Tagesbetreuung im Wandel: Das Familienzentrum als Zukunftsmodell
Abstract
Familienzentren erbringen integrative Dienstleistungen für Kinder und Familien, indem sie die Funktionen der Betreuung, Bildung und Beratung verbinden. Die Konzeption und Organisation eines Familienzentrums stellt sich als Gestaltungsaufgabe dar, mit der vielfältige Chancen, Herausforderungen und Probleme verbunden sind. In diesem Sammelband betrachten Fachleute aus Wissenschaft und Praxis das Zukunftsmodell Familienzentrum unter anderem aus erziehungswissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und organisationswissenschaftlicher Perspektive.
Chapters (17)
Jeder Fußballfan meint, er verstehe etwas von Fußball. Und weil in Deutschland Fußball die beliebteste Sportart ist, scheint
es bei uns jede Menge diesbezüglicher Experten zu geben. „Ein Bundestrainer reicht, wir brauchen keine 80 Millionen davon “, so titelte dementsprechend 2006 ein meinungsbildendes Wochenmagazin angesichts des (un-) qualifizierten Durcheinanderredens
der Fußballnation am Vorabend der WM im eigenen Land.
Mit dem konzeptionellen Ansatz eines Familienzentrums geht ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel einher. Die bislang disziplinspezifischen Handlungsansätze der Betreuung, Bildung und Beratung sind entsprechend der jeweiligen sozialraumspezifischen Charakteristika aufgefordert, einen integrativen und interdisziplinären Dienstleistungsansatz zu entwickeln und — parallel dazu — ein neues, erweitertes professionelles Selbstverständnis auszubilden. Neben vielfältigen Chancen für Kinder und Familien, wie auch für die Leistungserbringer selbst, sind damit für die beteiligten Fachleute veränderte Anforderungen verbunden. In diesem Beitrag geht es um die Fokussierung der systemischen und interdisziplinären Anforderungen, die sich den professionellen Akteuren im Netzwerk Familienzentrum stellen. Ferner geht es darum, Entwicklungen darzustellen, die auf Seiten der Leistungserbringer stattfinden müssen, damit Kinder und Familien eine funktionierende integrative Dienstleistung erhalten.
Anfang 2006 hat die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen eine Initiative zum Ausbau von 3000 Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren bis 2012 gestartet. Mittlerweile existieren 1000 Familienzentren, 248 Familienzentren sind zertifiziert worden und haben das Gütesiegel Familienzentrum erhalten, 25 Einrichtungen erhielten zusätzlich den Innovationspreis für besondere Leistungen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Arbeit mit Familien in riskanten Lebenssituationen, die Beteiligung von Kindern und Familien, für die Schaffung von Stadtteilaktivitäten, spezifische Angebote zur Integrationsförderung und für weitere besondere Angebote. Die Zertifizierung erfolgte anhand von vier Leistungsbereichen (Beratung und Unterstützung von Kindern und Familien, Familienbildung und Erziehungspartnerschaft, Kindertagespflege, Vereinbarkeit von Familie und Beruf) und anhand von vier Strukturbereichen (Sozialraumbezug, Kooperation und Organisation, Kommunikation, Leistungsentwicklung und Selbstevaluation). Differenziert wurde zwischen Basis- und Aufbauleistungen, wobei in jedem Bereich maximal 6 Punkte erworben werden können; mindestens 24 Punkte müssen für den Erhalt des Gütesiegels erworben werden (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen 2007). Viele unterschiedliche Träger beteiligen sich mittlerweile an der Initiative, mit der bislang getrennt voneinander agierende Leistungsangebote der Kindertageseinrichtungen, der Familien- und Erziehungshilfen sowie der Familienbildung miteinander verknüpft werden sollen (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen 2006).
„Die Probleme sind erkannt — doch die Lösung ist mühsam.“ Mit dieser Überschrift titelte die Stuttgarter Zeitung den Start
einer Serie, die die kommunale Zielerreichung, kinderfreundlichste Stadt Deutschlands zu sein, bilanziert. Gerade bei der
Förderung von Bildungschancen ergäben sich noch dringende Entwicklungserfordernisse, vor allem hinsichtlich der Sprachförderung
in Tagesstätten und des Ausbaus von Ganztagsangeboten sowie außerschulischer Bildung.
Kinderarmut in Deutschland ist nicht mehr zu leugnen. Die Diskussion um den Begriff Armut ist gesellschaftlich dringend geboten,
steckt hinter ihr doch die Frage des gesellschaftlichen Konsenses der Gerechtigkeit. Aufwachsen in Benachteiligung hat Folgen
für Kinder und Jugendliche und damit Auswirkungen auf Bedeutungsbestände und Werte einer Gesellschaft. Die Folgen von Kinderarmut
verändern nicht nur das Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zusätzlich müssen die Auswirkungen im Zusammenhang
auf das Gesamtverhalten einer Gesellschaft gesehen werden.
Als die nordrhein-westfälische Landesregierung Anfang 2006 das Projekt „Familienzentrum Nordrhein-Westfalen“ startete, war
damit nicht nur der Anspruch verbunden, ein inhaltliches Konzept umzusetzen und Tageseinrichtungen für Kinder zum niederschwelligen
Ansprechpartner für Familien in einem umfassenden Sinne weiterzuentwickeln. Vielmehr sollte auch eine neue Form der Steuerung
eingeführt werden. Die erfolgreichen Einrichtungen, so hieß es im Aufruf zum Landeswettbewerb, sollten ein Gütesiegel erhalten.
Kindertageseinrichtungen sind die ersten gesellschaftlichen Institutionen, die von Kindern besucht werden. Sie erreichen inzwischen
nahezu alle Drei- bis Sechsjährigen — und eine zunehmende Zahl von Unter-Dreijährigen. In Kindertageseinrichtungen werden
in der Regel Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsrückstände, Behinderungen und Sprachprobleme zum ersten Mal „öffentlich“,
die zuvor im Schonraum der Familie weitgehend ignoriert oder mangels eines Vergleichs mit Gleichaltrigen nicht erkannt wurden.
Die hier beschäftigten sozialpädagogischen Fachkräfte erkennen zumeist die zugrunde liegenden Ursachen wie z.B. Erziehungsschwierigkeiten
der Eltern, Überbehütung, Vernachlässigung, Misshandlung, pathogene Familienprozesse, Migrantenstatus oder Randgruppenzugehörigkeit.
Zudem beobachten sie häufig Probleme und Belastungen von Familien wie beispielsweise Ehekonflikte, Trennung/Scheidung, Arbeitslosigkeit
und Armut oder die chronische (psychische) Erkrankung, Suchtkrankheit, Behinderung bzw. Pflegebedürftigkeit eines Familienmitgliedes.
Da sozialpädagogische Fachkräfte in viel höherem Maße als z.B. Lehrer/innen Beziehungen zu Eltern aufbauen und pflegen, werden
sie von diesen auch häufiger ins Vertrauen gezogen.
Die Tagesbetreuung in Deutschland bzw. der institutionelle Bereich, der für frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung
verantwortlich ist, befindet sich zurzeit in einem Wandel. Genauer gesagt steht der eigentliche Wandel noch bevor, denn, obwohl
die Tagesbetreuung längst als eine der wichtigsten Sozialisationsagenturen im Aufwachsen von Kindern identifiziert worden
ist, scheinen viele etablierte Erziehungskonzepte nicht mehr zeitgemäß. Insbesondere im Rahmen der Bildungsdiskussion (PISA-
und IGLU-Studie) wurde der besondere und an vielen Stellen nicht immer eindeutige Bildungsauftrag der Kindertagesstätten in
den Mittelpunkt gerückt (vgl. Rauschenbach 2004). Außerschulische Bildung, wie sie bereits im Elementarbereich notwendig ist, wird vor diesem Hintergrund als ein zentraler
Baustein im Aufgabenprofil der Tagesbetreuung unverzichtbar. Wenngleich hier unstreitig Wandlungsbedarf auf Seiten der erzieherischen
und institutionellen Konzepte besteht, kann der Bereich der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung gerade in Deutschland
auf eine lange Tradition zurückblicken, deren Einflüsse auch heute noch sichtbar sind. Dies stellt der Länderbericht der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD 2004) zur deutschen Gesamtsituation als besondere Stärke deutscher Tagesbetreuungseinrichtungen heraus. Frühkindliche Bildungs-
und Erziehungskonzepte folgen keinen wirtschaftlichen Zielen, sondern zeigen sich in Deutschland sozialpädagogisch und vielfach
an lebensweltorientierten Strukturmerkmalen ausgerichtet.
Sowohl die PISA-Studien als auch OECD-Untersuchungen (vgl. Prenzel et al. 2004) belegen eine ausgeprägte und anhaltende Chancenungleichheit von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. Das Konsortium kommt zu dem Schluss, dass es eine eklatante Bildungsungleichheit gibt, von der Migrantenkinder besonders betroffen sind. Woher stammt diese Disparität, bei der die Herkunft noch in der zweiten Generation, mitunter sogar noch bis zur dritten Generation so eine gewichtige Rolle spielt?
Unser Leben und unsere Arbeitswelt vollziehen aktuell den größten Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele Denkweisen und Konzepte, Vorrechte und kulturelle Bestandteile werden hinterfragt und sind dadurch starken Veränderungen unterzogen. In der Wirtschaft wird dies oftmals einhergehend mit den Notwendigkeiten der Globalisierung argumentiert. Veränderungen passieren überall und in der Regel stehen wir ihnen zumindest recht skeptisch gegenüber.
Familienzentren stellen „Knotenpunkte in einem neuen Netzwerk [dar], das Familien umfassend berät und unterstützt. Eine Voraussetzung
hierfür ist, dass die vorhandenen Angebote vor Ort stärker miteinander vernetzt und durch die Kindertageseinrichtung gebündelt
werden. Um dies zu gewährleisten, kooperieren die Familienzentren mit Familienberatungsstellen, Familienbildungsstätten und
anderen Einrichtungen wie z.B. den Familienverbänden und Selbsthilfeorganisationen. “ (MGFFI 2007)
Die Motivation von Mitarbeitern ist in modernen Wissensgesellschaften das wichtigste Kapital von Unternehmen. Ohne Motivation
keine Leistung und Zufriedenheit — auch bei den qualifiziertesten Mitarbeiten! Ganz besonders gilt dies in allen erzieherischen
Berufen. Die Motivation ist hier für den Erfolg (wie auch immer man diesen definiert) entscheidend.
Die Begleitung der kindlichen Entwicklung und die Förderung derselben in einem ganzheitlichen Sinne war schon immer eine zentrale Aufgabe in der Kindergartenarbeit. Dabei geht es in Vorbereitung auf die Einschulung und auf den weiteren Lebensweg nicht um eine rein funktionelle Förderung einzelner Fertigkeiten, sondern um den umfassenden Aufbau von Personalität durch Bildung, Erziehung und Betreuung in Gruppen unter Berücksichtigung der Individualität der Kinder. In den letzten Jahren sind die Anforderungen an die Beobachtung der kindlichen Entwicklung und an die Dokumentation derselben aus verschiedenen Gründen deutlich gestiegen. Für Nordrhein-Westfalen wird dies unter anderem in der Bildungsvereinbarung NRW (MSJK NRW 2003) deutlich. Dort heißt es, dass „Kinder in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen“ sind, wobei Bildung nicht nur „die Aneignung von Wissen und Fertigkeiten“ umfasse (ebd.: 6). Zugleich wird die Forderung aufgestellt, den umfassenden Bildungsprozess des einzelnen Kindes zu dokumentieren (Bildungsdokumentation), wodurch die Aufgabe der Entwicklungsbeobachtung einen noch verbindlicheren Charakter bekommen hat.
Der PISA-Schock hat viel Bewegung in die deutsche Bildungsdebatte gebracht. Erfreulicherweise profitiert davon auch der Elementarbereich,
nachdem nun endlich ins öffentliche Bewusstsein drang, was bereits der Deutsche Bildungsrat im Strukturplan für das deutsche
Bildungswesen 1970 konstatierte: dass nämlich der Kindergarten das Fundament des Bildungssystems ist. Leider hatte dies damals
kaum Konsequenzen.
In the past decade, the landscape of early-years services has undergone fundamental and far-reaching change. In 1999, the Government pledged to eradicate child poverty in the UK within a generation. This commitment reflected a wider ambition to ensure that every child has the best start in life and an equal opportunity to fulfil their potential. At about the same time, economic evidence from the US that early-years programmes could make a long-term difference to children’s lives was becoming highly influential and there was growing recognition of the need to rebalance service provision away from remedial support dealing with the symptoms of social exclusion towards greater investment in prevention. This was a major paradigm shift that resulted in substantial new investments and a radical transformation of provision for the pre-school age group.
Der geforderte Wandel der Tagesbetreuung in Deutschland schlägt sich in diversen familienpolitischen Maßnahmen nieder: steigende
Zahl der Familienzentren in Nordrhein Westfalen, ganztägige, zuverlässige Schule, eine größere Vielfalt im Angebot an Ganztagsschulen,
Horten, Ganztagskindergärten, Tagesmütter etc. Diese Angebote schaffen einen verbesserten Rahmen. Die Qualität und Nachhaltigkeit
dieses Angebotes wird dabei durch die beteiligten Menschen bestimmt, die sich hier begegnen. Um eine verbesserte Qualität
der Betreuung zu gewährleisten, sollte die Schaffung von Rahmenbedingungen auch die Qualifikation der pädagogisch tätigen
Menschen beinhalten. Es ist vor allem eine verbesserte Ausbildung der Erzieher und Pädagogen nötig, denn Betreuung. Bildung
und Beratung in einem Familienzentrum sind in erster Linie personenbezogene Dienstleistungen. Hierzu werden in Deutschland
zwar Reformpläne diskutiert, ihre Umsetzung allerdings lässt in zu vielen Teilen auf sich warten. In diesem Beitrag wird das
niederländische Ausbildungsmodell für Kompetenzlernen vorgestellt, dessen Ansatz auch für Familienzentren interessant sein
könnte.
Mit dem 1. August 2006 hat die ISA Planung und Entwicklung GmbH im Auftrag des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI) das Projektmanagement für die Pilotphase des Landesprojektes „Familienzentrum NRW“ übernommen.
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