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Martina Zemp
Die Bedeutung der Bindung für die kindliche Resilienz
*Erschienen 2018 in der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik, 24(4), 38 – 44.
Zusammenfassung
Die Befunde der Bindungsforschung haben das Wissen über eine gesunde psychische Ent-
wicklung von Kindern und Jugendlichen grundlegend erweitert. Die aufmerksame und fein-
fühlige Befriedigung der kindlichen Bindungsbedürfnisse durch die primären Bezugsperso-
nen bildet den Nährboden für zentrale Resilienzfaktoren. Dazu gehören ein positives Selbst-
konzept, die Vertrauensfähigkeit in die Umwelt, aktive Stressbewältigungsstrategien und die
Überzeugung, selbst liebenswert zu sein. Im heilpädagogischen Kontext steht die Wechsel-
beziehung zwischen dem kindlichen Bindungsverhalten und dem Fürsorgeverhalten der Be-
zugsperson allerdings häufig vor besonderen Herausforderungen.
Geschichte der Bindungsforschung
Anregende Impulse erhielt die Bindungsforschung in ihren Anfängen durch die Hospitalis-
musforschung, die sich mit den gut dokumentierten Beobachtungen von Säuglingen in Wai-
senhäusern und Heimen in der Nachkriegszeit befasste. Die Ergebnisse zeigten, dass viele
der Säuglinge trotz einwandfreier hygienischer und körperlicher Versorgung schwerwiegen-
de Entwicklungsverzögerungen oder -auffälligkeiten aufwiesen (z. B. eine emotionale oder
intellektuelle Behinderung, Kontakt- und Wahrnehmungsstörungen, erhöhte Krankheitsan-
fälligkeit) oder früh verstarben. Die World Health Organization (WHO) beauftragte den engli-
schen Kinderpsychiater John Bowlby, der als Begründer der Bindungstheorie gilt, die Ursa-
chen für die hohe Kindersterblichkeit in den Hospitälern zu untersuchen. Bowlby ging ur-
sprünglich davon aus, die schädlichen Auswirkungen auf die Säuglinge seien vor allem eine
Folge der Deprivation (Trennung, Entzug) von der primären Bezugsperson. Neuartig war zu
dieser Zeit die Auffassung Bowlbys, dass das Bedürfnis nach einer stabilen Bindung angebo-
ren und dessen Befriedigung neben der intakten alimentären und hygienischen Versorgung
für die Gesundheit von Kindern essenziell sei. Bei einer Vernachlässigung dieses Grundbe-
dürfnisses kann es zu den beobachteten Symptomen des Hospitalismus-Syndroms kommen,
die in schweren Fällen tödlich sind. Dank diesen Veröffentlichungen wurde anerkannt, dass
Kinder, die in jener Zeit in Heimen oder Waisenhäusern aufwuchsen, erheblichen Entwick-
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lungsrisiken ausgesetzt waren, was zu vielseitigen Qualitätsverbesserung der institutionellen
Kinderbetreuung führte (Brisch & Hellbrügge, 2009).
Das Hospitalismus-Syndrom wird in den gegenwärtigen Klassifikationssystemen für psychi-
sche Störungen im Kindes- und Jugendalter nicht mehr aufgeführt. Analoge Symptomkom-
plexe werden aktuell unter den beiden Formen der Bindungsstörung, das heisst als reaktive
Bindungsstörung oder Bindungsstörung mit Enthemmung diagnostiziert (Brisch, 2003). Beide
sind durch ein anhaltendes abnormes Beziehungsmuster in der Interaktion mit verschiede-
nen Bezugspersonen charakterisiert und entwickeln sich vor dem 5. Lebensjahr. Die reaktive
Bindungsstörung äussert sich unter anderem durch ambivalente oder aggressive Reaktionen
gegenüber Bezugspersonen und ist in der Regel mit ausgeprägter Kindesmisshandlung oder
Vernachlässigung verbunden. Primäres Kennzeichen der Bindungsstörung mit Enthemmung
ist ein diffuses, nicht-selektives Bindungsverhalten mit wahlloser Distanzlosigkeit gegenüber
Fremden und ist häufig die Folge eines andauernden Mangels, selektive Bindungen zu entwi-
ckeln (z. B. das Aufwachsen in Institutionen mit ungenügender Kontinuität an Betreuungs-
personen oder mehrfache Fremdplatzierungen).
Bindung als angeborenes Grundbedürfnis
Der menschliche Säugling wird in einem „Zustand grosser Unreife“ geboren (Holmes, 2002,
S. 94), weil der verhältnismässig enorme Gehirnumfang später nicht mehr durch den mütter-
lichen Beckenboden passt. Aus diesem Grund werden Menschen in einer sehr viel früheren
Phase ihrer individuellen Entwicklung geboren als der Nachwuchs jeder anderen Art von
Säugetieren. Die Entwicklung findet deshalb über einen wesentlichen Zeitraum ausserhalb
des Mutterleibs statt. Infolgedessen entwickelt sich das menschliche Bindungssystem ver-
gleichsweise über eine viel längere Dauer und der Aufwand für die Kinderbetreuung ist deut-
lich ausgeprägter (Bowlby, 2006). Neugeborene verfügen über ein angeborenes Verhaltens-
repertoire von Bewegungen und Kommunikationsfertigkeiten (Laute, Gestik und Mimik), um
Bedürfnisse zu signalisieren (z. B. durch Weinen, Wimmern und Schreien, später auch durch
Rufen, Nachlaufen oder Anklammern). Dieses Bindungsverhalten aktiviert der Säugling bei
Irritation, Angst oder Unbehagen und hat eine Überlebensfunktion, weil dadurch das Risiko
minimiert wird, durch Kälte, Hunger oder feindliche Einflüsse Schaden zu nehmen (Bowlby,
1969). Ziel des Bindungsverhaltens ist es, eine Person zu erreichen, die dem Säugling Schutz
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bietet, seinen Stress reguliert und so zur Wiedererlangung von gefühlter Sicherheit beiträgt
(Grossmann & Grossmann, 2012).
Bei feinfühligem Fürsorgeverhalten realisiert die Bezugsperson das kindliche Versorgungs-
oder Zuwendungsbedürfnis und stillt es durch emotionale Nähe, Trost und Geborgenheit
(z. B. in den Arm nehmen, wiegen, trösten, streicheln, liebevoll zureden, füttern, wickeln).
Hier wird deutlich, dass Kleinkind und Bezugsperson als Partnerinnen und Partner einer akti-
ven und wechselseitigen Interaktion betrachtet werden. Insofern ist die Zirkularität ein zent-
rales Bindungsmoment; Bindungs- und Fürsorgesystem beeinflussen sich gegenseitig kom-
plementär. Durch diese frühkindliche Erfahrung gelangen Kinder mit der Zeit zu der grundle-
genden Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist und sie es wert sind, dass sich je-
mand um sie sorgt.
Die Rolle der elterlichen Sensitivität
Die elterliche Sensitivität respektive Feinfühligkeit ist eine Schlüsselvariable im Verständnis
von Bindungserfahrungen und ihren Folgen für die Kindesentwicklung. Das Feinfühligkeits-
konzept gründet im Wesentlichen auf Mary Ainsworths Beobachtungen der Mutter-Kind-
Interaktionen im Fremde-Situation-Test (Ainsworth et al., 1978). Die fremde Situation ist
eine experimentelle Testsituation, mit welcher das Bindungs- und Fürsorgeverhalten durch
detaillierte Beobachtungen bei wiederholter Trennung und Wiedervereinigung zwischen
Bezugsperson und Kleinkind untersucht wird. Ainsworth (1977) definierte Sensitivität als die
Fähigkeit von Bezugspersonen, die Bedürfnislage des Kindes feinfühlig wahrzunehmen und
angemessen darauf einzugehen. Hierbei sind vier Merkmale von besonderer Bedeutung:
(1) Wahrnehmung: Die Bezugsperson ist hinreichend zugänglich und aufmerksam gegenüber
den kindlichen Signalen und nimmt auch subtile und nonverbale Äusserungen wahr.
(2) Interpretation: Die Bezugsperson erkennt durch adäquates Einfühlungsvermögen, was
der Säugling braucht.
(3) Promptheit: Die Bezugsperson reagiert unverzüglich innerhalb eines Zeitfensters, in wel-
chem für das Kind ein Zusammenhang mit seiner Regung wahrnehmbar ist.
(4) Angemessenheit des Fürsorgeverhaltens: Die Bezugsperson stillt die kindlichen Bedürfnis-
se angemessen, je nach Zuwendungsbedürfnis des Kindes (Schutz und Beruhigung bei
Angst und Erschrecken, Anregung bei Langeweile etc.).
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Die Qualität der elterlichen Sensitivität, erfasst über die oben beschriebenen Dimensionen,
hat sich mit hoher empirischer Konsistenz als der stärkste Prädiktor für die Entwicklung eines
sicheren Bindungsstils beim Kind herausgestellt (Grossmann & Grossmann, 2003). Ein um-
fangreicher Forschungsfundus, darunter auch eine Vielzahl an Längsschnittstudien, zeigt fol-
gende Effekte (Bodenmann, 2016):
• Kleinkinder von Eltern mit hoher Sensitivität weinen oder schreien weniger (stattdes-
sen wimmern sie eher ruhig, um ihre Bedürfnisse kundzutun) und lassen sich leichter
beruhigen.
• Kinder im Schulalter sind sie weniger aggressiv und verfügen über bessere Sozial- und
Kommunikationsfertigkeiten.
• Adoleszente weisen ein höheres Selbstbewusstsein, funktionalere Emotionsregulati-
onsstrategien und stabilere Freundschaftsbeziehungen auf.
Neuere Erkenntnisse aus Studien, die die elterliche Sensitivität zusammen mit der geneti-
schen Vulnerabilität für die Entwicklung psychischer Störungen bei Kindern untersucht ha-
ben, deuten darauf hin, dass sensitives Elternverhalten das genetische Risiko puffern kann
(Zimmermann, Mohr & Spangler, 2009). Dies bedeutet, dass Kinder mit einer angeborenen
Risikokonstellation für kindliche Störungen (z. B. bei Vorliegen einer genetischen Prädisposi-
tion für Depressionen oder ADHS) im Phänotyp nicht häufiger von psychischen oder Verhal-
tensproblemen betroffen sind, wenn sie konsistent einfühlsames Fürsorgeverhalten erfah-
ren.
Ausbildung von Bindungserfahrungen
Die Sensitivität von Betreuungspersonen wird nicht als stabile Persönlichkeitseigenschaft
angesehen. Vielmehr hängt die Fürsorglichkeit von zahlreichen Faktoren ab – zum Beispiel
von den eigenen früheren Bindungserfahrungen der Bezugsperson, den kurzfristigen situati-
ven Einflüssen (Zeitressourcen, Stimmung, Müdigkeits- und Stresslevel), aber auch von län-
gerfristigen sozialen Gegebenheiten (allgemeine Lebenszufriedenheit, psychische Gesund-
heit, Zufriedenheit in der Partnerschaft, Alleinerziehung, Anzahl Kinder, soziale Unterstüt-
zung, sozioökonomischer Status). Jedoch sind auch Einflussfaktoren seitens des Kindes wis-
senschaftlich nachgewiesen. Am eingehendsten diskutiert wird diesbezüglich das kindliche
Temperament. Es wurde verschiedentlich gezeigt, dass Neugeborene mit schwierigem Tem-
perament (erhöhte Irritier- und Reizbarkeit, geringe Anpassungsfähigkeit in neuartigen Situa-
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tionen, unregelmässige Körperfunktionen, Überaktivität) mit höherer Wahrscheinlichkeit
einen unsicheren Bindungsstil entwickeln (Van den Boom, 1994).
In einer modernen integrativen Sichtweise werden individuelle Faktoren der Bezugsperson
und des Kindes, deren Passung sowie Sozialisationsfaktoren in einem wechselseitigen Ver-
ständnis berücksichtigt. Die Kombination und Interaktion dieser Faktoren bestimmen, wie
günstig typische Alltagsinteraktionen zwischen Kind und Bezugsperson ablaufen. Im heilpä-
dagogischen Kontext ist zu berücksichtigen, dass die Reziprozität zwischen Bindungs- und
Fürsorgeverhalten in zweifacher Hinsicht vor besonderen Herausforderungen steht: Einer-
seits sind Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung möglicherweise in der
Kommunikationsfähigkeit oder im Bewegungsapparat eingeschränkt, was das Ausdrücken
ihrer Bedürfnisse erschwert. Andererseits ist die Versorgung und Erziehung von Kindern mit
einer Behinderung für die Bezugspersonen häufig emotional anspruchsvoll, zeitintensiv und
kräftezehrend. In der Regel sind sie durch die besonderen Bedürfnisse des Kindes in erhöh-
tem Ausmass Stress, Frustration oder psychischer Belastung ausgesetzt, die aufzuwendende
Zeit und Aufmerksamkeit sind höher als bei gesunden Kindern und die Betreuungspersonen
sorgen sich stärker um die Gesundheit des Kindes. Diese Bedingungen machen das sensitive
Einfühlen und Eingehen auf das Kind im Alltag gelegentlich zu einem komplexen und an-
spruchsvollen Geschehen.
Gruppenorientierte Feinfühligkeit
In der ursprünglichen Fassung seiner Bindungstheorie ging Bowlby von der Monotropiehypo-
these aus. Diese besagt, dass die Mutter zwingend die primäre Bindungsperson für den Säug-
ling sein muss. Neuere Forschungsbefunde zeigen, dass ein Kind eine gleich gute und stabile
Bindung auch zu anderen konstant verfügbaren und einfühlsam interagierenden Bezugsper-
sonen entwickeln kann (Ahnert, 2010). Gemäss der renommierten Bindungsforscherin Lise-
lotte Ahnert ist der historische Blick auf unsere Vorfahren lohnend; exklusive mütterliche
Fürsorge war zu Zeiten der Jäger und Sammler schon aus praktischen Gründen nicht realis-
tisch und bereits Neugeborene wurden zeitweise von anderen Mitgliedern der Gruppe behü-
tet. Nicht ob, sondern wie und wie häufig Kinder ausserfamiliär betreut werden, scheint die
relevante Frage zu sein. Das Konzept der elterlichen Sensitivität ist damit in analoger Weise
auch auf andere wichtige Bezugspersonen von Kindern übertragbar, beispielsweise, wenn
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Kinder mit einer Behinderung teilzeitlich in fachlichen Institutionen ausserfamiliär betreut
werden. Ahnert, Pinquart und Lamb (2006) sprechen hier von gruppenorientierter Feinfüh-
ligkeit, weil sie davon ausgehen, dass sich die Bindung zwischen Betreuungsperson und Kind
in gewissen Aspekten funktional von der Eltern-Kind-Bindung unterscheidet. Der Fokus der
ausserfamiliären Betreuung liegt, je nach institutioneller Funktion, verstärkt auf dem päda-
gogischen Auftrag, der kognitiven Stimulierung und Förderung sowie der Aufrechterhaltung
einer positiven Gruppenatmosphäre. Eine hohe gruppenorientierte Feinfühligkeit der Be-
zugspersonen gehört neben anderen Faktoren, wie zum Beispiel eine hohe Kontinuität der
Betreuung, zu den wichtigsten Qualitätsmerkmalen von Betreuungssituationen.
Sichere Bindungserfahrungen und kindliche Resilienz
Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass sichere Bindungserfahrungen mit den Eltern oder
anderen primären Bezugspersonen zu den bedeutendsten Determinanten der psychischen
Gesundheit und zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen verschiedene psychische Störun-
gen bis ins Erwachsenenalter zählen. Dahingegen hängen unsichere Bindungserfahrungen
oder Bindungsstörungen häufig mit späteren psychischen Störungen zusammen. Ein unsi-
cherer Bindungsstil im Kindes- und Jugendalter ist sowohl quer- als auch längsschnittlich mit
einem erhöhten Risiko für externalisierende Verhaltensprobleme (z. B. aggressives Verhal-
ten, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch) oder internalisierende Störungen
(z. B. depressive Störungen, Angst- und Essstörungen) assoziiert (Bodenmann, 2016). Es stell-
te sich heraus, dass unsichere Bindungserfahrungen eines Kindes hauptsächlich über zentra-
le psychologische Risikofaktoren, wie niedriger Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeit, un-
günstige Emotions- und Stressregulationsstrategien oder geringe Sozialkompetenzen die
Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen. Diesen psychologischen Risikofaktoren kommt bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung der meisten psychischen Störungen eine vorrangige
Rolle zu. Sie stehen in enger Verbindung mit dem (1) Explorationsverhalten im Kleinkindalter
und (2) mit der Ausbildung von inneren Arbeitsmodellen:
(1) Die frühkindliche Bindung zur Bezugsperson dient als sichere Basis, von der aus das Kind
die Welt erkundet. In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres beginnt das Kleinkind, sich
vermehrt alleine fortzubewegen und seine Umwelt in grösserem Umfang zu explorieren. Mit
zunehmenden Entwicklungsfortschritten entwickelt es das Explorationsverhalten als eine
weitere, dem Bindungsverhalten entgegengesetzte Grundkomponente der menschlichen
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Natur. Bindung und Exploration stehen manchmal in einem unvereinbaren Konflikt (Nähe
versus Distanz zur Bezugsperson), sind aber gleichzeitig auch voneinander abhängig, weil
gesunde Autonomieerfahrungen nur möglich sind, wenn es für das Kind einen sicheren
Rückzugsort gibt und es sich in der Welt orientieren kann. Wenn die kindlichen Bindungsbe-
dürfnisse von der primären Bezugsperson angemessen und einfühlsam befriedigt werden,
kann das Kleinkind seiner angeborenen Tendenz zur Exploration der Umwelt in gesundem
Masse nachgehen. Ein mehrfach repliziertes Ergebnis von Studien basierend auf dem Para-
digma des Fremde-Situation-Tests ist, dass nur sicher gebundene Kinder ein adäquates Ex-
plorationsverhalten zeigen (Grossmann & Grossmann, 2003).
(2) Individuen entwickeln durch gleichförmig verlässliche und feinfühlige Bindungserfahrun-
gen in der frühen Kindheit später sichere innere Arbeitsmodelle. In den inneren Arbeitsmo-
dellen werden in Abhängigkeit der Lerngeschichte und wiederholt erfahrener Interaktions-
muster mit den primären Bezugspersonen frühe Bindungserfahrungen gespeichert, verinner-
licht und in ein Gesamtbild integriert (Bowlby, 2006). Sie bilden das Entwicklungsfundament
für Urteile und Erwartungen bezüglich der eigenen Wichtigkeit für andere (Selbstwert), der
eigenen Kontrollierbarkeit der Umwelt (Selbstwirksamkeit) sowie bezüglich der Verlässlich-
keit und Vertrauenswürdigkeit von künftigen sozialen Interaktionspartnerinnen und -
partnern. Die inneren Arbeitsmodelle enthalten sowohl kognitive Komponenten (Erfahrung
der eigenen Einflussnahme auf die Umwelt) als auch emotionale Aspekte (Erfahrung von
Geborgenheit, Sicherheit und Geliebtsein) und steuern das kindliche Verhalten auf der Basis
dieser internen Konzepte.
Unter Berücksichtigung des gut gesicherten Kenntnisstands der Bindungsforschung wird die
substanzielle Bedeutung von Bindung für die gesamte menschliche Entwicklung deutlich. Für
das psychische Wohl von Kindern ist elementar, dass sie insbesondere in der sensiblen Bin-
dungsphase (in den ersten drei Lebensjahren), aber auch darüber hinaus, Entwicklungsbe-
dingungen vorfinden, unter denen sie sichere Bindungserfahrungen erleben. Letztlich ge-
langt das Kind so zur Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, und es kann sich als
ausreichend wichtig und wertig erfahren, weil auf seine Bedürfnisse reagiert wird. Dieses
verinnerlichte Wissen gehört zu den wichtigsten Faktoren für eine gesunde und resiliente
Kindesentwicklung.
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