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AKTUELL 263
Die SPRINT-Studie
Neue Ziele für die Behandlung
vonBluthochdruck?
Michel Burnier, Edward Pivin, Fatma Megdiche, Gregoire Würzner
Service de Néphrologie et Hypertension, D épartement de Médecine, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne
Arterielle Hypertonie ist der grösste Risikofaktor für
das Aureten kardiovaskulärer Ereignisse wie Schlag-
anfall, Herzinsuzienz oder koronare Herzkrankheit,
aber auch für die Progression des chronischen Nie-
renversagens sowie das allmähliche Nachlassen der
kognitiven Funktionen bei älteren Menschen [–].
Laut der
Weltgesundheitsorganisation
(WHO) stehen
zwei Drittel der Schlaganälle und die Häle der Fälle
koronarer Herzkrankheit im Zusammenhang mit
einem systolischen Blutdruck von über mmHg
(WHOReport). In der Schweiz leiden etwa % der
Erwachsenen an Bluthochdruck, bei den über -Jähri-
gen sind mehr als % betroen. Es gilt nunmehr als
erwiesen, dass durch die Behandlung arterieller Hyper-
tonie die Gesamt- und die Herz-Kreislauf-Mortalität
gesenkt und die erwähnten Komplikationen, die eine
erhebliche gesellschaliche Belastung sind, vermin-
dert werden können [].
Seit etwa schlagen die allermeisten internatio-
nalen Empfehlungen als Ziel einer antihypertensiven
Therapie im Allgemeinen einen Blutdruck von unter
/ mmHg bzw. von unter / mmHg bei
älteren Patienten mit isolierter systolischer Hyper-
tonie vor []. Bei Diabetikern sollte der diastolische
Blutdruck weniger als mmHg betragen. Aus ver-
schiedenen Gründen werden diese Therapieziele je-
doch häug infrage gestellt. Die meistgestellten Fragen
lauten: Ist es ein Risiko, den systolischen Blutdruck un-
ter mmHg zu senken? Ist es sinnvoll, bei Patienten
zwischen und Jahren den Blutdruck auf Werte
unter mmHg zu verringern? Mit welchen Risiken
ist eine Behandlungsintensivierung verbunden? Diese
Bedenken werden bisweilen durch Post-hoc-Analysen
grosser Studien verstärkt, die d as Vorhandensein einer
J-örmigen Kurve der Beziehung zwischen dem Blut-
druckniveau einerseits und der Mortalität sowie dem
Aureten kardiovaskulärer Ereignisse andererseits
nahelegen. Dieser Hypothese zufolge ist die Gesamt-
und die Herz-Kreislauf-Mortalität höher, wenn der Blut-
druck unter / mmHg liegt []. Ob diese J-örmige
Beziehungskurve tatsächlich besteht, ist heute aller-
dings sehr umstritten [].
Debatte über die Ziele einer antihyper-
tensiven Therapie neu lanciert
Vor diesem Hintergrund haben die im November
im
New England Journal of Medicine
erschienenen
Ergebnisse der SPRINT-Studie (Systolic Blood Pressure
Intervention Trial) die Debatte über die Ziele einer
anti hypertensiven Therapie neu entfacht und grosses
wissenschaliches und mediales Interesse erweckt
[]. Mithilfe der SPRINT-Studie sollte geprü werden,
ob es sich stärker auf die Mortalität und das Aureten
kardiovaskulärer und renaler Komplikationen aus-
wirkt, wenn ein systolischer Blutdruck von < mmHg
aufrechterhalten wird oder wenn der systolische Wert
< mmHg beträgt. Die untersuchte Population war
sehr durchmischt und umfasste vor allem über -jäh-
rige Erwachsene, die entweder an einer bestätigten
oder subklinischen Herz-Kreislauf-Erkrankung (ausser
Schlaganfall) litten, deren geschätzte glomeruläre Fil-
trationsrate zwischen und ml/min/, m betrug
oder die einen zehnjährigen Framingham-Risikoscore
von >% aufwiesen. Auch über -Jährige zählten zur
Studienpopulation: Ihr Anteil betrug ein Viertel der
teilnehmenden Patienten. Von der Studie ausgeschlos-
sen waren Diabetiker, Patienten mit polyzystischer
Nierenerkrankung und immunsupprimierte Glomeru-
lonephritis-Patienten.
In dieser nur in den Vereinigten Staaten durchgeführ-
ten Studie wurden behandelte oder unbehandelte
Patienten mit einem systolischen Blutdruck von
> mmHg untersucht. Das verwendete Protokoll
ähnelte jenem, das für die Diabetes-Studie ACCORD an-
wendet wurde []. Die eine Häle der Patienten wurde
einer Intensivtherapie unterzogen, deren Ziel die Sen-
kung des systolischen Blutdrucks auf < mmHg war,
die andere einer Standardtherapie, deren Zielblut-
druck bei < mmHg lag. Das primäre kombinierte
Beurteilungskriterium umfasste die Zahl der Fälle von
Michel Burnier
Welches ist der optimale Wert für den
systolischen Blutdruck: < mmHg oder
doch eher mmHg?
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akutem Koronarsyndrom, Schlaganfall, Herzinsuzi-
enz sowie die kardiovaskuläre Mortalität. Mithilfe der
sekundären Kriterien, die noch nicht veröentlicht
wurden, sollten die Auswirkungen auf die Progression
des chronischen Nierenversagens und auf die Entwick-
lung von kognitiven Störungen und Demenz bewertet
werden. Ein bedeutender Aspekt des Protokolls ist die
Art der Blutdruckmessung: Sie erfolgte nach einer
fünfminütigen Entspannungsphase in ruhiger Um-
gebung und in Abwesenheit von medizinischem Per-
sonal. Der Blutdruck wurde dreimal automatisch mit
einem vorprogrammierten Gerät gemessen, um sys-
tematisch zwischen zwei Messungen fünfminütige In-
tervalle zu gewährleisten. Dadurch konnten die Prüf-
ärzte den Weisskitteleekt so weit wie möglich in
Grenzen halten. Dieses Vorgehen könnte die um etwa
mmHg geringeren Werte erklären, die in der Studie
ermittelt wurden []; ein unter den Studienbedingun-
gen erhobener systolischer Blutdruck von mmHg
könnte somit unter Standardbedingungen einem Wert
von mmHg entsprechen.
Die Studie war aufgrund des beobachteten Nutzens im
Hinblick auf die Mortalität vorzeitig abgebrochen wor-
den. Der durchschnittliche systolische Blutdruck be-
trug in der Intensivbehandlungsgruppe , mmHg,
in der Standardbehandlungsgruppe , mmHg. Die
wichtigsten Ergebnisse der Studie waren die Verringe-
rung der Gesamtmortalität um % (p <,) und die
um % geringere Zahl kardiovaskulärer Ereignisse
(p = ,) in der Intensivbehandlungsgruppe. Die
verminderte Mortalität war hauptsächlich darauf
zurückzuführen, dass die Zahl der Herzinsuzi-
enzälle geringer war (–%). Überraschenderweise
wurde im Gegensatz zu allen früheren klinischen Stu-
dien nur eine geringe Senkung der Zahl der Schlag-
anälle festgestellt. Um den Zielblutdruck zu erreichen,
wurden in der Intensivbehandlungsgruppe , und in
der Standardbehandlungsgruppe , Medikamente
eingesetzt. Der Unterschied ist vor allem den Diuretika
geschuldet, von denen etwa Chlorthalidon in der in-
tensiv behandelten Gruppe häuger verschrieben
wurde.
Die Auswertung der schwerwiegenden unerwünsch-
ten Ereignisse ergab eine signikante Erhöhung der
Fälle von Hypotonie (,% gegenüber ,%), Synkope
(,% gegenüber ,%), Elektrolytstörungen (,% gegen-
über ,%) und akutem Nierenversagen (,% gegen-
über ,%) in der Intensivbehandlungsgruppe, die Zah-
len der Fälle orthostatischer Hypotonie mit oder ohne
Schwindel und die Zahl der Stürze waren indes nicht
erhöht. Die obengenannten Nebenwirkungen sind
durch die häugere Verwendung von Diuretika in der
intensiv behandelten Gruppe erklärbar.
Stärken und Schwächen der Studie
Die Ergebnisse dieser Studie werden sich voraussicht-
lich stark auf die künigen internationalen Empfeh-
lungen auswirken. Wie alle gross angelegten Studien
hat die SPRINT-Studie jedoch Stärken und Schwächen:
Fest steht, dass diese Daten auf überzeugende Weise
die Sicherheit und den Nutzen der Senkung des Blut-
drucks auf Werte unter mmHg zeigen, bei Patien-
ten ohne Diabetes, deren Herz-Kreislauf-Risiko über
einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als % be-
trägt.Diesbezüglich widersprechen die Ergebnisse der
SPRINT- Studie mehreren Post-hoc-Analysen von Beo b-
achtungs studien, die auf eine Erhöhung der Mortali-
täthinweisen, wenn der Blutdruck von Patienten mit
hohem Herz-Kreislauf-Risiko <– mmHg beträgt
[]. Dies könnte durch den Ausschluss von Diabetikern
erklärbar sein. Allerdings werden in neueren Studien
die mit einem Blutdruck von < mmHg verbunde-
nen Risiken ebenfalls in Zweifel gezogen []. Der in der
SPRINT-Studie festgestellte Nutzen im Hinblick auf die
Mortalität stand vor allem im Zusammenhang mit der
Verringerung der durch Herzinsuzienz bedingten
Mortalität, während die Auswirkungen auf die Zahl der
Schlaganälle gering waren. Es ist deshalb wahrschein-
lich, dass durch die häugere Verwendung von Diure-
tika die subklinischen Fälle von Herzinsuzienz be-
merkt und besser behandelt werden konnten. Betrachtet
man nur die anderen kardiovaskulären Komplikatio-
nen (Schlaganfall, Infarkt, Angina pectoris), besteht
möglicherweise kein Unterschied zwischen einem Ziel-
blutdruck von < mmHg und von < mmHg.
Erstaunlich ist, dass keine verringerte Zahl von Schlag-
anällen beobachtet wurde, da Schlaganälle die kardio-
vaskulären Komplikationen mit der grössten Empnd-
lichkeit auf eine Blutdrucksenkung darstellen und in
allen früheren Blutdruckstudien eine niedrigere Inzi-
denz von Schlaganällen infolge einer Senkung des Blut-
drucks festgestellt wurde. Bisher wurde – abgesehen vom
Hinweis auf die relativ niedrige Inzidenz von Schlagan-
ällen in dieser Studie (,% pro Jahr)– noch keine über-
zeugende Erklärung für diese Beobachtung geliefert.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie waren
die Verringerung der Gesamtmortalität um %
und die um % geringere Zahl kardiovasku-
lärer Ereignisse.
Erstaunlich ist, dass keine verringerte Zahl von
Schlaganällen beobachtet wurde, da sie die
Komplikation mit der grössten Empndlichkeit
auf eine Blutdrucksenkung darstellen.
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Ein Zielblutdruck von mmHg steht in eindeutigem
Zusammenhang mit dem vermehrten Aureten von
Nebenwirkungen, die vor allem durch die häugere
Verschreibung von Diuretika bedingt sind (Elektro-
lytstörungen, Hypotonie, akutes Nierenversagen). Bei
der Veröentlichung der SPRINT-Studie wurden die
Nachteile, die mit diesen häugeren Nebenwirkungen
verbunden sind, als unbedeutend im Vergleich zum
Nutzen hinsichtlich der Mortalität und Morbidität dar-
gestellt. In der Praxis könnten die tatsächlichen Aus-
wirkungen dieser Nebenwirkungen jedoch grösser und
letztendlich ein limitierender Faktor für eine Behand-
lungsintensivierung sein. Es sei darauf hingewiesen,
dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde und die
Folgen der Nebenwirkungen möglicherweise signi-
kant grösser gewesen wären, wenn die Studie bis zum
Ende durchgeführt worden wäre.
Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Übertrag-
barkeit der Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung und
besonders auf andere Populationen als die der Verei-
nigten Staaten. Zu Beginn der SPRINT-Studie wurden
mehr als % der teilnehmenden Patienten mit einem
Blutdruck von > mmHg bereits mit bis zu drei Me-
dikamenten behandelt. Diese Tatsache ist jedoch kein
Grund, unbehandelte Patienten mit einem systolischen
Blutdruck zwischen und mmHg so zu behan-
deln, dass ihre Werte auf unter mmHg sinken:
Nach Ansicht der europäischen Experten sollten diese
Patienten nicht medikamentös, sondern auf nicht-
pharmakologischem Wege behandelt werden. Solange
keine Informationen über das Nachlassen der kogniti-
ven Funktionen vorliegen, sollten die aktuellen Emp-
fehlungen der ESH
(European Society of Hypertension)
zu über -jährigen Patienten durch die SPRINT-Studie
nicht infrage gestellt werden. Als Hauptschlussfolge-
rung der SPRINT-Studie kann also gelten, dass die Sen-
kung des systolischen Blutdrucks auf Werte unter
mmHg sicher ist und im Zusammenhang steht mit
einer geringeren Gesamtmortalität sowie einer ver-
minderten Zahl kardiovaskulärer Ereignisse bei über
-jährigen Hypertoniepatienten (deniert durch einen
systolischen Blutdruck von > mmHg zum Zeitpunkt
der Diagnose) mit erhöhtem Herz-Kreislauf-Risiko
(>% über einen Zeitraum von zehn Jahren). Ein Ziel-
blutdruck von < mmHg kann angestrebt werden,
sofern der Patient die Behandlung verträgt.
Fazit
Die Ergebnisse der SPRINT-Studie werden voraussicht-
lich in die kommenden internationalen Empfehlungen
einbezogen; es wäre jedoch wichtig, zuvor auch die
Auswirkungen auf die Progression des chronischen
Nierenversagens und die Kognitionsstörungen zu ken-
nen. Wir schlagen daher vor, einstweilen die aktuellen
Empfehlungen zu verwenden, wonach der Blutdruck in
der ärztlichen Praxis auf < mmHg gesenkt werden
sollte [].
Disclosure statement
Die Autoren haben keine nanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert
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Korrespondenz:
Prof. Michel Burnier
Service de Néphrologie
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CHUV
Rue du Bugnon
CH- Lausanne
michel.burnier[at]chuv.ch
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