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Welche Welt? Wessen Geschichte? Die thematischen und methodologischen Herausforderungen der Weltgeschichtsschreibung

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Welche Welt? Wessen Geschichte?
Die thematischen und methodologischen
Herausforderungen der Weltgeschichtsschreibung
Aslı Vatansever
((1)) Es gibt wenig Übereinstimmung darüber, was Welt-
geschichte ist und wie sie gemacht werden soll. Versteckt
hinter scheinbar terminologischen Debatten, ob man es
Universal-, Transnational- oder Globalgeschichte etc. nen-
nen will, die wahre Unstimmigkeit stammt aus unterschiedli-
chen Ansätzen zu den räumlichen und zeitlichen Parametern
des Feldes. Dies ist natürlich auch immer verknüpft mit der
Hauptfrage, welche Welt hier gemeint wird und wer ihre
Geschichte für sich beansprucht. Hinzu kommt die Tatsache,
dass, trotz der Bemühungen von World History Association
und der Gründung von Studienprogrammen an wenigen
Universitäten insb. in den USA seit Anfang 1980er Jahren,
sich Weltgeschichte kaum als eindeutige Disziplin etablieren
konnte.
((2)) Wichtige Fragen, die ganz oben auf der Tagesordnung
stehen, sind:
a) Die räumlichen und zeitlichen Parameter des Feldes,
d.h. die geopolitisch-kulturellen, die disziplinär-thema-
tischen und die zeitlichen Grenzen (die Bestimmung
der mehr oder weniger allgemein gültigen historischen
Periodisierungen)
b) Disziplinäre Präzision und Institutionalisierung
c) DieDenitiondesForschungsobjekts
d) Die inneren Dynamiken der Weltgeschichte, was
auf die Frage nach dem Motor und den Akteuren der
Weltgeschichte hinausläuft
((3)) Einige dieser Herausforderungen werden in den Bei-
trägen von Imanuel Geiss und Hans-Heinrich Nolte bewusst
angerissen; andere wiederum lassen sich am Beispieljener
Beiträge verbildlichen.
((4)) Das Problem der Institutionalisierung, die von Nolte
(insb. für den deutschsprachigen Raum) thematisiert wird, er-
scheint im ersten Blick wie eine technische Frage. Gleichwohl
liegt es nahe, dass die Tatsache, dass die Weltgeschichte
trotz ihres Aufstiegs im Zuge der Globalisierung und dem
wach senden Bedarf nach einer holistischen Rekonstruktion
in den Sozialwissenschaften immer noch ein Randdisziplin
bleibt, mit den inneren Widersprüchlichkeiten der Welt ge-
schichtsschreibung verbunden sein kann. Eine methodolo-
gische Unbestimmtheit, die auch Hans-Heinrich Nolte er-
wähnt, ist auf jeden Fall drin. Die sich ausbalancierenden
Vor-undNachteilederMonograenundSammelwerkekön-
nen einen Welthistoriker leicht verwirren, die Benennung
desFeldes―Welt-oder Globalgeschichte? ―nochmehr
((Nol te, (6), (7), (8), (9)).
((5)) Ein noch wichtigeres Problem wird von Nolte auch an-
geschnitten: Die Institutionen der Weltgeschichtsschreibung
sind immer noch national geprägt (Nolte, (3)). Im Fall
von Deutschland wäre es vielleicht möglich, die nationale
Färbung von Weltgeschichtsschreibung auf ein allgemei-
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nes Desinteresse für andere Kulturkontinente und auf eine
„Distanz zu globalen Prozessen“ zurückzuführen, wie Nolte
meint (Nolte, (3)). Aber es wäre unfair zu behaupten, das
ProblemseiDeutschlandspezisch.Keineswegsistauchdie
nationalbegrenzte Perspektive mit Geschichtswissenschaften
begrenzt. Kaum ist eine Weltgeschichte von nationalen
Grenzen befreit, wird man mit der Hegemonie der westli-
chen Zivilisation und ihres unmittelbaren Kulturkreises
konfrontiert. In diesem Fall wird der sonst westeuropäische
Schwerpunkt der Weltgeschichte oft durch den Mediterranen
Raum ersetzt. Es gibt genug Gründe, um zu behaupten,
dass das Problem eigentlich paradigmatische Wurzeln hat.
Der inhärente Eurozentrismus, die epistemologisch-dis-
ziplinären Trennungen/Beschränkungen und die national-
partikularistische Denkweise schlagen sich in der heutigen
Weltgeschichtsschreibung als Hemmungen gegen eine me-
thodologisch sowie inhaltlich holistische Herangehensweise
nieder.
((6)) Der Beitrag von Geiss, der das Eurasische System der
kulturellen Diffusion von William McNeill ins Zentrum
der Weltgeschichte stellt, könnte hier als Beispiel dienen.
McNeill’s The Rise of the West ist und bleibt eine wichtige
und umfassende Darstellung der Weltgeschichte, nicht zu-
letzt des Versuchs wegen, die Moderne nicht nur ab dem
16. Jahrhundert wie gewöhnlich, sondern im Kontext der
gesamten Weltgeschichte anzupeilen (McNeill, 1963). Aller-
dings bleibt gerade deswegen auch bei McNeill die Position
Europas in der Weltgeschichte problematisch. Im Unter-
schied zu Marshall Hodgson’s Afro-Eurasian Oikumene
―ein zeitlich sowie dem Schein nach konzeptionell ähn-
licherBeitragzurWeltgeschichtschreibung―,derdieisla-
mische und die westliche Zivilisation in die (zumindest bis
zum 19. Jahrhundert) Asien-zentrierte Weltgeschichte ein-
bettet (Hodgson, 1974; vgl. auch Burke, 1988, 1993), wird
bei McNeill die eurasische Geschichte als Vorspiel für die
Entwicklung der europäischen Moderne betrachtet.
((7)) Aus der hegemonialen Perspektive des Westens betrach-
tet, also im Lichte der realen Machtverhältnisse, scheint für
Geiss der Hauptmechanismus der Weltgeschichte die quali-
tative und quantitative Vervielfachung von Macht zu sein,
was sich in sozio-ökonomischen Systemen in einem Antrieb
für geographische Expansion niederschlägt. Allerdings ten-
dieren jene Systeme dazu, während sie einerseits geogra-
phisch expandieren und inklusiver werden, andererseits die
strukturellen Ungleichheiten und verschiedenen Arten von
Diskriminierung (u.a. Rassismus) permanent zu reproduzie-
ren. Das Beispiel von Kolonialismus und seiner rassistischen
Apologien seien allzeit evident (Geiss, (5)-(15)).
((8)) Geiss zählt die quantitativen (Territorium, Bevöl ke-
rung) und qualitativen Elemente (Freiheit: Rechts- und Ver-
fas sungsstaat, Adel: Funktionselite, Reichtum: BIP, Bildung)
der Macht (Geiss, (15)) auf. Einem fallen aber sogleich fol-
gende Gedanken ein: (a) Warum geht er das Risiko ein, die
strukturelle Seite des Problems (Ungleichheit/selbstzerstöre-
rische Kehrseite des Fortschritts) im Schatten zu lassen, in-
dem er all diese Faktoren unter einem vagen und abstrakten
KonzeptwieMachtsubsumiert?DennineinerAnalyse,die
von Macht als allgültiger Kategorie ausgeht, scheint die welt-
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systemische Expansion lediglich durch Machtbesessenheit
und pleonexia angetrieben zu sein. Aber Macht, vielmehr
ein Instrument als ein Ziel, ist nicht mal etwas ohne ihre
konkreten Belohnungen. (b) Mehr noch, die konkreten
Elemente der Macht aufzuzählen, aber indessen den Antrieb
für Machtsucht auf pleonexia zurückzuführen, kann un-
beabsichtigt essentialistische Positionen unterstützen. (c)
Die Elemente, die hier als qualitative Elemente der Macht
a priori akzeptiert sind, sind außerdem alle an sich höchst
kontrovers: Wie kann etwa „Freiheit“ nur mit Rechts- und
Verfassungsstaatbegrenztwerden?Wasmachtden„Adel“
zueinerFunktionselite?DieKriterienfürEntwicklungund
Reichtum sind ohnehin allzeit Diskussionsthema; das von
Geiss als solche akzeptierte Bruttoinlandsprodukt ist eigent-
lich nur ein Kriterium unter anderen. Dass all diese Maßstäbe
auch noch bekanntlich mit westlichen Gesellschaften asso-
ziierbar sind, macht die Sache noch heikler.
((9)) Die Überbetonung der Rolle des Westens macht sich
spätestens dann bemerkbar, wenn Geiss unter den „vier un-
ter schiedlich konstruierten imperial-zivilisatorischen Macht-
zentren“, die das Eurasische System bilden, nur China,
Indien, Persien und den „sich vom Alten Orient schrittweise
zum Atlantik“ verlagerten und schließlich „auf das lateini-
sche Europa“ geschrumpften Alten „Westen“ zählt (Geiss,
(13)). Man fragt sich, was mit dem Alten Orient passiert ist,
dessen griechisch-oströmisches Erbe in der byzantinisch-os-
mani schen Tradition lange noch mit dem emporkommenden
atlantischen Weltsystem koexistierte. Es ist merkwürdig,
dasshierbeispielsweisedasOsmanischeReich―einPa-
ra debeispiel des dem imperial overstretch aufzubürdenden
He gemonieparadoxons und ein zentraler Bestandteil der
Afro-Eurasischen Oikumenefür Jahrhunderte ― nichtein-
mal erwähnt wird.
((10)) Die Allgemeingültigkeit und die Legitimität der
Formel y=x², die Geiss als historischen Mechanismus be-
trachtet, scheint umso fraglicher, als alles am Ende mit der
Entwicklung der westeuropäischen Entwicklung in Ver-
bindung gebracht wird. In diesem Fall fragt man sich, ob
Westeuropa hier lediglich als eine Fallstudie zur Überprüfung
dieser Formel dient oder die ganze Formel sowieso nur im
Hinblick auf die westliche historische Erfahrung entwickelt
und als Universalregel durchgesetzt wird.
((11)) Die Antwort zu dieser Frage scheint in Geiss’ Kon-
zeptionderWeltgeschichtezundenzusein:Weltgeschichte
als Geschichte der Alten Welt des Trikontinents Afri ka-
Asien-Europa (Geiss, (11)). Da diese Region die „größ te
zusammenhängende Landmasse [war], wo stets die meis-
ten Menschen leb(t)en“ und „die isolierten Kontinente Alt-
Amerika und Australien / Neuseeland / Ozeanien, ohne Kon-
takte untereinander und nach außen, blieben ohne weltge-
schicht liche Wirkung“ (Geiss, (11), (12)), darf es wohl le-
gitim sein, die erlebte und bedeutsame Welt auf den Afro-
Eurasischen Trikontinent einzuschränken. Sicherlich kann
eine Weltgeschichte weder zeitlich noch räumlich allumfas-
send sein. Wichtig ist, eine sinnvolle Vorlage samt der ele-
mentarenGrundlagenunsererheutigenExistenz―die„his-
torischen Mechanismen“ nach Geiss ― herauszuarbeiten,
wofür die Kontingenz- und Divergenzpunkte höchstwichtig
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sind. Allerdings läuft man dann die Gefahr ein, die eindi-
mensionale Perspektive, die ohnehin in Nationalgeschichten
drin ist, durch die Einseitigkeit des Eurozentrismus in einer
Welt geschichtsschreibung zu reproduzieren.
((12)) Betrachtet man die Weltgeschichte nur im Hinblick
auf mechanische Kriterien wie Begegnung und Interaktion,
dann müsste man einsehen, dass die Afro-Eurasische Region
gleichermaßen unbedeutend für die Vorgeschichte der „iso-
lierten Kontinente“ war. Außerdem sollte man fragen: Waren
es nicht die unterschiedlichen Vorgeschichten dieser beiden
Regionen, welche die Bedingungen sowie die Folgen ih-
resZusammentreffensbestimmthaben? Gewinnen also so
gesehen auch ihre separaten Vorgeschichten nicht an welt-
geschichtliche Bedeutung? Problematisch wirkt auch, die
geographische Größe und die Höhe der zusammenhängen-
den Einwohnerzahl als Hauptkriterium darzustellen, denn
dies scheint wie der weltgeschichtlich-methodologische
Ausdruck der historisch-empirischen Macht der „Mehrheit“
und der Nichtanerkennung der „Minderheit“. Will aber
die Weltgeschichte die Geschichte der vorherrschenden
Mehrheitsein?
((13)) Die Schwierigkeit, sich von der epistemologischen
und terminologischen Falle des eurozentrischen Paradigmas
zu befreien, ungeachtet wie gut gemeint der Versuch ist,
kommt in diversen Stellen des Beitrags von Geiss zum Vor-
schein: Dass seine Referenzen ― Hegel, McNeill, Lan-
des ― im essentialistisch-eurozentrischen Diskurs eben-
falls gerne rezitiert werden; dass die Weltgeschichte und
die Vorgeschichten der unterschiedlichen Weltregionen als
Präludium des modernen europäischen Systems behan-
delt werden; dass das Osmanische Reich, ein balkanisches
Imperium par excellence bis zum 17. Jahrhundert, aus der
Machtgeschichte Europas ausgeschlossen wird (Geiss,
(15)); die Abstempelung der gesamten Nahost/Islam-Achse
als „jihadistisch-terroristische Islamismus“ (Geiss, (23));
dass der Kern der aktuellen Probleme Europas auf die
„Überdehnung [Europas] über seinen lateinischen Kern hin-
aus“ zurückgeführt wird; dass die Forderungen nach demo-
kratischem Rechts- und Verfassungsstaat, die im Zuge des
Arabischen Frühlings hochkamen, auf die fortschreitende
Industrialisierung zurückgeführt werden (Geiss, (25)), sind
dessen Beweis.
((14)) Die Äußerungen zum Arabischen Frühling verdienen
eine besondere Aufmerksamkeit. Zunächst einmal, warum
werden die Forderungen nach demokratischem Rechts- und
Verfassungsstaat mit fortschreitender Industrialisierung
in Verbindung gebracht? Bendet sich etwa der Wunsch
nach Freiheit und Gerechtigkeit im Monopol der europä-
ischen Moderne? Vielleicht könnte (und sollte) man auch
die Äußerung von Geiss, dass sich Arabisch-muslimische
Diktaturen angesichts der angeblich durch die fortschrei-
tende Industrialisierung angekurbelten Forderungen nach
Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand auf Dauer kaum
hal ten können (Geiss, (25)), umgekehrt lesen: Angesichts
der ungleichen Essenz des Kapitalismus gehen sogar die
glanzvollsten Versprechungen der liberalen Geokultur wie
Freiheit, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit run-
ter. Die Realgeschichte hat die Versprechungen des mo der-
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nen Liberalismus als Lüge enttarnt. Vielleicht daher wird mo-
mentan im Zentrum des Weltsystems einerseits die Rückkehr
des Neo-Konservatismus und der radikalen Rassismen und
andererseits ein mannigfacher anti-systemischer Aufstand
bezeugt.
((15)) Die Risiken und Probleme, womit die „Exponential-
kur ve der Fortschrittsparabel“ die Menschheit heute konfron-
tiert―wieetwadasexplosiveAnwachsen(selbst)zerstöreri-
scher Kräfte, die strukturgeschichtlichen Ungleichheiten, das
rasante Bevölkerungswachstum, die wachsende demographi-
sche Kluft zwischen vergreisenden reichen Industrieländern
undimmerjüngerwerdendenarmenAgrarländern,religiöse
Fundamentalismen und der Aufstieg der links- oder rechts-
totalitären Kräfte (Geiss, (26)) ― sind evident. Was sich
nicht sogleich verstehen lässt, ist allerdings, warum diese äu-
ßerstkonkretenHerausforderungennurmitMacht―einem
ziemlichabstraktenKonzept―inVerbindunggebrachtwer-
den.DieBehauptung,dieGeschichte―dasganzeTunund
Handelnder Menschheit―lassesichdurcheinenabstrak-
ten, psycho-sozialen Trieb erklären, gleicht der Behauptung,
dass es eine unveränderliche Essenz des Menschen gibt, auf
das alles Vergangene zurückgeführt werden kann. Das grenzt
anEssentialismus undläuftaufdieGefahr hinaus,jegliche
Gräuel ― die vergangenen, die jetzigen sowie diejenigen,
die die Menschheit möglicherweise in der Zukunft noch er-
lebenwird―zurechtfertigen.
((16)) Alleine um ein von solchen Essentialisierungen be-
freites Verständnis von globalen Zusammenhängen und
Er eignissen zu entwickeln, scheint es notwendig, Welt ge-
schich te in Lehrprogramme aufzunehmen, wie Nolte meint
(Nol te, (1)). Aber zugleich müssen die Basisprämissen der
Weltgeschichte rekonstruiert werden. Eine Weltgeschichte,
die in den Schul- und Universitäts-Curricula den inhärenten
Eurozentrismus, die disziplinären Rigiditäten der modernen
Geokultur und die Apologien der systemischen Ungleichheit
reproduziert, sollte lieber fortbleiben. Ohne an den episte-
mologischen Wurzeln des Problems anzusetzen, kann we-
der eine anti-eurozentrische Antwort auf die Frage nach den
Dynamiken der Weltgeschichte gefunden, noch eine wahr-
haft transnationale Weltgeschichte für Schul- und Uni ver si-
täts curricula entwickelt werden.
((17)) Der Untergang von moral exceptionalism, das zu-
nehmende Bewusstsein der globalen Zusammenhänge und
der Beitrag der marxistischen Weltgeschichtsschreibung
haben eine wichtige Rolle an der heranwachsenden Kritik
am Eurozentrismus gespielt (Burke, 1988). Die Neo-Mar-
xis tische Dependenztheorie, die Weltsystemanalyse, die
post modern-postkolonialen Studien und schließlich die mul-
ti fokal-polyzentrischen Ansätze, die in das klassisch-euro-
zentrische Schema der Weltgeschichte korrigierend einzu-
greifen versuchen, sind aus diesem Kontext heraus geboren.
Aber ein näherer Blick in diese Versuche macht klar, wie
schwierig die temporalen, zeitlichen und vor allem struktur-
geschichtlichen Grenzen der Weltgeschichtsschreibung zu
überwinden sind. Die Dependenztheoretiker reduzieren die
Beziehung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt
auf reine Ausbeutung und Abhängigkeit und betrachten die
Abhängigkeitsproblematik im Grunde genommen immer
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noch innerhalb der nationalen Grenzen. Die postmodernen
Ansätze zielen auf die Dekonstruktion der eurozentrischen
Anschauung, indem sie die moderne Rationalität relativie-
ren und zu einem Papiertiger machen. Die postkolonialen
Ansätze, welche die Handlungsfähigkeit der nicht-westli-
chen Gesellschaften hervorheben, versuchen die welthis-
torische Position jener Gesellschaften zu rekonstruieren,
indem sie die Errungenschaften, aber zugleich auch die
Machenschaften Europas kleinmachen (bspw. Blaut, 1993)
und so die „Sünden vom Westen in Unschuld waschen“, wie
Wallerstein bemerkt (Wallerstein, 2001). Die multifokalen/
polyzentrischen Ansätze, welche die große Divergenz erst im
19. Jahrhundert anpeilen und Europa als „eine Provinz unter
vielen kämpfenden Provinzen“ darstellen (resp. Pomeranz,
2001; Chakrabarty, 2000), begehen einen zweifachen Fehler:
Einerseits übersehen sie die reale systemische Ungleichheit,
andererseits tun sie nichts anderes als den Eurozentrismus
durch einen Asiazentrismus zu ersetzen.
((18)) Die global-strukturellen Zusammenhänge kommen
am Besten im Wallerstein’schen Konzept des Weltsystems
zum Ausdruck, weil es sowohl die funktionale Hierarchie
der globalen Arbeitsteilung als auch die systemischen Auf-
und Abschwungsmuster zu erklären vermag (vgl. Nolte,
2009; Vatansever, 2010). Auf diese Weise ermöglicht das
Weltsystemschema, die historischen Entwicklungsabläufe
verschiedener Gesellschaften mit der Gesamtgeschichte
der Welt in Verbindung zu bringen. Außerdem versteht sich
die Weltsystemanalyse vielmehr als Kritik der vorhande-
nen Prämissen der modernen Sozialwissenschaften als eine
Theorie. Als „perspective in creation“ (Wallerstein, 1991)
trägt sie also auch auf methodologisch-epistemologischer
Ebene dazu bei, die vorhandenen paradigmatischen Grenzen
zu überwinden.
((19))DieHauptprämissenderWeltsystemanalyse―Globa-
lität (die gesamte Welt als Analyseeinheit), Ge schichtlichkeit
(der strukturgeschichtliche Charakter der Prozesse und Dy-
namiken des Weltsystems), Unidisziplinarität (Ab er ken nung
der Legitimität der disziplinären Trennungen) und Holismus
(die Kritik der modernen Spaltung des Wissens als Human-,
Sozial-undNaturwissenschaften)―könntenaucheinesolide
Basis für die Umstrukturierung der Weltgeschichtsschreibung
bieten (Wallerstein, 2001). Letzten Endes ist das, was eine
bedeutungsvolle Weltgeschichte überhaupt ausmacht: die
Vorstellung der Welt als eine Gesamtheit, die aus zusammen-
hängenden Teilen besteht und als solche aufgefasst werden
kann, nur wenn alle Arten von menschlichem Wissen einge-
setzt werden.
Literatur
Diskussionsvorlage
Geiss, Imanuel (2011). „Weltgeschichte in Kürze“. Erschienen in: EWE -
Erwägen Wissen Ethik
Nolte, Hans-Heinrich (2011). „Für eine Umstrukturierung des Faches
Geschichte“. Erschienen in: EWE - Erwägen Wissen Ethik
Alphabetische Auistung zitierter Titel
Blaut, James Morris (1993). The Colonizer’s model of the World.
Geographical Diffusionism and Eurocentric History. New York/London:
The Guilford Press.
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Adresse
Dr.AslıVatansever,NispetiyeStr.,C.SeramikSit.,KüçükBlokA:2,Etiler,
34337 Istanbul / Türkei
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Book
This text offers insight into one of the classic questions of history: why did sustained industrial growth begin in Northwest Europe, despite surprising similarities between advanced areas of Europe and East Asia? As the author shows, as recently as 1750, parallels between these two parts of the world were very high in life expectancy, consumption, product and factor markets, and the strategies of households. Perhaps most surprisingly, he demonstrates that the Chinese and Japanese cores were no worse off ecologically than Western Europe. Core areas throughout the eighteenth-century Old World faced comparable local shortages of land-intensive products, shortages that were only partly resolved by trade. The author argues that Europe's nineteenth-century divergence from the Old World owes much to the fortunate location of coal, which substituted for timber. This made Europe's failure to use its land intensively much less of a problem, while allowing growth in energy-intensive industries. Another crucial difference that he notes has to do with trade. Fortuitous global conjunctures made the Americas a greater source of needed primary products for Europe than any Asian periphery. This allowed Northwest Europe to grow dramatically in population, specialize further in manufactures, and remove labor from the land, using increased imports rather than maximizing yields. Together, coal and the New World allowed Europe to grow along resource-intensive, labor-saving paths. Meanwhile, Asia hit a cul-de-sac. Although the East Asian hinterlands boomed after 1750, both in population and in manufacturing, this growth prevented these peripheral regions from exporting vital resources to the cloth-producing Yangzi Delta. As a result, growth in the core of East Asia's economy essentially stopped, and what growth did exist was forced along labor-intensive, resource-saving paths, paths Europe could have been forced down, too, had it not been for favorable resource stocks from underground and overseas.
Article
The Rise of the West, winner of the National Book Award for history in 1964, is famous for its ambitious scope and intellectual rigor. In it, McNeill challenges the Spengler-Toynbee view that a number of separate civilizations pursued essentially independent careers, and argues instead that human cultures interacted at every stage of their history. The author suggests that from the Neolithic beginnings of grain agriculture to the present major social changes in all parts of the world were triggered by new or newly important foreign stimuli, and he presents a persuasive narrative of world history to support this claim. In a retrospective essay titled "The Rise of the West after Twenty-five Years," McNeill shows how his book was shaped by the time and place in which it was written (1954-63). He discusses how historiography subsequently developed and suggests how his portrait of the world's past in The Rise of the West should be revised to reflect these changes. "This is not only the most learned and the most intelligent, it is also the most stimulating and fascinating book that has ever set out to recount and explain the whole history of mankind. . . . To read it is a great experience. It leaves echoes to reverberate, and seeds to germinate in the mind."—H. R. Trevor-Roper, New York Times Book Review
Article
A respected thinker points the way ahead. "Immanuel Wallerstein has long conceived of social science grandly. He was an innovator of world systems analysis, which portrays societies, sectors within societies, and the very disciplines of the social science as linked, bound, and analytically inseparable: To parse them is to misconceive them. As recent president of the International Sociological Association (1994 to 1998), Wallerstein continued to develop such grand thinking through numerous addresses on the state of the social sciences, capitalism, political justice, and the world. Here, he offers these collectively. He divides them into two topics-the world of capitalism and the world of knowledge. Toward both grand worlds, his thesis is similar: they are in crisis. . . . The scope of his career's thought is remarkable, his expertise impressively broad." Political Science Quarterly This book is nothing short of a state-of-the-world address, delivered by a scholar uniquely suited to the task. Immanuel Wallerstein, one of the most prominent social scientists of our time, documents the profound transformations our world is undergoing. With these transformations, he argues, come equally profound changes in how we understand the world. Wallerstein divides his work between an appraisal of significant recent events and a study of the shifts in thought influenced by those events. The book's first half reviews the major happenings of recent decades--the collapse of the Leninist states, the exhaustion of national liberation movements, the rise of East Asia, the challenges to national sovereignty, the dangers to the environment, the debates about national identity, and the marginalization of migrant populations. Wallerstein places these events and trends in the context of the changing modern world-system as a whole and identifies the historical choices they put before us. The second half of the book takes up current issues in the world of knowledge--the vanishing faith in rationality, the scattering of knowledge activities, the denunciation of Eurocentrism, the questioning of the division of knowledge into science and humanities, and the relation of the search for the true and the search for the good. Wallerstein explores how these questions have arisen from larger social transformations, and why the traditional ways of framing such debates have become obstacles to resolving them. The End of the World As We Know It concludes with a crucial analysis of the momentous intellectual challenges to social science as we know it and suggests possible responses to them. Immanuel Wallerstein is Distinguished Professor of Sociology and director of the Fernand Braudel Center at Binghamton University. Among his numerous books are The Modern World-System (1974, 1980, 1989), Unthinking Social Science (1991), and After Liberalism (1995).
Article
First published in 2000, Dipesh Chakrabarty's influential Provincializing Europe addresses the mythical figure of Europe that is often taken to be the original site of modernity in many histories of capitalist transition in non-Western countries. This imaginary Europe, Dipesh Chakrabarty argues, is built into the social sciences. The very idea of historicizing carries with it some peculiarly European assumptions about disenchanted space, secular time, and sovereignty. Measured against such mythical standards, capitalist transition in the third world has often seemed either incomplete or lacking. Provincializing Europe proposes that every case of transition to capitalism is a case of translation as well--a translation of existing worlds and their thought--categories into the categories and self-understandings of capitalist modernity. Now featuring a new preface in which Chakrabarty responds to his critics, this book globalizes European thought by exploring how it may be renewed both for and from the margins.
Rethinking World History. (Hg.) Edmund Burke III
  • Marshall Hodgson
Hodgson, Marshall (1993). Rethinking World History. (Hg.) Edmund Burke III. Cambridge University Press.
Küçük Blok A:2, Etiler
  • Aslı Dr
  • Nispetiye Vatansever
  • Str
Dr. Aslı Vatansever, Nispetiye Str., C. Seramik Sit., Küçük Blok A:2, Etiler, 34337
Eine Weitgeschichte des 20
  • Hansheinrich Nolte
Nolte, HansHeinrich (2009). Eine Weitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Köln/Wien/Weimar: Böhlau.