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Stefan Zumbühl
„Wie geht das?“ – Die Löslichkeit von Materialien
Teil I: Grundlagen der Lösemittelwirkung, intermolekulare Wechselwirkungen und
Lösemitteleigenschaften
Einführung
In der restauratorischen Praxis sind Arbeitsprozesse mit Lösemit-
teln nicht wegzudenken. Dennoch lassen sich vermeintlich ein-
fache Fragen wie: „Wie lässt sich eigentlich ein Material lösen?“
oder „Wie wähle ich das passende Lösemiel aus?“ gar nicht so
einfach beantworten. In den letzen Jahren wurde dazu einiges pu-
bliziert, so dass es Sinn macht, dieses Wissen in einer Übersicht
zusammenzufassen. Dabei soll es aber nicht darum gehen, einen
klassischen „Review-Artikel“ zu präsentieren, der das gegenwär-
tige Wissen zusammenträgt. Dies wurde vor einigen Jahren be-
reits durch Alan Phenix und Ken Sutherland, zwei renommierten
Autoren auf diesem Gebiet, in umfassender Weise getan [1].
Vielmehr wird angestrebt, die allgemeinen Zusammenhänge die-
ses emengebiets in einer anschaulichen Form zu vermieln.
Am Anfang stand die Frage: „Wie geht das?“ Diese immer wie-
derkehrende Frage ist die Triebfeder unseres Tuns. Schon frü-
her wollte man beispielsweise erfahren: „Wie kommt die Mine
in den Bleisti?“ und bekam die Antwort in der „Sendung mit
der Maus“. Die Informationsplaformen mögen sich zwar än-
dern, aber die Frage bleibt. Gerade bei komplexen Arbeitsprozes-
sen, wie sie in der Restaurierung üblich sind, ist dieses ständige
Fragen und Hinterfragen für eine verantwortungsvolle Tätigkeit
unerlässlich. Dies gilt auch für Arbeitsprozesse mit Lösemieln.
Lange Zeit wurde versucht, die komplexen Zusammenhänge so
zu vereinfachen, dass sie den RestauratorInnen leicht zugänglich
wurden, auch wenn dabei unzulässige Trivialisierungen notwen-
dig waren. Ein bekanntes Beispiel ist das Lösemieldreieck nach
Teas [2], das 1975 von Giorgio Toracca (1927–2010) in die Res-
taurierung eingeführt wurde [3]. Die Publikation „Solubility and
Solvents for Conservation Problems“ hae einen beträchtlichen
Einuss in der Fachwelt. Heute ist dieser Systematisierungsver-
such ambivalent zu beurteilen. Einerseits hat diese Publikati-
on dazu beigetragen, die rein empirische Lösemielanwendung
durch eine vermeintlich grössere Systematik mit chemischem
Hintergrundwissen abzulösen. Andererseits hat dieses grasche
Hilfsmiel zum Bestimmen von Materiallöslichkeiten dazu ge-
führt, dass die zentralen, physikalischen Rahmenbedingungen
von Lösungsprozessen auf der Strecke geblieben sind. Daher
sind mit diesem System keine ausreichend dierenzierten Aussa-
gen zur realen Wirkung von Lösemieln möglich [4]. Vielleicht
hat das uneingeschränkte Vertrauen in dieses Arbeitssystem so-
gar dazu geführt, dass die Bereitscha, sich mit dem Basiswissen
auseinanderzusetzen, auf ein Minimum reduziert wurde. Es ist an
der Zeit, sich wieder auf die elementaren chemischen und physi-
kalischen Grundlagen zu besinnen, um darauf Arbeitsstrategien
für die restauratorische Praxis abzuleiten.
Grundlagen des Lösungsvorgangs
Seit der mielalterlichen Alchemie galt zum Beschreiben der
Materiallöslichkeit der allgemeine Lehrsatz „Similia similibus
solvuntur“, was soviel bedeutet wie: „ Ähnliches wird von Ähn-
lichem gelöst“. Die Denition dieses Anitätsprinzips hat sich
zwar über die Zeit stark gewandelt, aber dennoch bis in die Neu-
zeit gehalten. Auf diesem Grundprinzip wurden über die Zeit
verschiedenste Konzepte zum Beschreiben von Lösungsprozes-
sen entwickelt [5]. Fundamentale Erweiterungen erfolgten erst
im 19.Jh. mit den Grundlagen der ermodynamik. Heute ist
diese allgemein akzeptiert und von zentraler Bedeutung [6]. Die
ermodynamik geht in der Grundidee auf den Physiker Nicolas
Léonard Sadi Carnot zurück (1796–1832). Später wurde dieses
Modell von Josiah Willard Gibbs (1839–1903) auf chemische
Vorgänge übertragen und begründete damit die Grundlagen der
physikalischen Chemie, was als eine der wichtigen Errungen-
schaen der Physik des 19.Jhs angesehen wird. Nach ihm ist
die Gibbs-Energie in dieser Gleichung benannt. In seiner heu-
tigen Form als „deterministisches dynamisches System“ basiert
dieses auf den Grundlagen des Mathematikers Henry Pointcar-
ré (1854–1912). Von ganz besonderem Interesse ist in unserem
Kontext aber die Flory/Huggins-Lösungstheorie, welche Poly-
merlösungen auf der Basis der ermodynamik beschreibt [7, 8].
Paul Flory (1910–1984) bekam für diese fundamentale Arbeit
1974 den Chemie-Nobelpreis. Die ermodynamik beschreibt
dabei grundsätzlich einen temperatur- und zeitabhängigen Pro-
zess. Ohne dieses Modell im Detail darlegen zu wollen, lässt sich
Original paper published in : Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 31-2 (2017) 252-257
(Journal for Art Technology and Conservation)
ein chemischer Vorgang mit zwei unabhängigen Grössen denie-
ren, der „Enthalpie“ und der „Entropie“. Die beiden Grössen de-
nieren gleichzeitig zwei relevante Faktoren des Lösungsvorgangs.
Die Enthalpie beschreibt primär die Solvatisation, also die Tatsa-
che, wie gut ein Feststomolekül von den Lösemielmolekülen
umlagert werden kann. Diese steht im Einklang mit dem histo-
rischen Leitsatz „Similia similibus solvuntur“. Dieser Faktor be-
stimmt, ob grundsätzlich ein bestimmtes Lösemiel einen Sto
zu lösen vermag oder nicht. Aspekte dazu werden im Folgenden
erläutert. Die Entropie hingegen charakterisiert, wie gut sich
der Feststo in die umgebende Flüssigkeit vermischen lässt, be-
schreibt also den eigentlichen Abtransport der Feststoeilchen
(Solut). Somit gibt diese Grösse darüber Auskun, wie schnell
ein Lösevorgang abläu. Zu diesem emenkomplex nden sich
Ausführungen im Teil II. Beide Grössen sind von praktischer Re-
levanz und sollen daher separat erläutert werden.
Die Bedeutung der intermolekularen Wechsel-
wirkungen
Dieser erste Teil beschäigt sich mit der Enthalpie des Lö-
sungsprozesses. Diese Grösse beschreibt grundsätzlich den
energetischen Zustand eines Materials aufgrund seiner Mole-
küleigenschaen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten,
dass beim Lösen eines organischen Feststoes keine chemi-
sche Veränderung der Material- und Lösemielmoleküle ein-
treten darf. Entsprechend sind etwa Säuren und Basen nicht
als Lösemiel zu betrachten. Dieser Grundsatz vereinfacht
die Denition der Enthalpie massgeblich. Zwar setzt sich die
Enthalpie aus verschiedenen Teilgrössen zusammen, aber die
meisten Energiegrössen verändern sich während des Misch-
vorganges nicht. Zum Beispiel bleibt die Bindungsenergie
eines Moleküls dieselbe, solange keine kovalente Bindung ge-
spalten wird. Die einzige Energie, die sich bei variierendem
Umfeld stark verändern lässt, ist die intermolekulare Wech-
selwirkungsenergie. Historisch wurde dafür schon früh der
Begri „Anität“ eingeführt, wodurch sich denieren liess:
„Gleiches löst Gleiches“. Historisch wollte man damit nur die
empirischen Erfahrungen beim Lösen von Feststoen ausdrü-
cken, also beschreibbar machen, dass nicht jedes Lösemiel
jeden Feststo aufzulösen vermag. Was aber die Gleichheit
von Stoen ausmacht, war bei weitem nicht so klar.
Zur Entwicklung von Lösungsmodellen spielte insbesondere
auch die Vorstellung der Materie eine entscheidende Rolle. Nach
der Wiederentdeckung des philosophischen Werkes „De rerum
natura“ von Lukrez (ca. 99–55v.Chr.) hae man ab dem 15.Jh.
wieder Zugang zur Atomlehre von Epikur (ca. 371–341v.Chr.).
Dieses „Atommodell“ setzte sich in der Wissenscha schnell
durch. Entscheidend ist in unserem Kontext, dass gemäss dieser
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eorie die Materialien aus kleinen Teilchen bestehen, die sich
prinzipiell voneinander trennen lassen. Die Teilcheneigenschaf-
ten waren aber weit weniger dierenziert als die heutige Mole-
külvorstellung. Was sich aber bis heute nicht geändert hat, ist die
Tatsache, dass Kenntnisse zu den zu lösenden Materialien ganz
essenziell sind, um Lösungsvorgänge prognostizieren zu können.
Insbesondere die molekulare Struktur bestimmt, welche Arten
von intermolekularen Wechselwirkungen bei der Solvatisation
möglich sind. Allgemein gilt, dass dann eine gute Voraussetzung
für eine Löslichkeit eines Materials gegeben ist, wenn ähnliche
Wechselwirkungsfähigkeiten (vergleichbare Polarität) der Part-
ner gegeben sind. Dieses Basiswissen ist für die RestauratorInnen
ganz zentral, weil die Lösemielevaluation in der Praxis primär
auf dieser eorie basiert und sich dadurch Lösemieltests auf ein
Minimum reduzieren lassen. Für diese Beurteilungen sind fünf
verschiedene Wechselwirkungstypen zu berücksichtigen. Ist man
mit den Grundkenntnissen zu den intermolekularen Wechselwir-
kungen [9, 10] und den potentiellen Wechselwirkungseigenschaf-
ten von Lösemieln [11, 12] bereits vertraut, kann man zum Teil
II übergehen. Ansonsten nden sich hier einen kurzen Überblick,
auch wenn es sich dabei um trockene eorie handelt:
Die verschiedenen Arten von Wechselwirkungen
Für das Lösen organischer Materialien sind verschiedene Arten
von Wechselwirkungen von Relevanz. Zum einen die „Dispersiven
Wechselwirkungen“, die „Dipolinduzierten Wechselwirkungen“
und „Dipol/Dipol-Wechselwirkungen“, welche gemeinsam zu
den „Van der Waals’schen Wechselwirkungen“ (nach Johannes Di-
derik van der Waals 1837–1923) zusammengefasst werden. Es ist
hier anzumerken, dass die Van der Waals’schen Wechselwirkungen
o fälschlicherweise mit den Dispersiven Wechselwirkungen ver-
wechselt werden. Neben der erwähnten Wechselwirkungen spie-
len noch die sogenannten Wasserstorücken eine bedeutende
Rolle, welche in zwei Wechselwirkungsarten, die „Wassersto-
brücken-Akzeptor-„ und „Wasserstorücken-Donor-Wechselwir-
kungen“, unterteilt werden [11]. Die wichtigsten Grundlagen
werden hier nur sehr kurz erläutert, da diese in vielen Chemiebü-
chern detailliert beschrieben sind. Im Folgenden sind diese nach
deren Wechselwirkungsstärke geordnet:
Dispersive Wechselwirkungen werden auch als London-Kräf-
te (nach Fritz London 1900–1954) bezeichnet. Diese werden aus
klassischer Sicht auf der Basis uktuierender Ladungsdichten be-
schrieben. Das heisst, dass aufgrund der Bewegung der Elektronen
innerhalb ihrer Orbitale kurzzeitige Ladungsungleichgewichte der
Atome aureten, wodurch auch die benachbarten Atome polari-
siert werden (Abb. 1). Durch die ständige Bewegung der Elektronen
kommt es in der Folge zu einer Oszillation der elektrischen Ladun-
gen. Diese Art der Wechselwirkungen wirken nur auf sehr kurze Di-
stanzen und nehmen mit zunehmendem Abstand stark ab (1/r6).
3
Die Induktionswechselwirkungen sind im Vergleich zu den
anderen Wechselwirkungen relativ klein. Ganz wichtig ist aber,
dass alle Moleküle auf diese Art wechselwirken können. Die Wir-
kung nimmt mit zunehmendem molekularen Volumen und der
Anzahl an Elektronen stark zu. Linearkeige Strukturen besit-
zen eine grössere Oberäche als verzweigtkeige Moleküle und
zeigen daher stärkere Wechselwirkungen. Ausgeprägt sind diese
insbesondere in halogenierten Kohlenwasserstoen und den Aro-
maten. Die Dispersiven Wechselwirkungen sind wohl die wich-
tigsten Wechselwirkungen im Praxiskontext. Sie sind von grosser
Relevanz, da viele Materialien ausgedehnte Kohlenwasserstoge-
rüste aufweisen, welche ezient solvatisiert werden müssen.
Dipolinduzierte Wechselwirkungen werden auch als Debye-
Kräe (nach Peter Debye 1884–1966) bezeichnet. Dabei han-
delt es sich um die Wechselwirkung eines dipolaren Moleküls
(mit einem permanenten Dipol) mit einem polarisierbaren Mo-
lekül, wobei bei räumlicher Nähe das an sich neutrale Molekül
polarisiert wird (Abb. 2). Dieser Eekt ist umso grösser, je besser
die Polarisierbarkeit des apolaren Moleküls ist. In diesem Falle in-
teragieren zwei Wechselwirkungspartner mit unterschiedlichen
Eigenschaen miteinander, das heisst Moleküle mit variierenden
funktionellen Gruppen. Diese wichtige Art der Wechselwirkung
ist insbesondere darum von Interesse, da diese nicht stark durch
räumliche Geometrien der Wechselwirkungspartner beeinusst
wird. In der Praxis ist zum Beispiel die Wechselwirkung von Car-
bonylgruppen, welche in vielen Polymeren vorkommen, mit
Aromaten relevant.
Die Dipol-Dipol-Wechselwirkung wird auch als Keesom-
Wechselwirkungen (nach Willem Hendrik Keesom 1876–1956)
bezeichnet. Besitzen Moleküle funktionelle Gruppen mit zwei
Atomen unterschiedlicher Elektronegativität, dann bildet sich
durch die asymmetrische Verteilung der Bindungselektronen
eine ungleiche Ladungsverteilung, was zu einem permanenten
Dipol führt. Im Falle von Aceton bildet sich am elektronegati-
ven Sauersto (EN: 3.5) der Carbonylgruppe eine negative Par-
tialladung aus, während der Bindungspartner (Kohlensto, EN:
2.5) den positiven Ladungsträger darstellt. Solche permanenten
Dipole können sich in unterschiedlicher Form (parallel oder an-
tiparallel) zueinander ausrichten, was in folgender Grak am Bei-
spiel von zwei Acetonmolekülen schematisch dargestellt wird
(Abb. 3):
Die entsprechende Ladungsverteilung ist stark vom Abstand
und der gegenseitigen Orientierung der Moleküle abhängig
(1/r3). Gerade die Anforderung an die räumliche Ausrichtung
der funktionellen Gruppen stellt aber ein grundsätzliches Prob-
lem dar. O ist diese Art der Wechselwirkung nur von beschränk-
ter Bedeutung. Da sich die Moleküle ständig bewegen, können
auch gleichartige Pole aufeinander treen. Aufgrund der räum-
lichen Struktur ist dies insbesondere dann der Fall, wenn die
beiden Sauerstoatome der beiden Carbonylgruppen zueinan-
der orientiert sind. Im Gegensatz zu den bisher besprochenen
Wechselwirkungen können hier also neben den anziehenden (at-
traktiven) gleichzeitig auch stark abstossende Kräe (repulsive
Wechselwirkungen) aureten (Abb. 4). Abstossende Wechsel-
wirkungen minimieren zwar die Interaktionsfähigkeit von Mo-
lekülen, was negative Auswirkungen auf die Solvatisation hat.
Dennoch sind diese in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen,
Abb. 1 Ungleichmässige Elektronenverteilung der Atome führt zu Anziehungskräften
der unterschiedlichen Partialladungen ∂.
Abb. 2 Polarisierung eines Aromaten durch die Annäherung eines dipolaren Moleküls
am Beispiel von Aceton und Phenol.
Abb. 3 Unterschiedliche Orientierung dipolarer Moleküle bei Dipol/Dipol-
Wechselwirkungen am Beispiel von zwei Acetonmolekülen.
da sie gleichzeitig auch die Entropie des Lösungsprozesses posi-
tiv beeinussen (siehe Teil II).
Wasserstorücken sind die stärksten der hier besprochen
Wechselwirkungen. Der Begri geht auf Maurice Loyal Huggins
(1897–1981, Mitbegründer der Flory/Huggins Lösungs-eo-
rie) einem Schüler von Gilbert Newton Lewis (1875–1946; der
das Lewis Säure/Base-Konzept begründete) zurück. Ein beson-
ders starker Dipol innerhalb eines Moleküls existiert, wenn ein
gering elektronegatives Wasserstoatom (EN: 2.2) an ein stark
elektronegatives Atom, zum Beispiel Sauersto (EN: 3.5), ge-
bunden ist. Der starke Elektronenshi führt zu einer weitgehen-
den „Isolierung“ des Wasserstoerns, was lokal zu einer starken
positiven Partialladung führt. Daher besitzen solche Molekü-
le eine starke Wechselwirkungsfähigkeit mit Strukturbereichen
grosser Elektronendichte, wie den nicht-bindenden Elektronen-
Eigenschaften von Lösemitteln:
Nachdem wir in einem Kurzüberblick die verschiedenen Arten
der intermolekularen Wechselwirkungen kennen, sollten sich die
Eigenschaen der individuellen Lösemiel einfach erschliessen
lassen, vorausgesetzt man kennt die molekulare Struktur eines
Lösemiels. Die verschiedenen funktionellen Gruppen bestim-
men natürlich die jeweiligen Eigenschaen massgeblich, so dass
generell entsprechende Klassizierungen der Lösemiel vorge-
nommen werden. Natürlich ist es hier nicht möglich, sämtliche
Lösemiel umfassend zu beschreiben. Dennoch gibt es einige
grundlegende Aspekte, die anzusprechen sind, wenn man die
Wechselwirkungseigenschaen aufgrund der Molekularstruktur
ableiten will. Daher werden hier im Folgenden einige exempla-
rische Ausführungen zu einzelnen Lösemieln (Abb. 6) vor-
genommen. Mit diesem Basiswissen lassen sich prinzipiell die
Eigenschaen der meisten übrigen Lösemiel ableiten:
Zu den apolaren Lösemieln zählen die aliphatischen Koh-
lenwasserstoe (Abb. 6A). Allgemein können diese mit Materia-
lien nur verhältnismässig schwache dispersive Wechselwirkungen
eingehen. Eigentlich sind diese Lösemielmoleküle relativ gross
und sollten gut wechselwirken können. Die Moleküle besitzen
aber eine ausgeprägte Beweglichkeit und knäueln sich gerne zu-
sammen. In der Folge können nur einzelne Keensegmente mit
der Solutoberäche interagieren, während andere Molekülteile
einen zu grossen Abstand aufweisen und daher nicht mehr wech-
selwirken können. Dies ist ein generelles Problem von langkei-
gen Molekülen. Ein weiterer Nachteil dieser Moleküle ist, dass sie
sich aufgrund dieser räumlichen Struktur nicht sehr dicht packen
lassen, was für eine gute Solvatisation nachteilig ist.
Ebenfalls zu den apolaren Molekülen lässt sich Diethylether
zählen (Abb. 6B). Zwar besitzt dieses mit einem Sauerstoatom
einen Bindungspartner mit höherer Elektronegativität (EN3.5),
aber aufgrund der symmetrischen Anordnungen der Kohlenwas-
serstoreste ist das Molekül als Ganzes nicht polar. Ein wichtiger
Unterschied zu den reinen Kohlenwasserstoen ist aber insbe-
sondere die Präsenz der nicht-bindenden Elektronenpaare am
Sauerstoatom. Neben der aprotischen Eigenscha sind diese
elektronenreichen Bereiche für die starken repulsiven Wechsel-
wirkungen verantwortlich. Daher besitzt Diethylether einen aus-
gesprochen hohen Dampfdruck. Diese repulsive Eigenscha ist
in den verschiedenen, rein aprotischen Lösemieln sehr unter-
schiedlich ausgeprägt, je nachdem wie gut diese zugänglich sind.
Toluol (Abb. 6C) zählt zu den gut polarisierbaren Molekülen,
da seine π-Elektronen (nicht lokalisierte Doppelbindungselekt-
ronen) gut shibar sind. Diese Eigenscha wird zusätzlich durch
die planare Struktur des zyklischen Moleküls begünstigt, weil
dadurch die Zugänglichkeit der Moleküloberäche allseitig gut
gegeben ist. Einzig der Methylsubstituent wirkt störend. Solche
Gruppen, welche die Zugänglichkeit von funktionellen Gruppen
Abb. 4 Repulsive (abstossende) Wechselwirkungen von zwei dipolaren Molekülen beim
Aufeinandertreen gleicher Partialladungen ∂.
Abb. 5 Wasserstobrücke eines Ethanolmoleküls (mit einem Wasserstobrücken-
Donor HBD) mit einem Acetonmolekül (mit Wasserstobrücken-Akzeptoren HBA)
paaren an Sauersto- oder Stickstoatomen. Dadurch kommt
eine Wasserstorücke (HB) zustande (Abb. 5):
Die Wechselwirkungspartner werden gemäss ihren Bin-
dungseigenschaen unterschieden. Die Verbindungen mit
Bereichen erhöhter Elektronendichten ∂- sind Wasserstorü-
cken-Akzeptoren („Hydrogen Bond Acceptor“ HBA) und werden
auch als aprotisch bezeichnet. Die Wechselwirkungspartner sind
Moleküle mit einem isolierten Wasserstoatom. Diese nennt
man Was serstorücken-Donoren („Hydrogen Bond Donor“
HBD) und werden auch als protisch bezeichnet, da sie aufgrund
der stark positiven Partialladung ∂+ als Protonenlieferanten be-
trachtet werden können.
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einschränken oder unterbinden, werden als sterische Gruppen
bezeichnet. Mit zunehmender Anzahl solcher Strukturelemente
nimmt die Polarisierbarkeit des Moleküls ab.
Chlorierte Lösemiel wie Chloroform (Abb. 6D) zählen
zu den stark dispersiven Lösemieln. Halogenierte Kohlenwas-
serstoe vereinigen sehr viele Elektronen auf engstem Raum
(17 Elektronen pro Chloratom, was mehr als das Doppelte von
Sauersto ist). Sie können daher ausgeprägte Dispersionskräe
eingehen. Aufgrund der kompakten Molekularstrukturen besit-
zen diese Lösemiel generell hohe Dichten. Unter dieser Klasse
nimmt zudem das Chloroform (Trichlormethan) eine Sonder-
stellung ein. Chlor mit seiner hohen Elektronegativität (EN: 3.2)
führt zu starken Elektronenshis innerhalb des Moleküls. Diese
sind in der Abbildung durch Pfeile angegeben. Diese Isolierung
des Wasserstoerns bewirkt einen schwach protischen Charak-
ter dieses Moleküls, was diesem einzigartige Eigenschaen ver-
leiht, weil dieses nur protisch ist (während viele andere protischen
Lösemiel gleichzeitig auch aprotische Gruppen besitzen).
Das Butylacetat (Abb. 6E) ist hier besonders dazu abgebil-
det, um die sterische Hinderung von langkeigen Substituen-
ten darzustellen. Grosse oder verzweigte Kohlenwasserstoreste
können die Zugänglichkeit einer funktionellen Gruppe in unter-
schiedlichem Ausmass behindern, wodurch deren Wechselwir-
kungseigenscha limitiert wird. Dies wird im Weiteren noch für
die Polymere diskutiert, da dieser Eekt dort o noch ausgepräg-
ter auri (siehe Teil II). Aber auch bei Lösemieln ist die Länge
der Kohlenwasserstoreste eine wichtige Eigenschasgrösse. In
der Restaurierung hat sich die Verwendung von homologen Rei-
hen von Lösemieln etabliert (das heisst strukturgleiche Löse-
miel mit unterschiedlich langen Kohlenwasserstoresten), um
die Wirkung eines Lösemiels gezielt zu variieren.
Das Tetrahydrofuran (Abb. 6F) ist ein typischer Vertreter ei-
nes zyklischen, aprotischen Lösemiels. Alle Lösemielmolekü-
le mit Sauersto- oder Stickstoatomen besitzen nicht-bindene
Elektronenpaare und zeigen daher aprotische Eigenschaen, das
heisst, sie sind Wasserstorücken-Akzeptoren (HBA). Aufgrund
der räumlichen Struktur sind diese Gruppen in zyklischen Mole-
külen besonders gut zugänglich. In Ringstrukturen kommt aber
hinzu, dass durch die Einbindung eines elektronegativen Atoms
ein Induktionseekt auri, wodurch der Ring leicht polarisiert
wird. Die Elektronenshis sind in der Grak durch Pfeile angege-
ben. Diese Moleküle zeigen also einen gewissen Dipolcharakter.
Noch ausgeprägter ist dieser Eekt in Kombination mit aroma-
tischen Ringen, wie beispielsweise dem Pyridin. Entsprechend
zeigen zyklische Moleküle im Vergleich zu den aliphatischen
Partnern generell eine recht gute dispersive Wechselwirkungs-
fähigkeit.
Aceton (Abb. 6G) ist ein stark dipolares Molekül, das eigent-
lich gute Dipol/Dipol-Wechselwirkungen eingehen kann. Dies
hängt damit zusammen, dass aufgrund der Bindungswinkel die
Ketongruppe frei im Raum liegt und das Molekül einen ausge-
dehnten Bereich mit negativer Partialladung besitz. Trotz der an-
genommenen, starken Wechselwirkungsfähigkeit besitzt Aceton
aber dennoch einen hohen Dampfdruck, weist also eine geringe
Kohäsionsenergie auf. Das heisst der Zusammenhalt der Löse-
mielmoleküle innerhalb der Flüssigkeit ist nicht enorm gross.
Dies lässt sich damit erklären, dass die anziehenden Kräe teil-
weise durch abstossende Kräe kompensiert werden. Dies ist der
Fall, wenn durch die Atombewegung die negativen Pole der Ke-
tongruppen aufeinander treen.
Die polarste Klasse der hier diskutierten Lösemiel sind die
Alkohole (Abb. 6H). Sie sind prinzipiell von Interesse, da die-
Abb. 6 Lösemittelmoleküle mit unterschiedlichen Wechselwirkungseigenschaften: A) Gesättigtes Kohlenwassersto, B) Diethylether, C) Toluol, D) Chloroform (halogeniertes
Kohlenwassersto), E) Butylacetat, ) Tetrahydrofuran, G) Aceton, H) Isopropanol, J) Ethanolcluster (oft bestehend aus drei Ethanolmolekülen), wo die Moleküle über
Wasserstobrücken HB gebunden sind.
se starke Wasserstorücken eingehen können. Diese Art der
Wechselwirkungen ist hier besonders ausgeprägt, da Hydroxyle
sowohl protische, als auch aprotische Gruppen besitzen und ent-
sprechend mehrere Wasserstorücken eingehen können. Den-
noch erstaunt es auf den ersten Blick, dass Ethanol trotz seiner
starken Wechselwirkungsfähigkeit einen recht hohen Dampf-
druck besitzt. So ist Ethanol bedeutend üchtiger als Wasser,
welches prinzipiell die gleichen Wechselwirkungen eingehen
kann. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Ethanolmoleküle in
ausgeprägter Form Cluster formieren (Abb. 6J). Diese werden
durch enorm starke Wechselwirkungen gebunden, während die
Cluster selbst durch die nach aussen gerichteten Kohlenwasser-
storeste (grauer Bereich in der Grak) nur durch verhältnismä-
ssig schwache, dispersive Wechselwirkungen zusammengehalten
werden. Diese Flüssigkeiten besitzen somit in ihrer Mikrostruk-
tur eine heterogene Kohäsionsenergiedichte. Die Clusterbildung
zeigt auch Einuss auf die Löseeigenschaen von Alkoholen.
Diese interagieren bevorzugt mit Hydroxylgruppen, wo ebenfalls
zwei Wasserstorücken möglich sind. Mit anderen aprotischen
Gruppen ist die Wechselwirkungsbereitscha hingegen limitiert.
Zwar sind theoretisch Wasserstorücken möglich, aber diese
kommen o nur schlecht zustande, weil Alkoholmoleküle mit
ihresgleichen bedeutend besser interagieren können und daher
diese Bindungen präferenziert eingehen.
Abschliessende Beurteilung der Wechselwirkungs-
situationen
Zum Schluss sollen die andiskutierten Aspekte kurz reektiert
werden. Bisher wurden primär die potentiellen Wechselwir-
kungsfähigkeiten der Lösemiel betrachtet, über diese sie mit
dem Feststo interagieren können. Zudem wurde festgehalten,
dass beim Lösen eines Materials auch die Kohäsionseigenschaf-
ten der Materialien eine wichtige Grösse darstellen. Auf die Ma-
terialaspekte wurde zwar bisher noch nicht eingegangen, aber
aufgrund der Tatsache, dass es sich bei organischen Feststoen
ebenfalls um molekulare Systeme handelt, müssten theoretisch
analoge Wechselwirkungssituationen vorliegen. Tatsächlich ist
ein Teil der Kohäsionsenergie eines Materials auf die intermo-
lekularen Wechselwirkungen zwischen den Feststomolekülen
zurückzuführen. Hier begegnen wir nun aber dem Grundprob-
lem des historischen Konzeptes: „Gleiches löst Gleiches“. Sind
nämlich die Wechselwirkungen zwischen dem Feststo und dem
Lösemiel identisch mit den Wechselwirkungen innerhalb des
Feststoes, dann stellt sich die Frage, warum sich dieser dann
auösen soll. eoretisch müssten erstere ja besser sein, was aber
nur selten der Fall ist. Zudem deckt sich dieser Grundsatz nicht
mit der praktischen Erfahrung in der restauratorischen Praxis.
Wir wissen, dass Materialien auch dann noch löslich sein kön-
6
nen, wenn die Wechselwirkungen nicht ideal sind.
Ansonsten könnten Materialien ja nicht über ein breites
Spektrum von Lö-semieln löslich sein. Dieses Problem kann
also nur mit anderen Denkansätzen angegangen werden. Die
Lösung ndet sich nicht bei den intermolekularen
Wechselwirkungen von Lösemiel und Feststo. Die Antwort
liegt beim üssigen Lösemiel, das sich im Kontakt mit dem
Feststo bendet. Dies mag zwar auf den ersten Blick paradox
erscheinen, da ja die Wechselwirkungen in-nerhalb der
Flüssigkeit durch die geforderte Wechselwirkungs-äquivalenz
ebenfalls gleich sein sollten. Daher lohnt es sich, die
Betrachtung von Lösungsvorgängen wieder auf die
einführend erwähnte ermodynamik auszuweiten. Bisher
wurden ja mit den intermolekularen Wechselwirkungen nur
die Faktoren der Enthalpie besprochen, nun ist es also wichtig,
auch die Rahmen-bedingungen der Entropie kennen zu lernen.
Und dabei wird sich zeigen, dass tatsächlich der
Flüssigkeitseigenscha eine zentrale Rolle zukommt. Mehr dazu
erfahren Sie in Teil II.
Literatur
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Organic Solvents on Oil Paint Films, Reviews in Conservation
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ICCROM International Centre for the Study of the Preservati-
on and the Restoration of Cultural Property, Rom, 1975.
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der Praxis – Aspekte zur Charakterisierung der Wirkung von
binären Lösemielmischungen, Zeitschri für Konservierung
und Restaurierung 19(2005), 253-262.
[5] S. Zumbühl, „Die wissenschaliche Kunst Leiber aufzulösen“
– I. Die Bedeutung historischer Lösungstheorien auf moderne
Konzepte, Zeitschri für Kunsechnologie und Konservierung
26(2012), 387-391.
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Einführung, PhysChem-Verlag Erlangen, 2010.
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Journal of Chemical Physics 10(1942), 51-61.
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stry, VCH Verlagsgesellscha, Weinheim, 1990.
[12] Y. Marcus, e Properties of Solvents, John Wiles & Sons,
Chichester, 1998.
English abstract (Part I-III):
„How does it work?“ - The solubility of materials
Part I: Basics of solvent action, intermolecular forces, and solvent properties
Part II: Physical principle of the dissolution process, and the solubility of materials
Part III: Evaluation of solvents, and solubility tests
„How does it work?“ This is the central question of the following educational article on the effect of solvents and the solubility
of materials. In order to understand dissolution processes, it is essential to know the fundamentals of solvent properties and
the materials to be dissolved. These build the theoretical framework to set up conceptual strategies in restoration
practice. The thermodynamics are the basis for the presented concept. Part I highlights relevant aspects of the dimension“
enthalpy”, whereas Part II discusses the dominant dimensions of “entropy”. In principle, we need to consider three dimensions
of energy, which define the solubility of a material: the “cohesive energy” of the solid to be dissolved, the
“solvation energy”, that is the energy of interaction between solvent and solute, as well as the “cavitation energy” of the
liquid. The cohesion of the solid therein is the only dimension, which cannot be influenced under normal working
conditions. Cohesion is defined by the intermolecular interaction, the density of entanglement of the macromolecules, the
degree of crystallinity and the cross-linking situation. The cohesion controls whether a material is soluble at a
specific temperature. Interaction between polymer molecules and the solvent influences the solvation and is
determined by the “affinity” of the solute to the solvent. In the practical context this means that the interaction must be
sufficiently strong for the solute molecule to be held in the solvent. This, in turn, depends on the functional groups
present and their accessibility within the compound structure. Solvation defines the range of polarity wherein a specific
material can be dissolved. A parametrisation system is introduced as a working tool to visualise the correlation of these
dimensions. Low molecular materials are often soluble over a broad range of the polarity spectrum, whereas high
molecular compounds require well-defined interaction conditions. The most decisive dimension, however, is the cavitation
energy, i.e. the cohesion energy of the liquid. This determines the entropy of the dissolution process and as such is the
driving force in the process of mixing. The cavitation energy is the key dimension to describe the rate of dissolution. As a
general rule we can derive that low molecular molecules have a higher tendency to mix than high molecular ones, and
apolar molecules dissolve faster than polar ones. The rate of dissolution can, in principle, be controlled by manipulation
of the vapour pressure of the solvent. An additional factor influencing the dissolution behaviour is the morphology
of a material. General trends are discussed based on the dissolution behaviour of a broad range of materials tested.
This is achieved either by selection of a suitable solvent within defined groups of solvents, or by systematic mixing of
solvents. Further aspects such as “leaching” upon short-term action of solvents on oil paint will be illuminated.
Part III finally delivers the tools and strategy on how to perform solubility tests on micro-samples in practice and how to
derive a sound choice for a suitable solvent, based on the presented scheme.