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Andocken der Schweiz an Handelsabkommen
der Europäischen Union
Mitsprache und Demokratische Legitimation
Charlotte Sieber-Gasser
I. Einleitung
Die Frage nach einem möglichen Andocken der Schweiz an bestehende Handels-
abkommen der Europäischen Union (EU) steht im grösseren Kontext der Auswir-
kungen der Globalisierung auf den Rechtsrahmen der nationalen Handelspolitik.
Zum heutigen Zeitpunkt ist die Fragestellung eine rein theoretische, denn es be-
stehen aktuell keine konkreten Bestrebungen der Schweiz oder der EU ein solches
Vorhaben umzusetzen. Die Option einem Handelsabkommen der EU beizutreten
wurde allerdings in der Schweizer Öffentlichkeit bereits diskutiert im Rahmen der
Verhandlungen über eine Transatlantische Partnerschaft (TTIP) zwischen der EU
und den USA.1 Am Rande der Verhandlungen über TTIP haben sowohl die EU2 wie
auch die USA3 die Bereitschaft signalisiert, nach Abschluss der Verhandlungen die
Option des Andockens von Drittstaaten in Betracht zu ziehen. Es ist heute folglich
nicht völlig ausgeschlossen, dass sich das Szenario eines Andockens der Schweiz
an ein Handelsabkommen der EU in Zukunft einmal realisieren wird.
Der folgende Beitrag setzt sich mit den Entwicklungen im Rechtsrahmen der
globalen Handelspolitik und der Handelspolitik der EU auseinander und zeigt auf
wie die Veränderungen der letzten Jahre eine von der EU unabhängige Handelspo-
litik der Schweiz erschweren. Um dieser Dynamik zu begegnen wird die Rechts-
grundlage der Option, sich einem bestehenden Handelsabkommen der EU anzu-
schliessen, kurz dargelegt. Ein Andocken an ein bestehendes Handelsabkommen
stellt aus verschiedenen Gründen eine Abkehr vom traditionellen Verhandlungs-
prozess dar. Einerseits lässt sich der Umfang der neuen Handelsabkommen der EU
nicht mit den bestehenden Handelsabkommen der Schweiz vergleichen und stellt
daher möglicherweise neue, erhöhte Anforderungen an die demokratische Legiti-
1 Siehe zB Der Schweiz droht eine heftige Diskriminierung <https://www.admin.ch/ch/d/gg/
pc/ind2016.html>, Neue Zürcher Zeitung 31.05.2016; Wieso TTIP die Schweiz betrifft, Tages-
anzeiger 2. Mai 2016 <http://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/die-schweiz-an-der-seitenlinie/
story/11903352>; Nationalrat, Pster, Freihandel zwischen der EU und den USA. Opportunitäts-
strategie der Schweiz, Postulat, 14.4186, eingereicht am 11. Dezember 2014.
2 Vergleiche Bericht Committee on International Trade (INTA) P8_TA(2015)0252.
3 Vergleiche Naville, Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP): An Enormous
Challenge and a Great Opportunity for Switzerland, in Swiss-American Chamber of Commerce
Yearbook 2016/2017 (2017) 61 f <https://www.amcham.ch/publications/downloads/2016/yb/ttip-
an-enormous-challenge-and-a-great-opportunity-for-ch-by-martin-naville.pdf>.
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Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
mation eines entsprechenden Verhandlungsmandats. Anderseits zeichnen sich die
neuen Handelsabkommen der EU durch ihren dynamischen institutionellen Rah-
men aus, der eine dynamische Weiterentwicklung der Handelsbeziehungen zwi-
schen den Partnerstaaten fördert. Der dynamische Rahmen stellt eine grundsätzlich
neue Herausforderung für die Mitsprache und demokratische Legitimation eines
Handelsabkommens in der Schweiz dar.
Die Diskussion des institutionellen Rechtsrahmens der Schweiz für ein Ando-
cken an ein bestehendes Handelsabkommen der EU zeigt, dass der institutionelle
Rahmen die Grundlage schafft in Bezug auf den Verhandlungsprozess eine ausrei-
chende Mitsprache und ein hohes Mass an demokratischer Legitimation zu garan-
tieren. Hingegen vermag der bestehende institutionelle Rahmen der Schweiz die
demokratische Legitimation und Mitsprache in Bezug auf dynamische Elemente in
internationalen Abkommen nur begrenzt abzusichern.
II. Entwicklungen im Handelsrecht
Mit der Schaffung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 trat der bis heute
geltende Rechtsrahmen des globalen Markts in Kraft. In einem bisher einmaligen
Verhandlungserfolg wurden die geltenden Minimalstandards in den Bereichen des
Güterhandels, des Dienstleistungshandels, der technischen Handelshemmnisse,
des geistigen Eigentums und der sanitären und phytosanitären Handelshemmnisse
errichtet. Damit umfassten die Abkommen der WTO grundsätzlich alle wesentli-
chen Aspekte des internationalen Handels Anfang der 1990er Jahre.
Während zum Zeitpunkt der Verhandlungen über die Schaffung der WTO der
Welthandel noch grundsätzlich auf Endprodukte und Rohstoffe beschränkt war, so
wird im Jahr 2017 weltweit primär mit Zwischenprodukten gehandelt, als Teil ei-
ner globalen Wertschöpfungskette.4 Ermöglicht wurde diese tiefgreifende struktu-
relle Veränderung der Natur des internationalen Handels unter anderem durch den
rapiden technologischen Fortschritt der vergangenen 20 Jahre. Mit dem Internet
und dem Luftverkehr ist die Welt näher zusammen gerückt und wurde die Grundla-
ge geschaffen, über globale Wertschöpfungsketten preisoptimiert zu produzieren.5
Die Veränderung in der Art und Weise, wie heute international gehandelt wird,
stellt allerdings neue Anforderungen an den geltenden Rechtsrahmen. Für den
Handel mit Endprodukten und Rohstoffen sind insbesondere die Handelshemmnis-
se bei Grenzübertritt entscheidend, also die Zölle die auf ein bestimmtes Produkt
erhoben werden. Wird hingegen mit Zwischenprodukten im Rahmen von weltwei-
4 Es wird angenommen, dass rund 80 % der gehandelten Produkte weltweit heute Zwischen-
produkte und Bestandteile sind. Siehe UNCTAD, World Investment Report 2013: Global Value
Chains: Investment and Trade for Development, United Nations Publication (2013) 134 <http://
unctad.org/en/PublicationChapters/wir2013ch4_en.pdf>.
5 WTO, World Trade Report 2013: Factors shaping the future of world trade, WTO Publications
(2014) 46 ff.
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ten Wertschöpfungsketten gehandelt, rücken vielmehr die nicht-tarifären Handels-
hemmnisse in den Fokus. So gewinnt der Investitionsschutz an Bedeutung, die Re-
gulierung von Multinationalen Unternehmen, Internet, Datenschutz, Energie und
Transport sowie ganz besonders die gegenseitige Anerkennung und Harmonisie-
rung von Standards. Die nicht-tarifären Handelshemmnisse, welche nach Grenz-
übertritt zum Zuge kommen, rücken aus zweierlei Gründen in den Fokus moderner
Handelsabkommen: Einerseits wirken sich lange Wartezeiten am Zoll oder teure
Zertizierungsverfahren mehr oder weniger substantiell auf den Endpreis des Pro-
dukts aus und eine Reduktion der Hemmnisse liegt daher im Interesse der Anbieter
und Konsumenten. Anderseits besteht die Gefahr, dass der Wettbewerb im globalen
Markt in Abwesenheit von gemeinsamen Minimalstandards zu einem sogenannten
race-to-the-bottom führt, also einem Unterbietungswettlauf in Bezug auf möglichst
günstige – und damit potentiell ausbeutende – Produktion von Waren und Dienst-
leistungen. Gemeinsame Standards dienen damit einerseits den wirtschaftlichen
Interessen der beteiligten Parteien, aber auch den übergelagerten politischen An-
liegen und dem Schutz von Natur und Mensch. Folglich umfassen moderne Han-
delsabkommen Bestimmungen über den Umweltschutz, den Klimaschutz, über
Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen, Menschenrechte und Tierschutz.
Moderne Handelsabkommen gehen damit deutlich über den minimalen Rah-
men der WTO-Abkommen hinaus, ohne sich aber vom Rechtsrahmen der WTO
als Grundlage von Handelsbeziehungen loszulösen. Sie setzen teilweise auch ganz
konkret die Verhandlungsziele der in der Zwischenzeit als gescheitert bezeichneten
Doha-Runde der WTO um oder erfüllen die Forderungen aus der Zivilgesellschaft,
den Handel umfassend und auch im Hinblick auf die Auswirkungen auf Arbeit-
nehmende und Umwelt zu regulieren. Entsprechende Vorstösse, beispielsweise die
ILO-Arbeitnehmer Konventionen in das Regelwerk der WTO aufzunehmen, sind
auf multilateraler Ebene gescheitert, werden nun aber in den neuen Abkommen
umgesetzt. Ob sich diese neue Entwicklung langfristig durchsetzen wird und damit
möglicherweise auch in die Verhandlungen innerhalb der WTO einiessen kann,
ist zum heutigen Zeitpunkt schwer vorherzusehen.
III. Entwicklungen im Europarecht
Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags verfügt die EU über die ausschliessliche
Zuständigkeit für die gemeinsame Handelspolitik. Die Zuständigkeit ist in Art 206
AEUV auf die Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsver-
kehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen beschränkt und darf gemäss
Art 207(6) AEUV nicht zu einer zusätzlichen Harmonisierung von Rechtsvor-
schriften führen. Der genaue Umfang der Zuständigkeit der EU ist damit im Ein-
zelfall auslegungsbedürftig und – wie sich gezeigt hat – umstritten.6
6 Siehe auch Devuyst, European Union Law and Practice in the Negotiation and Conclusion of
International Trade Agreements, Journal of International Business and Law 12 Iss 2 (2013) 259.
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Die EU verfolgt seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags eine aktive Handelspo-
litik und bemüht sich um den Abschluss von neuen Handelsabkommen mit einer
Vielzahl an Partnern. Die neuen Abkommen der EU zeichnen sich dadurch aus,
dass sie über den WTO-Minimalstandard hinausgehen und auch handelsverwandte
Regelungsbereiche wie Umwelt, Menschenrechte oder Biotechnologie umfassen.
Sofern die Abkommen nicht über den bereits harmonisierten Rechtsrahmen der EU
hinausgehen, wird davon ausgegangen, dass sich die Verhandlungen im Rahmen
der alleinigen Zuständigkeit der EU benden. Dass dies im Einzelfall allerdings
nicht gesichert ist, zeigt sich darin, dass der neuen EU-Zuständigkeit zum Trotz
einzelne neue Handelsabkommen weiterhin sowohl von der EU wie auch von den
individuellen Mitgliedstaaten ratiziert werden.
Bereits abgeschlossen ist das Abkommen zwischen der EU und Südkorea, wel-
ches 2011 provisorisch in Kraft getreten ist und seit 2015 von allen EU Mitglied-
staaten ratiziert worden ist. Die Verhandlungen über das Abkommen mit Südkorea
wurden allerdings noch vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags aufgenommen und
abgeschlossen. Das Abkommen wurde wegen Bestimmungen über die strafrechtli-
che Durchsetzung des geistigen Eigentums und über die kulturelle Zusammenarbeit
als „gemischtes“ Abkommen verabschiedet und ging damit über den Umfang der
alleinigen Zuständigkeit der EU hinaus. Auch das fertig verhandelte Abkommen
zwischen der EU und Singapur entspricht einem gemischten Abkommen, welches
von der EU und von den einzelnen Mitgliedstaaten gemeinsam ratiziert werden
muss. Die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) identizier-
te hier zunächst insbesondere die Bestimmungen über Verkehrsdienstleistungen,
das geistige Eigentum und Umwelt- sowie Sozialstandards als nicht vollständig
von der ausschliesslichen Zuständigkeit der EU erfasst.7 Im Gutachten des EuGH
vom 16. Mai 2017 wurde der Umfang der ausschliesslichen Zuständigkeit der EU
für den Abschluss von Handelsabkommen zusätzlich präzisiert.8 Entgegen der
Stellungnahme der Generalanwältin kommt der EuGH in seinem Gutachten zum
Schluss, dass das Handelsabkommen mit Singapur mit Ausnahme einzelner Ver-
pichtungen im Bereich der Investitionen und der Investor-Staat-Streitbeilegung in
den ausschliesslichen Zuständigkeitsbereich der EU fällt. Der EuGH sieht keinen
Widerspruch mit dem Zuständigkeitsbereich aus Art 206 und Art 207 AEUV in den
Kapiteln über Verkehrsdienstleistungen, geistiges Eigentum und Umwelt- sowie
Sozialstandards, da diese gemäss EuGH im Handelsabkommen mit Singapur weit-
gehend von gemeinsamen Regeln der Union erfasst sind.
Vorgängig zum Gutachten des EuGH wurde allerdings das Abkommen zwischen
der EU und Kanada, das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA),
als gemischtes Abkommen verabschiedet. Grundlage dafür waren Bestimmungen
über Verkehrsdienstleistungen sowie über den Investitions-, Arbeits- und Gesund-
heitsschutz. Mit der Präzisierung durch den EuGH fallen rechtlich gesehen einzig
7 GA Sharpston 21.12.2016 Gutachten 2/15 ECLI:EU:C:2016:992.
8 EuGH, 16.5.2017 Gutachten 2/15 des Gerichtshofs (Plenum), ECLI:EU:C:2017:376.
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Bestimmungen über Investitionsschutz und über andere Investitionen als Direktin-
vestitionen in Handelsabkommen unter die geteilte Zuständigkeit. Entsprechend
können die betreffenden Kapitel separat verhandelt und ratiziert werden, während
das Mandat und die Verhandlungen ansonsten unter Annahme der ausschliessli-
chen Zuständigkeit der EU für laufende und zukünftige Handelsabkommen beste-
hen bleiben. Dies betrifft vordergründig die Verhandlungen und die Ratikation
möglicher Abkommen mit Vietnam, Japan oder den USA. Ähnliches gilt auch für
die Teilnahme der EU an den Verhandlungen über das plurilaterale Dienstleis-
tungsabkommen, Trade in Services Agreement (TiSA). Bisher hat das Gutachten
des EuGH nicht zu einer Anpassung des Verhandlungsmandats oder zu einer Se-
parierung der Kapitel über die Investitionen und den Investitionsschutz von den
restlichen Kapiteln der angestrebten Handelsabkommen geführt.
Die Tatsache, dass die neuen Handelsabkommen der EU in einzelnen Aspekten
über die alleinige Zuständigkeit der EU hinausgehen, zeigt – unter anderem – wie
sehr Handelsbeziehungen an Komplexität gewonnen haben, und ist ein Ausdruck
davon, dass die EU eine progressive, potentiell zukunftsweisende Handelspolitik
verfolgt und bereit ist, substantielle Abkommen abzuschliessen. Substantielle und
progressive Abkommen der EU entwickeln grundsätzlich umfassendere Auswir-
kungen auf Drittstaaten als ache Abkommen im Rahmen der WTO Minimalstan-
dards dies würden und erhöhen damit den wirtschaftlichen und politischen Druck,
ähnliche Abkommen abzuschliessen oder einem EU-Abkommen beizutreten.
IV. Handelsabkommen der Schweiz und der EU im Vergleich
Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU und somit auch nicht Mitglied der neu-
en Handelsabkommen der EU. Hingegen verfügt die Schweiz in Ergänzung zu
den Abkommen mit der EU aktuell über rund 29 Freihandelsabkommen weltweit,
welche sie im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsasso-
ziation (EFTA) oder im Alleingang abgeschlossen hat.9 Die Schweizer Wirtschaft
ist auch dank dieser Abkommen umfassend in den globalen Markt integriert und
Handelseinnahmen sowie ausländische Direktinvestitionen leisten einen substanti-
ellen Beitrag zum Wohlstand im Land. Die Schweiz hat daher ein Interesse daran,
mögliche Veränderungen in den Exportmärkten der Schweiz rasch zu erkennen und
geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen
zu wahren.
Die eingangs erwähnten Veränderungen im globalen Handelsrecht und der er-
weiterte Umfang moderner Handelsabkommen stellen die Schweizer Handelspo-
9 Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Liste der Freihandelsabkommen der Schweiz (2017)
<https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusam-
menarbeit/Wirtschaftsbeziehungen/Freihandelsabkommen/Liste_der_Freihandelsabkommen_
der_Schweiz.html>.
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litik daher vor neue Herausforderungen. Dies ist insbesondere der Fall, weil die
Schweiz kaum Endprodukte exportiert, sondern in erster Linie Bestandteile, Zwi-
schenprodukte und Rohstoffe als Teil einer globalen Wertschöpfungskette. Verän-
derungen in den verlangten Produktions- und Produktestandards in Zielmärkten
betreffen damit direkt die Produktion in der Schweiz, ebenso wie Veränderungen
in den Herkunftsbezeichnungen. Beide Aspekte können potentiell den Export von
Bestandteilen, Zwischenprodukten und Rohstoffen aus der Schweiz nachhaltig er-
schweren.
1. Insbesondere die Abkommen mit Kanada im Vergleich
Die Schweizer Freihandelsabkommen orientieren sich an den WTO-Abkommen
und umfassen nur sehr vereinzelt neue Regelungsbereiche.10 Auch im Bereich
der technischen Handelshemmnisse verfügt die Schweiz aktuell über vergleichs-
weise wenige entsprechende Abkommen und Vereinbarungen.11 Folglich sind die
Schweizer Interessen in Bezug auf diskriminierende Herkunftsbezeichnungen in
relevanten Absatzmärkten und in Bezug auf drohende Wettbewerbsnachteile über
gegenseitige Anerkennung von Produkt- und Produktionsstandards rechtlich nicht
abgesichert über die bestehenden Abkommen. Die Unterschiede zwischen dem
EFTA-Abkommen mit Kanada und CETA vermögen exemplarisch zu illustrieren,
welche regulatorischen und wirtschaftlichen Nachteile für die Schweiz von den
neuen EU Handelsabkommen ausgehen können.
Das Abkommen zwischen den EFTA-Staaten und Kanada trat 2009 in Kraft.
Es umfasst Zollreduktionen auf Güter, Bestimmungen zum Wettbewerbsrecht,
zum Subventionsrecht, zum öffentlichen Beschaffungswesen, die Reduktion der
technischen Handelshemmnisse über individuelle Vereinbarungen, sowie einzelne
Bestimmungen zu Umwelt- und Arbeitsstandards.12 Der Hauptabkommenstext um-
fasst 25 Seiten und verweist grundsätzlich auf die entsprechenden WTO-Abkom-
men als geltende Rechtsgrundlage. Die eigentliche Liberalisierung zwischen den
Partnerstaaten wird über die Zollreduktionen und Handelserleichterungen in den
Anhängen zum Abkommen festgehalten. Damit entspricht das Abkommen zwi-
10 Sieber-Gasser, Democratic Legitimation of Trade Policy Tomorrow, Jusletter 9. November
2015 (2015) <http://jusletter.weblaw.ch/juslissues/2015/823.html> (nicht frei zugänglich).
11 Es sind dies das Abkommen mit der EU, das EFTA-Abkommen mit der Türkei und die Ver-
einbarung zwischen der Schweiz und Kanada. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Staats-
vertragliche Vereinbarungen (Mutual Recognition Agreements – MRA) (2017) <https://www.
seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/Wirt-
schaftsbeziehungen/Technische_Handelshemmnisse/Mutual_Recognition_Agreement_MRA0.
html.>.
12 Free Trade Agreement between Canada and The States of the European Free Trade Associati-
on of July 1, 2009, EFTA <http://www.efta.int/media/documents/legal-texts/free-trade-relations/
canada/EFTA-Canada%20Free%20Trade%20Agreement%20EN.pdf>.
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schen den EFTA-Staaten und Kanada einem klassischen Freihandelsabkommen im
Rahmen der WTO Minimalstandards.
CETA hingegen umfasst neben Gütern auch Dienstleistungen, Landwirtschaft
und Investitionen.13 Es enthält Bestimmungen über Produkt- und Produktionsvor-
schriften im Bereich der Textilien, der Chemie, der Pharmazeutika, der Autoin-
dustrie, der Maschinenindustrie und der Kosmetika und schützt die geograschen
Herkunftsbezeichnungen. Als sogenannte WTO-plus Kapitel enthält CETA neben
anderen auch Bestimmungen über Energie, Umwelt- und Artenschutz, Klima-
schutz, Arbeitsmigration, die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Schutz des
geistigen Eigentums, Wissenschaft, Biotechnologie und Rohstoffe. Die gegenseiti-
ge Marktöffnung im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens geht ausserdem
über den WTO-Minimalstandard hinaus und der dynamische institutionelle Rah-
men des Abkommens umfasst auch die Einbindung der Nichtregierungsorganisati-
onen und der Interessen von Kleineren und Mittleren Unternehmen. Der Hauptab-
kommenstext von CETA umfasst 230 Seiten, während das gesamte Vertragswerk
rund 1.600 Seiten umfasst.14
Der kanadische Markt ist für die Schweiz insbesondere im Rahmen des Ex-
ports von Käse sowie von Dienstleistungen wichtig. Mit dem bevorstehenden pro-
visorischen Inkrafttreten von CETA werden Schweizer Anbieter – neben anderen
– in genau diesen beiden Bereichen in Kanada gegenüber Anbietern aus der EU
schlechter gestellt sein. Hinzu kommt, dass die Schweiz insbesondere in Bezug
auf das öffentliche Beschaffungswesen gegenüber der EU schlechter gestellt sein
wird und auch im EU-Markt für Schweizer Anbieter der Konkurrenzdruck durch
den besseren Zugang von kanadischen Firmen steigt. Erste Gespräche zwischen
den EFTA-Staaten und Kanada über eine Erweiterung und Modernisierung des
bestehenden Abkommens fanden im April 2016 statt.15 Ofziell sind zum heutigen
Zeitpunkt keine Verhandlungen geplant – weder über die Erweiterung und Moder-
nisierung des bestehenden Abkommens noch über ein Andocken der EFTA-Staaten
an CETA.
2. Auswirkungen auf die Schweiz
Die Interessen der Schweizer Exportwirtschaft wurden in der Vergangenheit nach
Möglichkeit auch über den Verhandlungsweg und internationale Handelsabkom-
13 Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA), Konsolidierte Fassung (September
2014) <http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2014/september/tradoc_152806.pdf>.
14 Selbstverständlich sind Seitenzahlen für sich genommen noch wenig aussagekräftig in Bezug
auf den Regelungsgehalt eines Abkommens. Für eine detaillierte Besprechung der Unterschiede
in den einzelnen Kapiteln fehlt hier unglücklicherweise der Platz, erscheint angesichts der frap-
panten Unterschiede der beiden Abkommen aber auch nicht zwingend notwendig.
15 EFTA, EFTA – Canada: First Exploratory Round, 29. April 2016 <http://www.efta.int/Free-
Trade/news/EFTA-Canada-First-Exploratory-Round-128666>.
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men abgesichert. Die Bedeutung der Exportwirtschaft ist über die Jahre struktu-
rell gewachsen, was sich unter anderem an der verhältnismässig grossen Zahl an
Freihandelsabkommen manifestiert, welche die Schweiz seit der Gründung der
WTO abgeschlossen hat. Den weltweiten Freihandelsabkommen zum Trotz bleibt
aber der EU-Markt der mit Abstand wichtigste Markt für den Schweizer Export.
Dies wegen seiner Grösse, der geograschen Nähe, aber auch wegen der Art der
Produkte, welche die Schweiz exportiert: Die Schweiz exportiert insbesondere
Teilprodukte und Bestandteile, welche in erster Linie in industrialisierten Märkten
nachgefragt werden.16
3. Politische und Wirtschaftliche Auswirkungen
Die neuen substantiellen Handelsabkommen der EU haben damit immer auch Aus-
wirkungen auf die Schweizer Exportwirtschaft. Einerseits weil sich der Wettbe-
werb verschärft dadurch, dass andere Anbieter aus Drittstaaten zu vergleichbaren
Konditionen in den EU-Markt exportieren können wie Schweizer Anbieter. Ander-
seits befassen sich die neuen substantiellen Handelsabkommen der EU im Rah-
men der gegenseitigen Anerkennung von Standards insbesondere mit den für die
Schweiz sensiblen Wirtschaftssektoren wie der Automobilindustrie, der Kosmeti-
ka, der Pharmazeutika und der Chemie.17 Aus wirtschaftlicher Perspektive mag dies
im Einzelfall für Anbieter aus den Partnerstaaten der EU Handelsabkommen eine
Reduktion der nicht-tarifären Handelshemmnisse darstellen. Da die nicht-tarifären
Handelshemmnisse zwischen der Schweiz und der EU noch nicht umfassend und
substantiell geregelt sind, kann eine solche Reduktion einen Handelsvorteil für
Anbieter aus den Partnerstaaten gegenüber Anbietern aus der Schweiz darstellen.
Schliesslich beinhalten die neuen EU-Handelsabkommen auch Ursprungsregeln,
die im Einzelfall die Nachfrage nach Bestandteilen von der Schweiz weg in den
EU-Markt verschieben, damit das Endprodukt die Bestimmungen des Handelsab-
kommens erfüllt.
Die EU schliesst und verhandelt aber auch Abkommen mit Partnerstaaten, die
für die Schweizer Exportwirtschaft von Interesse sind. Weil die neuen EU-Han-
delsabkommen umfassender verhandelt werden als die teilweise bereits bestehen-
den Freihandelsabkommen der Schweiz, verstärkt sich damit der Wettbewerb für
Schweizer Anbieter auch in den Partnerstaaten der EU.
Somit entsteht der politische Druck in der Schweiz, die Interessen der Schwei-
zer Exportwirtschaft sowohl im EU-Markt wie auch in den Partnerstaaten der EU-
Handelsabkommen abzusichern. Unter anderem wird die Schweiz damit auch un-
ter Zeitdruck gesetzt, denn – so argumentiert die Schweizer Exportwirtschaft – sie
16 So beispielsweise medizinische Geräte, optische Linsen, Feinmechanik, Airbags und andere
Bauteile der Automobilindustrie, chemische Stoffe, Kosmetika und Pharmazeutika.
17 Siehe beispielsweise Anhänge zu CETA oder auch das Verhandlungsmandat über TTIP.
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vermag eine substantielle Schlechterstellung (zusätzlich zu den Schwierigkeiten
verbunden mit der starken Schweizer Währung) in relevanten Zielmärkten nur für
eine kurze Zeit ohne Arbeitsplatzverlust zu überbrücken. Die Schweizer Handels-
politik ist damit auf der Suche nach Optionen, welche die Schlechterstellung der
Schweizer Anbieter zeitnah reduziert. Aus diesen Gründen wurde insbesondere im
Zusammenhang mit TTIP bereits die Option eines Andockens an EU-Handelsab-
kommen diskutiert.
Ein Andocken an EU-Handelsabkommen, so wird argumentiert, würde die Ver-
handlungsdauer reduzieren und damit eine Schlechterstellung der Schweizer An-
bieter zeitnah und vollständig vermeiden. Dass einzelne EU-Handelsabkommen
über den Rahmen der Bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU hinausgehen
und Bereiche regulieren, die bis anhin zwischen der Schweiz und der EU noch
nicht reguliert sind, spielt in der politischen Debatte in der Schweiz keine promi-
nente Rolle. Politisch wird die Option Andocken im Hinblick auf Zugang zu den
Partnerstaaten der EU diskutiert.
V. Rechtliche Würdigung der Option „Andocken“
Die neusten Handelsabkommen der EU verfügen nicht über eine sog „docking-
clause“, eine Bestimmung, die das Andocken oder Beitreten von Drittstaaten
zum Abkommen regelt.18 EU-Handelsabkommen umfassen aber üblicherweise
eine verwandte Bestimmung, die das Beitreten eines neuen EU-Mitgliedstaats
zum Handelsabkommen regelt. Andere neue und substantielle Abkommen, wie
beispielsweise die Transpazische Partnerschaft (TPP), hingegen umfassen kon-
kret eine Bestimmung, die es Drittstaaten erlauben soll, auch nach Abschluss und
Ratikation des Abkommens dem Abkommen nachträglich beizutreten.19 Es ist
dementsprechend nicht auszuschliessen, dass EU-Handelsabkommen in Zukunft
über eine ähnliche Klausel verfügen werden. Dies ist insbesondere auch deswegen
denkbar, weil sich im Rahmen der Verhandlungen über TTIP beide Seiten offen da-
rüber geäussert haben, eine Beitrittsklausel im Sinne eines Andockens einzufügen.
Nichtsdestotrotz kann zum heutigen Zeitpunkt erst gemutmasst werden wie eine
potentielle zukünftige „docking-clause“ in einem EU-Handelsabkommen konkret
aussehen würde.
18 Siehe CETA, Chapter Thirty, Final Provisions oder Abkommen EU – Vietnam, Chapter XX,
Institutional, General and Final Provisions <http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/february/
tradoc_154231.pdf>.
19 Siehe Art 30.3 Trans-Pacic Partnership (TPP) <https://ustr.gov/sites/default/les/TPP-Final-
Text-Final-Provisions.pdf> 1). “This Agreement is open to accession by: [...] any other State or
separate customs territory as the Parties may agree, that is prepared to comply with the obligations
in this Agreement, subject to such terms and conditions as may be agreed between the State or
separate customs territory and the Parties, and following approval [...] of each Party [...].”
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Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
VI. Grundlagen im WTO-Recht
Die EU ist Mitglied der WTO und damit an das WTO-Recht gebunden. Dieses
schafft grundsätzlich die Verpichtung, anderen WTO-Mitgliedstaaten die jeweils
besten bestehenden Handelskonditionen zu gewähren (Meistbegünstigungsprin-
zip) und alle WTO-Mitgliedstaaten gleich zu behandeln (Diskriminierungsverbot).
Um vom Meistbegünstigungsprinzip abweichen zu können, müssen nach WTO-
Recht verschiedene Auagen erfüllt sein. Dies gilt auch für Handelsabkommen,
welche per se zwischen WTO-Mitgliedstaaten diskriminieren, indem sie einzelne
WTO-Mitgliedstaaten bevorzugt behandeln.
Im Rahmen des präferenziellen Güterhandels (Art XXIV GATT) und des präfe-
renziellen Dienstleistungshandels (Art V GATS) verlangt das WTO-Recht grob ge-
sagt, dass ein Handelsabkommen im Wesentlichen den gesamten Handel zwischen
den Partnerstaaten umfassen muss und im Wesentlichen alle Handelshemmnisse
eliminieren oder substantiell reduzieren soll, damit es vom Meistbegünstigungs-
prinzip und dem Diskriminierungsverbot ausgenommen werden kann.20 Gerade im
Kontext von sogenannten mega-regionalen Abkommen, wie dies die grossen EU-
Handelsabkommen darstellen21, werden aber möglicherweise noch weitere Bedin-
gungen des WTO-Rechts relevant: So verlangt Art XXIV:5 GATT, dass sich ein
Handelsabkommen nicht negativ auf die Handelshemmnisse gegenüber Drittstaa-
ten auswirken darf. Dasselbe verlangt auch Art V:4 GATS in Bezug auf den Dienst-
leistungshandel. Durch die Grösse und die Tiefe der neuen EU-Handelsabkommen
und der damit verbundenen Auswirkungen auf Drittstaaten muss im Detail analy-
siert werden, ob sich die EU-Handelsabkommen allenfalls negativ auf die Handels-
hemmnisse gegenüber Nicht-Partnerstaaten auswirken. Mit einer Beitrittsklausel
für Drittstaaten kann einerseits den drohenden negativen Auswirkungen entgegen
gewirkt werden. Anderseits ergibt sich der Bedarf einer Beitrittsmöglichkeit für
Drittstaaten möglicherweise auch aus der Zielsetzung der WTO, den diskriminie-
rungsfreien globalen Markt zu fördern.22
Im Bereich der nicht-tarifären Handelshemmnisse gelten die Bestimmungen
über die Ausnahme vom Meistbegünstigungsprinzip der entsprechenden WTO-
Abkommen über die technischen Handelshemmnisse und über die gesundheits-
polizeilichen und panzenschutzrechtlichen Massnahmen. Beide Abkommen se-
20 Siehe beispielsweise Sieber-Gasser, Developing Countries and Preferential Services Trade
(2016).
21 Als „mega-regionale Abkommen“ werden Abkommen bezeichnet, welche mindestens 25 %
des Welthandels und des Welt-BIPs vereinen. Dazu zählen beispielsweise CETA, EU-Japan und
TTIP, sowie im Bereich des weltweiten Dienstleistungshandels, TiSA.
22 Präambel, para 3, Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation vom 15. April
1994, SR 0.632.20: ‚[...] zur Verwirklichung dieser Ziele durch den Abschluss von Vereinba-
rungen beizutragen, die auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und [...] auf einen wesentlichen
Abbau der Zölle und anderer Handelsschranken sowie auf die Beseitigung der Diskriminierung
in den internationalen Handelsbeziehungen abzielen [...].’
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hen keine generelle Ausnahme vom Meistbegünstigungsprinzip für präferenzielle
Handelsabkommen vor. Eine Reduktion der nicht-tarifären Handelshemmnisse im
Rahmen eines präferenziellen Handelsabkommens entspricht einem Abkommen
über die gegenseitige Anerkennung. Diese sind gemäss WTO-Bestimmungen nur
teilweise vom Meistbegünstigungsprinzip ausgenommen: WTO-Mitgliedstaaten
sind verpichtet, Verhandlungen über einen Beitritt zum Abkommen über die ge-
genseitige Anerkennung aufzunehmen, wenn dies ein anderer WTO-Mitgliedstaat
wünscht.23 In Bezug auf die in den EU-Handelsabkommen enthaltene gegenseitige
Anerkennung von Standards verfügt das WTO-Recht also bereits über eine partiel-
le Beitrittsklausel für Drittstaaten.
Die EU-Handelsabkommen decken jedoch auch Bereiche ab, die von den WTO-
Abkommen noch nicht – oder nur teilweise – berücksichtigt sind. Dies betrifft
beispielweise Bestimmungen in präferenziellen Handelsabkommen zu Arbeits-
migration, Handel mit Energie, Internetregulierung, Datenschutz, etc, aber auch
weitere WTO-plus Aspekte wie Nachhaltigkeit in Bezug auf Umwelt, Tiere, Klima
und Menschen. Hier ndet das Meistbegünstigungsprinzip der WTO keine Anwen-
dung. Da die Bestimmungen in diesen Kapiteln aber meistens ohnehin erga omnes
wirken (Klimaschutz beispielsweise) steht einem Beitritt von Drittstaaten zu den
neuen Kapiteln der EU-Handelsabkommen vermutlich wenig entgegen. Folglich
gibt es aus rechtlicher Perspektive verschiedene Gründe, die dafür sprechen, dass
in die neuen EU-Handelsabkommen eine Beitrittsklausel für Drittstaaten eingefügt
wird. Die Gründe, die allenfalls dagegen sprechen, sind ausserhalb des Rechts zu
suchen.
VII. Demokratische Legitimation von Handelsabkommen
in der Schweiz
Die in diesem Beitrag auf theoretischer Ebene diskutierte Option eines Andockens
der Schweiz an EU-Handelsabkommen wirft insbesondere Fragen in Bezug auf
die demokratische Legitimation eines solchen Andockens auf. Dies weil sich Ver-
handlungen über ein Andocken an ein bestehendes Handelsabkommen in verschie-
denen Punkten von klassischen Freihandelsverhandlungen unterscheiden und sich
zudem die Struktur und Tiefe der neuen EU-Handelsabkommen von den von der
Schweiz bisher ratizierten Handelsabkommen unterscheiden. Der in der Schwei-
zer Gesetzgebung verankerte Rahmen von Verhandlungen über Handelsabkommen
orientiert sich aber an den klassischen Verhandlungen über Freihandelsabkommen:
23 Art 6.3 Agreement on Technical Barriers to Trade 1186 UNTS 2 verlangt die Prüfung von Ver-
handlungen, Art 4.2 WTO Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures
1867 UNTS 493 etabliert ein Anrecht auf Verhandlungen auf Wunsch eines Drittstaats. Beide Be-
stimmungen verlangen nicht, dass die Verhandlungen innert einer bestimmten Frist abgeschlossen
sein müssen. Ein Anrecht auf gegenseitige Anerkennung des eigenen Standards ergibt sich impli-
zit, wenn als erwiesen gilt, dass der eigene Standard dem Standard im Abkommen entspricht.
149
Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
Die Schweiz tritt als gleichberechtigte Partnerin in den Verhandlungen auf und der
Rahmen des Verhandlungsmandats entspricht mit wenigen Ausnahmen dem Rah-
men der WTO-Abkommen.
Unbestritten ist dabei, dass die Zuständigkeit für den Abschluss von völkerrecht-
lichen Verträgen grundsätzlich bei der Exekutive liegt.24 Die Mitwirkungsrechte
der Legislative sind auf „wesentliche Verhandlungen“ beschränkt.25 Der Entscheid
über die Wichtigkeit einer Verhandlung obliegt rechtlich gesehen der Legislative26,
wobei das Gesetz darauf verzichtet, Beispiele für „wesentliche Vorhaben“ oder
„bedeutende internationale Verhandlungen“ konkret zu benennen. Damit verfügt
die Exekutive bei der Beurteilung der Wichtigkeit eines Geschäfts faktisch über
ein beachtliches Mass an Interpretationsspielraum, wozu auch bereits der Infor-
mationsvorsprung beiträgt: Ohne Informationen zu anstehenden Geschäften kann
die Priorisierung auch nicht in Frage gestellt werden. Angesichts der Komplexität
moderner Handelsabkommen stösst die Oberaufsicht der Legislative über die Ge-
schäftsführung der Exekutive daher in den Detailfragen der Verhandlungsführung
an Grenzen.27 Diesem Umstand wurde allerdings in neuerer Zeit kaum Beachtung
geschenkt.
Hingegen sorgte der Entscheid des Bundesrats und später der Bundesversamm-
lung, das Freihandelsabkommen mit China nicht dem fakultativen Referendum
zu unterstellen, für Diskussionen. Grundsätzlich unterstehen gemäss Art 141:1(d)
III BV völkerrechtliche Verträge, welche „wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert“ dem
fakultativen Referendum. Die Bestimmung gilt seit der Teilrevision der Schwei-
zerischen Bundesverfassung 2003, welche die Stärkung der direkt-demokratischen
Partizipation und Mitbestimmung zum Ziel hatte.28 Dem neuen Art 141:1(d)III
BV zum Trotz und mit Verweis auf die sogenannte Standardabkommen-Praxis29
wurden allerdings seither weiterhin die neuen Freihandelsabkommen der Schweiz
24 Art 184:1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV), SR 101: «Der
Bundesrat besorgt die auswärtigen Angelegenheiten unter Wahrung der Mitwirkungsrechte der
Bundesversammlung; er vertritt die Schweiz nach aussen.»
25 Art 152:3 Parlamentsgesetz (ParlG), SR 171.10: «Der Bundesrat konsultiert die für die Aus-
senpolitik zuständigen Kommissionen zu wesentlichen Vorhaben, [...] sowie zu den Richt- und
Leitlinien zum Mandat für bedeutende internationale Verhandlungen, bevor er dieses festlegt oder
abändert.»
26 Art 166:1 BV: „Die Bundesversammlung [...] beaufsichtigt die Pege der Beziehungen zum
Ausland.“; Art 26:1 ParlG: „Die Bundesversammlung übt die Oberaufsicht aus über die Ge-
schäftsführung des Bundesrates [...].“
27 Art 26 ParlG.
28 Teilrevision der Bundesverfassung, Änderung der Volksrechte auf Vorschlag des Bundesrates,
angenommen in der Volksabstimmung vom 9. Februar 2003. Siehe Bundeskanzlei, Bern, Volks-
abstimmung vom 9. Februar 2003, Erläuterungen des Bundesrates, 6 f.
29 Die Praxis der Standardabkommen basiert auf der Begründung, dass die neuen Freihandelsab-
kommen grundsätzlich auf derselben Vorlage basieren wie die alten Freihandelsabkommen und
damit keine neuen und wichtigen Verpichtungen für die Schweiz schaffen.
150
Charlotte Sieber-Gasser
vom fakultativen Referendum ausgenommen.30 Dies führte insbesondere bei der
Ratikation des Freihandelsabkommens mit China zu Widerstand in der Zivilge-
sellschaft und in der Politik. Unter anderem wurde argumentiert, dass sich unab-
hängig von der zugrundeliegenden Struktur der Abkommen die unterschiedlichen
Freihandelsabkommen voneinander je nach Partnerstaaten und Zeitpunkt der
Verhandlungen nicht unwesentlich unterscheiden. Daher seien dies individuelle
Abkommen und entsprächen nicht einer einzelnen Vorlage, welche schlicht auf
unterschiedliche Partnerstaaten angewendet würde. Es ist daher fraglich, ob die
Standardabkommen-Praxis im Einzelfall mit Art 141:1(d)III BV vereinbar ist.31
Die Rechtslage in Bezug auf die direkt-demokratische Legitimation von Frei-
handelsabkommen durch das fakultative Referendum gilt demzufolge als unsicher
und umstritten. Im Juni 2016 schlug der Bundesrat in diesem Zusammenhang eine
Reihe von konkreten Massnahmen vor die dazu führen sollen, dass die Standard-
abkommen-Praxis aufgegeben wird:32
Der Bundesrat schlägt vor, für die Sachgebiete, in denen viele inhaltlich ähnliche
Abkommen abgeschlossen werden, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die ent-
weder den Bundesrat oder die Bundesversammlung zum selbständigen Abschluss
von internationalen Standardabkommen ermächtigen. Durch eine Delegation der
Vertragsabschlusskompetenz kann die bisherige Praxis gesetzgeberisch kodiziert
werden, was zur Rechtssicherheit und zur Verwesentlichung der politischen Aus-
einandersetzung beiträgt.
Weder sind bisher entsprechende Gesetzesanpassungen bekannt geworden,
noch Informationen über laufende Gesetzesrevisionen in diese Richtung. Damit
bleibt die Rechtslage betreffend fakultatives Referendum unsicher. Zuletzt hat die
Bundesversammlung das Freihandelsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und
Georgien zwar am 29. September 2017 genehmigt, die Ratikation des Abkom-
mens jedoch dem fakultativen Referendum unterstellt.33 Dem Vorschlag des Bun-
30 Mit Ausnahme des Abkommens zwischen der Schweiz und Hong Kong in 2012, welches dem
fakultativen Referendum unterstellt war wegen der neuartigen Einbettung der Bestimmungen
über Arbeitsbedingungen in das Handelsabkommen. Das Referendum wurde nicht ergriffen. Sie-
he auch Sieber-Gasser, TTIP and Swiss Democracy, in Bungenberg/Herrmann/Krajewski (Hg),
European Yearbook of International Economic Law (2016) 565 f.
31 Diggelmann, Rechtsgutachten Muss das Freihandelsabkommen der Schweiz mit der Volksre-
publik China dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden? (2014) 52 ff. <http://
www.ivr.uzh.ch/institutsmitglieder/diggelmann/gutachten/GA_FHA_China.pdf>.
Ähnlich Sieber-Gasser, Democratic legitimation of trade policy tomorrow: TTIP, democracy and
market in the Swiss Constitution, Jusletter, 9. November 2015.
32 Bundesrat, Fakultatives Referendum bei internationalen Standardabkommen, Bundesamt für
Justiz, Bern (2016) <https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2016/2016-06-22.
html>.
33 Bundesbeschluss über die Genehmigung des Freihandelsabkommens zwischen den EFTA-
Staaten und Georgien, 29.9.2017 <https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2017/6299.
pdf>.
151
Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
desrats, zukünftig vergleichbare Abkommen vom fakultativen Referendum auszu-
schliessen, ist die Bundesversammlung nicht gefolgt.34
Zusätzlich zum fakultativen Referendum verfügt die Schweiz mit dem Vernehm-
lassungsverfahren35 über ein weiteres Instrument, welches der direkten Partizipa-
tion der Stimmbevölkerung dient. Dieses wurde in den vergangenen acht Jahren
allerdings im Zusammenhang mit Freihandelsabkommen nicht in Anspruch ge-
nommen.36 Das Verfahren wird unter anderem üblicherweise eröffnet für die Vor-
bereitung von völkerrechtlichen Verträgen, welche dem fakultativen Referendum
nach Art 141:1(d)III BV unterstehen.37 Da bisher davon ausgegangen wurde, dass
Freihandelsabkommen gemäss Standardabkommen-Praxis nicht dem fakultativen
Referendum unterstehen, bestand auch keine gesetzliche Picht zur Eröffnung
eines Vernehmlassungsverfahrens. Dies kann sich möglicherweise ändern, sollte
die Standardabkommen-Praxis wie vorgesehen aufgehoben werden. Wobei es al-
lerdings bereits heute möglich wäre ein (fakultatives) Vernehmlassungsverfahren
im Rahmen von Verhandlungen über ein Handelsabkommen durchzuführen, wenn
dies das zuständige Departement als notwendig erachtet.38 Auch in Bezug auf das
Vernehmlassungsverfahren bleibt somit die Rechtslage unsicher.
VIII. Demokratische Legitimation im Verhandlungsprozess
Das Andocken an ein EU-Handelsabkommen würde die oben beschriebenen Unsi-
cherheiten in der Rechtslage betreffend demokratische Partizipation und Legitima-
tion in den Verhandlungen über Handelsabkommen in der Schweiz deutlich zum
Vorschein bringen. Dies insbesondere wegen der Eigenheiten von Verhandlungen
über ein Andocken und den Implikationen eines Beitritts zu einem umfassenden
EU-Handelsabkommen, welches deutlich über den Rahmen der WTO-Abkommen
hinaus reicht.
Verhandlungen über ein Handelsabkommen bestehen typischerweise aus drei
Phasen bis zum Abschluss. Die erste Phase beinhaltet exploratorische Gespräche
zwischen den Parteien mit dem Zweck festzustellen ob und in welchem Rahmen
ein gegenseitiges Interesse an einem Abkommen besteht. Während exploratorische
34 Der Bundesrat hat angekündigt, der Bundesversammlung über den Ausschluss von Freihan-
delsabkommen vom fakultativen Referendum einen neuen Vorschlag in einem eigenen Bun -
des beschluss vorzulegen. Siehe ,Parlament genehmigt Freihandelsabkommen mit Georgien‘,
Medienmitteilung, SDA, 18.9.2017 < https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2017/
20170918170844990194158159041_bsd164.aspx>
35 Im Vernehmlassungsverfahren können sich die Kantone, politische Parteien und interessierte
Kreise zu bestimmten Vorhaben des Bundes äussern. Siehe Art 2 Bundesgesetz über das Ver-
nehmlassungsverfahren (VlG), SR 172.061.
36 Siehe Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesrat, Abgeschlossene Vernehmlassungen, Da-
tenbank, <https://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/ind2016.html>.
37 Art 3:1(c) VlG.
38 Art 5:1(c) VlG in Verbindung mit Art 3:2 VlG.
152
Charlotte Sieber-Gasser
Gespräche keine explizite rechtliche Verbindlichkeit aufweisen, so sind sie poli-
tisch insofern verbindlich, als sich die Parteien gegenseitig grundsätzlich über den
Verhandlungsinhalt und -beginn einigen. Exploratorische Gespräche mit der EU
und ihren Partnerstaaten fallen gänzlich in die Zuständigkeit der Schweizer Exe-
kutive und sind bisher von der indirekten demokratischen Kontrolle beispielsweise
über die Bundesversammlung rechtlich ausgenommen. Der politische Druck, nach
Abschluss der exploratorischen Gespräche auch Verhandlungen aufzunehmen,
dürfte für die Schweiz substantiell sein, nicht zuletzt wegen der Bedeutung der EU
für den Wirtschaftsstandort Schweiz.
In einer zweiten Phase denieren üblicherweise die Parteien individuell für
sich den Rahmen des konkreten Verhandlungsmandats. Auch hier besteht in der
Schweiz keine explizite Partizipation der Bundesversammlung, sofern die Ver-
handlungen nicht als „wesentlich“ erachtet werden.39 Ein Andocken an ein EU-
Handelsabkommen dürfte aber aus genannten Gründen die Bedingungen eines
„wesentlichen Vorhabens“ erfüllen und somit wäre die Exekutive verpichtet, die
zuständigen Kommissionen zu konsultieren bevor das Verhandlungsmandat fest-
gelegt wird.
Dem Verhandlungsmandat sind allerdings im Rahmen eines Andockens relativ
enge Grenzen gesetzt. Einerseits müsste sich die Schweiz verpichten, den Abkom-
menstext grundsätzlich ohne weitere Anpassungen zu übernehmen. Das bedeutet,
dass im Rahmen der Reichweite des Abkommens und der Struktur des Abkom-
mens kaum Verhandlungsspielraum bestehen würde. Hingegen würde bei einem
Andocken über die individuellen Verpichtungslisten der Schweiz im Bereich des
Güter- und Dienstleistungshandels sowie bei den landwirtschaftlichen Produkten
verhandelt werden müssen und auch die gegenseitige Anerkennung von Standards
in einzelnen Bereichen würde verhandelt werden müssen.40 Es ist anzunehmen,
dass sich der Verhandlungsspielraum in diesen Kapiteln an den bereits festgelegten
Zugeständnissen der EU und ihrer Partnerstaaten orientieren würde und sich die
Schweiz zu vergleichbaren Zugeständnissen verpichten müsste. Der verbleibende
Verhandlungsspielraum im Rahmen eines Verhandlungsmandats dürfte also eher
technischer als politischer Natur sein.
In der dritten Phase schliesslich nden die eigentlichen Verhandlungen statt.
Diese sind typischerweise wiederum im Zuständigkeitsbereich der Exekutive und
nden bisher weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die demokrati-
sche Kontrolle der Verhandlungen ist über das Verhandlungsmandat gewährleistet,
welches für die Verhandlungsleitung verbindlich ist. Die zuständigen Kommis-
sionen der Bundesversammlung verfügen über ein Anrecht auf Information zum
39 Art 152:3 ParlG.
40 Dies ergibt sich aus der Struktur der EU-Handelsabkommen, die neben dem Hauptabkom-
menstext über einen Annex mit individuellen Verpichtungslisten der Parteien zu einzelnen Ka-
piteln verfügen. In den Verpichtungslisten werden die Zölle auf einzelne Produktekategorien
festgelegt, die Marktöffnung für individuelle Dienstleistungen sowie der Umfang und die Bedin-
gungen der gegenseitigen Anerkennung von Standards.
153
Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
Verhandlungsstand41, müssen aber nach Art 152:3 ParlG nicht pro-aktiv konsultiert
werden.
Die Tatsache, dass der Verhandlungsspielraum im Rahmen eines Andockens an
ein EU Handelsabkommen gering sein dürfte, verdeutlicht, dass die entscheidende
Phase im Verhandlungsprozess die exploratorischen Gespräche ganz zu Beginn
darstellen. Weil der Abkommenstext bei einem Andocken bereits bekannt ist, liegt
der wesentlichste politische Entscheid darin, überhaupt die Bereitschaft zu signa-
lisieren an ein EU-Handelsabkommen anzudocken. Diesem Entscheid mangelt es
im Rahmen des klassischen Verfahrens an demokratischer Legitimation, sofern der
Entscheid exploratorische Gespräche aufzunehmen ohne Mitsprache der zuständi-
gen Kommissionen der Bundesversammlung gefällt wird.
IX. Demokratische Legitimation im Ratikationsprozess
Handelsabkommen der Schweiz unterstanden bisher – mit einer Ausnahme – nicht
dem fakultativen Referendum und konnten somit von der Bundesversammlung
alleine ratiziert werden. Damit ist die indirekte demokratische Legitimation ge-
währleistet.
Die neuen EU-Handelsabkommen umfassen allerdings wesentliche neue Rege-
lungsbereiche, welche in den bisherigen Abkommen der Schweiz noch nicht inter-
national geregelt worden sind. Damit würde die Schweiz in einzelnen Bereichen
neue internationale Verpichtungen eingehen, welche beispielsweise im Bereich
des Datenschutzes oder des Energierechts auch Auswirkungen auf die nationale
Gesetzgebung haben können. Demzufolge wäre ein Andocken an ein EU Handels-
abkommen gemäss Art 141:1(d)III BV dem fakultativen Referendum zu unterstel-
len. Das fakultative Referendum würde die direkte demokratische Legitimation
gewährleisten.
X. Würdigung
Die Schweiz verfügt über vergleichsweise starke Volksrechte, welche die demo-
kratische Legitimation eines Handelsabkommens bis hin zur direkten Mitbestim-
mung gewährleisten. Das institutionell gewachsene Verfahren geht allerdings von
klassischen Verhandlungen aus und wird den Eigenheiten von Verhandlungen über
ein Andocken an ein bestehendes Handelsabkommen der EU nicht in allen As-
pekten gerecht. Insbesondere fehlt die institutionell verankerte Gewährleistung der
ausreichenden demokratischen Legitimation des Grundsatzentscheids, überhaupt
Verhandlungen über ein Andocken aufzunehmen.
41 Art 7 ParlG.
154
Charlotte Sieber-Gasser
Dieses Manko an demokratischer Mitbestimmung könnte behoben werden
durch die Eröffnung eines Vernehmlassungsverfahrens über den Entscheid an ein
EU Handelsabkommen anzudocken. Ein Vernehmlassungsverfahren dient der
Konsultation, aber auch der Gewährleistung der ausreichenden Unterstützung ei-
nes Vorhabens durch die Wählerschaft. Es würde im theoretischen Fall eines An-
dockens an ein EU-Handelsabkommen dem zuständigen Departement offen stehen
ein Vernehmlassungsverfahren zu eröffnen, ohne dass eine Gesetzesänderung not-
wendig wäre.42
XI. Demokratische Legitimation von Handelsabkommen
nach der Ratikation in der Schweiz und in der EU
Die neuen EU-Handelsabkommen weichen aber auch in einem weiteren Aspekt
von den klassischen Handelsabkommen der Schweiz ab: Sie sind nicht mehr sta-
tisch. Die EU-Handelsabkommen wie beispielsweise das CETA weisen eine dyna-
mische Struktur auf,43 welche es den Parteien erlaubt nach Ratikation des Abkom-
mens in den einzelnen Kapiteln kontinuierlich weiter zu verhandeln mit dem Ziel
das Abkommen im gegenseitigen Einverständnis über die Jahre weiter zu vertiefen.
Dieser Struktur würde auch die Schweiz bei einem Andocken an ein EU Handels-
abkommen beitreten.
Aus den bestehenden EU-Handelsabkommen wie beispielsweise dem CETA ist
ersichtlich, dass die einzelnen Kommissionen das Abkommen durchaus weiterent-
wickeln können, sofern sich beide Parteien einig werden. Das Prinzip der Ein-
stimmigkeit gewährleistet hier, dass eine Weiterentwicklung nur stattnden kann,
wenn diese im gegenseitigen Interesse liegt. Implikationen für den nationalen po-
litischen und rechtlichen Handlungsspielraum der einzelnen Parteien sind daher
nicht zu erwarten. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass einem Drittstaat wie der
Schweiz nach Andocken dieselben Mitbestimmungsrechte zugestanden würden.
Damit würde die Schweiz riskieren, dass im Rahmen der Weiterentwicklung eines
EU-Handelsabkommens Entscheide gefällt würden, die im Einzelnen nicht ihren
Interessen entsprechen oder Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung haben.
Der erste Fall ist an und für sich kaum neu: Internationale Abkommen bein-
halten teilweise heute schon, dass Verpichtungen vertieft oder weiterentwickelt
werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Staat im Rahmen eines Streitbei-
legungsverfahrens dazu angehalten wird seine Verpichtungen entsprechend dem
vereinbarten Abkommen einzuhalten. Im Rahmen völkerrechtlicher Verträge be-
steht in diesem Fall immer auch die Möglichkeit das Abkommen zu kündigen. Ein
42 Siehe Art 5:1(c) VlG in Verbindung mit Art 3:2 VlG.
43 CETA weist rund 15 verschiedene Kommissionen auf, die in unterschiedlichen Bereichen des
Abkommens mit unterschiedlichen Zielen den Auftrag haben, an der Weiterentwicklung des Ab-
kommens zu arbeiten. Es gilt in allen Kommissionen des CETA das Prinzip der Einstimmigkeit.
155
Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
vergleichbares Abkommen ist die Schweiz bereits mit dem Beitritt zu den beiden
Abkommen Schengen44 und Dublin45 eingegangen. Hier erhält die Schweiz Beisitz,
aber kein Stimmrecht und behält sich entsprechend vor, zukünftige Entscheide im
Rahmen von Schengen/Dublin dem Referendum zu unterstellen. Die Ablehnung
eines Entscheids im Rahmen von Schengen/Dublin durch die Bundesversammlung
oder die Wählerschaft würde vermutlich zur Kündigung des Abkommens durch die
Schweiz führen.46 Damit ist die demokratische Legitimation der Weiterentwicklung
vergleichbar mit der demokratischen Legitimation von völkerrechtlichen Verträgen
allgemein in der Schweiz.47 In Bezug auf die Gewährleistung der ausreichenden
demokratischen Mitwirkung wird die Teilnahme an Schengen/Dublin durch die
Schweiz allerdings kritisch betrachtet.48
Leicht anders gelagert ist der zweite Fall: Bedingt die Weiterentwicklung des
EU-Handelsabkommens die Anpassung eines Bundesgesetzes, untersteht diese
Anpassung dem fakultativen Referendum.49 Würde ein solches Referendum ergrif-
fen, obwohl die Schweiz im Rahmen des EU-Handelsabkommens mit der Vertie-
fung einverstanden war, bleibt möglicherweise ungeklärt, ob sich die Wählerschaft
einzig gegen die Gesetzesrevision ausgesprochen hat oder ob die Wählerschaft auf-
grund der Gesetzesrevision das Abkommen insgesamt kündigen will. Die Bestim-
mungen über die zulässige Abstimmungsfrage in einem fakultativen Referendum
sehen gegenwärtig den Einbezug der allfälligen Kündigung eines Abkommens in
die Fragestellung nicht vor.50 Dies ist insbesondere problematisch in Fällen, in wel-
44 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und
der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, An-
wendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands, SR 0.362.31 (Schengen-Assoziierungs-
abkommen).
45 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemein-
schaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung
eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags, Schengen-Assoziie-
rungsabkommen, SR 0.142.392.68 (Dublin-Assoziierungsabkommen).
46 Siehe zB Art 6 Dublin-Assoziierungsabkommen.
47 Siehe auch Glaser, Umsetzung und Durchführung des Rechts der Bilateralen Verträge in der
Schweiz, in Glaser/Langer (Hg), Die Verfassungsdynamik der europäischen Integration und de-
mokratische Partizipation (2015) 133 (139)
48 Good, Die Schengen-Assoziierung der Schweiz (Diss Univ St. Gallen 2010); Epiney, Die eu-
roparechtlichen Optionen „Bilateraler Weg“ und EU-Beitritt: Ein Vergleich aus rechtlicher Sicht,
in Freiburghaus/Epiney (Hg), Beziehungen Schweizer-EU. Standortbestimmung und Perspekti-
ven (2010) 41; Petrig, Die Demokratische Mitwirkung an der Entstehung und Umsetzung recht-
setzender Beschlüsse internationalen Rechts, Schweizerische Zeitschrift für Internationales und
Europäisches Recht 25 (2015) 507.
49 Art 141:1(a) BV.
50 Siehe Art 11 Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR), SR 161.1. Illustrativ dazu:
Endres, 2016, Ärger wegen Abstimmungsfrage, Tagesanzeiger 4. Februar 2016 <http://www.ta-
gesanzeiger.ch/schweiz/standard/Aerger-wegen-Abstimmungsfrage/story/26040646>.
156
Charlotte Sieber-Gasser
chen die Möglichkeit und Rechtsfolgen eines Referendums im völkerrechtlichen
Vertrag nicht explizit geregelt sind.51
XII. Klärungsbedarf aus Sicht der Schweiz
Sollte die Schweiz in Betracht ziehen, an ein bestehendes EU-Handelsabkommen
anzudocken, müsste entsprechend geklärt werden, mit welchen Mitbestimmungs-
rechten in den Kommissionen des Abkommens ein Andocken verbunden ist.
Zudem müssten die Rechtsfolgen bei einem Referendum gegenseitig vereinbart
werden. Diesbezüglich bilden die praktischen Erfahrungen mit den beiden Assozi-
ierungsabkommen zu Schengen und Dublin bereits eine Basis.
Die Klärung der zugrundeliegenden Frage nach der ausreichenden demo-
kratischen Legitimation von Entscheiden im Rahmen von dynamischen völker-
rechtlichen Abkommen und der Angemessenheit der bestehenden institutionellen
Verfahren in der Schweiz käme der Rechtssicherheit zugute. Die Klärung der Zu-
ständigkeiten und Kompetenzen in den nationalen Verfahren dürfte zudem der För-
derung der demokratischen Legitimation eines Andockens dienen.
XIII. Abschliessende Bemerkungen
Bei einem Andocken an ein bestehendes EU-Handelsabkommen sind für die de-
mokratische Legitimation in der Schweiz zwei Aspekte insbesondere von Bedeu-
tung: 1) die neue Struktur des Verhandlungsprozesses durch den sehr geringen
verbleibenden Verhandlungsspielraum; und 2) die dynamische Struktur der EU
Handelsabkommen und damit verbunden die Weiterentwicklung der Verpichtun-
gen nach Ratikation.
Es zeigt sich, dass die Schweiz mit dem Vernehmlassungsverfahren und dem
grundsätzlich geltenden fakultativen Referendum bereits heute über einen institu-
tionellen Rahmen verfügt, der die demokratische Legitimation eines Andockens
gewährleistet. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, ein Andocken an ein EU-
Handelsabkommen sowohl durch indirekte Mitbestimmung durch die Bundesver-
sammlung wie auch durch direkte Beteiligung der Stimmbevölkerung in einem
Referendum und dem Vernehmlassungsverfahren demokratisch abzusichern. Die
Analyse zeigt allerdings auch, dass die direkt-demokratischen Optionen (fakul-
tatives Referendum und Vernehmlassungsverfahren), die der Gewährleistung der
51 Vergleichbar damit ist die Annahme der Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“, deren
strikte Umsetzung gegen das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU verstossen
würde. Die Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit war aber nicht Gegen-
stand der Volksabstimmung. Siehe auch Kunz, Schweiz-EU: Wohin führt der bilaterale Weg nach
der Annahme der Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“?, Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht 74 (2014) 329.
157
Andocken der Schweiz an Handelsabkommen der Europäischen Unio
demokratischen Legitimation in der Schweiz dienen, in der Vergangenheit im
Rahmen von Verhandlungen über Handelsabkommen kaum genutzt wurden. Noch
offen ist, wie eine vom Bundesrat geforderte gesetzliche Grundlage für den Ab-
schluss von sogenannten Standardabkommen (welche vom fakultativen Referen-
dum ausgenommen wären) den Rahmen der Verhandlungskompetenz denieren
wird. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass eine neue gesetzliche Grundlage ein
Andocken an ein EU-Handelsabkommen unter Einhaltung von Art 141:1(d)III BV
vom fakultativen Referendum ausnehmen wird.
Der besonderen Struktur der Verhandlungen über ein Andocken an ein bestehen-
des EU-Handelsabkommen könnte durch eine Stärkung der demokratischen Par-
tizipation und Mitsprache zu Beginn des Verhandlungsprozesses – beispielsweise
über ein Vernehmlassungsverfahren – Genüge getan werden.
Die Veränderungen in der Struktur des Welthandels seit der Errichtung der WTO
führen dazu, dass neue, substantielle und umfassende Handelsabkommen den Re-
gelbereich der WTO-Abkommen im Interesse einer umfassenden Handelsregulie-
rung verlassen. Durch den technologischen Fortschritt wird heute international in
erster Linie mit Zwischenprodukten im Rahmen von globalen Wertschöpfungs-
ketten gehandelt. Damit rücken Regelungsbereiche wie Produkt- und Produkti-
onsstandards, Internet, Datenschutz, Arbeitsmigration und weitere in den Vorder-
grund. Die neuen EU-Handelsabkommen versuchen die entstandene Rechtslücke
zwischen dem Minimalstandard der WTO-Abkommen und der Realität im globa-
len Markt zu schliessen. Dafür eignet sich insbesondere eine dynamische Struktur
des Handelsabkommens, um auf die Entwicklungen im globalen Markt reagieren
zu können und in nachfolgenden Verhandlungen die ursprünglichen Verpichtun-
gen zu vertiefen.
Die mit der dynamischen Struktur verbundenen Herausforderungen für die Ge-
währleistung der demokratischen Legitimation von Entscheiden, welche im Rah-
men von Handelsabkommen gefällt werden, sind nicht neu. Ähnlichen Schwierig-
keiten begegnet die Schweiz beispielsweise im Rahmen der Bilateralen Abkommen,
insbesondere im Rahmen der Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin.
Von diesen Erfahrungen kann die Schweiz protieren und entsprechende Forde-
rungen in den Verhandlungen über ein Andocken stellen. Besonders wichtig er-
scheinen hier die Berücksichtigung des fakultativen Referendums im Vertrag über
ein Andocken und die gegenseitige Einigung über die Rechtsfolgen eines allfällig
abschlägigen Referendums. Aber auch die Überarbeitung der Bestimmungen über
die Abstimmungsfrage in einem Referendum, welches potentiell die Kündigung
eines internationalen Abkommens nach sich zieht, kann zu mehr Rechtssicherheit
und demokratischer Legitimation im Umgang mit dynamischen völkerrechtlichen
Verträgen beitragen.