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Soziales Netzwerk: Ein neues Konzept für die Psychiatrie

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Abstract

Dieses Buch befaßt sich erstmalig mit dem in der Psychiatrie aktuellen Thema des "sozialen Netzwerks" im deutschen Sprachraum. Neben konzeptuellen und methodischen Fragen der Netzwerkforschung werden die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Beziehung zwischen sozialem Netzwerk und psychischen Störungen vorgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Bedeutung sozialer Netzwerke für die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen, der Auswirkung psychischer Krankheit auf die sozialen Beziehungen der Patienten und dem Einfluß sozialer Netzwerke auf das Krankheitsverhalten. Außerdem wird die Anwendung des Netzwerkkonzepts in der psychiatrischen Praxis anhand mehrerer Beispiele illustriert. Das Spektrum der berücksichtigten psychischen Störungen reicht von Neurosen, psychosomatischen Syndromen und Alkoholabhängigkeit über funktionelle Psychosen bis hin zu gerontologischen psychiatrischen Erkrankungen. Dem Leser wird ein repräsentativer Überblick über den "state of the art" der psychiatrischen Netzwerkforschung im deutschen Sprachraum vermittelt.

Chapters (17)

Die Zahl der Untersuchungen zu den Themen soziale Unterstützung und soziales Netzwerk hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen Es ist noch schwierig einzuschätzen, welchen Erkenntniszuwachs die boomartig eingesetzte Konjunktur dieser Konzepte bringen wird. Eine Mischung aus Optimismus und Skepsis ist der Grundton vieler Übersichtsarbeiten (Wellman 1982b; Udris 1982; Keupp u. Rerrich 1982). Soziale Unterstützung wird meist als Schutzfaktor betrachtet, der in den unterschiedlichsten Lebensbereichen die Auswirkungen streßhafter Belastungen abmildert, u.a. auch durch eine Stärkung des Immunsystems (Cassell 1976). Untersucht wurde das menschliche Leben in dieser Hinsicht, wie Udris (1982) es in einer Übersicht ausgedrückt hat, von der Wiege bis zur Bahre. Tatsächlich haben erwünschte Kinder ein höheres Geburtsgewicht als unerwünschte (erwähnt in Cobb 1979, S. 95); dagegen stellt sich der Tod früher ein, wenn die soziale Umgebung verarmt ist (Berkman u. Syme 1979). Was soziale Unterstützung intuitiv ist, kann man sich am besten am Beispiel des Kindes klarmachen, dessen Qualen auf dem Zahnarztstuhl dadurch vermindert werden, daß die Mutter dabei ist.
Die sozialepidemiologische Erforschung psychiatrischer Störungen unterteilt die soziale Wirklichkeit grob in belastende und in protektive Faktoren. Konsistent als belastend erwies sich die Zugehörigkeit zu den unteren Schichten. Als protektiv, und das ebenfalls recht konsistent, zeigte sich der Familienstand „verheiratet“. Menschen strukturieren sich ihre Wirklichpidemiologische Erforschung psychiatrischer Störungen unterteilt die soziale Wirklichkeit grob in belastende und in protektive Faktoren. Konsistent als belastend erwies sich die Zugehörigkeit zu den unteren Schichten. Als protektiv, und das ebenfalls recht konsistent, zeigte sich der Familienstand „verheiratet“. Menschen strukturieren sich ihre Wirklichkeit über Symbole. Wenn die Zugehörigkeit zur Unterschicht belastend wirkt, dann nicht nur deshalb, weil sie mit Deprivation, sondern auch, weil sie mit relativer Deprivation verbunden ist. Belastend ist der Vergleich mit den etwas besser Gestellten, deren Anstrengungen im Beruf sich offenbar mehr auszahlen, während die eigenen Bemühungen nur relativ wenig Anerkennung finden. Verheiratetsein gilt als protektiv, weil die Ehe eine klassische Institution zur Stabilisierung sozialen Rückhalts ist. Sozialer Rückhalt (hier synonym mit „soziale Unterstützung“ gebraucht) meint emotionale Nähe, Information und Rat und im Bedarfsfall auch praktische Hilfe.
Die noch junge Geschichte des Begriffs „soziale Unterstützung“ oder „social support“ ist gekennzeichnet von einer Vielzahl verschiedener, oft nicht miteinander zu vereinbarender Definitionen und Operationalisierungen (vgl. etwa Cobb 1976; Kaplan et al.1977; House 1981) und einem entsprechendem Wirrwarr empirischer Resultate (vgl. Broadhead et al. 1983). Die vielfältigen konzeptuellen und empirischen Diskrepanzen auf diesem Forschungsgebiet sind Gegenstand einer Reihe von neueren Arbeiten (Barrera 1986; Baumann u. Pfingstmann 1986; Cohen u. Wills 1985; Thoits 1982; Veiel, 1987 b, 1987 c), und ich werde die daraus resultierenden Probleme deshalb hier großenteils übergehen. Die zentrale Frage, was eigentlich unter „sozialer Unterstützung“ zu verstehen ist, kann jedoch nicht umgangen werden. Obwohl die große Bedeutung sozialer Unterstützungsfaktoren bei der Genese und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen ausführlich belegt ist, was schon eine kursorische Übersicht einschlägiger (v. a. englischsprachiger) Zeitschriften der letzten Jahre zeigt, muß das Konzept, um seine fruchtbare Anwendung auf ätiologischem, therapeutischem und präventivem Gebiet zu gewährleisten, hinreichend von verwandten Begriffen abgegrenzt werden, insbesondere von dem des sozialen Netzwerks. Letzterer bezieht sich hauptsächlich auf Strukturen des sozialen Umfelds einer Person, ohne eine bestimmte Funktion für diese Person zu implizieren (vgl. Mitchell u. Trickett 1980). Die Bestimmung von Unterstützungsfunktionen des sozialen Umfelds erfordert dagegen einen Rekurs auf die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Person (French et al. 1974; Kaplan et al.1977; Veiel 1987c; vgl. Henderson 1984). Soweit es sinnvoll ist, abstrakt über „soziale Unterstützung“ zu reden (vgl. Barrera 1986), muß es deshalb als ein wesentlich relationales Konzept betrachtet werden, das sich auf das Verhältnis von individuellen und sozialen Bedingungen bezieht. Soziale Unterstützung kann so als die Funktion des sozialen Netzwerks bei der Befriedigung individueller Bedürfnisse definiert werden. Soziale Unterstützung ist dann gegeben, wenn individuelle Bedürfnisstrukturen mit Strukturen des sozialen Umfeldes kongruent sind („person-environment fit“, French et al. 1974) und kann aus diesem Grund nur bei gleichzeitiger Erfassung individueller und sozialer Faktoren bestimmt werden. Viele Parameter des sozialen Umfelds, die üblicherweise unter „soziale Unterstützung“ subsumiert werden, können deshalb in der Regel nur potentielle Unterstützung, Unterstützungsressourcen erfassen, die erst dann aktuell und wirksam werden, wenn und falls das betreffende Individuum ihrer bedarf. Um den tatslichen Unterstützungswert solcher Unterstützungspotentiale zu bestimmen, müssen diese so differenziert erfaßt werden, daß sie mit individuellen Bedürfnisstrukturen verglichen werden können. Ich werde im folgenden ein Instrument vorstellen, das „Mannheimer Interview zur sozialen Unterstützung“ (MISU), dessen Ziel die detaillierte Erfassung solcher potentieller Unterstützungsstrukturen ist.
Soziale Unterstützung und soziales Netzwerk sind zu neuen Leitbegriffen der empirischen Sozialforschung geworden. Sie korrespondieren mit fundamentalen menschlichen Erfahrungen: der biblischen Einsicht, daß es gut ist, daß der Mensch nicht allein sei (Genesis 2, Vers 18) und der Erkenntnis, daß wir alle irgendwie miteinander zusammenhängen. Die wissenschaftliche Arbeit mit diesen Konzepten besteht haupsächlich in der Differenzierung ihrer unterscheidbaren Aspekte und in der Untersuchung ihrer Bedeutung für das Verständnis menschlichen Verhaltens, besonders der Bedingungen von Gesundheit und Krankheit.
Soziale Unterstützung ist ein in der Psychiatrie und klinischen Psychologie bedeutsames Konzept (Gottlieb 1981 ; Keupp 1982). Ursprünglich in der soziologischen und sozialanthropologischen Forschung entwickelt (Barnes 1954; Bott 1971), ist es von klinischen Psychologen und Psychiatern für die Erklärung der Entstehung und Bewältigung psychischer Krankheiten und Störungen benutzt worden. Eine Vielzahl von Untersuchungen haben die Relevanz dieses Erklä-rungsansatzes belegt; allerdings weisen neuere Arbeiten darauf hin, daß das Konzept der sozialen Unterstützung ergänzungsbedürftig ist. Ein gewichtiges Argument bezieht sich dabei auf das Defizit der rein strukturellen Betrachtungsweise, die als „soziale Geometrie“ die Entwicklungsbedingungen, die Kontexte und v. a. die subjektive Seite der sozialen Unterstützungssysteme vergißt (s. Rohner u. Wiedemann 1986). Eine Möglichkeit, gerade die subjektive Seite einzubeziehen, bietet die Analyse der Konstruktions- und Auswahlprinzipien, nach denen soziale Unterstützungssysteme aufgebaut und genutzt werden (Becker u. Wiedemann 1986). Dieser Ansatz soll hier im weiteren anhand einer Einzelfallstudie vorgestellt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung des methodischen Vorgehens und der Diskussion der Leistungseigenschaften der dazu herangezogenen, aus der multiattributen Evaluation (Edwards u. Newman 1982) stammenden Vorgehensweise.
Zwei wesentliche präventive Auswirkungen der sozialen Unterstützung auf psychogene Erkrankung lassen sich beschreiben: ein sogenannter Haupteffekt und ein sogenannter Puffereffekt (vgl. z. B. House 1981 ; Waltz 1981). Während man die allgemeine Funktion sozialer Unterstützung für psychisches Wohlergehen als „Haupteffekt“ bezeichnet, wird unter dem „Puffereffekt“ v.a. die streßmindernde Funktion sozialer Unterstützung im Rahmen belastender Lebensereignisse verstanden.
Die vorliegende Arbeit untersucht das Krankheitsverhalten junger Erwachsener aus der Allgemeinbevölkerung, wobei dem Umgang mit psychischen und psychosomatischen Syndromen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Unser besonderes Interesse gilt der Frage, wie die Entscheidung bei einer Beschwerde professionelle medizinische Versorgung zu beanspruchen, mit dem Prozeß der Wahrnehmung in der Interaktion innerhalb der Primär- und Sekundärbeziehungen zusammenhängt. Diese Fragestellung entspringt der Erkenntnis, daß nicht alle Leute mit Beschwerden oder Krankheiten den Arzt aufsuchen und umgekehrt nicht immer eine klare medizinische Indikation vorhanden ist, wenn jemand einen Arzt aufsucht. Dadurch, daß nicht jede Gesundheitsstörung automatisch zu einer Arztkonsultation führt, ist der Weg in die Arztpraxis nicht nur ein medizinisches, sondern in einem relevanten Ausmaß auch ein soziales Problem.
Die Untersuchung sozialer Bedingungen, die die Inzidenz von Suizidversuchen und Suiziden beeinflussen könnten, hat eine lange Tradition. Schon vor 100 Jahren erkannte Durkheim (1897; 1973), daß Gesellschaften, die ein hohes Maß an Entfremdung bzw. wenig allgemein akzeptierte Normen aufweisen, durch erhöhte Suizidraten gekennzeichnet sind. Auch innerhalb einzelner Gesellschaften stellten epidemiologische Untersuchungen, die die Häufigkeit von Suiziden mit soziodemographischen Variablen in Beziehung setzten, eine inverse Beziehung zwischen Suizidrate und dem Ausmaß sozialer Integration fest. Die am wenigsten sozial integrierten Personengruppen (z.B. alleinstehende, verwitwete oder alte Menschen) weisen i.allg. die höchsten Suizidraten auf (Barraclough et al.1974; Monk 1975; Wenz 1977).
Die erste systematische Vergleichsstudie zum sozialen Netzwerk schizophrener Kranker wurde 1976 von Tolsdorf publiziert. In der Folge kam ein halbes Dutzend weiterer Untersuchungen hinzu, in denen das Netzwerk schizophrener Kranker mit dem von Normalpersonen oder anderen psychiatrischen Patienten verglichen wurde (Serban 1977; Sokolovsky et al. 1978; Garrison 1978; Pattison u. Pattison 1981; Angermeyer u. Lammers 1986; Dohrenwend et al. 1987; Joraschky et al. 1987). Die untersuchten Patientengruppen differierten z.T. beträchtlich im Hinblick auf den soziokulturellen Kontext (das Spektrum reicht von den Bewohnern einer Großstadt in der BRD bis hin zu Frauen aus Puerto Rico, die in der Bronx leben), den Behandlungsstatus (ohne psychiatrische Behandlung gegenüber ambulante oder stationäre Behandlung) und das Stadium der Krankheitskarriere (Erstmanifestation gegenüber langjähriger Verlauf). Trotz all dieser Verschiedenheiten will ich versuchen, die Untersuchungsergebnisse zu einer idealtypischen Beschreibung des sozialen Netzwerks schizophrener Kranker zu kondensieren.
Haben Patienten mit einer langen Geschichte intermittierender psychotischer Krankheitsschübe ein kleineres Netzwerk, und erfahren sie weniger soziale Unterstützung als solche, die gerade erst an einer Psychose erkrankt sind? Die klinische Erfahrung legt nahe, diese Frage zu bejahen, denn ein zentraler Aspekt psychotischer Erkrankungen ist die Störung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Diese Tatsache prägt die soziale Welt des Patienten, in der sich seine Pathologie widerspiegelt (siehe z.B. Mentzos 1976) und die zugleich dazu beiträgt diese Pathologie aufrechtzuerhalten. In einer kürzlich erschienenen Übersicht im Schizophrenia Bulletin (Beels et al. 1984) sind eine Reihe von Untersuchungsergebnissen über die Beschaffenheit von Netzwerken schizophren Erkrankter zusammengefaßt worden. Die Netzwerke schizophren Erkrankter sind meist kleiner als die anderer psychiatrischer Patienten. Charakteristisch ist, daß Netzwerkmitglieder sich wenig kennen und in ihren Funktionen für den Patienten sehr spezialisiert sind. Viele Patienten sind ungewöhnlich eng an Familienangehörige, meist die Eltern, gebunden. Andere haben ausdrücklich mit der Familie gebrochen und unterhalten relativ umgrenzte Beziehungen zu einem verstreuten Bekanntenkreis. Oft ist das persönliche Netzwerk eines psychotischen Patienten aus der Notwendigkeit heraus zu verstehen, einen Kompromiß zwischen der Angst vor menschlicher Nähe und der Angst vor Verlassenheit zu schließen. Wenn die Krankheit intermittierend verläuft und es zu wiederholten Berührungen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem kommt, dann wächst auch die Wahrscheinlichkeit, daß berufsmäßige Helfer und andere Patienten in das persönliche Netzwerk eingebaut werden. Dieser Vorgang geht bis zur Sozialisation in ein psychiatrienahes Milieu, das auch im Zeitalter der gemeindenahen Psychiatrie außerhalb der Mauern der psychiatrischen Anstalt noch weiterbesteht und dort eine Art unsichtbares Ghetto bilden kann (Estroff 1981). Eine ausführliche Übersicht zum Wissensstand über die soziale Umgebung schizophren Erkrankter gibt Angermeyer in diesem Band.
Seit Durkheim (1973) sind die sich überschneidenden Konzepte Anomie, Entfremdung und soziale Isolation immer wieder als Variablen genannt worden, die den Ausbruch einer seelischen Krise oder einer psychischen Krankheit erklären könnten. So wurden beispielsweise für Suizid (Sainsbury 1955) sowie für die Behandlungsinzidenz von Schizophrenie (Faris u. Dunham 1939) Zusammenhänge mit stadtökologischen Indizes für soziale Isolation festgestellt. Auch die gerontopsychiatrische Forschung hat dieser Variablen Aufmerksamkeit gewidmet, da soziale Isolation von Sozialwissenschaftlern als „ein wesentliches Kennzeichen der Lebensbedingungen alter Menschen“ (Parsons 1968) bezeichnet wurde.
Nach einer Phase der Anstaltsfeindlichkeit und einer der Gemeindepsychiatrie ist nun von einer dritten Phase die Rede (Katschnig u. Koniecza 1984): Soziale Netzwerke sollen zum Dreh- und Angelpunkt psychiatrischer Hilfen werden. Schulberg u. Killilea (1982) sprechen von einer „wahren Explosion des Interesses an Strukturen, Funktionen und Prozessen sozialer Netzwerke und Stützsysteme“ (S 52; übersetzt vom Autor). Auf die präventiven und salutogenen Kräfte sozialer Netzwerke zu hoffen ist nicht neu. Schon 1974 hat Caplan soziale Stützsysteme als das wesentlichste Moment einer präventiv orientierenden Psychiatrie bezeichnet (vgl. auch Caplan u. Killelea 1974).
Was ich im folgenden ausführen werde, stammt aus Ergebnissen von teilnehmenden Beobachtungen und narrativen Interviews in einer beschützenden Wohngruppe für psychisch Kranke. Diese Wohngruppe ist einerseits selbst ein soziales Netzwerk und wird andererseits von einem sozialen Netz getragen bzw. ertragen. Ich will zuerst dieses „äußere“ soziale Netz kurz beschreiben und komme dann ausführlicher zu dem „inneren“ sozialen Netz.
In der täglichen Arbeit mit psychisch kranken älteren Menschen wird immer wieder deutlich, wie wenig ein einzelner Helfer als „vereinzelter Helfer“, sei es Arzt, Krankenschwester oder Angehöriger, den Nöten dieser Kranken gewachsen ist. Will er dem Patienten angemessen helfen, so ist er auf das bestehende Versorgungsnetz und das soziale Laiennetzwerk angewiesen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Mit einem Stöhnen „Was soll ich machen, ich komme an die alte Frau einfach nicht dran“ beginnt eine Gemeindekrankenschwester die Schilderung einer ihr anvertrauten Patientin in der Balintgruppe.
Am Anfang muß hier sehr deutlich unterstrichen werden, daß ein jeder Begriff im obigen Titel einer umfangreichen Erläuterung und Diskussion bedürfte. Um das Lesen aber durch solche Begriffserklärungen nicht zu strapaziös zu gestalten, beschränke ich mich darauf, „Nachsorge“ zu erläutern, in der Hoffnung darauf, daß hinsichtlich der anderen Begriffe im Verlauf der weiteren Ausführungen etwas Klarheit gleichsam nebenher entsteht.
Die Einführung der Psychopharmaka hatte zur Folge, daß die Mehrzahl psychisch Kranker früher aus psychiatrischen Anstalten entlassen und mit der sozialen Welt draußen konfrontiert wurde. Recht bald mußte man allerdings die Erfahrung machen, daß diese Konfrontation des öfteren zu Rückfällen führte. Es wurden deshalb verschiedene Versuche unternommen, die Integration bzw. Reintegration der Patienten in ihr soziales Netzwerk möglichst konflikt- und spannungsfrei zu gestalten. Diese Versuche zielten im wesentlichen in 2 Richtungen. Die 1. Richtung („patientenzentriert“) die beim Kranken ansetzte, ergab sich aus der Beobachtung, daß die sozialen Fertigkeiten der chronisch psychisch Kranken defizient sind und zumindest teilweise (wieder)erlernt werden können; diverse Formen des Trainings der sozialen Fertigkeiten nahmen sich daher das Erlernen der Verhaltensweisen zum Ziel, die für das Knüpfen und Aufrechterhalten sozialer Kontakte wichtig sind. Die 2. Richtung („netzwerkzentriert“) mit dem Ansatz am sozialen Netzwerk des Kranken — zu der ersten komplementär — gründete auf der Überzeugung, daß die Veränderungsmöglichkeiten bei Patienten in bezug auf ihre sozialen Fertigkeiten sehr begrenzt sind und daß die Vorbereitung des sozialen Netzwerkes auf den Alltag mit einem psychisch Kranken leichter realisierbar ist.
Die in diesem Buch enthaltenen Beiträge behandeln das Thema Netzwerk und psychische Störung aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst ging es um prinzipielle Fragen der Konzeptbildung und Methodik der Forschung in diesem Bereich. Dann wurde die Bedeutung des sozialen Netzwerks für die Genese und den Verlauf psychischer Störungen untersucht, wie auch umgekehrt mögliche Auswirkungen der Krankheit auf das Beziehungsnetz der Patienten. Schließlich wurden therapeutische und rehabilitative Interventionen vorgestellt, die eine Stärkung des Netzwerks psychisch Kranker zum Ziel haben sowie Selbsthilfeinitiativen im Kontext des Netzwerkansatzes diskutiert. Die in diesem Band zusammengestellten Arbeiten sind, so meinen wir, repräsentativ für die aktuelle wissenschaftliche Aktivität in diesem Bereich im deutschen Sprachraum. Resümierend läßt sich feststellen, daß hierzulande inzwischen im Hinblick auf Konzeptualisierung und Methodik die seitens der angloamerikanischen Forschung vorgegebenen Standards erreicht und darüber hinaus eigene Forschungsansätze entwickelt werden konnten.
... Jede Form körperlicher oder psychischer Krankheit kann die sozialen Beziehungen eines Menschen nega­ tiv beeinflussen und Störungen des sozialen Netzes können ei­ nen negativen Einfluss auf den Gesundheitszustand haben. Dies gilt insbesondere für chronische Erkrankungen und speziell auch für psychische Störungen [1][2][3]. Eine Berücksichtigung des sozialen Netzes ist daher in der Reha­ bilitation allgemein wie auch in Rehakliniken von unmittelbarer Bedeutung [4,5]. Zum Ersten befasst sich Rehabilitation mit Er­ krankungen und Behinderungen, die einen chronischen Verlauf haben und daher unmittelbar auf die Sozialbeziehungen einwir­ ken oder auch Hilfe von außen benötigen. ...
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Fragestellung: Die ICF führt unter Aktivitäten „Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen“ und im Abschnitt Umweltfaktoren „Unterstützung und Beziehungen“ auf. Ein Instrument zur Erfassung dieser Dimensionen ist der MuSK. Material und Methoden: Der Multidimensionale Sozialkontaktkreis (MuSK) ist ein Instrument zur zeitökonomischen, reliablen und validen Erfassung der Struktur und Qualität des sozialen Netzes, in der Selbst- wie Fremdbeurteilung. Ergebnisse: Mit dem MuSK können erfasst werden die „Gesamtnetzgröße“, der „Integrationsindex“, das „Netzspektrum“, das „differentielle Netzspektrum“. Im nächsten Schritt kann dann die „funktionale Qualität“ des sozialen Netzes bestimmt werden mit dem Grad der „Gesamtunterstützung“ bzw. „Gesamtbelastung“ oder die „Beziehungsambivalenz“. Es fand sich, dass Haushaltsmitglieder und die weitere Familie die wichtigsten sozialen Ressourcen sind. Freunde und sonstige Kontakte sind vor allem emotional von Bedeutung, während Nachbarn oder Arbeitskollegen eher praktische und nur wenig emotionale Unterstützung geben. Diskussion: Sowohl aus der Struktur der sozialen Umwelt wie der sozialen Teilhabe können sich therapeutische Konsequenzen ergeben. Es empfiehlt sich eine systematische Abfrage des sozialen Netzes. Schlussfolgerung: Im Leitfaden zum Entlassungsbericht werden von der Deutschen Rentenversicherung detaillierte Angaben zum sozialen Netz verlangt. Das im MuSK grundgelegte Prinzip des Social Network Mapping kann als Anamneseleitlinie dienen.
... In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wandten sich verstärkt theoretisch interessierte Forscher der Netzwerk-/ Unterstützungsforschung zu (vgl. Schwarzer & Leppin, 1989;Baumann;Baumann & Veiel;Angermeyer & Klusmann, 1989;Reisenzein, Baumann & Reisenzein, 1993;Sarason & Sarason, 1985;. Die erneute Bewertung der bisherigen Forschung war ernüchternd. ...
... In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wandten sich verstärkt theoretisch interessierte Forscher der Netzwerk-/ Unterstützungsforschung zu (vgl. Schwarzer & Leppin, 1989;Baumann;Baumann & Veiel;Angermeyer & Klusmann, 1989;Reisenzein, Baumann & Reisenzein, 1993;Sarason & Sarason, 1985;. Die erneute Bewertung der bisherigen Forschung war ernüchternd. ...
Chapter
In diesem ersten Teil des Beitrages über Möglichkeiten verhaltenstherapeutischer Schizophreniebehandlung werden wichtige empirische Forschungsergebnisse und integrierende theoretische Konzeptionen der Schizophrenieforschung dargestellt. Sie ermöglichen ein in Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen stehendes Verständnis schizophrener Störungen und konstituieren damit die Basis einer rationalen Therapieplanung. Im einzelnen wird auf definito-rische Merkmale des aktuellen Schizophreniebegriffes, auf Symptome und ihre sub-typologische Relevanz, auf Verlauf und Prognose der Schizophrenien, auf epidemiologische und ätiologische Befunde eingegangen. Im Ätiologiekapitel werden im Sinne einer multifaktoriellen Genese bedeutsame biologische (aus den Bereichen: Genetik, Neurotransmitterstoffwechsel, Hirnorganik und neuronale Entwicklung) und psychologische Faktoren (aus den Bereichen: Informationsverarbeitung, Streß, Coping und Persönlichkeit) diskutiert und anschließend im Kontext moderner Vulnerabilitätsmodelle betrachtet. Schließlich werden Beiträge der modernen empirischen Therapieforschung und ihre Auswirkung auf die Entwicklung des verhaltenstherapeutischen Methodenrepertoires referiert.
Chapter
Verständnis der Konzepte: „soziales Netzwerk“ und „soziale Unterstützung“ in ihrer Unterschiedlichkeit und Komplementarität; Kriterien der Netzwerkanalyse; Typen der sozialen Unterstützung; Modelle der Effekte sozialer Unterstützung; kognitives transaktionales Streßkonzept; methodische Probleme; empirische Befunde.
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Studies in network-analysis and network-intervention present an important contribution for the reform of psychiatry in the English- and German-speaking countries. Faced with the increasing individualisation of society, network-analysis today can be considered as a perspective for the reorganisation of working social relationships and as a field of study it gains importance for the research in the socialepidemiological field. Out of this interest many studies have already been published showing the correlation between different network variables and schizophrenia. Since this studies have mostly been undertaken making use of quantitative methods the ambivalence inherent to social relationships has not been extensively researched yet. In addition, the therapeutical utilisation evolving from this ambivalence has also not been developed yet. For our project at the LKH Klagenfurt and the social-psychiatric institutions in the region we have therefore been drawing on a combination between qualitative and quantitative methods. Starting from a case history, the essay illustrates the themes of social isolation, problems concerning detachement and the interdependence between family (primary network) and social-psychiatric institutions (tertiary network). The perspective of the network gives meaning to the experiences and the behavior of a person who has been diagnosed as a schizophrenic and consequently allows to change strategies of intervention.
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In diesem ersten Teil des Beitrages über Möglichkeiten verhaltenstherapeutischer Schizophreniebehandlung werden wichtige empirische Forschungsergebnisse und integrierende theoretische Konzeptionen der Schizophrenieforschung dargestellt. Sie ermöglichen ein in Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen stehendes Verständnis schizophrener Störungen und konstituieren damit die Basis einer rationalen Therapieplanung. Im einzelnen wird auf definitorische Merkmale des aktuellen Schizophreniebegriffes, auf Symptome und ihre subtypologische Relevanz, auf Verlauf und Prognose der Schizophrenien, auf epidemiologische und ätiologische Befunde eingegangen. Im Ätiologiekapitel werden im Sinne einer multifaktoriellen Genese bedeutsame biologische (aus den Bereichen: Genetik, Neurotransmitterstoffwechsel, Hirnorganik und neuronale Entwicklung) und psychologische Faktoren (aus den Bereichen: Informationsverarbeitung, Streß, Coping und Persönlichkeit) diskutiert und anschließend im Kontext moderner Vulnerabilitätsmodelle betrachtet. Schließlich werden Beiträge der modernen empirischen Therapieforschung und ihre Auswirkung auf die Entwicklung des verhaltenstherapeutischen Methodenrepertoires referiert.
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Experimentelle Untersuchungen zur sozialen Unterstützung haben wichtige Merkmale sowohl des Helfenden als auch der Situation erforscht. In letzter Zeit werden mehr Erkenntnisse über Merkmale des Hilfsbedürftigen, insbesondere Bewältigungsaspekte von Patienten, gewonnen. Doch diese eher grundlegenden Arbeiten bedürfen, wie Schwarzer (1992) schreibt, der Ergänzung durch mehr angewandte Studien, die das Zusammenwirken von realen Helfenden und Hilfsbedürftigen analysieren und auch Aspekte der Krankheitsverarbeitung involvieren. „Das starke Interesse an der Netzwerkthematik ist aber letztlich nur über einen wissenschaftsexternen Grund verständlich zu machen. Die Beziehungen der Individuen in hochindustrialisierten Gesellschaften werden nicht mehr durch relativ starre und traditionsfixierte Rollenmuster reguliert, sondern sind einem tiefgreifenden Prozeß der Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen unterworfen“(Keupp 1990). Badura (1981) stellte mit einer Analyse fest, daß bei chronischen Krankheiten der Zugang zu informellen Hilfsquellen wichtig ist, z.B. die psychologische und instrumenteile Hilfe von Freunden, Nachbarn oder Selbsthilfe-gruppenmitgliedern. Dimatteo u. Hays (1981) stellten fest, daß die Qualität der sozialen Unterstützung eine Auswirkung auf das Copingergebnis hat. Dieser letztgenannte Aspekt war Ausgangspunkt unserer Untersuchung. Welchen Einfluß hat die soziale Unterstützung auf die Krankheitsverarbeitung von Patientinnen mit einer primären Osteoporose Typ I.
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Hauptziele sozialpsychiatrischer Rehabilitation. Einerseits kann der soziale Rückzug schizophrener Patienten ein erhebliches Hindernis darstellen, andererseits müssen unsere Patienten mit Angst und Ablehnung von Seiten der Bevölkerung rechnen. Wir haben die sozialen Netzwerke von 21 chronischen psychiatrischen Patienten analysiert, die in der Gemeinde leben. Unsere Ergebnisse zeigen, daß die meisten von ihnen zwar ausreichend Sozialkontakte haben, daß aber 54% der Netzwerkmitglieder entweder andere psychiatrische Patienten oder Betreuungspersonen sind. Obwohl die sozialpsychiatrische Versorgung es vielen Patienten ermöglicht, außerhalb des psychiatrischen Krankenhauses zu leben, braucht es doch weitere Anstrengungen, die Entwicklung einer psychiatrischen Subkultur zu verhindern.
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Zusammenfassung: An der Psychiatrischen Universitatsklinik Basel wurde von 1996 bis 1997 das soziale Netzwerk von 60 stationar behandelten alterspsychiatrischen Patienten ohne eindeutig feststellbare Einschrankung der kognitiven Leistungsfahigkeit untersucht; einzelne Netzwerkvariablen mit potentiellen Indikatoren der Erfolgskontrolle wurden hinsichtlich ihrer praventiven Funktion retrospektiv evaluiert. Der Anteil Alleinlebender ist bei alterspsychiatrischen Patienten erhoht. Alleinlebende haben ein geringes primares, aber ein groseres sekundares Netzwerk als nicht Alleinlebende. Bei Zusammenleben mit dem Ehepartner liegt ein primares, aber nahezu kein sekundares Netzwerk vor. Ein groser Teil der Betreuung wurde durch Kinder geleistet, obwohl nur wenige Patienten mit Kindern zusammenlebten. Die Betreuung durch Kinder war u.a. mit einer Reduktion der stationaren Aufnahmen und kurzeren Hospitalisationszeiten verbunden. Ein wesentlicher Anteil der Betreuung wurde durch das familiare Netzwerk geleistet, jedo...
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The inquiry of the association between social class and illness/life expectancy lacks as well on theory orientated conceptualization of the complex causal chain from social inequality to individual consequences as on differentiation of each of its links. In order to eliminate these deficits a hierachical mulitdimensional process model will be introduced, in which the position in the system of social inequality (macro dimension) is connected with the dimension of social action (meso dimension, esp. family and professional context) and this again with the dimension of the individual (micro dimension: personality/organism) in different stages of the life course.
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Resourcen sind in der Beratung und in der Psychotherapie in den letzten Jahren zu einem vielfach diskutierten, geradezu einem Zauberwort geworden. Gefordert wird eine der Problemorientierung ebenbürtige Perspektive, die die positiven Seiten der Person, ihre Stärken und Kräfte betont. Die Gemeindepsychologie erweitert diese Sicht beraterischer und therapeutischer Arbeit durch ihren Fokus auf kontextbezogene Ressourcen und deren Balance mit dem individuellen Potential der Person. Eine besondere Bedeutung wird dabei den sozialen Ressourcen zugemessen, die durch das soziale Netzwerk gebildet werden. Es stehen in der Zwischenzeit eine Reihe von erprobten Methoden zur Netzwerkförderung zur Verfügung, die eine sinnvolle Ergänzung klinisch-psychologisch bzw. psychologisch-beraterisch ausgerichteter ressourcenorientierter Ansätze darstellen. The subject of ‚resources‘ has become a much discussed topic, even a buzzword, in the fields of counselling and psychotherapy in recent years. A problem-oriented approach is called for with equal perspectives which emphasize the positive sides of a person in terms of strengths and empowerment. Community psychology expands on this view of counselling and therapeutic work by focussing on context-related resources and how they balance with the individual potential of a person. Special attention has been placed on social resources which have been formed through the social network. In recent years, there have been a number of tested methods supporting networking. They indicate a suitable, resource-oriented approach complementing clinical psychological counselling.
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Eine kurze Rekonstruktion der Geschichte sozialer Netzwerk- und Unterstützungsforschung ist Ausgangspunkt für eine kritische Würdigung des aktuellen Wissensstandes zur Netzwerkintervention. Eine systematische Kategorisierung von Ansatzebenen netzwerkorientierter Intervention wird vorgestellt. Der dringende Bedarf an evaluierter Erprobung von Netzwerk- und Unterstützungsintervention wird formuliert und zentrale Anforderungen an entsprechende Interventionsprogramme werden aus Theorie, Empirie und Praxiserfahrungen abgeleitet. A short reconstruction of the social network and social support research history is a starting point for a critical reflection of the state of the art of network and support intervention. Target levels of social network intervention are systematically discussed. The urgent need for an evaluation of more network and support intervention programs is expressed. Important conditions of effective interventions are drawn from network and support theory, research and practical experiences.
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Chronicity in serious mental disorders emanates from deficient ecological resources interacting with vulnerable individuals. Rehabilitation can succeed if an integrated and individualized approach is augmented by appropriate ecological supports.
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