher (1978): Discrimination American style. Institutional racism and sexism. Malabar, Fla: R. E. Krieger Pub. Co.
Jenische in der Schweiz: Lange kostenintensiv verfolgt, seit kurzem sparsam gefördert
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Huonker, Thomas (2009): Jenische in der Schweiz: Lange kostenintensiv verfolgt, seit kurzem sparsam gefördert. In: Esteban Piñeiro, Isabelle Bopp, Georg Kreis und Hans-Rudolf Wicker (Hg.): Fördern und Fordern im Fokus. Leerstellen des schweizerischen Integrationsdiskurses. Zürich: Seismo-Verlag, S. 229-258.
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