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Abstract

Schon wieder: Lawine reißt Tourenfahrer in den Tod!“ Solche Schlagzeilen lesen wir jeden Winter. Sind Skitouren wirklich so gefährlich? Oder liegt alles nur daran, dass Lawinenunfälle mit Naturgewalt, Drama und Tod genau den Stoff bieten, aus dem Schlagzeilen gemacht sind? Neue Daten zeigen nun, dass Skitouren eher gefährlicher sind als Autofahren. Und sie decken auch auf, wer die größten Risiken hat: Männer mittleren Alters, unterwegs mit Tourenski bei schwacher Altschneedecke und Gefahrenstufe 3.
Da holen wir doch gleich
mal die Notfallausrüstung
raus
Voi geil, hee!
58 DAV 6/2017
Schon wieder: Lawine reißt Tourenfahrer in
den Tod!“ Solche Schlagzeilen lesen wir je-
den Winter. Sind Skitouren wirklich so ge-
fährlich? Oder liegt alles nur daran, dass
Lawinenunfälle mit Naturgewalt, Drama und Tod
genau den Stoff bieten, aus dem Schlagzeilen ge-
macht sind? Neue Daten zeigen nun, dass
Skitouren eher gefährlicher sind
als Autofahren. Und
sie decken
auch
auf, wer die
größten Risiken hat:
Männer mittleren Alters, un-
terwegs mit Tourenski bei schwacher
Altschneedecke und Gefahrenstufe 3.
In der Schweiz verunfallen durchschnittlich 33 Per-
sonen pro Jahr tödlich beim Wintersport abseits der
Pisten. Fast zwei Drittel davon sterben in Lawinen;
diese sind also die Hauptgefahr im winterlichen Ge-
birge. Wollen wir das durchschnittliche Lawinenrisi-
ko (oder: die Mortalitätsquote) auf einer Tour be-
stimmen, so müssen wir diese Todesfälle durch die
gesamte Anzahl Touren dividieren, die pro Jahr un-
ternommen werden. Nur wusste bisher niemand,
wie viele Leute an wie vielen Tagen in den Bergen
unterwegs sind. Für die Schweiz hat sich dies geän-
dert durch drei gro-
ße Umfragen zum Sport-
verhalten der Bevölkerung (sie-
he Kasten S. 61).
Viel mehr Touren, etwas mehr Unfälle
Die Umfragen zeigen, dass sich die Anzahl der Win-
ter-Tourentage der Schweizer von 1999 bis 2013 von
700.000 auf 2,2 Millionen mehr als verdreifacht hat.
Mehr als die Hälfte davon sind inzwischen Schnee-
schuhtouren, die 1999 noch eine Randerscheinung
waren. Auch die Zahl der in Lawinen gestorbenen Tou-
rengeher hat zugenommen – aber „nur“ um ein Drittel,
also um viel weniger als die Tourentage (Abb. 1).
Pro Million Tourentage starben im Zeitraum 2005-
2015 statistisch gesehen knapp fünf Personen in La-
winen (Abb. 2). Das konkrete persönliche Risiko bei
einer aktuellen Tour kann natürlich stark von diesem
Mittelwert abweichen: Durch Zurückhaltung lässt es
sich reduzieren, durch sorgloses Verhalten fast be-
liebig erhöhen. Betrachten wir aber das „statistische“
Risiko, also die Quote der vergangenen Unfälle, zei-
gen sich markante Unterschiede zwischen verschie-
denen Personengruppen:
„Skitouren sind nicht gefährlicher als Autofahren“,
hört man oft. Die Schweizer Lawinenforscher Kurt
Winkler und Frank Techel haben nun umfassende
Daten analysiert und manch Überraschendes her-
ausgefunden.
Illustration: Georg Sojer
Lawinenrisiko auf Skitouren
Wie männlich ist
der Lawinentod?
Da holen wir doch gleich
mal die Notfallausrüstung
raus
Voi geil, hee!
DAV 6/2017 59
Viel mehr Touren, etwas mehr Tote
Sicherheitsforschung: Lawinenrisiko
> Schnee-
schuhgeher
haben ein fünf
Mal geringeres La-
winenrisiko als Skitou-
rengeher. Das kann nur daran
liegen, dass Schneeschuhgeher viel
seltener Lawinen auslösen, vermutlich weil
sie sich eher in mäßig steilem Gelände tiefer und
mittlerer Höhenlagen aufhalten und dabei seltener
potenzielles Lawinengelände betreten. Kommt es
aber zu einer Lawinenerfassung, so endet diese für
Schneeschuhgeher viel häufiger tödlich als für Ski-
tourengeher (Abb. 3). Die Ursache dürfte in einer
weniger effizienten Kameradenrettung liegen. Trotz
des insgesamt relativ geringen Lawinenrisikos soll-
ten Schneeschuhgeher daher prinzipiell die übliche
Notfallausrüstung mitführen und in Rettungskursen
deren Anwendung lernen.
> Das Lawinenrisiko der Männer ist pro Skitourentag
drei Mal höher als das der Frauen, pro Schneeschuh-
tag zwei Mal.
> Insgesamt haben Männer pro Tourentag sogar ein
dreieinhalb Mal höheres Lawinenrisiko als Frauen,
denn es überlagern sich zwei Einflüsse: das höhere
Risiko der Männer innerhalb der Sportart, und zwei-
tens, dass Männer häufiger auf Ski unterwegs sind,
Frauen mehr mit Schneeschuhen.
> Das höchste Risiko haben Männer auf Skitour. Sie
stellen mit 30 Prozent der Tourentage 70 Prozent der
Lawinentoten; das ist ein fünf Mal höheres Risiko
pro Tourentag als bei den anderen Tourengehern.
Erfahrung schützt nicht vor Lawinen
Die 30- bis 59-Jährigen unternehmen am meisten
Touren, haben die meisten Toten und auch das
höchste Lawinenrisiko pro Tourentag (Abb. 4). Inter-
essanterweise ha-
ben die unter 30-Jährigen ein
tendenziell kleineres Lawinenrisiko. Das
Vorurteil mit den „Jungen Wilden“ scheint
also zumindest im Tourenbereich nicht
zu stimmen; die Erfahrung der Älte-
ren schützt sie nicht vor Lawinen.
Mehr Erfahrung mag wohl mehr
Sicherheit auf den gleichen
Touren bringen (Zahlen
dafür sind schwer auf-
zutreiben) – wenn sie
aber zu anspruchs-
volleren Touren ver-
führt, geht dieser
Vorteil rasch ver-
loren. Auch dass
das Risiko der über
60-Jährigen abnimmt,
ist kein Beweis dafür, dass
Erfahrung die Sicherheit erhöht. Eher ist das wohl
eine Folge kleinerer Tourenziele.
Der Faktor „Verhältnisse“
Um den Einfluss der Verhältnisse zu bestimmen,
werteten wir Einträge in Social-Media-Plattformen
aus (s. Kasten S. 61).
Abb. 1: Jährliche Anzahl von Lawinentoten und Tourentagen bei in der
Schweiz wohnenden Ski-, Snowboard- und Schneeschuh-Tourengängern.
Obwohl es dreimal so viele Tourentage gibt (vor allem auf Schneeschuhen),
stiegen die Todesfälle nur um rund 30 Prozent.
1995 1999 2003 2007 2011 2015 1995 1999 2003 2007 2011 2015
0,7
1,4
2,2
6,5
8,6
Tote
30
20
10
0
Tourentage
3 Mio.
2 Mio.
1 Mio.
0
Tote/Jahr
(10-jähriger Durchschnitt)
Schneeschuh
Ski/Snowboard
60 DAV 6/2017
An Schönwetterwochenenden ereignen sich beson-
ders viele Lawinenunfälle. Trotzdem sind weder
schönes Wetter noch Wochenenden Risikofaktoren.
Die Unfallzahlen rühren nur daher, dass an einem
Wochenendtag dreimal mehr Tourengeher unter-
wegs sind als an einem Werktag, und bei schönem
Wetter dreimal mehr als bei schlechtem Wetter.
Dagegen wissen die meisten Tourengeher, dass eine
höhere Lawinengefahrenstufe gefährlichere Ver-
hältnisse bedeutet. Und ein Teil von ihnen verzich-
tet dann: Bei Stufe 3 (erheblich) werden etwa ein
Drittel weniger Touren unternommen als bei niedri-
geren Gefahrenstufen – wer trotzdem unterwegs ist,
wählt oft ein weniger exponiertes Tourenziel. Doch
diese Risikoreduktion reicht immer noch nicht aus.
Pro Tourentag bei Stufe 2 (mäßig) sterben zweiein-
halb Mal so viele Tourengeher in Lawinen wie bei
Stufe 1 (gering), und bei Stufe 3 nochmals zweiein-
halb Mal so viele wie bei Stufe 2.
Bei schwachem Schneedeckenaufbau („Altschnee-
problem“) ist die Gefahr schwierig einzuschätzen
und Lawinen werden tendenziell größer. Daraus re-
sultiert ein etwa 50 Prozent höheres Risiko als bei
den anderen Lawinensituationen. Dies scheint den
Tourengehern aber nicht bewusst zu sein, zumin-
dest ihr Verhalten nicht zu beeinflussen: Anders als
eine höhere Gefahrenstufe führt ein ausgeprägtes
Altschneeproblem nicht zu weniger Touren.
Abb. 4: Die 30- bis 59-Jährigen unternehmen die meisten Touren,
stellen die meisten Unfalltoten und haben tendenziell auch das
höchste Risiko.
Abb. 5: Das statistische Lawinenrisiko sank in zehn Jahren von 9,2
auf 4,9 Tote pro Million Tourentage. Das liegt aber nur an der Viel-
zahl von Schneeschuhtouren, bei denen das statistische Risiko
viel geringer ist. Die Todesquote für Ski- und Snowboardtouren
ist nur unwesentlich gesunken.
Lawinenrisiko: Männer trifft es öfter
Erfahrung ist kein Schutz
Frauen Gesamt Männer
12
10
8
6
4
2
0
1,1
2,0
3,3
1,5
4,9
8,7
11,0
7,0
2,1
15-29 30-44 45-59 60-74
Tourentage
pro Jahr Tote pro Mio.
Tourentage Tote pro Mio.
Tourentage
Tote pro Mio.
Tourentage
Altersgruppe
0,8 Mio.
0,6 Mio.
0,4 Mio.
0,2 Mio.
0
8
6
4
2
0
9,3 8,7
4,9
1,5
9,2
10
8
6
4
2
0
1995 1999 2003 2007 2011 2015
unbekannt
unverletzt
verletzt
tot
Schneeschuh: Wenn's passiert, wird's gefährlich
Skitouren: nicht wirklich weniger Risiko
0,6
3,2
3,8
1,1
Ski/Snowboard
67 %
(827)
20 %
(247)
10 %
(124)
3 %
(37)
100 %
(n=1235)
Schneeschuh
34 %
(19)
23 %
(13)
41 %
(23)
100 %
(n=56)
2 %
(1)
Ski/Snowboard
alle Schneetouren
Schneeschuh
Ski/Snowboard
alle Schneetouren
Schneeschuh
Abb. 2: Männer auf Ski haben ein zehnfach höheres Lawinenrisiko
als Frauen auf Schneeschuhen (11 gegenüber 1,1 Tote pro Million
Tourentage) – und sie sind am meisten unterwegs.
Abb. 3: Laut SLF-Datenbank gab es zwischen 2005 und 201 5 rund
22-mal so viele Lawinenunfälle mit Ski- (und Snowboard-)Fahrern
als auf Schneeschuhen. Doch von den verunglückten Schnee-
schuhgehern starben mehr als dreimal so viele.
30 % der
Tourentage
25 % der
Tourentage
19 % der
Tourentage
26 % der
Tourentage
Ski/Snowboard
Schneeschuh
Tote/Jahr
Risiko
Sicherheitsforschung: Lawinenrisiko
Sind Touren sicherer geworden?
Von 1999 bis 2010 hat die Anzahl der Tourentage viel
stärker zugenommen als die Anzahl der Lawinento-
ten (Abb. 1). Damit hat sich das durchschnittliche
statistische Risiko in dieser Zeit fast halbiert, von
über 9 auf weniger als 5 Tote pro Million Tourentage
(Abb. 5). Eine erfreuliche Entwicklung, die aber von
der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen
wurde. Denn weil es auch viel mehr Tourengeher
und -tage gab, hat zwar das Risiko, nicht aber die
Anzahl der Lawinenunfälle abgenommen.
Wer allerdings in diesen Zahlen den Beweis sehen
möchte, dass Prävention und schnellere Rettung
Früchte getragen haben, liegt leider falsch. Die Ab-
nahme des durchschnittlichen Risikos ist einzig und
allein eine Folge von mehr Schneeschuhgehern mit
ihrem im Vergleich zu Skitourengehern deutlich ge-
ringeren Risiko. Das Lawinenrisiko pro Skitourentag
ist praktisch gleich geblieben.
Gerne reden Skitourengeher ihr Risiko klein mit dem
Satz: „Im Straßenverkehr ist es viel gefährlicher“. Das
ist schon übertrieben, wenn man nur das Risiko pro
Person betrachtet: Pro Jahr stirbt in der Schweiz einer
von 23.000 aktiven Tourengehern in einer Lawine und
einer von 24.000 Einwohnern im Straßenverkehr. Weil
aber der durchschnittliche Tourengeher viel mehr
Stunden pro Jahr im Verkehr verbringt als auf Touren,
dürfte eine Tourenstunde gefährlicher sein als eine
Stunde Auto- oder Fahrradfahren.
Was sagt die Gesellschaft?
Wie hohe Risiken man eingehen mag, hängt vor al-
lem von der persönlichen Einstellung ab. Ob aber
die Gesellschaft – und damit womöglich auch Versi-
cherungen – solche Entscheidungen akzeptieren, ist
eine andere Frage – und die Antwort darauf ist nicht
bei jedem Thema gleich. Die Lebensmittelsicherheit
betrifft alle, wir können nicht aufs Essen verzichten.
Vielleicht deshalb werden hier strengste Anfor-
derungen gestellt. Auch dem Straßenverkehr sind
praktisch alle ausgesetzt, doch wird in diesem Be-
reich ein deutlich höheres Risiko akzeptiert. Noch
deutlich größer ist das gesellschaftlich akzeptierte
Risiko bei Tabak und Alkohol – mit dem Unterschied,
dass sich Konsumenten diesem Risiko freiwillig aus-
setzen. Auch Tourengeher sind freiwillig unterwegs.
Sie selber betrachten das Lawinenrisiko als akzep-
tabel, Teile der übrigen Be-
völkerung finden es zu hoch.
Und wer hat recht? Ob das Er-
lebnis der winterlichen Berge,
auf Ski oder Schneeschuhen,
die Gefahr wert ist, dabei zu
sterben: Auf diese große Fra-
ge liefern alle Aussagen zum
statistischen Risiko keine
Antwort.
DAV 6/2017 61
Worauf beruhen die Zahlen?
Die Berechnung des Lawinenrisikos bezieht
sich auf Skitouren (inkl. Snowboardtouren) und
Schneeschuhtouren der Schweizer Wohnbevöl-
kerung, durchgeführt im In- oder Ausland. Die
Anzahl Tourengeher und Tourentage wurden
berechnet mit Daten von „Sport Schweiz“, drei
repräsentativen Umfragen zum Sportverhalten
der Schweizer Wohnbevölkerung. Die Unfall-
daten stammen vom SLF (Schweiz) und der bfu
(Ausland). Die Zahlen zeigen den Zustand im
Jahr 2010 (Umfragen und Straßenverkehr: Mittel
aus 2007 und 2013; Lawinenunfälle: 2005 bis
2015). Die zeitliche Veränderung des Risikos
wurde mit der Umfrage 1999 und den Unfällen
von 1994 bis 2004 berechnet.
Der Einfluss der Verhältnisse wurde mit
Einträgen in Bergportal.ch und Camptocamp.
org der Jahre 2010 bis 2014 berechnet und
bezieht sich auf alle in der Schweiz unternom-
menen Ski- und Snowboardtouren.
Kurt Wi nkle r (promovierter Bauingeni-
eur) und Fran k Techel (Geograf) arbeiten
als Lawinenwarner am WSL-Institut für
Schnee- und Lawinenforschung SL F. Sie
danken Adrian Fischer von Lamprecht &
Stamm und der bfu für Daten und Auswer-
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