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Diskussionseinheit / Discussion Unit EWE (vormals / previously EuS)
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Welche Welt? Wessen Geschichte?
Die thematischen und methodologischen
Herausforderungen der Weltgeschichtsschreibung
Aslı Vatansever
((1)) Es gibt wenig Übereinstimmung darüber, was Welt-
geschichte ist und wie sie gemacht werden soll. Versteckt
hinter scheinbar terminologischen Debatten, ob man es
Universal-, Transnational- oder Globalgeschichte etc. nen-
nen will, die wahre Unstimmigkeit stammt aus unterschiedli-
chen Ansätzen zu den räumlichen und zeitlichen Parametern
des Feldes. Dies ist natürlich auch immer verknüpft mit der
Hauptfrage, welche Welt hier gemeint wird und wer ihre
Geschichte für sich beansprucht. Hinzu kommt die Tatsache,
dass, trotz der Bemühungen von World History Association
und der Gründung von Studienprogrammen an wenigen
Universitäten insb. in den USA seit Anfang 1980er Jahren,
sich Weltgeschichte kaum als eindeutige Disziplin etablieren
konnte.
((2)) Wichtige Fragen, die ganz oben auf der Tagesordnung
stehen, sind:
a) Die räumlichen und zeitlichen Parameter des Feldes,
d.h. die geopolitisch-kulturellen, die disziplinär-thema-
tischen und die zeitlichen Grenzen (die Bestimmung
der mehr oder weniger allgemein gültigen historischen
Periodisierungen)
b) Disziplinäre Präzision und Institutionalisierung
c) DieDenitiondesForschungsobjekts
d) Die inneren Dynamiken der Weltgeschichte, was
auf die Frage nach dem Motor und den Akteuren der
Weltgeschichte hinausläuft
((3)) Einige dieser Herausforderungen werden in den Bei-
trägen von Imanuel Geiss und Hans-Heinrich Nolte bewusst
angerissen; andere wiederum lassen sich am Beispieljener
Beiträge verbildlichen.
((4)) Das Problem der Institutionalisierung, die von Nolte
(insb. für den deutschsprachigen Raum) thematisiert wird, er-
scheint im ersten Blick wie eine technische Frage. Gleichwohl
liegt es nahe, dass die Tatsache, dass die Weltgeschichte
trotz ihres Aufstiegs im Zuge der Globalisierung und dem
wach senden Bedarf nach einer holistischen Rekonstruktion
in den Sozialwissenschaften immer noch ein Randdisziplin
bleibt, mit den inneren Widersprüchlichkeiten der Welt ge-
schichtsschreibung verbunden sein kann. Eine methodolo-
gische Unbestimmtheit, die auch Hans-Heinrich Nolte er-
wähnt, ist auf jeden Fall drin. Die sich ausbalancierenden
Vor-undNachteilederMonograenundSammelwerkekön-
nen einen Welthistoriker leicht verwirren, die Benennung
desFeldes―Welt-oder Globalgeschichte? ―nochmehr
((Nol te, (6), (7), (8), (9)).
((5)) Ein noch wichtigeres Problem wird von Nolte auch an-
geschnitten: Die Institutionen der Weltgeschichtsschreibung
sind immer noch national geprägt (Nolte, (3)). Im Fall
von Deutschland wäre es vielleicht möglich, die nationale
Färbung von Weltgeschichtsschreibung auf ein allgemei-
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nes Desinteresse für andere Kulturkontinente und auf eine
„Distanz zu globalen Prozessen“ zurückzuführen, wie Nolte
meint (Nolte, (3)). Aber es wäre unfair zu behaupten, das
ProblemseiDeutschlandspezisch.Keineswegsistauchdie
nationalbegrenzte Perspektive mit Geschichtswissenschaften
begrenzt. Kaum ist eine Weltgeschichte von nationalen
Grenzen befreit, wird man mit der Hegemonie der westli-
chen Zivilisation und ihres unmittelbaren Kulturkreises
konfrontiert. In diesem Fall wird der sonst westeuropäische
Schwerpunkt der Weltgeschichte oft durch den Mediterranen
Raum ersetzt. Es gibt genug Gründe, um zu behaupten,
dass das Problem eigentlich paradigmatische Wurzeln hat.
Der inhärente Eurozentrismus, die epistemologisch-dis-
ziplinären Trennungen/Beschränkungen und die national-
partikularistische Denkweise schlagen sich in der heutigen
Weltgeschichtsschreibung als Hemmungen gegen eine me-
thodologisch sowie inhaltlich holistische Herangehensweise
nieder.
((6)) Der Beitrag von Geiss, der das Eurasische System der
kulturellen Diffusion von William McNeill ins Zentrum
der Weltgeschichte stellt, könnte hier als Beispiel dienen.
McNeill’s The Rise of the West ist und bleibt eine wichtige
und umfassende Darstellung der Weltgeschichte, nicht zu-
letzt des Versuchs wegen, die Moderne nicht nur ab dem
16. Jahrhundert wie gewöhnlich, sondern im Kontext der
gesamten Weltgeschichte anzupeilen (McNeill, 1963). Aller-
dings bleibt gerade deswegen auch bei McNeill die Position
Europas in der Weltgeschichte problematisch. Im Unter-
schied zu Marshall Hodgson’s Afro-Eurasian Oikumene
―ein zeitlich sowie dem Schein nach konzeptionell ähn-
licherBeitragzurWeltgeschichtschreibung―,derdieisla-
mische und die westliche Zivilisation in die (zumindest bis
zum 19. Jahrhundert) Asien-zentrierte Weltgeschichte ein-
bettet (Hodgson, 1974; vgl. auch Burke, 1988, 1993), wird
bei McNeill die eurasische Geschichte als Vorspiel für die
Entwicklung der europäischen Moderne betrachtet.
((7)) Aus der hegemonialen Perspektive des Westens betrach-
tet, also im Lichte der realen Machtverhältnisse, scheint für
Geiss der Hauptmechanismus der Weltgeschichte die quali-
tative und quantitative Vervielfachung von Macht zu sein,
was sich in sozio-ökonomischen Systemen in einem Antrieb
für geographische Expansion niederschlägt. Allerdings ten-
dieren jene Systeme dazu, während sie einerseits geogra-
phisch expandieren und inklusiver werden, andererseits die
strukturellen Ungleichheiten und verschiedenen Arten von
Diskriminierung (u.a. Rassismus) permanent zu reproduzie-
ren. Das Beispiel von Kolonialismus und seiner rassistischen
Apologien seien allzeit evident (Geiss, (5)-(15)).
((8)) Geiss zählt die quantitativen (Territorium, Bevöl ke-
rung) und qualitativen Elemente (Freiheit: Rechts- und Ver-
fas sungsstaat, Adel: Funktionselite, Reichtum: BIP, Bildung)
der Macht (Geiss, (15)) auf. Einem fallen aber sogleich fol-
gende Gedanken ein: (a) Warum geht er das Risiko ein, die
strukturelle Seite des Problems (Ungleichheit/selbstzerstöre-
rische Kehrseite des Fortschritts) im Schatten zu lassen, in-
dem er all diese Faktoren unter einem vagen und abstrakten
KonzeptwieMachtsubsumiert?DennineinerAnalyse,die
von Macht als allgültiger Kategorie ausgeht, scheint die welt-
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systemische Expansion lediglich durch Machtbesessenheit
und pleonexia angetrieben zu sein. Aber Macht, vielmehr
ein Instrument als ein Ziel, ist nicht mal etwas ohne ihre
konkreten Belohnungen. (b) Mehr noch, die konkreten
Elemente der Macht aufzuzählen, aber indessen den Antrieb
für Machtsucht auf pleonexia zurückzuführen, kann un-
beabsichtigt essentialistische Positionen unterstützen. (c)
Die Elemente, die hier als qualitative Elemente der Macht
a priori akzeptiert sind, sind außerdem alle an sich höchst
kontrovers: Wie kann etwa „Freiheit“ nur mit Rechts- und
Verfassungsstaatbegrenztwerden?Wasmachtden„Adel“
zueinerFunktionselite?DieKriterienfürEntwicklungund
Reichtum sind ohnehin allzeit Diskussionsthema; das von
Geiss als solche akzeptierte Bruttoinlandsprodukt ist eigent-
lich nur ein Kriterium unter anderen. Dass all diese Maßstäbe
auch noch bekanntlich mit westlichen Gesellschaften asso-
ziierbar sind, macht die Sache noch heikler.
((9)) Die Überbetonung der Rolle des Westens macht sich
spätestens dann bemerkbar, wenn Geiss unter den „vier un-
ter schiedlich konstruierten imperial-zivilisatorischen Macht-
zentren“, die das Eurasische System bilden, nur China,
Indien, Persien und den „sich vom Alten Orient schrittweise
zum Atlantik“ verlagerten und schließlich „auf das lateini-
sche Europa“ geschrumpften Alten „Westen“ zählt (Geiss,
(13)). Man fragt sich, was mit dem Alten Orient passiert ist,
dessen griechisch-oströmisches Erbe in der byzantinisch-os-
mani schen Tradition lange noch mit dem emporkommenden
atlantischen Weltsystem koexistierte. Es ist merkwürdig,
dasshierbeispielsweisedasOsmanischeReich―einPa-
ra debeispiel des dem imperial overstretch aufzubürdenden
He gemonieparadoxons und ein zentraler Bestandteil der
Afro-Eurasischen Oikumenefür Jahrhunderte ― nichtein-
mal erwähnt wird.
((10)) Die Allgemeingültigkeit und die Legitimität der
Formel y=x², die Geiss als historischen Mechanismus be-
trachtet, scheint umso fraglicher, als alles am Ende mit der
Entwicklung der westeuropäischen Entwicklung in Ver-
bindung gebracht wird. In diesem Fall fragt man sich, ob
Westeuropa hier lediglich als eine Fallstudie zur Überprüfung
dieser Formel dient oder die ganze Formel sowieso nur im
Hinblick auf die westliche historische Erfahrung entwickelt
und als Universalregel durchgesetzt wird.
((11)) Die Antwort zu dieser Frage scheint in Geiss’ Kon-
zeptionderWeltgeschichtezundenzusein:Weltgeschichte
als Geschichte der Alten Welt des Trikontinents Afri ka-
Asien-Europa (Geiss, (11)). Da diese Region die „größ te
zusammenhängende Landmasse [war], wo stets die meis-
ten Menschen leb(t)en“ und „die isolierten Kontinente Alt-
Amerika und Australien / Neuseeland / Ozeanien, ohne Kon-
takte untereinander und nach außen, blieben ohne weltge-
schicht liche Wirkung“ (Geiss, (11), (12)), darf es wohl le-
gitim sein, die erlebte und bedeutsame Welt auf den Afro-
Eurasischen Trikontinent einzuschränken. Sicherlich kann
eine Weltgeschichte weder zeitlich noch räumlich allumfas-
send sein. Wichtig ist, eine sinnvolle Vorlage samt der ele-
mentarenGrundlagenunsererheutigenExistenz―die„his-
torischen Mechanismen“ nach Geiss ― herauszuarbeiten,
wofür die Kontingenz- und Divergenzpunkte höchstwichtig
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sind. Allerdings läuft man dann die Gefahr ein, die eindi-
mensionale Perspektive, die ohnehin in Nationalgeschichten
drin ist, durch die Einseitigkeit des Eurozentrismus in einer
Welt geschichtsschreibung zu reproduzieren.
((12)) Betrachtet man die Weltgeschichte nur im Hinblick
auf mechanische Kriterien wie Begegnung und Interaktion,
dann müsste man einsehen, dass die Afro-Eurasische Region
gleichermaßen unbedeutend für die Vorgeschichte der „iso-
lierten Kontinente“ war. Außerdem sollte man fragen: Waren
es nicht die unterschiedlichen Vorgeschichten dieser beiden
Regionen, welche die Bedingungen sowie die Folgen ih-
resZusammentreffensbestimmthaben? Gewinnen also so
gesehen auch ihre separaten Vorgeschichten nicht an welt-
geschichtliche Bedeutung? Problematisch wirkt auch, die
geographische Größe und die Höhe der zusammenhängen-
den Einwohnerzahl als Hauptkriterium darzustellen, denn
dies scheint wie der weltgeschichtlich-methodologische
Ausdruck der historisch-empirischen Macht der „Mehrheit“
und der Nichtanerkennung der „Minderheit“. Will aber
die Weltgeschichte die Geschichte der vorherrschenden
Mehrheitsein?
((13)) Die Schwierigkeit, sich von der epistemologischen
und terminologischen Falle des eurozentrischen Paradigmas
zu befreien, ungeachtet wie gut gemeint der Versuch ist,
kommt in diversen Stellen des Beitrags von Geiss zum Vor-
schein: Dass seine Referenzen ― Hegel, McNeill, Lan-
des ― im essentialistisch-eurozentrischen Diskurs eben-
falls gerne rezitiert werden; dass die Weltgeschichte und
die Vorgeschichten der unterschiedlichen Weltregionen als
Präludium des modernen europäischen Systems behan-
delt werden; dass das Osmanische Reich, ein balkanisches
Imperium par excellence bis zum 17. Jahrhundert, aus der
Machtgeschichte Europas ausgeschlossen wird (Geiss,
(15)); die Abstempelung der gesamten Nahost/Islam-Achse
als „jihadistisch-terroristische Islamismus“ (Geiss, (23));
dass der Kern der aktuellen Probleme Europas auf die
„Überdehnung [Europas] über seinen lateinischen Kern hin-
aus“ zurückgeführt wird; dass die Forderungen nach demo-
kratischem Rechts- und Verfassungsstaat, die im Zuge des
Arabischen Frühlings hochkamen, auf die fortschreitende
Industrialisierung zurückgeführt werden (Geiss, (25)), sind
dessen Beweis.
((14)) Die Äußerungen zum Arabischen Frühling verdienen
eine besondere Aufmerksamkeit. Zunächst einmal, warum
werden die Forderungen nach demokratischem Rechts- und
Verfassungsstaat mit fortschreitender Industrialisierung
in Verbindung gebracht? Bendet sich etwa der Wunsch
nach Freiheit und Gerechtigkeit im Monopol der europä-
ischen Moderne? Vielleicht könnte (und sollte) man auch
die Äußerung von Geiss, dass sich Arabisch-muslimische
Diktaturen angesichts der angeblich durch die fortschrei-
tende Industrialisierung angekurbelten Forderungen nach
Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand auf Dauer kaum
hal ten können (Geiss, (25)), umgekehrt lesen: Angesichts
der ungleichen Essenz des Kapitalismus gehen sogar die
glanzvollsten Versprechungen der liberalen Geokultur wie
Freiheit, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit run-
ter. Die Realgeschichte hat die Versprechungen des mo der-
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nen Liberalismus als Lüge enttarnt. Vielleicht daher wird mo-
mentan im Zentrum des Weltsystems einerseits die Rückkehr
des Neo-Konservatismus und der radikalen Rassismen und
andererseits ein mannigfacher anti-systemischer Aufstand
bezeugt.
((15)) Die Risiken und Probleme, womit die „Exponential-
kur ve der Fortschrittsparabel“ die Menschheit heute konfron-
tiert―wieetwadasexplosiveAnwachsen(selbst)zerstöreri-
scher Kräfte, die strukturgeschichtlichen Ungleichheiten, das
rasante Bevölkerungswachstum, die wachsende demographi-
sche Kluft zwischen vergreisenden reichen Industrieländern
undimmerjüngerwerdendenarmenAgrarländern,religiöse
Fundamentalismen und der Aufstieg der links- oder rechts-
totalitären Kräfte (Geiss, (26)) ― sind evident. Was sich
nicht sogleich verstehen lässt, ist allerdings, warum diese äu-
ßerstkonkretenHerausforderungennurmitMacht―einem
ziemlichabstraktenKonzept―inVerbindunggebrachtwer-
den.DieBehauptung,dieGeschichte―dasganzeTunund
Handelnder Menschheit―lassesichdurcheinenabstrak-
ten, psycho-sozialen Trieb erklären, gleicht der Behauptung,
dass es eine unveränderliche Essenz des Menschen gibt, auf
das alles Vergangene zurückgeführt werden kann. Das grenzt
anEssentialismus undläuftaufdieGefahr hinaus,jegliche
Gräuel ― die vergangenen, die jetzigen sowie diejenigen,
die die Menschheit möglicherweise in der Zukunft noch er-
lebenwird―zurechtfertigen.
((16)) Alleine um ein von solchen Essentialisierungen be-
freites Verständnis von globalen Zusammenhängen und
Er eignissen zu entwickeln, scheint es notwendig, Welt ge-
schich te in Lehrprogramme aufzunehmen, wie Nolte meint
(Nol te, (1)). Aber zugleich müssen die Basisprämissen der
Weltgeschichte rekonstruiert werden. Eine Weltgeschichte,
die in den Schul- und Universitäts-Curricula den inhärenten
Eurozentrismus, die disziplinären Rigiditäten der modernen
Geokultur und die Apologien der systemischen Ungleichheit
reproduziert, sollte lieber fortbleiben. Ohne an den episte-
mologischen Wurzeln des Problems anzusetzen, kann we-
der eine anti-eurozentrische Antwort auf die Frage nach den
Dynamiken der Weltgeschichte gefunden, noch eine wahr-
haft transnationale Weltgeschichte für Schul- und Uni ver si-
täts curricula entwickelt werden.
((17)) Der Untergang von moral exceptionalism, das zu-
nehmende Bewusstsein der globalen Zusammenhänge und
der Beitrag der marxistischen Weltgeschichtsschreibung
haben eine wichtige Rolle an der heranwachsenden Kritik
am Eurozentrismus gespielt (Burke, 1988). Die Neo-Mar-
xis tische Dependenztheorie, die Weltsystemanalyse, die
post modern-postkolonialen Studien und schließlich die mul-
ti fokal-polyzentrischen Ansätze, die in das klassisch-euro-
zentrische Schema der Weltgeschichte korrigierend einzu-
greifen versuchen, sind aus diesem Kontext heraus geboren.
Aber ein näherer Blick in diese Versuche macht klar, wie
schwierig die temporalen, zeitlichen und vor allem struktur-
geschichtlichen Grenzen der Weltgeschichtsschreibung zu
überwinden sind. Die Dependenztheoretiker reduzieren die
Beziehung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt
auf reine Ausbeutung und Abhängigkeit und betrachten die
Abhängigkeitsproblematik im Grunde genommen immer
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noch innerhalb der nationalen Grenzen. Die postmodernen
Ansätze zielen auf die Dekonstruktion der eurozentrischen
Anschauung, indem sie die moderne Rationalität relativie-
ren und zu einem Papiertiger machen. Die postkolonialen
Ansätze, welche die Handlungsfähigkeit der nicht-westli-
chen Gesellschaften hervorheben, versuchen die welthis-
torische Position jener Gesellschaften zu rekonstruieren,
indem sie die Errungenschaften, aber zugleich auch die
Machenschaften Europas kleinmachen (bspw. Blaut, 1993)
und so die „Sünden vom Westen in Unschuld waschen“, wie
Wallerstein bemerkt (Wallerstein, 2001). Die multifokalen/
polyzentrischen Ansätze, welche die große Divergenz erst im
19. Jahrhundert anpeilen und Europa als „eine Provinz unter
vielen kämpfenden Provinzen“ darstellen (resp. Pomeranz,
2001; Chakrabarty, 2000), begehen einen zweifachen Fehler:
Einerseits übersehen sie die reale systemische Ungleichheit,
andererseits tun sie nichts anderes als den Eurozentrismus
durch einen Asiazentrismus zu ersetzen.
((18)) Die global-strukturellen Zusammenhänge kommen
am Besten im Wallerstein’schen Konzept des Weltsystems
zum Ausdruck, weil es sowohl die funktionale Hierarchie
der globalen Arbeitsteilung als auch die systemischen Auf-
und Abschwungsmuster zu erklären vermag (vgl. Nolte,
2009; Vatansever, 2010). Auf diese Weise ermöglicht das
Weltsystemschema, die historischen Entwicklungsabläufe
verschiedener Gesellschaften mit der Gesamtgeschichte
der Welt in Verbindung zu bringen. Außerdem versteht sich
die Weltsystemanalyse vielmehr als Kritik der vorhande-
nen Prämissen der modernen Sozialwissenschaften als eine
Theorie. Als „perspective in creation“ (Wallerstein, 1991)
trägt sie also auch auf methodologisch-epistemologischer
Ebene dazu bei, die vorhandenen paradigmatischen Grenzen
zu überwinden.
((19))DieHauptprämissenderWeltsystemanalyse―Globa-
lität (die gesamte Welt als Analyseeinheit), Ge schichtlichkeit
(der strukturgeschichtliche Charakter der Prozesse und Dy-
namiken des Weltsystems), Unidisziplinarität (Ab er ken nung
der Legitimität der disziplinären Trennungen) und Holismus
(die Kritik der modernen Spaltung des Wissens als Human-,
Sozial-undNaturwissenschaften)―könntenaucheinesolide
Basis für die Umstrukturierung der Weltgeschichtsschreibung
bieten (Wallerstein, 2001). Letzten Endes ist das, was eine
bedeutungsvolle Weltgeschichte überhaupt ausmacht: die
Vorstellung der Welt als eine Gesamtheit, die aus zusammen-
hängenden Teilen besteht und als solche aufgefasst werden
kann, nur wenn alle Arten von menschlichem Wissen einge-
setzt werden.
Literatur
Diskussionsvorlage
Geiss, Imanuel (2011). „Weltgeschichte in Kürze“. Erschienen in: EWE -
Erwägen Wissen Ethik
Nolte, Hans-Heinrich (2011). „Für eine Umstrukturierung des Faches
Geschichte“. Erschienen in: EWE - Erwägen Wissen Ethik
Alphabetische Auistung zitierter Titel
Blaut, James Morris (1993). The Colonizer’s model of the World.
Geographical Diffusionism and Eurocentric History. New York/London:
The Guilford Press.
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Burke III, Edmund (1988). “Islam and World History: The Contribution
of Marshall Hodgson”. Erschienen in: World History Bulletin, Fall/Winter
1988-1989, Vol.: VI, Nr.: I, S. 6-10.
Chakrabarty, Dipesh (2000). Provincializing Europe: Postcolonial Thought
and Historical Difference. Princeton University Press.
Hodgson, Marshall (1993). Rethinking World History. (Hg.) Edmund Burke
III. Cambridge University Press.
– (1974). The Venture of Islam. Conscience and History in a World
Civilization. University of Chicago Press.
McNeill, William (1963). The Rise of the West: A History of the Human
Community. Chicago: University of Chicago Press.ÜberarbeiteteAuage:
1991.
Nolte, Hans-Heinrich (2009). Eine Weitgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Köln/Wien/Weimar: Böhlau.
Pomeranz, Kenneth (2001). The Great Divergence: China, Europe, and the
Making of the Modern World Economy. Princeton University Press.
Vatansever,Aslı(2010).Ursprünge des Islamismus im Osmanischen Reich.
Eine weltsystemanalytische Perspektive. Hamburg: Dr. Kovac Verlag.
Wallerstein, Immanuel (2001). The End of the World As We Know It: Social
Science for the Twenty First Century. University of Minnesota Press.
– (1991). Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth Century
Paradigms. Cambridge: Polity Press.
Adresse
Dr.AslıVatansever,NispetiyeStr.,C.SeramikSit.,KüçükBlokA:2,Etiler,
34337 Istanbul / Türkei