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Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer

Authors:
Soziale Arbeit
Institut für Delinquenz und Kriminalprävention
Zur Entwicklung der
Gewalt in Deutschland
Schwerpunkte: Jugendliche
und Flüchtlinge als Täter
und Opfer
Januar 2018
Prof. Dr. Christian Pfeiffer
Prof. Dr. Dirk Baier
Dr. Sören Kliem
unter Mitarbeit von Prof. Dr. Thomas Mößle, Laura Beckmann und Eberhard Mecklenburg
Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
3
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung .................................................................................................................................... 5
2 Entwicklung der Gewalt ............................................................................................................. 7
2.1 Entwicklung der Gewalt im Polizeilichen Hellfeld ............................................................ 7
2.2 Jugendgewalt im Dunkelfeld ..........................................................................................13
Exkurs: Entwicklung der innerschulischen Gewalt ........................................................21
2.3 Spezifische Viktimisierungsformen ................................................................................24
2.3.1 Sexueller Kindesmissbrauch .............................................................................24
2.3.2 Sexuelle Gewalt gegen Frauen .........................................................................26
2.3.3 Häusliche Gewalt gegen Frauen .......................................................................28
3 Erklärungsansätze der Entwicklung ......................................................................................31
3.1 Soziale Makrostruktur ....................................................................................................32
3.2 Elterliche Erziehung .......................................................................................................35
Exkurs: Gewalt gegen eigene Eltern .............................................................................41
3.3 Soziale Bindungen .........................................................................................................41
3.4 Peers und delinquente Normen .....................................................................................48
3.5 Formelle soziale Kontrolle .............................................................................................51
3.6 Zusammenfassung ........................................................................................................54
4 Aktuelle Herausforderungen ...................................................................................................57
4.1 Extremismus und fundamentalistischer Islamismus ......................................................57
4.2 Online-Viktimisierung .....................................................................................................61
4.3 Teen Dating Violence.....................................................................................................67
4.4 Objektive Sicherheitslage vs. subjektive Sicherheit ......................................................68
5 Flüchtlinge in Niedersachsen als Opfer und Täter von Gewalt ...........................................71
5.1 Der seit 2014 zu beobachtende Anstieg der Gewaltkriminalität in
Niedersachsen gibt es einen Zusammenhang mit der seit 2015 starken
Zuwanderung?“ ..............................................................................................................71
5.2 Erklärungsangebote für den Anstieg der Gewaltkriminalität..........................................72
5.2.1 Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge ..........................................................72
5.2.2 Alters- und Geschlechtszusammensetzung ......................................................73
5.2.3 Die Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen .............................74
5.2.4 Das Anzeigeverhalten von Gewaltopfern ..........................................................74
4
5.2.5 Die verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen und ihre jeweiligen
Aufenthaltsperspektiven ....................................................................................77
5.2.6 Die individuellen und sozialen Rahmenbedingungen des Lebens
von Flüchtlingen (Ergebnisse eines Workshops mit Expertinnen
und Experten der Flüchtlingsbetreuung) ...........................................................80
5.2.7 Zwischenfazit .....................................................................................................81
5.3 Die Differenzierung nach den vier Deliktgruppen der Gewaltkriminalität ......................83
5.4 Die Reduktion des Tatvorwurfs im Zuge des Strafverfahrens eine
Datenanalyse am Beispiel der tatverdächtigen Flüchtlinge aus
nordafrikanischen Ländern ............................................................................................87
5.5 Zusammenfassung und erste Folgerungen ...................................................................88
6 Ausblick ....................................................................................................................................93
Literatur .................................................................................................................................................95
Anhang ..................................................................................................................................................99
5
1 Einleitung
Die mediale Berichterstattung über zum Teil sehr schwere Gewalttaten kann in der Bevölkerung den
Eindruck entstehen lassen, dass in Deutschland ein Anstieg der Gewaltkriminalität zu verzeichnen ist.
Die Politik reagiert auf die sich ausbreitende Sorge der Bevölkerung vor zunehmender Gewalt mit
verschiedenen innenpolitischen, polizeilichen ebenso wie justiziellen Maßnahmen. Die Kriminalisie-
rung von Verhaltensweisen gehört zu diesen justiziellen Maßnahmen ebenso dazu wie die Erhöhung
von Strafrahmen für bestimmte Delikte bzw. das Beschließen von generell eher punitiveren Sanktio-
nen. Die Einführung des Warnschussarrests im Jahr 2013 ist mit Blick auf die Gruppe der Jugendli-
chen ein Beispiel für eine solche Sanktion. Die general- wie spezialpräventive Wirkung dieser Sankti-
onen sind zweifelhaft; sie signalisieren aber Handlungsstärke, die, zumindest in der Perspektive ver-
schiedener Personengruppen in Deutschland, der Politik bzw. dem Staat abhandengekommen ist.
Dass die Entwicklung der Gewalt, gerade mit Blick auf die Jugendlichen, in Deutschland im letzten
Jahrzehnt stark rückläufig gewesen ist, wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, obwohl die
Kriminologie dies bereits seit einigen Jahren konstatiert. Ein Rückgang der Gewalt steht für viele Men-
schen in zu starkem Widerspruch zu den eigenen Meinungen und Eindrücken, nicht unbedingt zu den
eigenen Erfahrungen. Anliegen dieses Berichts ist es, die in Deutschland zur Entwicklung der (Ju-
gend)Gewalt existierenden Befunde vorzustellen und gleichzeitig die Frage zu beantworten, welche
Faktoren die positiven Veränderungen bewirkt haben. Eine differenzierte Betrachtung der vorhande-
nen Befunde führt zugleich nicht nur dazu, die positiven Veränderungen zu fokussieren; sie erlaubt
auch, Probleme und Herausforderungen zu benennen, die in den kommenden Jahren an Relevanz
gewinnen dürften. Ein Ziel dieses Berichts ist es daher, eben solche Probleme und Herausforderun-
gen zu identifizieren, auch wenn diesbezüglich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden
kann.
Um zu einer verlässlichen Einschätzung der Gewaltentwicklung zu gelangen, können in Deutschland
verschiedene Datenquellen herangezogen werden. Einerseits werden begangene Straftaten von der
Polizei registriert. Eine Registrierung hängt allerdings davon ab, ob eine Tat von einem Opfer oder
einer anderen Person angezeigt wird bzw. ob die Polizei bei Ermittlungsarbeiten eine Straftat auf-
deckt. Die polizeilich registrierte Kriminalität wird auch als Hellfeld-Kriminalität bezeichnet. Der Begriff
des Hellfelds verweist darauf, dass nur ein Teil aller strafbaren Handlungen den Strafverfolgungsbe-
hörden zur Kenntnis gelangt und in den verschiedenen Kriminalstatistiken erfasst wird. Ein, je nach
Delikt unterschiedlich großer Anteil an strafbaren Handlungen verbleibt im Dunkelfeld. Problematisch
ist, dass das Verhältnis zwischen dem Hell- und dem Dunkelfeld nicht nur mit dem Delikttyp variiert,
sondern auch über die Zeit bzw. über bestimmte geographische Einheiten hinweg. Ansteigende oder
rückläufige Entwicklungen in der Hellfeldstatistik ebenso wie Unterschiede zwischen Städten, Regio-
nen oder Bundesländern können deshalb sowohl tatsächliche Veränderungen bzw. Unterschiede
markieren; sie können aber auch auf Veränderungen bzw. Unterschieden im Anzeigeverhalten, in den
polizeilichen Ermittlungsaktivitäten, in der Registrierungspraxis (inkl. Registrierungsfehlern), in gesetz-
lichen Rahmenbedingungen usw. basieren (vgl. Lamnek 1998, S. 384ff). Die wichtigste Statistik zur
Hellfeld-Kriminalität ist die Polizeiliche Kriminalstatistik, in der alle aufgedeckten Straftaten erfasst
werden und soweit wie möglich auch Angaben zu den Tatverdächtigen.
Eine zweite Datenquelle, die zur Frage der Entwicklung der Kriminalität herangezogen werden kann,
sind Dunkelfeldstudien. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, weil diese Studien nicht nur beanspru-
chen, den nicht der Polizei zur Kenntnis gelangten Anteil der Kriminalität zu erfassen, sondern sowohl
6
die Hell- als auch die Dunkelfeldkriminalität. Dunkelfeldstudien sind i.d.R. so angelegt, dass eine re-
präsentative Auswahl der Bevölkerung bzw. einer Bevölkerungsgruppe über ihre Erlebnisse mit delin-
quenten Verhaltensweisen befragt wird. Zu unterscheiden sind dabei Opfer- und Täterbefragungen.
Mit Blick auf die Jugendlichen existiert mittlerweile eine Vielzahl an Opfer- und Täterbefragungen, mit
denen es möglich ist, die Entwicklung der Jugendgewalt im Dunkelfeld über fast zwei Jahrzehnte hin-
weg nachzuzeichnen.
Die Befunde von Auswertungen der Hellfeldstatistik ebenso wie von Dunkelfelduntersuchungen wer-
den im zweiten Abschnitt dieses Berichts vorgestellt. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Gruppe der
Jugendlichen gelegt. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Jugendliche als Personen im Alter
zwischen 14 und unter 18 Jahren definiert. Die meisten Dunkelfeldstudien beschränken sich auf Schü-
lerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe, die in Deutschland durchschnittlich 15 Jahre alt
sind. Die Beschränkung auf diese Altersgruppe hat forschungsökonomische Gründe: Dunkelfeldbefra-
gungen unter Jugendlichen werden hauptsächlich an Schulen durchgeführt, da hier nahezu alle Ju-
gendlichen erreicht werden können. In Deutschland besteht in einigen Bundesländern eine neunjähri-
ge Schulpflicht, so dass einige Schülerinnen und Schüler die Schule nach der neunten Klasse verlas-
sen und repräsentative Studie nur noch mit einem deutlich höheren finanziellen und personellen Auf-
wand durchgeführt werden könnten. Neben der Frage der Entwicklung der Jugendgewalt wird sich der
Bericht im dritten Abschnitt verschiedenen Erklärungsfaktoren des Rückgangs der Jugendgewalt wid-
men, bevor im vierten Abschnitt ausgewählte aktuelle Herausforderungen im Bereich des Gewaltver-
haltens vorgestellt werden. Da sich im Laufe der vorzustellenden Auswertungen zeigen wird, dass die
enorme Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland eine eigenständige Herausforderung in
Bezug auf die aktuelle und zukünftige Gewaltsituation darstellt, wird sich mit diesem Thema im fünften
Abschnitt gesondert beschäftigt. Hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, dass in Bezug auf die Befun-
de von Dunkelfeldstudien z.T. zwischen deutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund unterschieden wird. Ein Migrationshintergrund definiert sich in diesen Befragungsstudien
dadurch, dass ein Befragter oder mindestens ein leiblicher Elternteil nicht in Deutschland geboren
wurde bzw. keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
7
2 Entwicklung der Gewalt
2.1 Entwicklung der Gewalt im Polizeilichen Hellfeld
Als Gewaltkriminalität werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik im Wesentlichen vier Deliktkatego-
rien zusammengefasst: Mord/Totschlag, Vergewaltigung, Raub und gefährliche und schwere Körper-
verletzungen. Die Entwicklung der derart definierten Gewaltkriminalität ist für die Jahren 1998 bis
2016 in Abbildung 1 dargestellt. Die Anzahl der Gewalt-Straftaten ist demnach von 1998 bis 2007 von
186.306 auf 217.923 gestiegen. Im Anschluss daran sinkt diese Zahl bis 2014 auf 180.955 um immer-
hin ein Sechstel. Im Jahr 2014 wird zugleich die niedrigste Zahl an Gewalt-Straftaten im gesamten
Beobachtungszeitraum seit 1998 ausgewiesen. In den letzten beiden Jahren kommt es dann wieder
zu einem Anstieg der Gewalt-Straftaten, wobei das Niveau von 2007 weiterhin deutlich unterschritten
wird.
Abbildung 1: Entwicklung der Gewaltkriminalität seit 1998 (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)
Jenseits der Anzahl der Straftaten wird gewöhnlich auf die Häufigkeitszahl zurückgegriffen, um die
Entwicklung von Straftaten nachzuzeichnen. Die Häufigkeitszahl gibt an, wie viele Straftaten pro
100.000 Einwohnern von der Polizei registriert wurden. Es handelt sich damit um eine an der Bevölke-
rungsanzahl relativierte Maßzahl, die berücksichtig, ob die Bevölkerung zunimmt (was einen Anstieg
der Anzahl an Straftaten erwarten ließe) oder abnimmt (was einen Rückgang erwarten ließe). Im Zeit-
raum 1998 bis 2016 hat es zunächst einen Anstieg der Bevölkerungszahl bis 2003, danach einen
Rückgang bis 2013 und im Anschluss wieder einen Anstieg gegeben. Insofern ist eine Relativierung
der Anzahl an Gewalt-Straftaten an dieser Bevölkerungsentwicklung sinnvoll. Allerdings ist zu beach-
ten, dass insbesondere die Bevölkerungszahlen der Jahre 2015 und 2016 aufgrund der hohen Zu-
wanderung an Flüchtlingen ungenau sind und eine Unterschätzung der tatsächlichen Bevölkerungs-
anzahl darstellen; dies wiederum hat zur Folge, dass die Häufigkeitszahl überschätzt wird. Wie Abbil-
dung 2 belegt, ändert eine solche Relativierung nichts daran, dass im Jahr 2007 die höchste Häufig-
186306
186655
187103
188413
197492
204124
211172
212832
215471
217923
210885
208446
201243
197030
195143
184847
180955
181386
193542
227.0 227.5 227.7 229.0
239.6
247.3
255.9 258.0 261.4 264.7
256.5 254.2
246.0 241.0 238.4
229.6 224.0 223.4
235.5
200.0
220.0
240.0
260.0
280.0
300.0
0
50000
100000
150000
200000
250000
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Anzahl Straftaten Häufigkeitszahl
8
keitszahl festzustellen ist (264,7 Gewalt-Straftaten je 100.000 Einwohner) und danach ein Rückgang
einsetzt, der ebenfalls etwa ein Sechstel beträgt. Auffällig ist auch bei Betrachtung der Häufigkeitszahl
die Trendumkehr, die sich im Vergleich der Jahre 2015 und 2016 zeigt. Ungeachtet dessen lässt sich
konstatieren, dass es in den letzten zehn Jahren zu einem beachtlichen Rückgang der Gewaltkrimina-
lität in Deutschland gekommen ist.
Für die einzelnen Delikte, die zur Gewaltkriminalität zählen, ergeben sich zwar nicht in Bezug auf das
Ausmaß, wohl aber in Bezug auf die Richtung, durchweg entsprechende Trends, wie Abbildung 2
zeigt. Dargestellt sind die relativen Veränderungen der Häufigkeitszahl ausgewählter Jahre zur Häu-
figkeitszahl des Jahres 1998. Im Anhang in Tabelle A1 sind sowohl die Anzahl an Straftaten als auch
die Häufigkeitszahlen abgebildet, die den Berechnungen zugrunde liegen. An einem Beispiel soll das
Lesen der Abbildung verdeutlicht werden: Im Jahr 1998 wurden 2.877 Straftaten des Delikts Mord
bzw. Totschlag polizeilich registriert, 1999 waren es 2.851, 2016 2.418. Die Häufigkeitzahlen für diese
Jahre lauten 3,51, 3,48 und 2,94. Die Veränderung von 3,51 auf 3,48 entspricht einem relativen Rück-
gang von -0,9 %, die Veränderung von 3,51 auf 2,94 von -16,1 %. Nur diese relativen Entwicklungen
finden sich in der Abbildung. Ausnahmsweise sind die aufeinanderfolgenden Jahre 2014, 2015 und
2016 dargestellt, weil sich zum Jahr 2016 teilweise abweichende Trends zeigen.
Abbildung 2: Entwicklung der Häufigkeitszahl verschiedener Delikte relativ zum Jahr 1998 (Quelle: Poli-
zeiliche Kriminalstatistik)
Werden die vier übergeordneten Gewaltdeliktkategorien betrachtet, ergeben sich folgende Entwick-
lungen:
1. Der Mord/Totschlag ist seit 1998 um bis zu 25,7 %, d.h. um mehr als ein Viertel rückläufig. Im
Jahr 2016 liegt die Häufigkeitszahl noch immer um 16,1 % unter der des Jahres 1998. Im
Vergleich der Jahre 2015 und 2016 kommt es aber wieder zu einem Anstieg. Zum
Mord/Totschlag sind in der Abbildung zusätzlich zwei Unterkategorien dargestellt. Erstens
zeigt sich dabei für die Kategorie des vollendeten Mordes ein insgesamt noch stärker Rück-
gang als für Mord/Totschlag insgesamt: Von 1998 bis 2015 ist die Anzahl vollendeter Morde
um 37,2 % zurückgegangen. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Während es deutsch-
landweit 1998 noch 452 vollendete Morde gab (1999 sogar 482), lag die Zahl im Jahr 2015 bei
-0.9
6.7
50.0
-3.9
-4.4
-7.9
-4.6
0.0
3.9
5.8
-12.2
-13.3
65.7
1.1
10.1
-7.6
-7.7
-1.6
19.6
31.1
-18.7
-30.7
-8.6
4.4
-5.4
-23.3
-18.0
-33.2
40.0
54.6
-24.2
-28.3
75.7
-12.0
-4.4
-24.7
-25.2
-41.8
26.6
58.2
-23.1
-44.0
-23.8
-11.1
-5.7
-25.8
-28.3
-56.4
15.9
60.2
-25.7
-37.2
-32.6
-13.3
-10.3
-28.1
-29.9
-59.5
16.7
59.8
-16.1
-29.7
-41.8
-11.9
-0.1
-27.7
-33.3
-64.3
26.8
70.7
-100.0
-80.0
-60.0
-40.0
-20.0
0.0
20.0
40.0
60.0
80.0
100.0
Mord, Tots. voll. Mord voll. Sex. mord Sex. delikte Vergewalt. sex. Missbr. Raub Handtaschenr. gef. schw. KV vors. leichte
KV
1999 2003 2007 2011 2014 2015 2016
9
281; die niedrigste Anzahl im Beobachtungszeitraum findet sich für das Jahr 2013 mit 241
vollendeten Morden (zwischen 1999 und 2013 hat sich die Anzahl vollendeter Morde also hal-
biert). Zweitens ergibt sich für den vollendeten Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten,
wenn man auch die achtziger Jahre in die Längsschnittbetrachtung einbezieht, ein besonders
starker Rückgang. Da es sich hier um ein seltenes Delikt handelt, werden jeweils die Zahlen
von Dreijahreszeiträumen betrachtet. Danach wurden in den Jahren 1983 bis 1985 in West-
deutschland und West-Berlin 130 solcher vollendeter Sexualmorde registriert. In den Jahren
1998 bis 2000 reduzierte sich diese Zahl in Gesamtdeutschland auf 46 und ging von 2014 bis
2016 auf 24 zurück. Dies ist eine Abnahme um 81 %.
2. Die vollendete, vorsätzliche Tötung von Kindern wird gesondert betrachtet, weil sich hier nach
der PKS seit 1995 eine auffällig starke Veränderung abzeichnet. Insgesamt gesehen ist die
Zahl solcher Totschlags- und Morddelikte an 0- bis unter 14-jährigen zwischen 1995 und 2016
von 172 auf 68 zurückgegangen. Pro 100.000 der Altersgruppe ergibt dies eine Abnahme um
51,8 %. Am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen wurden hierzu zwei Ak-
tenanalysen durchgeführt (vgl. Haug/Zähringer 2017, Höynck et al. 2015). Danach handelt es
sich bei dem Täterinnen und Tätern gegenüber 0- bis unter 6-jährigen Tötungsopfern nahezu
ausschließlich und bei den 6- bis unter 14-jährigen zu 65,3 % um die biologischen oder sozia-
len Eltern. Der starke Rückgang des Tötens von Kindern verläuft damit parallel zu einer ent-
sprechenden Entwicklung, die sich zur Misshandlung von Kindern durch ihre Eltern abzeich-
net (vgl. dazu 3.2). Die Daten belegen, dass in den Familien die schwere Gewalt gegen Kin-
der seit mehr als 20 Jahren generell sehr stark abgenommen hat.
3. Für Vergewaltigung ergeben sich schwächere Veränderungen, die aber mehrheitlich auch auf
einen Rückgang hindeuten. Der Vergleich der Jahre 2015 und 1998 ergibt bspw. einen Rück-
gang der Häufigkeitszahl von 10,3 %. Die höchste Anzahl an Vergewaltigungen wurde im Jahr
2004 mit 8.831 registriert, die niedrigste 2015 mit 7.022. Im Vergleich der Jahre 2015 und
2016 ist es zu einem Anstieg der Vergewaltigungen gekommen, so dass fast das Niveau von
1998 wieder erreicht ist. Dieses liegt aber noch immer niedriger als das Niveau, das zu An-
fang der 2000er festzustellen war. Zusätzlich sind zwei weitere Deliktkategorien in der Abbil-
dung dargestellt: Dabei handelt es sich zum einen um die Sammelkategorie „Sexualdelikte“, in
die die Vergewaltigung mit eingeht, die aber als Sammelkategorie nicht zur Gewaltkriminalität
gezählt wird. Die Entwicklungen sind bei dieser Deliktkategorie, zumindest wenn die letzten
zehn Jahre betrachtet werden, noch positiver als bei der Vergewaltigung. Zum anderen sind
die Veränderungen der Häufigkeitszahlen des sexuellen Missbrauchs von Kindern dargestellt,
die ebenfalls nicht als Gewaltkriminalität gelten. In Bezug auf dieses Delikt sind die Häufig-
keitszahlen seit 1998 um über ein Viertel zurückgegangen. Eine Umkehrung des Trends nach
2015 deutet sich hier nicht an.
4. In Bezug auf Raubtaten ergeben sich nahezu kontinuierliche Rückgänge seit 1998. Die Häu-
figkeitszahl des Jahres 2015 liegt 29,9 % niedriger als die Zahl des Jahres 1998, die Häufig-
keitszahl des Jahres 2016 sogar 33,3 %. Raubstraftaten haben also seit 1998 um ein Drittel
abgenommen, wobei es im Vergleich der Jahre 2015 und 2016 wiederum keine Trendumkehr
gibt. Eine Deliktkategorie des Raubs ist der Handtaschenraub. Für diesen ergibt sich im Be-
obachtungszeitraum ein Rückgang um fast zwei Drittel (-64,3 %).
5. Die gefährliche und schwere Körperverletzung ist im Gegensatz zum Raub kontinuierlich bis
zum Jahr 2007 angestiegen; auch in den Jahren danach liegt das Niveau der Häufigkeitszahl
weiterhin über dem Niveau von 1998. Gleichwohl kommt es von 2007 (154.849 Delikte) bis
2014 (125.752 Delikte) zu einem deutlichen Rückgang entsprechender Straftaten in Deutsch-
land. Zum Jahr 2015 (127.395 Delikte), insbesondere aber zum Jahr 2016 (140.033) zeigt
sich allerdings wieder ein Anstieg der Straftaten, wobei auch hier zu betonen ist, dass das ho-
he Niveau von 2007 noch nicht erreicht ist.
10
Abbildung 2 stellt zusätzlich die Entwicklung eines weiteren Delikts vor, das nicht zur Gewaltkriminali-
tät gezählt wird, gleichwohl aber physische Gewalt beinhaltet, weshalb eine Betrachtung in diesem
Kontext gerechtfertigt erscheint: die vorsätzliche, leichte Körperverletzung. Im Widerspruch zu allen
anderen betrachteten Delikten gilt für dieses Delikt ein kontinuierlicher Anstieg, der auch nach 2007
weitergeht. Während 1998 deutschlandweit 237.493 vorsätzliche, leichte Körperverletzungen regis-
triert wurden, waren es 2016 406.038. Die Häufigkeitszahl hat sich in diesem Zeitraum um 70,7 %
erhöht. Der Widerspruch, der sich zu den anderen Delikten zeigt, lässt sich auflösen, wenn beachtet
wird, dass sich in dem fast 20-jährigen Beobachtungszeitraum die Sensibilität gegenüber eher gering-
fügiger Gewalt verändert hat. Raubtaten oder gefährliche und schwere Körperverletzungen stellen
Delikte dar, bei denen es ein eher geringes Dunkelfeld gibt; die Opfer diese Delikte erstatten gewöhn-
lich Anzeige, um den Schaden ersetzt zu bekommen bzw. den Täter/die Täterin der Bestrafung zuzu-
führen. Dies war vor 20 Jahren nicht anders als heute. Für leichtere Übergriffsformen hingegen ist die
Bereitschaft, diese bei der Polizei anzuzeigen, gestiegen. Ein Beispiel hierfür sind Übergriffe, die sich
im schulischen Kontext ereignen: Schulleiterinnen und Schulleiter gehen immer häufiger dazu über,
diese anzuzeigen, z.T. deshalb, weil dies durch bundeslandspezifische Erlasse gefordert wird. Der
kontinuierliche Anstieg der vorsätzlichen, leichten Körperverletzungen steht deshalb dafür, dass mehr
Delikte vom Dunkelfeld ins Hellfeld gelangen, nicht dafür, dass es zu einer Verrohung der Gesellschaft
gekommen wäre. Die Entwicklungen zu den anderen, deutlich schwereren Gewaltdelikten widerspre-
chen einer solchen Verrohungsannahme eindrücklich.
Um die Entwicklung der Gewaltkriminalität für verschiedene Altersgruppen darzustellen und damit
auch die Frage zu beantworten, wie sich die Jugendgewaltkriminalität im Polizeilichen Hellfeld verän-
dert hat, muss auf die Tatverdächtigen Bezug genommen werden. Erst wenn zu einer Straftat ein
Tatverdächtiger bekannt ist, lässt sich etwas über das Alter von in Straftaten involvierten Personen
aussagen. Diesbezüglich sind zwei Einschränkungen zu beachten:
1. Aussagen über Tatverdächtige sind umso verlässlicher, je mehr Straftaten angezeigt und
letztlich aufgeklärt werden. Die Anzeige- und Aufklärungsquote sind demnach auch ein Maß
der Verlässlichkeit der Angaben über Tatverdächtige. Zu nicht angezeigten und nicht aufge-
klärten Straftaten ist nicht bekannt, wie sich Merkmale wie das Alter, das Geschlecht oder die
Staatsangehörigkeit der Täterinnen und Täter verteilen; je kleiner der Anteil solcher Straftaten
ist, umso mehr wissen wir über die Täterinnen und Täter und deren soziodemografische
Merkmale. Für die Aufklärungsquote der Gewaltkriminalität gilt, dass sie als hoch einzustufen
ist: Im Jahr 1998 wurden 71,9 % aller Gewalt-Straftaten aufgeklärt, 2016 waren es sogar 75,8
%. Bei Mord/Totschlag lag die Aufklärungsquote 2016 bei 94,6 %, bei Vergewaltigungen bei
78,6 %, bei Raubtaten bei 52,0 % und bei schweren und gefährlichen Körperverletzungen bei
82,6 %. Gleichzeitig bedeuten diese Zahlen, dass zu insgesamt einem Viertel der Täterinnen
und Täter von Gewaltdelikten das Alter nicht bekannt ist, weil keine Tatverdächtigen ermittelt
werden konnten. Auf die Anzeigequote wird weiter unten eingegangen.
2. Tatverdächtige sind noch keine Täterinnen bzw. Täter. Die Polizei definiert als tatverdächtig
eine Person, die „nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsäch-
licher Anhaltspunkte verdächtig ist, rechtswidrig eine (Straf-)Tat begangen zu haben“ (Polizei-
liche Kriminalstatistik). Inwiefern der Tatverdacht gerechtfertigt ist, zeigt sich aber erst im wei-
teren Verlauf der Ermittlungen; nicht selten werden ursprünglich als tatverdächtig eingestufte
Personen vom Tatverdacht freigesprochen und die Verfahren eingestellt. Eine Betrachtung
der Tatverdächtigen ist damit keine Betrachtung von Täterinnen und Tätern.
Werden vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen die Entwicklungen der Tatverdächtigen be-
trachtet, so ergibt sich das in Abbildung 3 dargestellte Bild. Differenziert werden vier Altersgruppen:
Kinder (unter 14-jährige), Jugendliche (14- bis unter 18-jährige), Heranwachsende (18- bis unter 21-
jährige) und Erwachsene (ab 21-jährige). Bei der Darstellung wird sich nicht auf absolute Zahlen, son-
11
dern auf Tatverdächtigenbelastungszahlen konzentriert. Diese geben an, wie viele Tatverdächtige pro
100.000 Personen der jeweiligen Altersgruppe polizeilich registriert worden sind. Die absoluten Zahlen
sind in Tabelle A2 im Anhang aufgeführt. Die Tatverdächtigenbelastungszahlen zeigen zunächst, dass
Kinder am seltensten wegen Gewaltkriminalität als Tatverdächtige registriert wurden, gefolgt von Er-
wachsenen. Deutlich höhere Belastungszahlen ergeben sich für Jugendliche und Heranwachsende.
Damit bestätigt sich, dass im Bereich der Gewaltkriminalität 14- bis unter 21-jährige besonders auffäl-
lig sind. Die Entwicklung der Belastungszahlen unterscheidet sich zwischen den Altersgruppen. Mit
Blick auf die Erwachsenen gilt, dass deren Belastungszahl von 152,6 im Jahr 1998 auf 194,5 im Jahr
2016 und damit um insgesamt 27,5 % gestiegen ist. Für alle anderen Altersgruppen ergeben sich
demgegenüber Rückgänge in den Belastungszahlen. Die Zahlen zum Jahr 2016 liegen bei Kindern,
Jugendlichen und Heranwachsenden unter denen des Jahres 1998; im Vergleich zur höchsten Belas-
tungszahl im Beobachtungszeitraum sind z.T. massive Rückgänge vorhanden. Der Rückgang der
Gewaltkriminalität in Deutschland ist damit in erster Linie ein Rückgang der Gewaltkriminalität jüngerer
Altersgruppen. Im Einzelnen sind folgende Entwicklungen herauszuheben:
1. Bei Heranwachsenden ist die Tatverdächtigenbelastungszahl der Gewaltkriminalität zwischen
2008 und 2015 um 31,0 % zurückgegangen. Im Vergleich der Jahre 2015 und 2016 steigt die
Zahl allerdings wieder leicht an.
2. Bei Kindern ist die Tatverdächtigenbelastungszahl zwischen 2008 und 2016 um 41,9 % ge-
sunken.
3. Die stärkste Entwicklung zeichnet sich für die Jugendlichen ab: Zwischen 2007 und 2015 hat
sich die Tatverdächtigenbelastungszahl um 50,4 % reduziert. Der Anstieg zum Jahr 2016 ist
auch bei dieser Altersgruppe auffällig, führt aber nicht annähernd dazu, dass die Höchstzah-
len wieder erreicht werden. Auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik ist damit ein historisch
einzigartiger Rückgang der Jugendkriminalität zu konstatieren.
Abbildung 3: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahl Gewaltkriminalität seit 1998 für verschie-
dene Altersgruppen (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)
Da sich für Jugendliche der stärkste Rückgang zeigt, soll sich bei den nachfolgenden, differenzierten
Auswertung auf diese Altersgruppe konzentriert werden. Abbildung 4 zeigt die Entwicklung der Tat-
verdächtigenbelastungszahlen der vier Delikte der Gewaltkriminalität sowie der vorsätzlichen, leichten
Körperverletzung. Damit ist wieder die relative Veränderung der Belastungszahlen zum Ausgangsjahr
1998 dargestellt. Die Ausgangswerte zur Tatverdächtigenanzahl, zur Einwohnerzahl sowie zur Tat-
verdächtigenbelastungszahl finden sich in Tabelle A3 im Anhang. In Bezug auf Jugendliche wird dabei
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
unter 14-jährige 79.5 88.0 94.3 97.9 88.7 92.7 98.9 93.6 94.8 104.0 107.3 104.3 95.8 92.5 81.4 74.3 70.9 64.5 62.3
ab 21-jährige 152.6 153.3 153.2 154.0 164.9 171.3 176.9 181.7 179.8 179.2 178.8 180.5 177.6 177.9 180.0 179.3 178.2 180.3 194.5
14- bis unter 18-jährige 986.7 1023.7 1057.1 1045.0 1056.8 1059.9 1118.1 1130.1 1163.3 1266.9 1241.4 1183.8 1097.4 990.2 844.8 745.5 672.4 628.4 705.6
18- bis unter 21-jährige 981.7 1002.8 1030.0 1020.3 1051.0 1090.6 1165.0 1230.9 1237.3 1248.7 1249.9 1225.4 1155.4 1110.6 1074.6 987.9 906.7 862.5 907.6
0.0
200.0
400.0
600.0
800.0
1000.0
1200.0
1400.0
12
besonders deutlich, dass eine Relativierung der Tatverdächtigenanzahl an der Bevölkerung notwendig
ist: Die Anzahl an In Deutschland lebenden Jugendlichen hat sich seit Beginn der 2000er Jahre um
etwa ein Sechstel reduziert; ein Rückgang der Tatverdächtigenanzahl um diesen Anteil wäre daher
unter ceteris paribus Bedingungen zu erwarten. Der empirisch zu beobachtende Rückgang fällt aber
noch deutlich stärker aus, wie aus Abbildung 4 abzulesen ist. So ist die Tatverdächtigenbelastungs-
zahl bei Mord/Totschlag und Raub kontinuierlich seit 1998 rückläufig. Von 1998 bis 2016 ist die Zahl
bei Mord/Totschlag um 36,5 % gesunken, bei Raub um 55,7 %. Im Vergleich der Jahre 2015 und
2016 ergibt sich zu beiden Delikten auch keine Trendumkehr. Die absoluten Zahlen zum Raub unter-
streichen dabei am stärksten, welch enorme Entwicklung im Beobachtungszeitraum stattgefunden hat:
Während 1998 noch 13.169 Jugendliche als Tatverdächtige einer Raubtat registriert wurden, waren es
2016 nur 5.075. Zu beiden Formen der Körperverletzungen zeigt sich zunächst bis 2007 ein Anstieg
der Tatverdächtigenbelastungszahlen. Dabei liegen die Zahlen zum Jahr 2007 um 53,7 bzw. 54,9 %
über den Zahlen von 1998. Danach setzt ein starker Rückgang bis 2015 ein: Bei der gefährlichen und
schweren Körperverletzung sinkt die Belastungszahl von 1.029,0 auf 484,1 (d.h. um 53 %), bei der
vorsätzlich, leichten Körperverletzung von 1.047,11 auf 733,36 (d.h. um 30 %; vgl. Tabelle A3 im An-
hang). Bei beiden Delikten gilt zugleich auch, dass es im Vergleich der Jahre 2015 und 2016 zu einem
merklichen Anstieg kommt, wobei das hohe Niveau aus 2007 nicht erreicht wird. Die Entwicklung der
Belastungszahlen zur Vergewaltigung unterscheidet sich von den anderen Delikten, und zwar inso-
fern, als sich eine Zunahme der Belastungszahlen auch nach 2007 zeigt. Hier nicht dargestellt ist,
dass die Höchste Belastungszahl im Jahr 2010 erreicht wurde (24,46); danach nimmt diese bis auf
19,02 im Jahr 2015 ab (Tabelle A3 im Anhang), d.h. um immerhin mehr als ein Viertel. Insofern ist das
Muster der Entwicklung nicht grundsätzlich verschieden; der Rückgang setzt nur etwas später ein. Im
Jahr 2016 liegt die Belastungszahl allerdings bei 22,25, nähert sich also dem Höchstwert wieder an
und liegt deutlich über der Belastungszahl von 1998 (14,20). Prinzipiell gehört auch das Delikt der
Vergewaltigung zu jenen Delikten, die von einer geringen Anzeigebereitschaft gekennzeichnet sind.
Für den Anstieg der Zahlen und das aktuell höhere Niveau im Vergleich zu 1998 spielt ein Anstieg der
Anzeigebereitschaft daher ein Rolle.
Abbildung 4: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahl verschiedener Delikte bei 14- bis unter 18-
jährigen relativ zum Jahr 1998 (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)
-8.9
1.6
-4.5
7.5
8.9
-24.4
40.8
-16.7
19.7
22.6
-6.8
50.0
-16.8
53.7
54.9
-19.5
54.5
-31.8
17.6
42.8
-43.9
52.7
-48.9
-23.5
16.0
-38.1
33.9
-53.6
-27.7
8.5
-36.5
56.7
-55.7
-15.5
22.6
-80.0
-60.0
-40.0
-20.0
0.0
20.0
40.0
60.0
80.0
Mord, Tots. Vergewalt. Raub gef. schw. KV vors. leichte KV
1999 2003 2007 2011 2014 2015 2016
13
Eine letzte Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik bezieht sich auf jene Subgruppen an Ju-
gendlichen, die mit den vorhandenen Daten unterschieden werden können (vgl. Tabelle A4 im An-
hang): auf männliche und weibliche Jugendliche einerseits und deutsche und nichtdeutsche Jugendli-
che andererseits. Abbildung 5 belegt, dass von allen vier Gruppen die weiblichen Jugendlichen die
geringste Belastungszahl aufweisen, d.h. am seltensten polizeilich wegen des Begehens von Gewalt-
delikten registriert werden; für nichtdeutsche Jugendliche ergibt sich demgegenüber in allen Jahren
die höchste Belastungszahl, wobei hierbei u.a. zu beachten ist, dass nichtdeutsche Tatverdächtige
einer höheren Wahrscheinlichkeit unterliegen, von den Opfern bei der Polizei angezeigt zu werden
(vgl. Abschnitt 5). Darüber hinaus bestätigt die Abbildung, dass sich die Entwicklungen zu allen vier
Gruppen bis zum Jahr 2014/2015 weitestgehend gleichen: Auf einen Anstieg der Belastungszahlen
bis 2007 folgt ein starker Rückgang. Werden die jeweils höchste und die jeweils niedrigste Belas-
tungszahl (2014 oder 2015 vs. 2007 oder 2008) miteinander ins Verhältnis gesetzt, so findet sich für
männlichen Jugendlichen ein Rückgang um 50,3 %, für weibliche Jugendliche sogar um 52,2 %; bei
nichtdeutschen Jugendlichen beträgt der Rückgang 35,8 %, bei deutschen Jugendlichen 54,7 %. Für
nichtdeutsche Jugendliche ist der Rückgang also geringer ausgeprägt. Zudem ergibt sich für diese
Gruppe nach 2014 ein sehr starker Anstieg. Bei deutschen Jugendlichen ist der Anstieg von 2015 auf
2016 hingegen eher schwach (+3,1 %)zu 2014 ergibt sich sogar ein Rückgang. Auch wenn die Be-
lastungszahlen der Jahre 2015 und 2016 zu den nichtdeutschen Jugendlichen nur Schätzwerte dar-
stellen, da nicht mit Sicherheit bekannt ist, wie sich im Zuge des Zuzugs von Flüchtlingen die Bevölke-
rungszahlen entwickelt haben, so belegen die Daten der Kriminalstatistik, dass der Anstieg der Ge-
waltkriminalität primär die nichtdeutschen Jugendlichen betrifft und mit der Zuwanderung von Flücht-
lingen zusammenfällt. Dieser auffällige Gegentrend zu den ansonsten rückläufigen Entwicklungen ist
Ausgangspunkt dafür, in einem gesonderten Abschnitt die Thematik Flüchtlinge als Täter und Opfer
einer eigenständigen Analyse zu unterziehen (vgl. Abschnitt 5).
Abbildung 5: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahl Gewaltkriminalität seit 1998 für verschie-
dene Gruppen 14- bis 18-jähriger (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik)
2.2 Jugendgewalt im Dunkelfeld
Um die Entwicklung der Jugendgewalt im Dunkelfeld nachzuzeichnen, soll nachfolgend auf die wie-
derholt durchgeführten Dunkelfeldbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersach-
sens zurückgegriffen werden (abgekürzt: KFN-Schülerbefragungen). Im Jahr 1998 wurde hier erst-
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
weiblich 291.6 295.2 292.7 301.8 326.1 358.1 363.6 377.4 387.8 422.2 428.5 424.8 386.8 353.2 296.1 261.3 236.4 205.0 213.5
deutsch 811.4 845.2 889.4 889.4 903.6 893.5 940.1 951.8 983.9 1085.9 1065.4 1020.0 937.4 843.1 716.3 617.9 550.9 491.5 506.5
männlich 1645.4 1713.3 1780.9 1749.9 1748.3 1724.4 1833.0 1843.0 1899.4 2069.9 2013.7 1904.5 1772.0 1593.9 1364.6 1205.1 1086.0 1029.0 1161.5
nichtdeutsch 2462.2 2622.1 2617.5 2539.4 2511.6 2634.5 2796.4 2822.6 2863.6 2962.4 2873.4 2668.6 2548.8 2336.9 2028.8 2057.2 1903.2 2066.2 2508.0
0.0
500.0
1000.0
1500.0
2000.0
2500.0
3000.0
3500.0
14
mals eine solche Befragung in verschiedenen Städten Deutschlands durchgeführt (vgl. Wetzels et al.
2001). Zu einigen dieser Städte gab es zu einem späteren Zeitpunkt mindestens eine weitere Wieder-
holungsbefragung (Hamburg, Hannover, Kiel, Leipzig, München, Rostock, Schwäbisch Gmünd, Stutt-
gart). In darauffolgenden Jahren wurden zudem in Oldenburg, in den Landkreisen Heidekreis und
Emsland sowie im gesamten Bundesland Niedersachsen Befragungen durchgeführt, die mindestens
ein weiteres Mal wiederholt wurden. Zu diesen Gebieten liegen damit zu mindestens zwei Erhebungs-
zeitpunkten Informationen über das Gewaltverhalten der Jugendlichen vor; auf diese Gebiete wird sich
bei den nachfolgenden Auswertungen beschränkt, obwohl vom KFN weitere Befragungen in anderen
Gebieten Deutschlands durchgeführt wurden. Methodisch wurde in allen Befragungen in der gleichen
Art und Weise vorgegangen: Ausgewählt wurde jeweils eine große Anzahl an Schulklassen der neun-
ten Jahrgangsstufe sämtlicher Schulformen; in diesen Klassen wurde dann eine von geschulten Test-
leitern beaufsichtigte schriftliche Befragung durchgeführt. In dieser wurde dann u.a. nach dem Bege-
hen von Raubtaten (z.B. jemand mit Gewalt etwas abgenommen“) und Körperverletzungen (z.B. „ei-
nen anderen Menschen verprügelt und verletzt“). Auf diese beiden Gewaltdelikte soll sich hier kon-
zentriert werden, weil andere Gewaltdelikte (z.B. sexuelle Übergriffe) nicht in allen Befragungen erho-
ben wurden. Im Anhang in Tabelle A5 sind für alle Gebiete mit Wiederholungsbefragung die Raten an
Jugendlichen aufgeführt, die angegeben haben, in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens
einen Raub bzw. eine Körperverletzung ausgeführt zu haben. Diese Raten lassen sich entlang des
Erhebungsjahrs ordnen und grafisch abtragen. Dies ist in Abbildung 6 und in Abbildung 7 geschehen.
Für das Jahr 1998 gibt es jeweils acht Prävalenzraten, für das Jahr 2000 zwei usw. Zusätzlich kann
der Mittelwert der Prävalenzraten bestimmt werden. Damit wird es möglich, eine Art Gesamttrend über
die Erhebungsjahre zu bestimmen. Wir dabei zunächst der Trend zum Raub betrachtet, so fällt dieser
deutlich rückläufig aus: Im Jahr 1998 lag die durchschnittliche Prävalenzrate mehr als zehnmal höher
als 2015 (4,7 zu 0,4 %). Auch wenn der Trend nicht kontinuierlich abfällt zu berücksichtigen ist, dass
die Befragungen jeweils nur für einzelne Gebiete repräsentativen Anspruch haben und nicht für die
gesamte Bundesrepublik und damit Ausreißerwerte nach oben bzw. unten jederzeit vorkommen kön-
nen so bestätigt der Dunkelfeldtrend den Trend im Hellfeld eindrucksvoll.
Abbildung 6: Zwölf-Monats-Prävalenzen des Raubs nach Erhebungsjahr (in %; Quelle: KFN-Schülerbefra-
gungen)
Dasselbe Bild ergibt sich mit Blick auf Körperverletzungen. Während im Jahr 1998 noch durchschnitt-
lich 18,4 % der Jugendlichen angegeben haben, mindestens eine Körperverletzung in den zurücklie-
genden zwölf Monaten ausgeführt zu haben, lag die Durchschnittsrate der Befragungen des Jahres
4.7
0.4
0.0
1.0
2.0
3.0
4.0
5.0
6.0
7.0
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
15
2015 nur noch bei 4,9 %, also um mehr als zwei Drittel niedriger. Sowohl beim Raub als auch bei den
Körperverletzungen sind dabei in Bezug auf die Dunkelfeldauswertungen zwei Befunde zu beachten:
Erstens deutet sich bereits im Zeitraum 1998 bis 2007 ein Rückgang der Täterraten an; im Hellfeld
war dies nur beim Raub, nicht aber bei der Körperverletzung der Fall. Zweitens ergibt sich aber im
Dunkelfeld in Übereinstimmung mit dem Hellfeld eine starke rückläufige Entwicklung seit ca. 2005
im Hellfeld war insbesondere das Jahr 2007 das Jahr mit besonders hohen Tatverdächtigenbelas-
tungszahlen. Zwischen dem Dunkel- und dem Hellfeld existiert hier also eine beachtliche Parallele, die
die Validität der im Dunkelfeld erhobenen Selbstauskünfte unterstreicht.
Abbildung 7: Zwölf-Monats-Prävalenzen der Körperverletzung nach Erhebungsjahr (in %; Quelle: KFN-
Schülerbefragungen)
Insofern sich auch im Dunkelfeld der Zeitraum um die Jahre 2005 bis 2008 herum als ein wichtiger
Wendepunkt darstellt, soll sich bei einer nach Gruppen von Jugendlichen differenzierenden Darstel-
lung auf diesen Zeitraum konzentriert werden. In Tabelle 1 sind die Prävalenzraten des Raubs und der
Körperverletzung im Vergleich der Geschlechter, der Schulgruppen und der Herkunftsgruppen darge-
stellt. Um eine möglichst genaue Schätzung der Prävalenzraten zu erhalten, wird sich dabei auf eine
deutschlandweite Repräsentativbefragung von 44.610 Neuntklässlerinnen und Neuntklässlern aus
den Jahren 2007/2008 (Baier et al. 2007) sowie zwei niedersachsenweit repräsentative Befragung
unter ca. 10.000 Jugendlichen derselben Altersgruppe (Bergmann et al. 2017) bezogen. Das zentrale
Ergebnis lautet, dass sich für alle unterschiedenen Subgruppen an Jugendlichen rückläufige Täterra-
ten ergeben. Allerdings scheint sich der Rückgang abzuschwächen: Zwischen 2013 und 2015 sind die
Rückgänge alles in allem eher gering; für die Subgruppe der Jugendlichen aus Förder-/Hauptschulen
ergibt sich sogar ein Anstieg der Prävalenzraten des Raubs. Darüber hinaus belegen die Auswertun-
gen, dass männliche Jugendliche deutlich häufiger als Täter von Raubtaten und Körperverletzungen
in Erscheinung treten als weibliche Jugendliche; gleiches gilt für Schüler/innen aus Förder-
/Hauptschulen im Vergleich zu Schüler/innen aus Gymnasien sowie für Schüler mit Migrationshinter-
grund im Vergleich zu deutschen Jugendlichen.
18.4
4.9
0.0
5.0
10.0
15.0
20.0
25.0
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
16
Tabelle 1: Zwölf-Monats-Prävalenzen des Raubs und der Körperverletzung nach Erhebungsjahr, Ge-
schlecht, Schulform und Herkunft (in %; Quelle: KFN-Schülerbefragungen)
Geschlecht
Schulform
Herkunft
männlich
weiblich
FS/HS
RS/GS/OS
Gym
deutsch
Migrant/in
Raub
2007/2008
4.0
1.0
3.8
2.5
1.5
2.0
3.9
2013
0.7
0.5
0.9
0.6
0.5
0.5
0.9
2015
0.8
0.2
1.7
0.4
0.4
0.4
0.7
Körper-
verletzung
2007/2008
17.8
5.5
17.3
12.0
6.7
9.9
16.5
2013
9.8
3.3
13.1
6.9
4.0
5.5
9.8
2015
7.7
2.1
10.0
5.5
2.7
4.1
7.3
FS/HS = Förder-/Hauptschule, RS/GS/OS = Real-/Gesamt-/Oberschule, Gym = Gymnasium
Da sich für Raubtaten wie für Körperverletzungen Höherbelastungen für Migrantinnen und Migranten
ergeben, stellt Abbildung 8 die Gewaltraten (zusätzlich zu Raub und Körperverletzung werden noch
schwere Körperverletzung, Erpressung und sexuelle Gewalt berücksichtigt) differenziert für die in der
Schülerbefragung 2007/2008 unterschiedenen ethnischen Gruppen vor. Diese Befragung wird auf-
grund der besonders hohen Befragtenanzahl und damit der Möglichkeit, zahlreiche Migrantengruppen
zu unterscheiden, für eine vertiefte Betrachtung der ethnischen Unterschiede im Gewaltverhalten her-
angezogen; vergleichbare Befunde ergeben sich auch bei den Befragungen neueren Datums. In Ab-
bildung 8 werden jene Herkunftsländer ausgewiesen, zu denen ausreichend Befragte vorhanden wa-
ren. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Prävalenzraten zwischen den Gruppen deutlich variieren: Asiati-
sche Befragte weisen niedrigere Prävalenzraten auf als deutsche Befragte, Jugendliche aus Ländern
des ehemaligen Jugoslawiens die höchsten. Mit Blick auf die Mehrfach-Gewalttäterraten (mindestens
fünf Gewaltdelikte in den letzten zwölf Monaten) wird der Unterschied in den Raten besonders deut-
lich: Bei der höchst belastetsten Gruppe liegt diese 3,7mal höher als bei der am niedrigsten belastets-
ten Gruppe. Die Migrantinnen und Migranten sind also alles andere als homogen hinsichtlich ihres
Gewaltverhaltens. Zugleich ist dennoch festzustellen, dass nahezu alle Gruppen häufiger Gewaltver-
halten zeigen als die Deutschen.
Abbildung 8: Prävalenzraten des Gewaltverhaltens nach ethnischer Herkunft (in %; Quelle: KFN-Schüler-
befragungen)
22.1 21.9 20.3 20.3 20.1 19.3 18.6 18.2 18.0 16.9 16.7
14.2
11.5 10.7
9.4
6.3 8.3 6.8 6.8 7.6 8.0 6.3 5.7 4.5 6.0 4.3 3.3 2.6
0.0
5.0
10.0
15.0
20.0
25.0
ehem. Jugoslawien
Südeuropa
Türkei
Südamerika
Italien
Arabien/Nordafrika
Nordamerika
Osteuropa
ehem. SU
Afrika
Polen
Nord-/Westeuropa
Deutschland
Asien
mind. eine Gewalttat mind. fünf Gewalttaten
17
Um die Hintergründe der höheren Gewaltbelastung von Migrantinnen und Migranten zu untersuchen,
sind in Tabelle 2 auf Basis der deutschlandweiten Schülerbefragung 2007/2008 verschiedene Indika-
toren des sozio-ökonomischen Status sowie der kulturellen Orientierung für ausgewählte ethnische
Gruppen dargestellt (vgl. Baier 2015). Dabei ist eine ausgeprägte sozio-ökonomische Benachteiligung
der Migrantinnen und Migranten feststellbar. Während von allen deutschen Befragten nur 21,8 % eine
Förder- oder Hauptschule besuchen, sind es bei den türkischen Jugendlichen und Jugendlichen aus
Ländern des ehemaligen Jugoslawien doppelt so viele; umgekehrt stellt sich das Verhältnis beim
Gymnasialbesuch dar. Türkische Jugendliche sind zudem fast dreimal häufiger vom Bezug staatlicher
Transferleistungen betroffen. Hierunter wird gefasst, dass mindestens ein Elternteil arbeitslos ist oder
die Familie Sozialhilfe/Hartz IV erhält.
Gleichwohl ergeben sich bei kulturellen Variablen ebenfalls große Unterschiede. Alle Migrantengrup-
pen berichten mehr als doppelt so häufig davon, in der Kindheit schwere elterliche Gewalt erfahren zu
haben; d.h. sie wurden geschlagen, getreten oder verprügelt. Die Zustimmung zu Männlichkeitsnor-
men gemessen über Aussagen wie z.B. „Ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigungen
mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling“ ist nur für einen sehr kleinen Anteil der deutschen Be-
fragten festzustellen (2,7 %); bei den türkischen Jugendlichen und bei den Jugendlichen aus dem
ehemaligen Jugoslawien liegt der Anteil sechsmal so hoch.
Ebenfalls dargestellt sind verschiedene Indikatoren der Integration. Diese basieren auf einem Konzept
von Esser (2000), für den Integration nicht allein die sozio-ökonomische Komponente (strukturelle
Integration), sondern ebenso den Erwerb von Sprachkenntnissen (kulturelle Integration), die Aufnah-
me von interethnischen Freundschaftsbeziehungen (soziale Integration) und die emotionale Identifika-
tion (identifikative Integration) umfasst. Diese breitere Sichtweise der Integration erscheint sinnvoll, hat
allerdings den Nachteil, dass Vergleiche im Wesentlichen nur unter den Migrantengruppen möglich
sind. Diese belegen, dass die Gruppen unterschiedlich stark integriert sind. Jugendliche aus Ländern
der ehemaligen Sowjetunion weisen von den hier betrachteten Gruppen die stärkste Vernetzung mit
deutschen Jugendlichen auf (45,5 % aller Freunde haben eine deutsche Herkunft) und fühlen sich
auch am häufigsten als deutsch (52,1 %). Der Gesamt-Integrationswert, der eine Kombination aus
verschiedenen Integrationsindikatoren darstellt (vgl. Baier et al. 2010), liegt bei diesen Jugendlichen
bei 54,3 Punkten, bei den türkischen Jugendlichen dagegen nur bei 39,9 Punkten. Besonders niedrig
ist bei den türkischen Jugendlichen dabei die identifikative Integration ausgeprägt. Das unterschiedli-
che Ausmaß der Integration stellt eine Erklärung für die unterschiedlichen Gewaltraten der Migranten-
gruppen dar, insofern weitergehende Analysen belegen konnten, dass eine bessere Integration mit
niedrigerem Gewaltverhalten einher geht (Baier et al. 2010).
Tabelle 2: Indikatoren des Status, der Kultur und der Integration nach Migrantengruppe (in % bzw. Mittel-
wert; Quelle: KFN-Schülerbefragungen)
Deutschland Türkei ehem. SU ehem. Jugo-
slawien
sozio-
ökonomischer
Status
Besuch Förder-/Hauptschule
21.8
49.2
38.8
53.8
Besuch Gymnasium
33.4
12.8
18.3
15.5
Bezug staatl. Transferleistungen
10.2
28.2
20.9
23.1
Kultur schwere elterliche Gewalt in Kindheit 11.4 27.8 26.9 26.9
Zustimmung zu Männlichkeitsnormen 2.7 14.8 6.1 13.2
Integration
Anteil deutscher Freunde
-
32.5
45.5
41.4
Anteil sich als deutsch wahrnehmend
-
26.2
52.1
35.1
Integrationswert
-
39.9
54.3
47.7
18
Um zu prüfen, welche der vorgestellten Indikatoren für die höhere Gewaltbelastung verantwortlich ist,
sind in Tabelle 3 noch einmal die Gewaltprävalenzen der ausgewählten vier Gruppen abgetragen.
Zusätzlich werden diese unter Kontrolle verschiedener Merkmale dargestellt. Erkennbar ist, dass die
deutschen Befragten insgesamt eine signifikant niedrigere Gewalt- und Mehrfach-Gewaltprävalenz
haben als alle drei betrachteten Migrantengruppen. Dieses Bild ändert sich nur unwesentlich, wenn
der sozio-ökonomische Status konstant gehalten wird. Dies geschieht dadurch, dass in der entspre-
chenden Spalte die Prävalenzraten für jene Jugendlichen dargestellt sind, die eine mittlere Schulform
besuchen (Real- oder Gesamtschule) und deren Familien keine staatlichen Transferleistungen bezie-
hen. Auch unter in diesem Sinne vergleichbaren Umständen weisen die deutschen Befragten eine
signifikant niedrigere Gewaltprävalenz auf als die Migrantinnen und Migranten. Eine Ausnahme betrifft
die Mehrfach-Gewalttäterrate der Jugendlichen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion: Deren hö-
here Rate scheint primär sozio-ökonomisch bedingt.
Werden zusätzlich zum sozio-ökonomischen Status die kulturellen Orientierungen der Gruppen kon-
stant gehalten, verschwinden sämtliche Unterschiede zu den Deutschen. Verglichen werden also nur
Jugendliche im mittleren Bildungsgang ohne Transferbezug, die keine elterlichen Gewalterfahrungen
machen mussten und Männlichkeitsnormen ablehnen. Deutsche Jugendliche mit diesen Eigenschaf-
ten haben zu 6,5 % mindestens eine Gewalttat ausgeführt, türkische Jugendliche zu 5,2 %, Jugendli-
che aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu 5,8 %. Etwa größer fällt der Unterschied zu den
Jugendlichen aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien aus (11,3 %); dieser wird jedoch nicht mehr
als signifikant ausgewiesen. Die Betrachtung der Mehrfach-Gewalttäterraten belegt keinerlei größere
Unterschiede zwischen den Gruppen: Jugendliche mit den genannten Eigenschaften gehören sehr
selten zu den Mehrfach-Gewalttätern, unter deutschen ebenso wie unter anderen Jugendlichen.
Die Auswertungen legen damit nahe, dass es nicht allein die schlechtere sozio-ökonomische Situation
und die Bildungsbenachteiligung ist, die Migrantinnen und Migranten häufiger zu Gewaltverhalten
motiviert. Zu beachten sind vielmehr die kulturellen, auch religiös bedingten Unterschiede, die sich in
der Kindererziehung ebenso zeigen wie in der Wertschätzung gewaltaffiner Orientierungen. Inwieweit
die Unterschiede im kulturellen Bereich darauf zurückzuführen sind, dass diese aus den Herkunftslän-
dern 'importiert' oder aufgrund einer marginalisierten sozialen Lage neu konstruieren werden, bleibt
dabei unklar. In jedem Fall reicht es nicht aus, nur die Angleichung der sozialen Lage der Migrantin-
nen und Migranten zu fokussieren, wenn es Ziel ist, deren erhöhte Gewaltbereitschaft zu reduzieren.
Tabelle 3: Prävalenzraten des Gewaltverhaltens nach Migrantengruppe und Status bzw. kultureller Orien-
tierung (in %; Quelle: KFN-Schülerbefragungen)
mind. eine Gewalttat
mind. fünf Gewalttaten
insgesamt gleicher
Statusa
gleicher Status und
gleiche kulturelle
Orientierungen
b
insgesamt gleicher
Statusa
gleicher Status und
gleiche kulturelle
Orientierungen
b
Deutschland
11,5
12,0
6,5
3,3
3,3
1,2
Türkei
20,3
18,9
5,2
8,3
7,9
0,4
ehem. SU
18,0
16,3
5,8
5,7
3,8
0,0
ehem. Jugosla-
wien
22,1 21,4 11,3 9,4 7,8 1,4
Deutschland
unterscheidet
sich signifikant
bei p < .05 von
ehem. SU,
Türkei,
ehem.
Jugosla-
wien
ehem. SU,
Türkei, ehem.
Jugoslawien
- ehem. SU,
Türkei,
ehem.
Jugosla-
wien
Türkei, ehem.
Jugoslawien -
a kein Bezug staatl. Transferleistung, Besuch von Real- bzw. Gesamtschule
b kein Bezug staatl. Transferleistung, Besuch von Real- bzw. Gesamtschule, keine Erfahrung schwerer elterlicher Gewalt in der Kindheit, Ablehnung von Männlichkeits-
normen
19
Die Schülerbefragungen erlauben es ebenfalls, etwas über die Entwicklung der sexuellen Gewalt aus-
zusagen. Hierfür ist es aber notwendig, die Angaben darüber zu betrachten, ob man selbst Opfer ver-
schiedener Delikte geworden ist. Erfragt wurde nicht nur, ob man selbst Raubtaten oder Körperverlet-
zungen erlebt hat, sondern ebenfalls, ob man Opfer sexueller Übergriffe geworden ist („gegen Willen
mit Gewalt oder durch ernsthafte Androhung von Gewalt zu sexuellen Handlungen oder zur Duldung
von sexuellen Handlungen gezwungen“). Die Prävalenzraten liegen hier insgesamt sehr niedrig
(Tabelle 4). In der deutschlandweiten Repräsentativbefragung gaben 1,0 % der Jugendlichen an, min-
destens eine entsprechende Tat in den letzten zwölf Monaten erlebt zu haben; in den niedersachsen-
weiten Befragungen lagen die Raten mit 0,6 bzw. 0,7 % etwas niedriger. Im Vergleich der Jahre 2013
und 2015 deutet sich eine Stabilität der Opferraten an, wie das auch im Hellfeld der Fall ist. Die Kon-
stanz im Hellfeld kann daher nicht singulär auf das Anzeigeverhalten zurückgeführt werden. Jugendli-
che sind in gleichbleibender Häufigkeit sexuellen Übergriffen ausgesetzt insbesondere auch durch
Gleichaltrige, wie weiterführende Auswertungen belegen (Bergmann et al. 2017, S. 45); dies gilt zu-
sätzlich für den Bereich des Internets oder jugendlicher Intimbeziehungen. Die Viktimisierung Jugend-
licher mit sexueller Gewalt stellt daher eine zukünftige Herausforderung dar, auf die noch einmal ge-
sondert im vierten Abschnitt des Berichts eingegangen wird. Wie die in Tabelle 4 zusätzlich dargestell-
ten Opferprävalenzen zum Raub und zur Körperverletzung belegen, fallen die Entwicklungen schwä-
cher aus als wenn die Täterraten betrachtet werden (s.o.). Dies ist möglicherweise damit zu begrün-
den, dass sich die Täterraten auf eine Altersgruppe, nämlich die Neuntklässlerinnen und Neuntklässer
beziehen. Die Opferraten beziehen sich aber indirekt auch auf andere Altersgruppen: Jugendliche
werden nicht allein durch Gleichaltrige viktimisiert, sondern insbesondere auch durch ältere Personen.
Wenn sich deren Gewaltbereitschaft nicht in gleichem Maß senkt wie der der Neuntklässlerinnen und
Neuntklässler, dämpft dies den Rückgang der Opferraten.
Tabelle 4: Entwicklung der Gewalt-Opferraten (in %; Quelle: KFN Schülerbefragungen)
2007/2008
2013
2015
sexuelle Gewalt
1.0
0.6
0.7
Raub
4.8
3.3
2.9
Körperverletzung durch einzelne Person
11.1
8.7
8.2
Exemplarisch kann dies durch Daten der niedersachsenweiten Schülerbefragung 2015 aufgezeigt
werden (Bergmann et al. 2017, S. 44ff). In dieser zeigt sich, dass 56,7 % aller Gewaltopererfahrungen
von Täterinnen bzw. Tätern ausgeführt worden sind, die ein Alter zwischen 14 und 18 Jahren hatten.
Weitere 34,8 % der Täterinnen und Tätern sind 18 Jahre oder älter. Heranwachsende und Erwachse-
ne stellen mithin auch für Jugendliche eine relevante Tätergruppe dar, zu denen sich in der Polizeili-
chen Kriminalstatistik weniger starke Rückgänge der Tatverdächtigenbelastungszahlen gezeigt haben.
Wiederholt durchgeführte Dunkelfeldstudien zur selbstberichteten Gewalttäterschaft gibt es für diese
Altersgruppen in Deutschland bislang nicht.
Die Angaben der Opfer zu ihren Gewalterlebnissen beinhalten noch weitere interessante Erkenntnisse
(Bergmann et al. 2017, S. 44ff.). Wird bspw. der Ort betrachtet, an dem eine Gewalttat ausgeübt wur-
de, zeigt sich, dass etwa jede vierte Tat in der Schule (bzw. auf dem Schulweg) und ebenfalls etwa
jede vierte Tat zu Hause stattfinden. Weitere relevante Übergriffsorte sind in der Öffentlichkeit zu fin-
den, d.h. im öffentlichen Personennahverkehr (und dessen Haltestellen) bzw. auf Straßen, auf Plätzen
oder allgemein in der Stadt. Bieten Sportplätze oder Schwimmbäder, Discos bzw. Partys und sonstige
Orte (Stadien, Jugendzentren, öffentliche Feste, Spielplätze, Geschäfte) Gelegenheiten für Gewalt-
übergriffe im Jugendalter. Schwere Tatfolgen stellen dabei aber die Ausnahme dar: Bei etwa jeder
neunten Tat entsteht dem jugendlichen Opfer ein Schaden von ab 50 Euro. Bei etwa jeder sechsten
Tat muss eine ärztliche Behandlung erfolgen. Gewalt im Jugendalter spielt sich dabei vor allem unter
20
Personen ab, die sich kenne: In zwei Drittel der Fälle geben die Opfer von Gewaltübergriffen an, dass
der Täter bekannt ist.
Neben diesen Informationen werden die Opfer von Gewalttaten im Fragebogen ebenfalls gebeten,
mitzuteilen, ob das Erlebnis bei der Polizei angezeigt wurde. Darauf aufbauend lässt sich die Anzeige-
rate bei Gewaltdelikten bestimmen. Im Anhang in Tabelle A5 sind für die Gebiete mit Wiederholungs-
befragung die Anzeigeraten dargestellt. Werden diese wieder entlang der Jahre abgetragen und wird
pro Jahr wieder ein Durchschnittswert berechnet, so ergibt sich das in Abbildung 9 präsentierte Bild:
Die Anzeigerate bei Gewaltdelikten ist demnach zwischen 1998 und 2008 angestiegen, von durch-
schnittlich 19,3 auf 25,7 %. Dies bedeutet, dass immerhin etwa ein Drittel mehr Gewaltdelikte aus dem
Dunkelfeld ins Hellfeld gekommen sind. Allein eine solche Entwicklung würde zu einem Anstieg der
Gewaltkriminalität im Hellfeld führen, auch wenn es im Dunkelfeld gar keinen Anstieg, sondern, wie
gesehen, einen Rückgang der Gewalt gegeben hat. Nach 2008 sinkt die Anzeigerate wieder leicht.
Das Jahr 2011 ist ein deutlicher Ausreißer; zu beachten ist, dass hier nur eine Rate aus einem Gebiet
zur Verfügung steht, die an dieser Stelle nicht in die Mittelwertberechnung eingeht. Bei rückläufiger
Anzeigerate würde sich im Hellfeld bei sonst gleichem Verhalten ein Rückgang der Gewalt zeigen.
Dieser fällt aber deutlich stärker aus als der Rückgang der Anzeigerate. Zudem belegen die Befunde
aus dem Dunkelfeld, dass es neben dem Rückgang der Anzeigerate einen Rückgang des Gewaltver-
haltens gibt. Zugenommen zeigen sich dann die starken Rückgänge, die im Hellfeld seit 2007 zu be-
obachten sind. Neben diesen Befunden zur Entwicklung der Anzeigerate weist Abbildung 9 noch auf
einen anderen Befund hin: Nur etwa ein Fünftel, bestenfalls ein Viertel aller Delikte gelangt mittels
einer Anzeige ins Polizeiliche Hellfeld. Der Großteil der Jugendgewalt verbleibt, u.a. auch wegen der
allgemein geringeren Schwere (s.o.), im Dunkelfeld, was noch einmal die Notwendigkeit unterstreicht,
dieses Dunkelfeld mittels angemessener empirisch methodischer Verfahren zu untersuchen.
Abbildung 9: Entwicklung der Anzeigerate bei Gewaltdelikten seit 1998 (in %; Quelle: KFN-Schülerbefra-
gungen)
Die Anzeigerate variiert dabei, wie Auswertungen der Schülerbefragungen aus verschiedenen Jahren
immer wieder belegen konnten, mit täterbezogenen Merkmalen (Bergmann et al. 2017, S. 46f). Be-
kannte Täter werden bspw. deutlich seltener angezeigt als unbekannte Täter. Zudem zeigt sich, dass
deutsche Täter nur halb so häufig mit einer Anzeige rechnen müssen wie Täter mit Migrationshinter-
19.3 20.8
0.0
5.0
10.0
15.0
20.0
25.0
30.0
35.0
40.0
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
21
grund. In der niedersachsenweiten Schülerbefragung 2015 zeigt sich hierzu bspw. Folgendes: Die
geringste Anzeigerate ist zu beobachten, wenn ein deutsches Opfer auf einen deutschen Täter trifft
(13,0 %). In der Konstellation „deutsches Opfer Täter mit Migrationshintergrund“ liegt die Anzeigera-
te mit 27,2 % hingegen am höchsten. Dies ist zu beachten, wenn über die Kriminalitätsbelastung von
Nichtdeutschen im Hellfeld gesprochen wird. In Abschnitt 5 wird dieser Befund daher noch einmal
aufgegriffen und weiter ausgearbeitet.
Exkurs: Entwicklung der innerschulischen Gewalt
Um die Entwicklung der innerschulischen Gewalt darzustellen, kann auf zwei Quellen zurückgegriffen
werden: einerseits wiederum auf KFN-Schülerbefragungen, andererseits auf die Statistiken der Deut-
schen Gesetzlichen Unfallversicherung (früher: Bundesverband für Unfallkassen) zu so genannten
„Raufunfällen“ an Schulen, bei denen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden musste. Grund-
sätzlich handelt es sich bei diesen Statistiken ebenfalls um Hellfelddaten, da diese auf Meldungen der
Schulleiterinnen und Schulleiter zu jenen Vorkommnissen beruhen, bei denen es zu versicherungsre-
levanten Schäden durch Unfälle aufgrund tätlicher Auseinandersetzungen zwischen Schülerin-
nen/Schülern in der Schule oder auf dem Schulweg gekommen ist. Eine solche Meldung ist allerdings
eine versicherungsrechtliche Obliegenheit, deren Nichterfüllung für die betreffende Schule Schadens-
ersatzpflichten nach sich ziehen kann. Deshalb ist zu vermuten, dass entsprechende Vorfälle weitest-
gehend vollständig gemeldet werden, das Dunkelfeld mithin klein ist. Die Daten über derartige „Rauf-
unfälle“ erscheinen damit als ein valider Indikator zur Beurteilung der Entwicklung der Gewalt an
Schulen.
In Abbildung 10 ist die Längsschnittentwicklung solcher „Raufunfälle“ für den Zeitraum 1998 bis 2015
dargestellt. Danach hat die Häufigkeit von „Raufunfällen“ je 1.000 versicherte/r Schüler/innen vom
Höchstwert im Jahr 1999 (14,9) bis 2015 (8,7) um 41,7 % abgenommen. Ein guter Indikator möglicher
qualitativer Veränderungen ist daneben die Entwicklung der Häufigkeit der tätlichen Auseinanderset-
zungen unter Schülerinnen/Schülern, die mit Frakturen auf Seiten eines der Beteiligten geendet ha-
ben. Die entsprechenden Daten zeigen, dass von einer Zunahme der Brutalität nicht die Rede sein
kann. Im Gegenteil: Zwischen 1999 und 2016 ging die Zahl der Übergriffe mit Frakturen (z.B. Nasen-
beinbrüche, Rippenbrüche) von 1,3 auf 0,6 pro 1.000 Schüler/innen um über die Hälfte zurück. Die
Dynamik der Entwicklung hat sich aber in den letzten Jahren abgeschwächt. Für die „Raufunfälle“
allgemein ergeben sich seit 2009 keine starken Veränderungen mehr, für die „Raufunfälle“, die in
Frakturen geendet haben, seit 2008.
Die Befunde aus Schülerbefragungen stimmen mit diesem Befund überein: Die Schulgewalt geht zu-
rück, allerdings schwächer als das Gewaltverhalten allgemein. Dies lässt sich unter Rückgriff auf ei-
nen Vergleich einer deutschlandweiten Schülerbefragung mit 44.610 Neuntklässlerinnen und Neunt-
klässlern aus den Jahren 2007/2008 (Baier et al. 2009) und zwei niedersachsenweiten Schülerbefra-
gungen unter jeweils ca. 10.000 Jugendlichen dieser Altersgruppe aus den Jahren 2013 und 2015
(Bergmann et al. 2017) aufzeigen (Abbildung 11). In allen drei Erhebungsjahren wurden u.a. drei For-
men von Opfererfahrungen in abgefragt: 1. Physische Gewalt („Ich wurde von anderen Schülerin-
nen/Schülern absichtlich geschlagen oder getreten“ bzw. „Andere Schüler/innen haben mich erpresst
und gezwungen, Geld oder Sachen herzugeben“), 2. Verbale Gewalt („Andere Schüler/innen haben
mich gehänselt oder hässliche Dinge über mich gesagt“) und 3. Relationale Aggression („Ich wurde
aus gemeinsamen Unternehmungen ausgeschlossen, weil das andere Schüler gewollt haben“ und
Andere Schüler/innen haben mich wie Luft behandelt und absichtlich nicht mehr beachtet“). Erfasst
wurden damit nicht allein körperliche Übergriffe, sondern aggressive Verhaltensweisen, die eine
sprachliche Herabsetzung beinhalten oder auf den sozialen Ausschluss zielen. Die Schüler/innen
22
sollten sich bei ihren Antworten jeweils auf das letzte Schulhalbjahr beziehen. Unterschieden wird
zwischen seltenen Opfererfahrungen (bis höchstens 6mal im letzten Schulhalbjahr) und häufigen Op-
fererfahrungen (mindestens mehrmals pro Monat).
Abbildung 10: Entwicklung von Schulen gemeldeter „Raufunfälle“/Frakturen infolge von Raufereien je
1.000 versicherte Schüler 1993 bis 2015 (Quelle: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung)
Wird die physische Gewalt betrachtet, so zeigt sich, dass die Gesamt-Opferrate von 21,4 auf 17,2 %
zurückgegangen ist. Der Anteil an Opfern mit häufigen Opfererfahrungen hat sich von 2,3 auf 1,3 %
reduziert. Auch bei der verbalen Gewalt ist ein Rückgang erkennbar: Während 2007/2008 noch insge-
samt 43,9 % der Schüler/innen vom mindestens einmaligen Erleben eines verbalen Übergriffs berich-
teten, waren es 2015 noch 37,1 %. Bei der relationalen Aggression ergibt sich demgegenüber ein
leichter Anstieg von 24,2 auf 25,2 %. Denkbar ist, dass es sich um einen wahren Anstieg dieser Ag-
gressionsform handelt. Möglich ist aber ebenso, dass das Bewusstsein unter Jugendlichen für dieses
Verhalten (und dessen Einstufung als aggressives Verhalten) zunimmt.
Abbildung 11: Entwicklung des Anteils an Schülern, die Opfer verschiedener Übergriffe in der Schule im
letzten Schulhalbjahr geworden sind (in %; Quelle: KFN-Schülerbefragungen)
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Raufunfälle 14.4 14.9 14.3 13.2 13.2 11.3 11.6 10.9 10.5 10.8 11.2 9.3 9.7 9.7 8.7 8.7 9.6 8.7
Frakturen 1.2 1.3 1.2 1.2 1.1 1.0 1.2 0.9 0.9 0.9 0.8 0.8 0.7 0.7 0.7 0.7 0.6 0.6
0.0
0.4
0.8
1.2
1.6
2.0
2.4
0.0
2.0
4.0
6.0
8.0
10.0
12.0
14.0
16.0
19.1 16.7 15.9
35.7 31.9 30.9
21.0 20.8 21.8
2.3 2.0 1.3
8.2
6.7 6.2
3.2 3.2 3.4
0.0
5.0
10.0
15.0
20.0
25.0
30.0
35.0
40.0
45.0
50.0
2007/2008 2013 2015 2007/2008 2013 2015 2007/2008 2013 2015
physische Gewalt verbale Gewalt relationale Aggression
1- bis 6-mal mindestens mehrmals pro Monat
23
Inwieweit sich Jungen und Mädchen hinsichtlich des Erlebens von Schulgewalt unterscheiden, ist in
Tabelle 5 dargestellt. Dabei wird sich auf die am kürzesten zurückliegende, niedersachsenweit reprä-
sentative Befragung aus dem Jahr 2015 bezogen; dargestellt werden die Anteile an Schülerinnen
bzw. Schülern, die berichtet haben, dass sie häufig (also mindestens mehrmals pro Monat) ein Verhal-
ten erlebt haben (vgl. auch Baier/Bergmann 2016). Jungen sind demnach häufiger Opfer von (häufi-
ger) physischer Gewalt als Mädchen. Mädchen berichten stattdessen häufiger davon, verbale Gewalt,
insbesondere aber relationale Aggressionen, zu erleben. Insofern wird damit die Auffassung gestützt,
dass Mädchen nicht generell weniger Aggressionen durch Gleichaltrige ausgesetzt sind wie Jungen.
Stattdessen erreich das Aggressionserleben ein etwa gleiches Ausmaß, nimmt aber andere Formen
an wie bei Jungen.
Zusätzlich dargestellt sind die Raten häufiger Opfer getrennt nach Schulform und Herkunft. Als
„deutsch“ gelten Befragte, die selbst in Deutschland geboren wurden und die die deutsche Staatsan-
gehörigkeit besitzen und für deren leibliche Eltern beides zutrifft. Der Vergleich der Schulformen ergibt
folgendes Bild: An Förder-/Hauptschulen liegt die Opferrate bei den Delikten der physischen und der
verbalen Gewalt höher als an Gymnasien. Bei der relationalen Aggression lassen sich hingegen keine
Schulformunterschiede feststellen. Insofern gibt es auch an Gymnasien durchaus aggressives Verhal-
ten; dieses bezieht sich aber eher auf indirekte Aggressionsformen. Zwischen einheimischen Deut-
schen und Migrantinnen und Migranten ergeben sich nahezu keine Unterschiede in den Opferraten.
Tabelle 5: Anteil Schüler, die häufig Opfer verschiedener Übergriffe in der Schule im letzten Schulhalbjahr
geworden sind, nach verschiedenen Merkmalen (in %; Quelle: KFN-Schülerbefragungen)
Geschlecht
Schulform
Herkunft
männlich
weiblich
FS/HS
RS/GS/OS
Gym
deutsch
Migrant/in
physische Gewalt
2.4
0.3
1.7
1.5
0.9
1.3
1.5
verbale Gewalt
5.5
6.9
7.7
6.4
5.5
6.2
6.3
relationale Aggression
2.2
4.6
3.2
3.5
3.2
3.2
4.0
FS/HS = Förder-/Hauptschule, RS/GS/OS = Real-/Gesamt-/Oberschule, Gym = Gymnasium
Nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrkräfte können Opfer von Gewalt werden. In
den niedersachsenweiten Schülerbefragungen 2013 und 2015 (vgl. Bergmann et al. 2017, S. 65ff)
wurden deshalb auch die Lehrkräfte gebeten, einen Fragebogen auszufüllen und ihre Opfererfahrun-
gen zu berichten. Tabelle 6 stellt dar, wie häufig die befragten Lehrkräfte angegeben haben, verschie-
dene Übergriffe im Schulbereich oder außerhalb der Schule im letzten Schulhalbjahr erlebt zu haben.
Tabelle 6: Lehrkräfte als Opfer von physischer Gewalt (in %; Quelle: KFN-Schülerbefragungen).
im Schulbereich außerhalb der Schule
2013 2015 2013 2015
Mir wurde von einem/mehreren Schüle/n Gewalt
angedroht 3.1 4.3 0.7 1.1
Ich bekam von einem/mehreren Schüler/n einen
Drohbrief 0.7 0.0 0.5 0.6
Ich wurde von einem /mehreren Schüler/n mit einer
Waffe bedroht (z.B. Messer) 0.2 0.4 0.0 0.0
Ein/ mehrere Schüler hat/haben mich geschlagen 0.0 0.4 0.0 0.0
Ich wurde von einem/mehreren Schüler/n sexuell
belästigt 0.4 1.2 0.0 0.0
Dabei zeigt sich, dass es eine Ausnahme für Lehrkräfte ist, in der Schule von Schülerinnen bzw.
Schülern körperlich angegriffen oder bedroht zu werden. So berichten nur 3,1 % (2013) bzw. 4,3 %
24
(2015), dass Ihnen Gewalt angedroht wurde; insgesamt nur 0,7 % der Lehrkräfte gaben 2013 an, im
letzten Schulhalbjahr einen Drohbrief bekommen zu haben, 2015 berichtete dies keine Lehrkraft. Kör-
perliche Angriffe durch Schüler/innen wurden 2013 von keiner der befragten Lehrkräfte berichtet, 2015
von 0,4 %. Auch außerhalb der Schule sind körperliche Übergriffe oder Bedrohung seitens der Schü-
ler sehr selten. Im Vergleich der Jahre 2013 und 2015 zeigen sich z.T. leichte Anstiege der Prävalenz-
raten. Aufgrund des insgesamt sehr niedrigen Niveaus sollte allerdings davon abgesehen werden,
dies als einen Trend ansteigender Gewalt gegen Lehrkräfte zu interpretieren.
2.3 Spezifische Viktimisierungsformen
Nachfolgend werden in Bezug auf zwei Erwachsenen-Dunkelfeldbefragungen des KFN Entwicklungs-
trends zu drei spezifischen Viktimisierungsformen vorgestellt: sexueller Kindesmissbrauch, sexuelle
Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt gegen Frauen. Die zugrundeliegenden Befragungen wur-
den 1992 und 2011 durchgeführt. Sie decken damit zwar nicht exakt den bisher fokussierten Zeitraum
von 1998 bis 2016 ab. Dennoch machen sie einen Vergleich von Viktimisierungsraten über einen 20-
Jahre-Zeitraum hinweg möglich, was in dieser Form einmalig ist (vgl. Hellmann 2014; Stadler et al.
2012). Eine weitere, vergleichbare Befragung nach 2011 wurde bislang noch nicht durchgeführt.
Im Jahr 2011 wurden im Auftrag des Bundesministerium für Bildung und Forschung 11.428 Personen
(hiervon 9.162 deutsche Personen ohne Migrationshintergrund) im Altersbereich von 16 bis 40 Jahren
retrospektiv zu eigenen Viktimisierungserfahrungen befragt (vgl. Hellmann 2014, Stadler et al. 2012).
Dieses Forschungsvorhaben erlaubt neben der Ermittlung aktueller und repräsentativer Prävalenzen
auch einen Einblick in die zeitliche Entwicklung unterschiedlicher Phänomene. Hierzu wurde diese
Studie weitgehend parallel zu einer bereits 1992 durchgeführten KFN-Untersuchung konzipiert. Bei-
den repräsentativen Datenerhebungen lag folgendes Untersuchungsdesign zugrunde: Nach einem
vorgeschalteten persönlichen Interview („Face-to-Face-Interview“) wurde dem/der Untersuchungsteil-
nehmer/in ein Fragebogen überreicht, der von diesem/r anschließend in Abwesenheit des/der Inter-
viewers/in selbstständig und anonym ausgefüllt wurde. Hierbei ging es um sehr sensible Fragenkom-
plexe zu innerfamiliären physischen und sexuellen Opfererfahrungen im Kindes- und Erwachsenenal-
ter unter Einschluss innerfamiliärer Vorfälle. Der Einsatz eines solchen Drop-off-Fragebogens hatte
sich in der Studie des Jahres 1992 im Hinblick auf die Mitteilungs- und Teilnahmebereitschaft bewährt
und wurde deshalb 2011 wiederholt (vgl. Wetzels et al. 1995, Wetzels/Pfeiffer, 1997).
2.3.1 Sexueller Kindesmissbrauch
Auf Basis der Studienergebnisse aus 2011 zeigt sich, dass deutsche Befragte beim sexuellen Kin-
desmissbrauch (bis einschließlich 16. Lebensjahr) eine Lebenszeitprävalenz (mindestens einmal im
Leben einen Übergriff erfahren) von 6,2 % aufweisen (mit und ohne Körperkontakt); wird nur der
Missbrauch mit Körperkontakt betrachtet, liegt die Rate bei 4,4 % (Hellmann 2014, S.103). Neben
einem ausgeprägten Geschlechtereffekt Frauen sind etwa sechs Mal häufiger von sexuellem Kin-
desmissbrauch betroffen als Männer (Hellmann 2014, S. 103ff.) zeigt sich zudem, dass Befragte
unterschiedlicher Alterskohorten deutlich abweichende Viktimisierungshäufigkeiten berichten: So ver-
ringert sich das Opferrisiko sexueller Missbrauchserfahrung mit Körperkontakt von 9,5 % für die 31-
bis 40jährigen Frauen (ältestes unterscheidbare Kohorte) auf 3,0 % für die 16- bis 20-jährigen Frauen
bzw. von 1,8 % für die männlichen 31- bis 40-jährigen auf 0,9 % für die 16- bis 20-jährigen Männer
(Hellmann 2014, S.104).
25
Ein Vergleich der Befragungsergebnisse 2011 und der Befragungsergebnisse 1992 steht im Einklang
mit diesem Befund: So verringert sich die Quote der Frauen mit Missbrauchserfahrung mit Körperkon-
takt im Verlauf der 19 Jahre von 9,6 % auf 7,4 %, die der Männer von 3,2 % auf 1,5 % (vgl. Stadler et
al. 2012, S. 32). Wenn man ergänzend erneut die Daten der drei Altersgruppen des Jahres 2011 her-
anzieht, zeigt sich, dass sich dieser Rückgang besonders ausgeprägt in der Gruppe der 16- bis 20-
jährigen zeigt (6,5 % in 1992 zu 1,8 % in 2011; Rückgang um 75,0 %) und sich dann für die folgenden
Altersgruppen der 21- bis 30-jährigen (5,9 % in 1992 auf 4,2 % in 2011; Rückgang um 31,8 %) und
der 31- bis 40-jährigen (7,0 % in 1992 zu 5,7 % in 2011) abschwächt (vgl. Stadler et al. 2012, S. 33).
Somit führen die beiden methodischen Zugangswege (Altersgruppenvergleich und Kohortenvergleich)
zu derselben Erkenntnis: Der sexuelle Missbrauch hat seit 1992 deutlich abgenommen und es gilt,
dass diese Veränderung umso stärker ausfällt, je jünger die Befragten sind.
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik erreichte die Häufigkeit angezeigter Fälle des sexuellen Kindes-
missbrauchs im Jahr 1997 mit 16.888 Fällen ihren Höchststand (1998: 16.596 Fälle; vgl. Tabelle A1
im Anhang). Für 2016 werden 12.019 Fälle berichtet. Somit kann ein Rückgang der angezeigten Fälle
des sexuellen Kindesmissbrauchs um mehr als ein Viertel vorgefunden werden (vgl. auch Abbildung
2). Dabei erscheint es wesentlich, die Frage zu stellen, ob die Abnahme der polizeilich registrierten
Missbrauchsfälle eine Folge davon ist, dass die Opfer den Gang zur Polizei immer seltener antreten.
Auf Basis der Opferbefragung aus den Jahren 1992 und 2011 kann demgegenüber belegt werden,
dass für diesen Zeitraum ein deutlicher Anstieg der Anzeigebereitschaft existiert (Wetzels et al. 1995,
Wetzels/Pfeiffer 1997, Wetzels 1997, Stadler et al. 2012, Stadler et al. 2012a): So hat sich die Anzei-
gequote im Verlauf der Jahre für die schweren Fälle des sexuellen Missbrauchs (mit Körperkontakt)
fast verdoppelt hat (Zunahme von 7,4 auf 14,0 %). Ferner wurde zu beiden Datenerhebungen für drei
Altersgruppen eine ergänzende Analyse durchgeführt. Auch sie belegt einen deutlichen Anstieg der
Anzeigequote, der umso stärker ausfällt, je jünger die Befragten sind: Bei den 16- bis 20-jährigen hat
die Anzeigequote um 34,6 % zugenommen, bei den 21- bis 30-jährigen um 17,9 %, bei den 31- bis
40-jährigen um 9,0 %.
Diese Zunahme der Anzeigebereitschaft überrascht nicht, weil zu vermuten ist, dass es den jungen
Menschen heute erheblich leichter fällt, über schwierige Fragen der Sexualität zu sprechen als noch
vor 20 Jahren. Vor allem dürfte aber die positive Entwicklung damit zusammenhängen, dass die Zahl
der Menschen und Organisationen angestiegen ist, die mit ihrer engagierten Opferbetreuung den von
sexueller Gewalt Betroffenen zunehmend Mut gemacht haben, die Täter anzuzeigen. Somit kann der
positive Trend aus den Dunkelfelduntersuchungen in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur teilweise
abgebildet werden, da die positive Entwicklung durch die parallel laufende Zunahme der Anzeigebe-
reitschaft in abgeschwächter Form dargestellt wird.
In einer weiteren Vergleichsanalyse der beiden Opferbefragungen haben Stadler et al. (2012) zwei
Entwicklungen zur Erklärung des Missbrauchsrückgangs untersucht. Zum einen beziehen sie sich auf
eine Erkenntnis, die bereits aus den Daten der Opferbefragung des Jahres 1992 abgeleitet wurde:
Kinder, die in einem sehr konflikthaltigen Familienklima aufwachsen, haben im Vergleich zu solchen,
die gewaltfrei und liebevoll erzogen werden, ein drei- bis viermal so hohes Risiko, innerhalb oder au-
ßerhalb der Familie missbraucht zu werden. Der Anteil von Problemfamilien, in denen Kinder geschla-
gen werden und wenig Zuwendung erhalten, ist aber in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre
stark zurückgegangen (siehe Abschnitt 3.2). Zum anderen sehen Stadler et al. (2012) als eine Ursa-
che für das Sinken des Missbrauchsrisikos die seit Anfang der 1990er Jahre besonders von den in der
Opferbetreuung aktiven Gruppen, Individuen und Verbänden geleistete Sensibilisierung für die Leiden
der Missbrauchsopfer und die damit verbundene, wachsende gesellschaftliche Ächtung aller Formen
des sexuellen Missbrauchs. Hinzu kommen die von diesen Akteurinnen und Akteuren ebenso wie von
kommunalen und staatlichen Einrichtungen auf den Weg gebrachten Präventionsbemühungen.
26
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass entgegen den Eindrücken der medialen Berichterstat-
tung die Häufigkeit des sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik rückläufig ist. Legt man
die Zahlen der KFN-Opferbefragung zugrunde, ergibt sich für die gegenwärtig in Deutschland leben-
den Kinder und Jugendlichen ein Schätzwert von etwa 185.000 unter 16-jährigen betroffenen Miss-
brauchsopfern diese Schätzung basiert auf der Prävalenz der Gruppe 16- bis 20-jährigen aus der
KFN-Opferbefragung des Jahres 2011 (1,8 %; vgl. Stadler et al., 2012); dieser Wert liegt deutlich un-
ter anderen Schätzungen, welche teilweise prominent in den Medien zirkulieren. Verwiesen wird u.a.
auf eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO, die im Jahre 2012 für die europäische Region
eine durchschnittliche Opferrate von 9,6 % (sexueller Missbrauch mit und ohne Körperkontakt) ermit-
telt hatte. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass der WHO-Studie keine für Europa reprä-
sentative Stichprobe zugrunde lag. Es handelt sich also lediglich um eine grobe Schätzung. Sie beruh-
te auf teilweise veralteten und nur in wenigen Ländern realisierten Datenerhebungen, die zudem me-
thodisch sehr unterschiedlich durchgeführt worden waren. Es wird deshalb empfohlen, sich bei derar-
tigen Schätzungen stattdessen an den Befunden der oben zitierten, 2011 durchgeführten Repräsenta-
tivbefragung zu orientieren, die es zudem ermöglicht, für eine solche Schätzung die Prävalenzrate der
16- bis 20-jährigen zugrunde zu legen.
Allerdings sollte das bisher Erreichte keinen Anlass bieten, sich auf den Erfolgen auszuruhen. Viel-
mehr kann aus diesen Zahlen der Ansporn abgeleitet werden, die Präventionsbemühungen weiter zu
verstärken. Denn eines bleibt im Hinblick auf die sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendli-
chen unbestritten: Auch wenn man nicht eine Million, sondern die Zahl von ca. 185.000 missbrauchten
Kindern und Jugendlichen zugrunde legt, besteht nicht der geringste Anlass, in den Anstrengungen
zur Bekämpfung solcher Taten und zur verbesserten Betreuung der Opfer nachzulassen. Im Gegen-
teil: Angesichts der hohen und langanhaltenden Belastung, die der sexuelle Missbrauch für die Opfer
bedeutet, sollten wir in den Schutz vor sexueller Gewalt noch mehr als bisher investieren.
2.3.2 Sexuelle Gewalt gegen Frauen
Das Strafgesetzbuch subsumiert unter § 177 Abs. 2, 3 und 4 den Straftatbestand Vergewaltigung und
sexuelle Nötigung sowie unter § 178 den Straftatbestand Vergewaltigung und sexuelle Nötigung mit
Todesfolge. Neben den körperlichen Folgeerscheinungen durch solche sexuellen Übergriffe durch
Unbekannte, Partner oder Angehörige erscheinen auch die seelischen Verletzungen in Folge einer
Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung von erheblichem Ausmaß. So geht aus einer US-
amerikanischen Untersuchung (Kessler 1995) aus den frühen 1990er Jahren hervor, dass in Folge
sexueller Nötigung etwa jede Fünfte, in Folge einer Vergewaltigung mehr als jede zweite Betroffene
solche Belastungen aufweist, die den diagnostischen Kriterien einer Posttraumatischen Belastungs-
störung zuzurechnen sind. Auch können sich im Zuge solcher Ereignisse andere psychische Symp-
tome zeigen, die vor allem den affektiven Störungsbildern (vor allem Depression) sowie den phobi-
schen Störungsbildern (vor allem Ängste und Panikstörungen) zuzuordnen sind (Campbell et al. 2007,
Kliem et al. 2015,Perkonigg et al. 2000, Price/van Stolk-Cooke 2015, Silove et al. 1997). Entspre-
chend können solche Erlebnisse einen weitreichenden Einfluss auf die künftige Lebensgestaltung und
Lebensqualität ausüben (z. B. Whitelock et al. 2013).
Auf Basis der KFN-Dunkelfeldbefragungen aus den Jahren 1992 und 2011 kann die Veränderung der
Prävalenz sexueller Gewalt gegen Frauen näher untersucht werden; hierfür kann auf N = 4.778 weib-
liche Befragte zwischen 16 und 40 Jahren ohne Migrationshintergrund aus dem Jahr 2011 und eine
entsprechend strukturierte Stichprobe von N = 1.073 Frauen aus dem Jahr 1992 zurückgegriffen wer-
den (Hellmann 2014). Während im Jahr 1992 noch 4,9 % der befragten Frauen die Frage „Hat Sie
27
innerhalb der letzten 5 Jahre jemand mit körperlicher Gewalt oder unter Androhung von Gewalt gegen
Ihren Willen zum Beischlaf (Geschlechtsverkehr) oder beischlafähnlichen Handlungen gezwungen
oder versucht, das zu tun?“ positiv beantworteten, waren dies im Jahr 2011 noch 2,5 % der befragten
Frauen, was einem Rückgang um fast die Hälfte entspricht. Werden die erfassten sexuellen Gewalter-
fahrungen in die Kategorien innerhalb von Haushalt und Familie(Täterkategorien: Ehepartner, nicht-
eheliche Partner, Ex-Partner, andere Haushaltsmitglieder) und außerhalb von Haushalt und Familie
(Täterkategorien: flüchtig bekannte Personen, bekannte Personen außerhalb des eigenen Haushalts,
unbekannte Personen) aufgeteilt, zeigt sich für beide Kategorien im Vergleich der Jahre 1992 (inner-
halb: 2,31 %; außerhalb: 1,65 %) und 2011 (innerhalb: 1,60 %; Außerhalb: 0,79 %) ein Rückgang
(Fälle außerhalb von Haushalt und Familie: -65,9 %; Fälle innerhalb von Haushalt und Familie: -48,2
%; vgl. Hellmann/Pfeiffer 2015, S. 532). Für eine Subgruppe lagen sowohl Viktimisierungserfahrungen
innerhalb und außerhalb von Haushalt und Familie vor. Für diese Subgruppe verringert sich die 5-
Jahresprävalenz von 0,99 auf 0,11 % (vgl. Hellmann/Pfeiffer 2015, S. 532).
Vergleicht man diese Dunkelfeldbefunde mit den polizeilich registrierten Straftaten, zeigt sich ein an-
deres Bild: So nimmt insbesondere für die Altersgruppen der 14- bis unter 18-jährigen und der 18- bis
unter 21-jährigen die Anzahl polizeilich registrierter Straftaten zu (Abbildung 12). Diese Hellfeld-
Dunkelfeld-Diskrepanz lässt sich teilweise, aber nicht vollständig durch den Einbezug der ehelichen
Vergewaltigung in den Straftatbestand des § 177 StGB aus dem Jahr 1997 erklären. Zeitgleich er-
scheint aber auch eine erhöhte Anzeigebereitschaft der Betroffenen (insbesondere was Fälle inner-
halb von Haushalt und Familie betrifft) als mögliche Ursache denkbar (vgl. Hellmann/Pfeiffer 2015,
Stadler et al. 2012). Es soll aber an dieser Stelle angeführt werden, dass ein Anstieg der Anzeigequo-
te nicht bedeutet, dass tatsächlich die Mehrheit der begangenen Straftaten zu Anzeige gebracht r-
de. Die Dunkelfeldbefragung aus dem Jahr 2011 zeichnet hier ein gänzlich anderes Bild: Nur 12,1 %
der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen bringen nach eigenen Angaben die Tat zur Anzeige;
weitere 3,5 % der Fälle werden durch Familienangehörige oder Freundinnen zur Anzeige gebracht
(vgl. Hellmann 2014, S. 148). Hierbei scheint insbesondere die Gruppe der 16- bis 20-jährigen Be-
troffenen vor einer Anzeige zurückzuschrecken: Lediglich 3,4 % der Betroffenen zeigen die sexuelle
Gewaltviktimisierung an (vgl. Hellmann 2014, S. 148). Befragt man die betroffenen Frauen nach den
Gründen, weshalb die sexuelle Gewaltviktimisierung nicht zur Anzeige gebracht wird, zeigen sich als
zentrale Gründe über alle Altersstufen hinweg Schamgefühle (Fragewortlaut: „weil mir die Sache
peinlich war“; 53,1 %) sowie „Angst vor einem Strafverfahren“ (22,9 %) und fehlender Glaube an die
Polizeiarbeit („die Polizei kann nichts ausrichten“; 15,6 %), die die Betroffenen von einer Anzeigeer-
stattung abhalten (vgl. Hellmann 2014, S. 152).
28
Abbildung 12: Entwicklung der Opferziffern für weibliche Opfer für Vergewaltigung/sex. Nötigung in der
Bundesrepublik Deutschland nach Altersgruppen
Eine bundesweite Analyse zur Strafverfolgung der Vergewaltigung zeigt zudem einen Trend: Vor 20
Jahren erlebten 21,6 % der eine Anzeige erstattenden Frauen die Verurteilung des Täters, 2013 wa-
ren es nur noch 8,1 % (vgl. Hellmann/Pfeiffer 2015, S. 535). Die Hintergründe dieses Trends sind
noch weiter zu eruieren. Zu beachten ist allerdings, dass sich für die betroffenen Frauen im Falle von
fehlerhaften Freisprüchen ein Risiko der sekundären Viktimisierung ergibt, da sie zum einen in ihrem
sozialen Umfeld womöglich der Falschaussage bezichtigt werden (insbesondere bei Tätern aus dem
Freundeskreis oder der Familie); zum anderen orientiert sich die Entscheidung der für die Opferent-
schädigung zuständigen Behörden, einer Frau nach einer Vergewaltigungsanzeige beispielsweise
eine Traumatherapie zu finanzieren, faktisch am Ausgang eines Strafverfahrens (vgl. Hell-
mann/Pfeiffer 2015).
2.3.3 Häusliche Gewalt gegen Frauen
Häusliche Gewalt gegen Frauen erscheint international (vgl. Müller/Schröttle 2004) sowie in der Bun-
desrepublik (Garcia-Moreno et al. 2006) als gesellschaftliches Problemfeld mit ausgeprägter Prä-
valenz und Reichweite. In Abhängigkeit von Intensität und Frequenz können neben den körperlichen
Folgeescheinungen auch Zusammenhänge zwischen häuslicher Gewalt und verschiedenen psychi-
schen Störungsbildern (wie affektiven Störungen, Angststörungen, der Posttraumatischen Belas-
tungsstörung (PTSD) sowie Schlaf- und Essstörungen) vorgefunden werden. Neben den individuellen
Folgen versuracht häusliche Gewalt auch ausgeprägte volkswirtschaftliche Belastungen: So werden
alleine für die USA jährliche Kosten in Höhe von etwa 7,4 Milliarden US -Dollar als direkte (medizini-
sche Versorgungskosten) und indirekte (Produktivitätsverlust, psychiatrische und psychotherapeuti-
sche Versorgung) Folge von häuslicher Gewalt geschätzt (National Center for Injury Prevention and
Control 2003). Neben den negativen Auswirkungen der häuslichen Gewalt für die betroffenen Frauen
sind häufig innerhalb der Familie auch Kinder durch indirektes (Zeugenschaft) oder direktes psychi-
sches oder physisches Gewalterleben mitbetroffen (z.B. Appel/Holden 1998, Bourassa 2007, Osofsky
2003). Dementsprechend wurden in der Vergangenheit auch immer wieder Forderungen formuliert,
0.0
20.0
40.0
60.0
80.0
100.0
120.0
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
14-18 Jahre 18-21 Jahre 21-60 Jahre
29
Maßnahmen zu ergreifen, um die Betroffenen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen (z. B. Black
et al. 2011, Fox et al. 2009, Hossain et al. 2014, Jewkes 2002).
Zum 1. Januar 2002 ist das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) als Teil des „Gesetzes zur Verbesserung
des zivilrechtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Über-
lassung der Ehewohnung bei Trennung“ in der Bundesrepublik in Kraft getreten. Durch dieses Gesetz
sollten zum einen die Rechte der Betroffenen gestärkt sowie zum anderen den Strafverfolgungsbe-
hörden mehr Möglichkeiten eingeräumt werden, um gegen häusliche Gewalt vorzugehen. Betroffene
haben hierdurch beispielsweise die Möglichkeit, einen Antrag auf Überlassung der gemeinsam ge-
nutzten Wohnung, auf Betretungsverbot, Annäherungsverbot und Kontaktverbot gegenüber dem Tä-
ter/der Täterin zu stellen. Die Polizei kann dieses zivilrechtliche Instrumentarium durch eine Wegwei-
sung aus der Wohnung ergänzen.
Dieser sinnvolle gesetzgeberische Schritt stellt dabei die Validität der erfassten Gewaltviktimisierun-
gen aus der Perspektive des Hellfeldes (PKS) in Frage. Zwar kann auf Basis der PKS-Daten zu Ge-
walttaten durch Täter der Beziehungskategorien „Verwandtschaft“ ein Anstieg der häuslichen Gewalt
festgestellt werden: So zeigt sich, dass vollendete Körperverletzung durch „Verwandtschaft“ seit dem
Jahr 1997 von etwa 38.500 erfassten Fällen über 71.200 Fälle (2003) auf etwa 130.000 Fälle im Ver-
gleichsjahr 2012 zugenommen haben (Stand 2015: 147.800 Fälle). Werden diese Zahlen differenziert
nach einer vorliegenden partnerschaftlichen Beziehung betrachtet, kann auch für die Jahre 2012
(100.787 weibliche Betroffene; Bundeskriminalamt 2015, S. 13) bis 2016 (108.956 weibliche Betroffe-
ne; Bundeskriminalamt 2016, S. 5) ein solcher Anstieg der erfassten Fälle im Hellfeld nachgezeichnet
werden. Bei Vergegenwärtigung dieser Zahlen sollte nicht vernachlässigt werden, dass aus einem
Anstieg der registrierten Fälle partnerschaftlicher Gewalt im Hellfeld nicht automatisch auf einen tat-
sächlichen Anstieg dieser Delikte geschlossen werden darf. Hellfeldzahlen unterliegen verschiedenen
und über die Zeit variierenden Fehlerquellen (z.B. Anzeigeverhalten der Betroffenen und der Bevölke-
rung, Kontrollverhalten der Polizei), welche die ermittelten Fallzahlen verzerren können. Im Kontrast
dazu liefern Dunkelfelddaten (z.B. durch Opferbefragungen) ein genaueres Bild von tatsächlicher Häu-
figkeit und Struktur der untersuchten Delikte. So ließe am Beispiel der häuslichen Gewaltviktimisie-
rung vermuten, dass durch die Einführung des Gewaltschutzgesetzes und der hiermit verbundenen
erhöhten Anzeigebereitschaft die vorgestellten Hellfeldzahlen Verzerrungsprozessen unterworfen
sind. Insbesondere darf vermutet werden, dass die Zunahme der angezeigten Fälle von Gewalt inner-
halb von Haushalt und Familie auf eine gesteigerte Sensibilität der Bevölkerung zurückzuführen sind
(siehe auch Hellmann 2014).
Um die Entwicklung häuslicher Gewaltviktimisierungen aus der Perspektive des Dunkelfeldes zu un-
tersuchen, wurden die Angaben aus den Repräsentativbefragungen der Jahre 1992 und 2011 mitei-
nander verglichen (siehe Hellmann 2014). Zur Erfassung häuslicher Gewalt wurden die international
etablierten Conlict Tactic Scales (Straus et al. 1996) genutzt. Hierbei wurde das Erleben leichterer
Gewaltformen (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben bei Streit
oder Auseinandersetzungen mit einem Gegenstand nach mir geworfen“) und schwerer Gewaltformen
(z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben mir absichtlich Verbren-
nungen oder Verbrühungen zugefügt“) separat erfasst und in ein zweistufiges Antwortformat (keine
Erfahrung vs. mindestens eine Erfahrung) überführt (vgl. Hellmann 2014). Erfasst wurde in beiden
Befragungen die 5-Jahres-Opferprävalenzrate. Hinsichtlich der Befragung des Jahres 1992 zeigte sich
für die befragten Frauen für leichtere Gewalthandlungen innerhalb von Haushalt und Familie eine 5-
Jahresprävalenz von 12,5 %; zusätzlich berichteten 5,5 % der Befragten von schweren Gewalthand-
lungen in den letzten fünf Jahren (vgl. Hellmann 2014). Bis 2011 verringert sich die 5-Jahresprävalenz
schwerer Gewalt um 58 % auf insgesamt 2,3 % und die 5-Jahresprävalenz leichterer Gewaltformen
um 35 % auf 8,1 % (vgl. Hellmann 2014, S. 131). Auf Basis der Dunkelfeldbefragung 2012 kann dar-
30
über hinaus eine Einschätzung hinsichtlich der beteiligten Täter sowie zum Anzeigeverhalten der be-
troffenen Frauen abgegeben werden: Demnach tritt in etwa 62 % der Fälle der Ehemann bzw. der
Partner der betroffenen Frauen als Täter in Erscheinung. Die Gewalt durch den Partner wird dabei
lediglich von etwa 19 % der betroffenen Frauen zur Anzeige gebracht (vgl. Hellmann 2014, S. 114).
Ein Vergleich mit dem Anzeigeverhalten betroffener Frauen aus dem Jahr 1992 kann aber nicht vor-
genommen werden. In lediglich 3,5 % der erfassten Fälle partnerschaftlicher Gewalt wurde der Täter
im Sinne des GewSchG auf richterliche Anordnung der Wohnung verwiesen (vgl. Hellmann 2014).
Zusammenfassend belegen die Auswertungen, dass sich seit 1992 die Häufigkeit häuslicher Gewalt
im Dunkelfeld für Frauen deutlich verringert hat. Für leichtere Gewalthandlungen ist ein Rückgang um
35 % und für schwere Gewalt um 58 % zu verzeichnen. Inwiefern dieser Rückgang mit der Einführung
des GewSchG im Zusammenhang steht, kann auf Basis der Befragungen nicht überprüft werden.
Festgehalten werden kann lediglich, dass der Mehrheit der Befragten aus 2011 das GewSchG und die
hiermit verbundenen Schutzrechte für Betroffene unbekannt sind (vgl. Hellmann 2014).
31
3 Erklärungsansätze der Entwicklung
Eine Betrachtung der Erklärungsansätze einer rückläufigen Kriminalitäts- insbesondere Jugendkrimi-
nalitätsentwicklung sollte sich an den Erklärungsfaktoren kriminellen Verhaltens orientieren. Wenn
bspw. bekannt ist, dass das elterliche Erziehungsverhalten Einfluss auf das kriminelle Verhalten eines
Jugendlichen hat und wenn gleichzeitig Veränderungen des Erziehungsverhaltens über die Zeit hin-
weg festzustellen sind, die mit der Veränderung der Kriminalität übereinstimmen, dann kann begrün-
deter Weise davon ausgegangen werden, dass eine veränderte elterliche Erziehung einen Erklä-
rungsansatz für die Kriminalitätsentwicklung darstellt. Die Einflussfaktoren des kriminellen Verhaltens
sind zahlreich und können an dieser Stelle nicht sämtlich daraufhin geprüft werden, inwieweit sie den
Rückgang der Jugendkriminalität erklären können, dies auch deshalb, weil nicht für sämtliche Ein-
flussfaktoren auch Informationen über deren Entwicklung in den zurückliegenden 20 Jahren zur Ver-
fügung stehen.
Eine erste, bereits sehr umfangreiche Liste von Einflussfaktoren, die für die Erklärung des Rückgangs
der Jugendkriminalität zu berücksichtigen wären, stammt von Glueck und Glueck (1959). Sie benen-
nen Faktoren aus verschiedenen Bereichen, so u.a. die Herkunft, ökonomische Verhältnisse, Famili-
enverhältnisse, den schulischen Werdegang, Freizeitverhalten oder frühe kriminelle Auffälligkeiten
(vgl. Eifler 2002, S. 34f). Die Liste enthält zahlreiche Faktoren, die sich später in anderen Studien als
wichtige Bedingungsfaktoren bestätigt haben (vgl. u.a. Beelmann/Raabe 2007, S. 47ff; Raithel/Mansel
2003; Scheithauer/Petermann 2003). Diese Faktoren wurden verschiedentlich zu theoretischen Mo-
dellen zusammengefasst. Ein solches Modell, an dem sich die nachfolgenden Ausführungen orientie-
ren, stammt von Boers und Reinecke (2007, S. 46). Unterschieden wird in diesem Modell zwischen
distalen und proximalen Einflussfaktoren. Als distale Faktoren werden sozialstrukturelle Variablen und
damit verbunden die Schicht- bzw. Milieuzugehörigkeit eingestuft („soziale Makrostruktur“). Diese
Faktoren bedingen die proximalen Faktoren, die sich zum einen aus den sozialen Beziehungen bzw.
Bindungen, die ein Individuum in der Familie, der Schule oder im Freizeitbereich aufrechterhält, zu-
sammensetzen. Der elterlichen Erziehung kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu, weshalb die-
sem Bindungsfaktor im Folgenden ein eigener Abschnitt gewidmet wird. Die Bindungen stehen zum
Zweiten in Beziehung mit Einflussfaktoren, für die in der Vergangenheit sehr enge Bezüge zum krimi-
nellen Verhalten nachgewiesen wurden (vgl. u.a. Baier et al. 2010a): die Bekanntschaft mit delinquen-
ten Freunden sowie die Orientierung an delinquenten Normen. Ein dritter proximaler Faktor stellt die
formelle soziale Kontrolle dar, womit Aktivitäten von Polizei und Justiz, insbesondere deren Sankti-
onsverhalten, gemeint sind. Dieses Modell der distalen und proximalen Einflussfaktoren wird von den
Autoren auch empirisch geprüft (Boers et al. 2010, S. 507ff). Direkte Zusammenhänge mit dem Ge-
waltverhalten werden dabei für die delinquenten Normen und die delinquenten Peerbeziehungen be-
richtet. Für die soziale Benachteiligung oder traditionelle Werthaltungen ergeben sich in Übereinstim-
mung mit dem Modell nur indirekte Zusammenhänge. Auch in anderen Studien werden mehrstufige
Erklärungsmodelle getestet. So berichten Baier et al. (2009, S. 84ff) ein Modell, dass als proximale
Einflussfaktoren den Kontakt zu delinquenten Freunde, das Schulschwänzen (als Indikator der sozia-
len Bindung zur Schule) und den Alkohol- und Drogenkonsum (als Indikator für den Freizeitbereich)
identifiziert, als distale Faktoren die soziale Lage (Makrostruktur) und die Erziehungserfahrungen im
Elternhaus. Für letztere, die über das Erleben elterlicher Gewalt abgebildet werden, zeigen die Analy-
sen zugleich aber auch direkte Beziehungen zum jugendlichen Gewaltverhalten, weshalb dieser Fak-
tor als distaler wie proximaler Faktor einzustufen ist. Was sich für die Entwicklung der verschiedenen
Faktoren in den zurückliegenden Jahren ergibt, wird nachfolgend vorgestellt.
32
3.1 Soziale Makrostruktur
Die sozialstrukturelle Lage einer Person wird in Deutschland meist anhand des Bildungsabschlusses
und des Erwerbsstatus beschrieben. Eine niedrige Bildung und die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit
indizieren eine schlechtere soziale Lage, verbunden mit geringeren Chancen gesellschaftlicher Teil-
habe. Infolge einer solchen schlechteren Lage kann es zu kriminellen Verhalten kommen. Hierauf
weist u.a. Merton (1995) in seiner Deprivationstheorie hin. Dieser Theorie zufolge ist delinquentes
Verhalten wahrscheinlicher, wenn für Teile der Bevölkerung einer Gesellschaft die kulturellen Ziele
(z.B. beruflicher Erfolg, Wohlstand, Prestige) aufgrund struktureller Barrieren (z.B. schlechte Bildungs-
chancen, Armut) nicht erreichbar sind. Illegale bzw. illegitime Mittel werden eingesetzt (z.B. Diebstahl),
um die kulturellen Ziele zu erreichen. Die empirischen Befunde stützen allerdings diese Annahmen
nur zum Teil: Eine niedrige Bildung bzw. der Besuch von Schulformen, die zu einem niedrigeren
Schulabschluss führen, gehen mit erhöhter Delinquenz einher (Baier/Pfeiffer 2007). Das Erleben von
Arbeitslosigkeit oder die Verfügbarkeit eines geringen Einkommens sind hingegen für das kriminelle
Verhalten von geringerer Bedeutung, wobei sich Zusammenhänge mit dem Ausüben von Diebstählen
zeigen (Rabold/Baier 2007).
In Bezug auf die Bildungsabschlüsse ergeben sich über die Jahre hinweg sehr positive Entwicklun-
gen: Der Anteil an Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist von 9,0 auf 5,7 % ge-
sunken im Vergleich der Schuljahre 1997/1998 und 2015/2016 (Abbildung 13). Ein Rückgang ist
ebenfalls für den Anteil an Schulabgängerinnen und abgängern mit Hauptschulabschluss zu ver-
zeichnen (von 26,2 auf 16,3 %). Parallel dazu steigt der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die ihre
Schulzeit mit einem Abitur bzw. einer Fachhochschulreife abschliessen (von 24,5 auf 34,8 %). Höhere
Bildungsabschlüsse, die als ein Präventivfaktor kriminellen Verhaltens gelten können, nehmen zu;
höher gebildete Personen begehen zugleich weniger kriminelles Verhalten. Die Entwicklung der Bil-
dungsteilhabe stellt damit einen Erklärungsfaktor der rückläufigen Kriminalität dar.
Abbildung 13: Entwicklung des Anteils verschiedener Schulabschlüsse nach Schuljahr (in %; Quelle:
Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen)
9.0
5.7
26.2
16.3
24.5
34.8
0
5
10
15
20
25
30
35
40
1997/1998
1998/1999
1999/2000
2000/2001
2001/2002
2002/2003
2003/2004
2004/2005
2005/2006
2006/2007
2007/2008
2008/2009
2009/2010
2010/2011
2011/2012
2012/2013
2013/2014
2014/2015
2015/2016
Anteil ohne Abschluss Anteil Hauptschulabschluss Anteil Fach-/Hochschulreife
33
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sich insbesondere die Bildungsintegration der
Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbessert hat. Anhand der wiederholt durchgeführten KFN-
Schülerbefragungen in Hannover zeigt sich bspw., dass bei deutschen Jugendlichen zwischen 1998
und 2013 der Anteil derer, die ein Abitur anstreben, von 39,6 auf 46,3 % gestiegen ist, bei türkischen
Jugendlichen von 8,7 auf 20,1 % (Abbildung 14). Bei türkischen Jugendlichen liegt der Anteil aktuell
damit 2,5mal höher als früher. Parallel dazu zeigen sich für Hannover signifikante Rückgänge der
Jugendkriminalität, die wiederum bei türkischen Jugendlichen sehr deutlich ausfallen (Rabold et al.
2008, S. 126ff). Allerdings zeigen die Auswertungen auch, dass der Anteil türkischer Jugendlicher, die
ein Abitur anstreben, noch deutlich hinter dem Anteil der deutschen Jugendlichen zurückbleibt. Zu-
sätzlich können diese positiven Entwicklungen in Bezug auf Migrantinnen und Migranten nicht
deutschlandweit generalisiert werden: In München hatte sich im Vergleich der Befragungen der Jahre
1998 und 2005 ein Rückgang des Anteils an türkischen Jugendlichen, die ein Abitur anstreben, erge-
ben. Lokale und regionale Gegebenheiten beeinflussen die Integration, wobei die Hintergründe für
solch diametral gegenläufige Trends noch weiter untersucht werden müssen.
Abbildung 14: Angestrebter Schulabschluss nach Erhebungsjahr und ethnischer Gruppe (in %; Quelle:
Schülerbefragung 9. Jahrgangsstufe Hannover)
Nicht nur für den Bereich der Bildung, auch für den Bereich der Erwerbstätigkeit ergeben sich im Zeit-
vergleich positive Entwicklungen, wie die nachfolgende Abbildung 15 verdeutlicht. Die Erwerbslosen-
quote der 15- bis unter 25-jährigen Jugendlichen hat sich von 1998 bis 2004 zwar deutlich von 9,3 auf
15,3 % erhöht; im Anschluss ist aber ein Rückgang um mehr als die Hälfte auf 6,8 % festzustellen.
Dabei hat es auch nach 2007, dem Jahr, in dem im Polizeilichen Hellfeld ein starker Rückgang vor
allem der Jugendgewaltkriminalität einsetzt, gegeben. Da der Zusammenhang zwischen Arbeitslosig-
keit und Kriminalität als eher schwach einzustufen ist, ist die dargestellte Entwicklung als Erklärung
der rückläufigen Jugendkriminalität nur bedingt geeignet.
17.8 15.7 15.4 7.6 9.8
47.1 38.3 32.2 25.7 15.2
42.7 40.2 40.6 43.6 43.9
44.2 49.2 49.6 50.3 64.7
39.6 44.1 44.0 48.8 46.3
8.7 12.6 18.1 24.1 20.1
0
20
40
60
80
100
1998 2000 2006 2011 2013 1998 2000 2006 2011 2013
deutsch türkisch
Abitur
Realschulabschluss
Hauptschulabschluss
34
Abbildung 15: Entwicklung der Erwerbslosenquote für 15- bis unter 25-jährige (in %; Quelle: Statistisches
Bundesamt; jeweils Dezember des jeweiligen Jahres; ILO-Konzept, BV4.1 Trend)
Ein weiterer Indikator für Veränderung der gesellschaftlichen Makrostruktur stellt die Entwicklung von
Werthaltungen dar, die zu einem Teil die Milieuzugehörigkeit einer Person bestimmen. Werthaltungen
beschreiben über eine konkrete Situation hinaus verweisende Lebens- und Handlungsziele. Hadjar
(2004, S. 35ff) definiert Werthaltungen als individuell vorhandene Ziele des Wünschenswerten, die
einen Einfluss auf Einstellungen haben und Leitlinien für Handlungsentscheidungen bereitstellen. In-
sofern sind Werthaltungen auch Bedingungsfaktoren für Verhaltensweisen.
Werthaltungen werden in unterschiedlicher Weise konzeptualisiert: Ingelhart (1977) unterscheidet im
Wesentlichen zwei Werthaltungen: moderne und postmoderne Werte. Differenzierter ist das Konzept
von Schwartz (1992), welches zehn Wertetypen entlang von zwei orthogonal zueinander stehenden
Wertedimensionen unterscheidet. Die erste Wertedimension wird als „Selbststärkung vs. Selbstüber-
windung“ umschrieben. „Selbststärkung“ bezieht sich dabei auf eine Macht- und Leistungsorientie-
rung, d.h. auf eine Konzentration auf sich selbst; „Selbstüberwindung“ bezieht sich auf einen Hu-
manismus und Universalismus, also auf eine Orientierung, die auf andere Personen gerichtet ist. Die
zweite Wertedimension unterscheidet die Pole „Offenheit gegenüber Neuem“ und „Bewahrung des
Bestehenden“. Personen, die offen gegenüber Neuem sind, suchen nach Anregung, nach Herausfor-
derungen, nach Abenteuer und Risiko. Die „Bewahrung des Bestehenden“ schließt die Orientierung
an Traditionen, die Konformität und die Suche nach Sicherheit ein.
Angelehnt an das Konzept von Schwartz (1992) lässt sich über die Zusammenhänge von Werthaltun-
gen und kriminellem Verhalten auf Basis der empirischen Befundlage folgern, dass diese eher
schwach sind. Werte der „Selbststärkung“ (Hedonismus, Leistungs- und Machtwerte) stehen tenden-
ziell mit erhöhter Kriminalität in Verbindung, Werte der „Selbstüberwindung“ (Universalismus, Huma-
nismus) sowie Werte der „Bewahrung des Bestehenden“ (Konformität, Tradition) mit reduzierter Kri-
minalität (vgl. u.a. Hermann 2003). Die Entwicklung dieser Werthaltungen lässt sich anhand der Shell-
Jugendstudien nachzeichnen, die seit 2002 in vergleichbarer Form ein Instrument beinhalten, mit dem
selbststärkende, selbstüberwindende und traditionsorientierte Werte abgebildet werden können. In
Tabelle 7 ist der Anteil an Jugendlichen dargestellt, die im jeweiligen Erhebungsjahr einen Wert als
wichtig erachtet haben. Die einzelnen Werte erhalten dabei eine sehr unterschiedliche Zustimmung.
So gaben im Jahr 2015 84 % der Jugendlichen an, dass ihnen wichtig ist, Gesetz und Ordnung zu
9.3 8.9 8.2 8.8
10.6
12.1
15.3 14.5
12.7
11.1 10.7 10.9
9.0 8.2 7.9 7.9 7.4 7.3 6.8
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
35
respektieren; im gleichen Jahr waren es zugleich nur 20 %, die angegeben haben, dass es ihnen
wichtig ist, das zu tun, was andere auch tun. Die Höhe der Zustimmung zu einzelnen Werten soll an
dieser Stelle deshalb nicht vertieft betrachtet werden. Wichtiger sind die Entwicklungen, die sich seit
2002 zeigen. Um diese sichtbar zu machen, wurde der Mittelwert des Anteils zustimmender Jugendli-
cher der Jahre 2010/2015 zum Mittelwert des Anteils zustimmender Jugendlicher der Jahre
2002/2006 ins Verhältnis gesetzt. Dabei ist erkennbar, dass es für jede Wertedimension Hinweise auf
einen Anstieg der Bedeutsamkeit gibt: Bei drei von vier Werten ergibt sich jeweils ein z.T. starker An-
stieg, bei jeweils einem von vier Werten einen eher leichten Rückgang. Im Einzelnen zeigt sich bspw.,
dass der Anteil an Jugendlichen, für die es wichtig ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen
(Selbststärkung) von 71 auf 80 % gestiegen ist; der Anteil an Jugendlichen, die es als wichtig erach-
ten, sich politisch zu engagieren (Selbstüberwindung), ist von 22 auf 33 % gestiegen; am Altherge-
brachten festzuhalten (Bewahrung des Bestehenden) ist mittlerweile für 25 % wichtig, im Vergleich zu
19 % im Jahr 2002.
Insofern Werte der Selbststärkung zunehmen, diese aber mit erhöhter Kriminalität in Beziehung ste-
hen, kann die entsprechende Entwicklung keine Erklärung für die rückläufige Jugendkriminalität dar-
stellen. Für die beiden anderen Werte ist dies hingegen anzunehmen: Die Veränderungen der Werte-
milieus hin zu einer stärkeren Orientierung an Selbstüberwindungs- und Traditionswerten senkt die
Kriminalität und kann die rückläufige Entwicklung damit zum Teil erklären; da die Zusammenhänge
zwischen Werthaltungen und delinquentem Verhalten aber eher schwach sind, stellen die beobachte-
ten Entwicklungen zu den beiden zuletzt genannten Werthaltungen auch nur schwache Erklärungen
der Kriminalitätsentwicklung dar.
Tabelle 7: Anteil Befragte, die Wert als wichtig erachten (in %; Quelle: Gensicke 2015, Shell-
Jugendstudien 2002 und 2006, eigene Berechnungen)
2002 2006 2010 2015 Veränderung
2010/2015 zu
2002/2006
Selbststärkung
Leben in vollen Zügen genießen
71
71
78
80
+++
einen hohen Lebensstandard haben
63
65
69
69
++
sich gegen andere durchsetzen
59
54
55
57
-
Macht und Einfluss haben
35
34
37
33
+
Selbstüberwindung
sich umweltbewusst verhalten
60
61
59
66
+
sozial Benachteiligten helfen
54
53
58
60
+++
an Gott glauben
37
36
36
33
--
sich politisch engagieren
22
20
23
32
+++
Bewahrung des Bestehenden
Gesetz und Ordnung respektieren
81
82
81
84
+
nach Sicherheit streben
78
81
79
79
-
am Althergebrachten festhalten
19
17
21
25
+++
das tun, was andere auch tun
16
14
14
20
+++
+ Zunahme < 5 %, ++ Zunahme 5 % bis < 10 %, +++ Zunahme ab 10 %; - Abnahme < 5 %, -- Abnahme 5 % bis < 10 %, --- Abnahme ab 10
%
3.2 Elterliche Erziehung
Zum 1. Januar 2000 hat der Deutsche Bundestag das elterliche Züchtigungsrecht ersatzlos gestri-
chen. Zwei Jahre später ist das Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten, das Polizei und Gerichten ein
36
wirksames Vorgehen gegen innerfamiliäre Gewalt erlaubt. Diese rechtlichen Veränderungen sind
Ausdruck eines veränderten Erziehungsbewusstseins: Negative Formen der Erziehung, insbesondere
der Gewalteinsatz, werden immer stärker sozial geächtet. Ziel ist vielmehr die gewaltfreie, der positi-
ven kindlichen Entwicklung förderliche Erziehung. Wie zahlreiche Studien belegen, erhöhen Gewalter-
fahrungen in Kindheit und Jugend die Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen delinquent werden;
demgegenüber schützt eine liebevolle, zugewandte Erziehung vor Delinquenz (u.a. Baier/Pfeiffer
2015, Gershoff 2002).
Warum elterliche Gewaltausübung und kindliches Gewaltverhalten in Beziehung stehen, lässt sich
unterschiedlich begründen (vgl. Baier/Pfeiffer 2015). Entsprechend der sozialen Lerntheorie kann
davon ausgegangen werden, dass die Kinder die sie prügelnden Eltern als Vorbilder betrachten und
das vorgelebte Verhalten imitieren. Persönlichkeitsorientierte Ansätze gehen daneben davon aus,
dass die Anwendung elterlicher Gewalt die Persönlichkeit eines Kindes negativ beeinflusst und dass
die dadurch anerzogenen Persönlichkeitsfaktoren (wie z.B. eine geringe Empathie und Selbstkontrol-
le) das Gewaltverhalten erhöhen. Neben diesen Erklärungen wird auch auf neurologische Verände-
rungen bei Kindern, die Gewalt erleben, hingewiesen. Schädigungen in Gehirnbereichen, die für die
Hemmung aggressiver Impulse oder die Steuerung der Hormonproduktion zuständig sind, können
eine erhöhte Gewaltbereitschaft nach sich ziehen. Psychodynamische Ansätze betonen zuletzt, dass
die Anwendung elterlicher Gewalt eine Ohnmachtserfahrung darstellt. Durch die Ausübung von Ge-
walt, d.h. die Ausübung von Macht, kompensieren die Jugendliche ihre Ohnmachtserfahrungen.
Muss der Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und delinquentem Verhalten aufgrund aus-
reichender empirischer Befunde an dieser Stelle nicht im Detail nachgewiesen werden, so ist zu bele-
gen, dass sich das Erziehungsverhalten tatsächlich in eine positive Richtung verändert hat, damit
diese Veränderung als Erklärung rückläufiger Kriminalität dienen kann. Die Anzahl vorhandener Stu-
dien zur Entwicklung des Erziehungsverhaltens ist allerdings begrenzt. Bussmann (2005) kommt in
einer Replikation von Studien über elterliche Gewalt aus den 1990er Jahren und aus dem Jahr 2001
zu dem Ergebnis, dass sich ein positiver Trend zur gewaltfreien Erziehung abzeichnet. Dieser äußert
sich vor allem darin, dass ein deutlich geringerer Anteil der befragten Eltern Gewalt als legitimes Er-
ziehungsmittel einstuft. Die Ansicht, dass das Schlagen des Kindes einer Körperverletzung gleichzu-
setzen ist, hat zwischen 1996 und 2004 deutlich zugenommen. In einer anderen Studie, die im Jahr
2007 durchgeführt wurde, berichten Bussmann et al. (2010) einen Rückgang auch in Bezug auf das
Erziehungshandeln. Dabei werden Geburtskohorten eines Erhebungsjahrs miteinander verglichen. Da
die Befragten älter als 25 Jahre waren und für die Zeit ihrer Kindheit antworten sollten, erlaubt ein
solcher Geburtskohortenvergleich durchaus Entwicklungsaussagen. Konstatiert wird, dass die Ge-
burtskohorte der vor 1962 Geborenen zu 55,5 % Gewalt in der elterlichen Erziehung erlebt hat; bei
nach 1979 Geborenen beträgt die Quote nur noch 38,1 %.
Einen solchen Geburtskohortenvergleich präsentiert auch die nachfolgende Abbildung 16. Grundlage
sind insgesamt vier zwischen 2004 und 2014 deutschlandweit durchgeführte Repräsentativbefragun-
gen mit insgesamt 9.445 ab 16-jährigen Befragten (vgl. für Details der Studien Baier et al. 2017). In
dieser Befragung wurde einerseits die elterliche Zuwendung erfasst (mit Aussagen wie „Meine Eltern
haben mich gelobt, wenn ich etwas besonders gut gemacht habe“), andererseits der Einsatz schwerer
elterlicher Gewalt. Als schwere Gewalt wurden dabei folgende Verhaltensweisen eingestuft: „Meine
Eltern haben mich stark verprügelt“ und „Meine Eltern haben mich zusammengeschlagen“. Die Abbil-
dung zeigt, wie häufig die Befragten der Geburtskohorten von den verschiedenen Erziehungserfah-
rungen berichten. Deutlich wird erstens, dass der Anteil an Personen mit hoher Zuwendung in jünge-
ren Geburtskohorten deutlich zunimmt, der Anteil an gewaltsam erzogenen Personen deutlich rückläu-
fig ist. Die Auswertungen belegen damit, dass sich eine gewaltfreie, von emotionaler Nähe geprägte
Erziehung immer weiter durchsetzt. Zweitens scheint dies aber nicht linear zu geschehen. Auffällig ist,
dass für die älteste Kohorte (vor 1930) niedrigere Anteile in Bezug auf die Gewalterfahrungen festzu-
37
stellen sind als für darauf folgende Kohorten. Zu beachten ist, dass zu dieser Geburtskohorte keine
repräsentativen Ergebnisse vorliegen dürften, da die Befragungen in den Jahren 2004 bis 2014
durchgeführt wurden, d.h. zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Teil der Kohorte bereits verstorben war und
nicht befragt werden konnte.
Abbildung 16: Elterliche Erziehung im Geburtskohortenvergleich (in %)
Ebenfalls dargestellt in der Abbildung ist ein Geschlechtervergleich. Dieser belegt, dass Mädchen aller
Kohorten häufiger Zuwendung von Seiten der Eltern erlebt haben als Jungen; umgekehrt gilt, dass
Jungen häufiger Gewalt durch die Eltern erfahren als Mädchen. Vor allem in den Geburtskohorten vor
1959 zeigen sich starke Geschlechterunterschiede beim Erziehungsverhalten. Diese ebnen sich über
die Kohorten hinweg allmählich ein. Gleichwohl zeigt sich ein auffälliger Befund zur Zuwendung der
beiden jüngsten Kohorten: Der Geschlechterunterschied nimmt hier wieder zu. Ein vergleichbarer
Befund ergibt sich aufgrund einer anderen Befragung: Im Jahr 2011 wurden deutschlandweit über
11.000 16- bis 40jährige Personen zu Erlebnisses des sexuellen Missbrauchs befragt (vgl. Abschnitt
2.3). In dieser Befragung sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch Auskunft über ihre Erzie-
hungserfahrungen geben. Den Ergebnissen zufolge sind für weibliche Befragte stärkere Entwicklungs-
trends festzustellen als für männliche Befragte (Baier et al. 2013). Der Vergleich der jüngsten Kohorte
der 16- bis 20-jährigen zur ältesten Kohorte der 31- bis 40-jährigen zeigt hier, dass bei den weiblichen
Befragten der Anteil derer, die hohe elterlicher Zuwendung in der Kindheit erfahren haben, um mehr
als ein Viertel gestiegen ist, bei den männlichen Befragten hingegen nur im ein Zehntel; der Anteil
derer, die Gewalt in der Kindheit erlebt haben, ist bei den weiblichen Befragten um fast zwei Drittel,
bei den männlichen Befragten aber nur um etwas mehr als ein Drittel zurückgegangen. Die Ge-
schwindigkeit des Wandels hin zur positiven Erziehung fällt in Bezug auf Mädchen damit höher auf als
in Bezug auf Jungen; zugleich bestätigt sich aber für beide Geschlechter ein positiver Trend.
In Abbildung 16 sind langfristige Trends abgebildet. Dass sich auch in den zurückliegenden 20 Jahren
weitere positive Entwicklungen im elterlichen Erziehungsverhalten zeigen, wird durch die nachfolgen-
de Abbildung 17 bestätigt. Abgetragen sind, wie bereits in Abschnitt 2.2, für alle Gebiete, in denen zu
mindestens zwei Erhebungszeitpunkten Befragungen stattgefunden haben, die Anteile an Jugendli-
chen, die angegeben haben, in der Kindheit keine elterliche Gewalt erlebt zu haben. In Tabelle A6 im
Anhang finden sich die Raten im Detail aufgeführt. Für die Betrachtung hier ist vor allem der Trend,
der auf Basis der Anteile errechnet werden kann, relevant. Dieser zeigt, dass von 1998 bis 2015 der
vor
1930
1930
bis
1939
1940
bis
1949
1950
bis
1959
1960
bis
1969
1970
bis
1979
1980
bis
1989
ab
1990 vor
1930
1930
bis
1939
1940
bis
1949
1950
bis
1959
1960
bis
1969
1970
bis
1979
1980
bis
1989
ab
1990
hohe Zuwendung schwere Gewalt
insgesamt 28.0 29.4 30.1 28.2 32.1 43.0 53.6 61.5 14.1 20.4 19.9 18.4 15.5 10.6 8.1 4.0
männlich 26.3 23.5 24.9 27.5 28.6 39.9 53.2 58.5 21.6 26.1 28.2 20.8 18.4 11.9 9.5 5.8
weiblich 29.2 34.7 34.0 28.9 35.6 46.2 54.0 65.3 9.0 15.3 13.5 16.2 12.5 9.2 6.8 1.7
0.0
10.0
20.0
30.0
40.0
50.0
60.0
70.0
38
Anteil an Jugendliche, die in der Kindheit gewaltfrei erzogen worden sind, von durchschnittlich 43,3
auf 60,8 %, d.h. um mehr als ein Drittel gestiegen ist. Auch im Zeitraum nach 2007, für den sich in den
Kriminalstatistiken starke Rückgänge der Jugendgewalt ergeben, belegen die vorhandenen Daten
einen Anstieg des Anteils gewaltfrei erzogener Jugendlicher. Auch wenn die Daten keine lineare Ent-
wicklung aufzeigen und sich jeweils Ausreißerwerte nach oben und nach unten feststellen lassen (was
der Datengrundlage geschuldet ist, die nur einzelne Gebiete und wenige Zeitpunkte abdeckt), kann
der insgesamt weiter ansteigende Trend rückläufiger elterlicher Gewalt anhand der KFN-Schüler-
befragungen eindrücklich belegt werden.
Abbildung 17: Anteil Jugendliche, die in Kindheit keine elterliche Gewalt erlebt haben (in %; Quelle: KFN-
Schülerbefragungen)
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der elterlichen Erziehung wird immer wieder die Frage ge-
stellt, ob psychische Formen der elterlichen Gewalt im selben Maß sinken wie physische Formen der
elterlichen Gewalt. Zur Entwicklung der psychischen Gewalt liegen bislang jedoch keine vergleichba-
ren Daten vor. Eine Erkenntnisquelle bieten die niedersachsenweiten Schülerbefragungen, die 2013
und 2015 unter jeweils ca. 10.000 Jugendlichen der neunten Jahrgangsstufe durchgeführt wurden
(vgl. für Details der Studien Bergmann et al. 2017). Abbildung 18 stellt die Befunde dieser Befragung
dar. Mit Blick auf die schwere elterliche Gewalt ergibt sich in dieser Befragung ebenfalls ein Rück-
gang: Während 2013 noch 12,8 % mindestens einmal schwere elterliche Gewalt in der Kindheit erfah-
ren haben, waren es in der Befragung 2015 nur noch 11,8 %. Die im Vergleich zur Geburtskohorten-
darstellung höheren Raten lassen sich dadurch erklären, dass drei statt zwei Formen der Gewalt mit
etwas anderen Formulierungen und jeweils differenziert für Vater und Mutter erfragt wurden („mich mit
einem Gegenstand geschlagen“, „mich mit der Faust geschlagen oder mich getreten“, „mich geprü-
gelt, zusammengeschlagen). Für die Zuwendung, die in dieser Befragung mit insgesamt sechs Aus-
sagen (z.B. „mich getröstet, wenn ich traurig war“) erfragt worden ist, findet sich in Übereinstimmung
mit der Geburtskohortendarstellung ein Anstieg des Anteils an Jugendlichen, die in der Kindheit hohe
Zuwendung erlebt haben. Für die psychische Gewalt ergibt sich im Jahresvergleich mehr oder weni-
ger ein konstanter Anteil derer, die diese Form elterlicher Übergriffe häufiger erlebt haben; d.h. für
diese Form der Erziehung ist keine der Zuwendung oder der schweren Gewalt entsprechende Ent-
wicklung festzustellen. Aufgrund der kurzen Zeitreihe sollten zugleich keine allzu weitreichenden Fol-
gerungen abgeleitet werden. Erfasst wurde die psychische Gewalt mit den Aussagen „meine Mut-
43.3
60.8
30
40
50
60
70
80
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
39
ter/mein Vater hat mich als dumm, faul, hässlich, dick oder Ähnliches bezeichnet“ und „meine Mut-
ter/mein Vater hat andere verletzende oder beleidigende Dinge zu mir gesagt“.
Abbildung 18: Elterliche Erziehung im Jahres- und Migrantengruppenvergleich (in %)
Abbildung 18 weist neben dem Entwicklungsaspekt darauf hin, dass es mit Blick auf die familiäre Er-
ziehung Unterschiede zwischen deutschen Familien und Familien mit Migrationshintergrund gibt. Dar-
gestellt sind dabei die beiden größten Migrantengruppen Niedersachsens (türkische Jugendliche bzw.
Jugendliche aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion) sowie zwei Migrantengruppen, für die sich in
den Auswertungen wiederholt besonders hohe oder niedrige Anteile gezeigt haben: Unter Jugendli-
chen aus islamischen Ländern wurden Befragte zusammengefasst, die aus Ländern stammen, in
denen der Großteil der Bevölkerung dem muslimischen Glauben angehört (z.B. Libanon, Irak, Iran,
Syrien, Pakistan); unter asiatischen Jugendlichen werden Befragte zusammengefasst, die aus Län-
dern Asiens stammen (vor allem Vietnam, Thailand, Sri Lanka, Philippinen). Für die Auswertungen
wurden dabei die Befragten der Jahre 2013 und 2015 gepoolt. Besonders deutliche Unterschiede
finden sich hinsichtlich der schweren Gewalt: Während deutsche Jugendliche nur zu 8,7 % berichten,
mindestens eine Form der schweren elterlichen Gewalt in der Kindheit erlebt zu haben, sind es unter
allen Migrantinnen und Migranten 22,7 %, d.h. etwa drei Mal mehr Jugendliche. Für asiatische Ju-
gendliche zeigt sich dabei mit 31,1 % der insgesamt höchste Anteil. Bei der psychischen Gewalt gilt,
dass deutsche Jugendliche zu 7,5 % häufige Erlebnisse berichten, Migrantinnen und Migranten hin-
gegen zu 13,3 %, also fast doppelt so häufig. Auch hier ergeben sich für asiatische Jugendliche sowie
für Jugendliche aus islamischen Ländern besonders hohe Raten. Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für
die elterliche Zuwendung: Von einer hohen Zuwendung berichten Migrantinnen und Migranten selte-
ner als Deutsche. Asiatische Jugendliche weisen die niedrigste Quote an Befragten auf, die eine hohe
Zuwendung in der Kindheit erfahren haben. Diese unterschiedlichen Erziehungswelten stellten durch-
aus eine Herausforderung dar; die um die Jugenddelinquenz weiter zu senken, ist es notwendig, stär-
ker noch die Eltern zu erreichen und zu einem positiveren Umgang mit den Kindern zu motivieren.
Wie erwähnt, sind die Zusammenhänge zwischen der elterlichen Erziehung und dem delinquenten