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Bürgerwehren: Hilfssheriffs oder inszenierte Provokation

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  • Independent Researcher

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Content may be subject to copyright.
Hilfssheriffs oder
inszenierte Provokation?
BÜRGERWEHREN
Herausgeber:
Amadeu Antonio Stiftung
Novalisstraße 12
10115 Berlin
Telefon: + 49 (0)30. 240 886 10
info@amadeu-antonio-stiftung.de
www.amadeu-antonio-stiftung.de
Autor: Dr. Matthias Quent (IDZ Jena)
Redaktion: Britta Kollberg
Bilder, sofern nicht anders ausgewiesen: Screenshots (Matthias Quent)
Umschlagfoto: © picture alliance / dpa / David Young (Mediennummer: 64997807)
Gestaltung: Design
Druck: Druckzone, Cottbus
Gedruckt auf Envirotop Recycling 100% Altpapier
© Amadeu Antonio Stiftung 2016
ISBN 978-3-940878-89-2
Diese Broschüre entstand mit Unterstützung durch:
Inhalt
Vorwort ...........................................................................................................................................................................2
Einleitung .......................................................................................................................................................................3
Was sind Bürgerwehren? ..........................................................................................................................................5
Bürgerwehr-Boom im Januar 2016 ...............................................................................................................6
Systemerhaltende Selbstjustiz ................................................................................................................................9
Zunehmende Privatisierung von Sicherheit .............................................................................................9
Internationaler Kontext .................................................................................................................................12
Verteidigung von Privilegien ......................................................................................................................12
In der Gewaltspirale .................................................................................................................................................14
Vigilantistische Gewalt .................................................................................................................................14
Aufrüstung der Gesellschaft .......................................................................................................................15
Zielrichtungen vigilantistischer Gewalt .................................................................................................16
Typen zeitgenössischer Bürgerwehren ..............................................................................................................18
Typ 1) Korporatistische Sicherheitsinitiativen ....................................................................................18
Sicherheitspartnerschaften ...........................................................................................................18
Nachbarschaftswachen ....................................................................................................................19
Zentrale Merkmale und Kritik ......................................................................................................19
Typ 2) Bürgerwehren als Vehikel für vorpolitische Eigeninteressen ......................................... 20
Zentrale Merkmale und Kritik ......................................................................................................21
Typ 3) Bürgerwehren als Protestgruppen .............................................................................................. 22
Durchsetzung eines völkischen »Selbstbestimmungsrechts« ............................................ 24
Zentrale Merkmale und Kritik ..................................................................................................... 25
Typ 4) Bürgerwehren als rechtsextreme Gewaltgruppen ............................................................... 26
Zentrale Merkmale und Kritik ..................................................................................................... 29
Virtueller Aktivismus als Inszenierung ...................................................................................................31
Was tun? Der richtige Umgang mit Bürgerwehren....................................................................................... 33
Politik .................................................................................................................................................................. 33
Polizei .................................................................................................................................................................. 33
Medien ................................................................................................................................................................ 34
Zivilgesellschaft ............................................................................................................................................... 34
Fazit ............................................................................................................................................................................... 35
Literatur ....................................................................................................................................................................... 36
2
Vorwort
Liebe Leser_innen,
zivilgesellschaftliche Akteure, Medien, Politik und Verwaltung oder auch die Sicherheitsbehör-
den sind in den letzten Jahren immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie sie mit der Gründung
und dem Engagement von Bürgerwehren, Heimatschutz-Initiativen oder Wehrsportgruppen um-
gehen sollen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, das Wissen um die Auseinan-
dersetzung mit Bürgerwehren in Form einer Handreichung nutzbar zu machen und differenzierter
auf die unterschiedlichen Entwicklungen einzugehen.
Beschäftigten unsere Stiftungsarbeit vor einigen Jahren im Kontext der erweiterten EU-Arbeitneh-
mer_innen-Freizügigkeit vor allen Bürgerwehren in Grenzregionen, die Einwohner_innen einsei-
tig vor nichtdeutscher Kriminalität in Vorpommern schützen wollten, entstand mit der massiven
sexualisierten Gewalt zu Silvester 2015/16 in Köln ein Boom von neuen Gruppen. Sie sind der
Anlass für diese Handreichung. Auf die einseitige und rassistische Projektion von Sexualstraf-
taten auf die »Anderen« hat die Stiftung mit der Broschüre »Das Bild des ›übergriffigen Fremden‹
– warum ist es ein Mythos? Wenn mit Lügen über sexualisierte Gewalt Hass geschürt wird« re-
agiert. Statt auf die Opfer und eine Wahrnehmung der Breite des Problems sexualisierter Gewalt
zu blicken, verfolgt diese Projektion ideologische Ziele – ebenso wie die Organisationsformen der
Gruppen, die sich im Nachgang zu angeblichen Schutzzwecken mit Mitteln der Selbstjustiz und
sozialen Kontrolle vielfach neu bildeten. Denn die Idee der Bürgerwehr, vor allem so wie sie heute
aufgefasst wird, ist ein direkter Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates und damit auf den
Gesellschaftsvertrag zwischen Bürger und Staat, der besagt, dass der Bürger Leib, Eigentum und
Leben nicht selbst verteidigen muss, sondern dies dem Staat überträgt.
Die Herausforderung durch Bürgerwehren als neue rechte Organisationsform hat sich durch
die gleichzeitigen rechtsextremen Mobilisierungen gegen die große Zahl von Asylsuchenden
nochmal potenziert. Waren sie zuvor oftmals rein virtuelle Inszenierungen, ist neuerdings zu be-
obachten, wie sich »Nein-zum-Heim«-Gruppen in den Sozialen Netzwerken radikalisieren und ver-
stärkt auch wieder auf der Straße als Bürgerwehren betätigen. Das bekannteste Zusammenspiel
für die Interaktion zwischen on- und offline-Hetze ist sicherlich die Bürgerwehr Freital, auf die im
Folgenden ebenfalls eingegangen wird.
Die gemeinsame Diskussion und Beauftragung für diese Handreichung entstand Anfang 2016, als
der Autor, Dr. Matthias Quent, noch als Soziologe an der Universität Jena zur Auseinandersetzung
mit Rechtsextremismus in lokalen Kontexten arbeitete. Umso mehr freuen wir uns, dass er nun
das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung
leitet und auch dort weiterhin für das Thema ansprechbar ist.
Auch künftig stehen wir zum Thema Bürgerwehren und Vigilant_innen für Veranstaltungen
oder die Auseinandersetzung in Form von Projekten gern als Referent_innen, Kooperationspart-
nerin und Unterstützerin zur Verfügung.
Wir danken dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die im Rahmen
des Programms »Demokratie leben« zusammen mit der Weinheimer Freudenberg Stiftung uns die
Arbeit zu diesem Thema ermöglichen.
Timo Reinfrank
Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung
3
Einleitung
Vermehrte Wohnungseinbrüche in einer ursprünglich ruhigen Wohngegend, eine tölpelhafte Po-
lizei und unsachliche Medien, die die Angst und Verunsicherung der Bewohnerschaft durch ten-
denziöse Berichterstattung steigern: Dies sind die Zutaten, die in der Fernsehserie »Die Simpsons«
die besorgte Nachbarschaft dazu bringen, eine gewalttätige Bürgerwehr zu gründen. Die Gruppe
missbraucht ihre Macht derart, dass die Gewalt in der Stadt durch Taten der Bürgerwehr um
900 Prozent zunimmt. Auch Heldenfiguren wie Batman, Superman, Rambo, Robin Hood und die
Watchmen, die jenseits der staatlichen Sicherheitsinstitutionen oder gegen eine als uneffektiv
und korrupt dargestellte Polizei handeln, erfreuen sich in der Unterhaltungsindustrie großer Be-
liebtheit. Diese popkulturell-verklärten Vigilanten stehen zumeist auf der »guten Seite«, streiten
für die Schwachen und für Gerechtigkeit, wenngleich sie außerhalb der Institutionen stehen.
In der realen Welt haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt zivile Gruppen gegründet,
die ebenfalls vorgeben, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen: Bürgerwehren unterschiedlicher
Couleur – nicht nur in Deutschland und nicht erst seit den massenkriminellen Vorfällen in der
Silvesternacht 2015/16 in Köln, aber danach in verstärktem Maße. Handelt es sich dabei um un-
eigennützige Held_innen, die die Schwachen schützen, oder doch eher um geltungs- und gewalt-
suchende (Männer-)Gruppen wie bei den »Simpsons«?
»Wir brauchen nicht jemanden, der denkt, sondern der was tut – jemanden, der handelt,
ohne über mögliche Folgen nachzudenken.« Aus der Rede der Fernsehfigur Homer Simp-
son zur Kandidatur als Anführer der »Springfield Bürgerwehr« (»Die Simpsons«, Folge: Die
Springfield Bürgerwehr (Original: Homer the Vigilante)
So einfach ist es natürlich nicht. In Polen bauen und rüsten tausende Zivilisten mit Unterstützung
der Regierung bewaffnete Bürgerwehren auf – aus Angst vor Russland. Die ehemalige AfD-Politi-
kerin und Pegida-Aktivistin Tatjana Festerling arbeitet an einer parastaatlichen Festung Europa:
Freiwillige Privatpersonen sollen dafür an den europäischen Außengrenzen Geflüchtete abweh-
ren.
Ein differenzierter Blick ist nötig, um diese unterschiedlichen Erscheinungen zu erklären, ein-
zuordnen und um mit ihnen umzugehen – die vorliegende Broschüre möchte dazu einen Beitrag
leisten. Denn die Herausforderungen, die mit der Entstehung von Bürgerwehren einhergehen,
sind vielschichtig. Diese Zusammenschlüsse stellen das staatliche Gewaltmonopol infrage und
dienen häufig eigennützigen, rassistischen und rechtsextremen Interessen.
Insbesondere für rechte Akteure ist die Inszenierung als Bürgerwehr attraktiv, weil sie sich da-
durch öffentlich als »Macher« präsentieren können, die etwas tun – beispielsweise gegen eine an-
gebliche Massenkriminalität durch Geflüchtete. Dabei werden Vorfälle wie die Übergriffe in Köln
in der Silvesternacht 2015/16, terroristische Anschläge sowie gezielt gestreute Gerüchte instru-
mentalisiert, um »die Flüchtlinge« oder »die Muslime« pauschal abzuwerten. Doch Migrant_innen
sind in Wirklichkeit nicht krimineller als Menschen mit deutschen Vorfahren in vergleichbaren
sozialen Lagen (vgl. auch Küch 2016). Dennoch taugt das Bild vom »kriminellen Ausländer« noch
immer dazu, von sozialen Problemen und den menschenfeindlichen Einstellungen der selbster-
nannten Ankläger_innen abzulenken.
Häufig präsentieren sich solche Gruppen zuerst und exklusiv im Internet. Gegenüber den vir-
tuellen Aktivitäten dieser Gruppen vor allem in den sozialen Netzwerken sind die tatsächlichen
Aktivitäten, die Bürgerwehren in den Städten durchführen, sehr gering. Dies unterstreicht den
4
Befund, dass es sich dabei vor allem um eine politische Inszenierung handelt, mit der Bürger-
wehren öffentliche Aufmerksamkeit erlangen und politische Ziele verwirklichen wollen. Damit
verbunden ist jedoch eine handfeste Drohung ihrer Anhänger_innen: »Handelt der Staat nicht,
wie wir es erwarten, nehmen wir das, was wir für unser Recht halten, in die eigenen Hände.«
Ziel der vorliegenden Analyse ist es, u.a. über die folgenden Fragen zu informieren: Woher
kommt das Konzept der Bürgerwehr? Welche Unterschiede und charakteristischen Merkmale gibt
es bei solchen Gruppen? Wie können die demokratische Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung,
Polizei und Medien künftig mit diesen Erscheinungen umgehen?
Screenshot von der Facebook-Seite »Thüringen will
keine Asylantenheime« (2016, mittlerweile gelöscht)
5
Was sind Bürgerwehren?
Lange Zeit waren Bürgerwehren oder Stadtwachen in Deutschland vor allem Folklore: kostümier-
te Reminiszenzen an bewaffnete Bürgergruppen im 19. Jahrhundert. Der Historiker Ralf Pröve
(2011) schreibt, 1848 prägten »civile Ordnungsformationen« wie Bürgerwehren und Bürgergarden
in europäischen Metropolen ebenso wie in der Provinz den Tagesablauf. Diskussionen über die
Bewaffnung des Volkes, so Pröve, »setzten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Um-
feld von Spätaufklärung und Patriotismusdiskussion ein«. Nachdem die deutsche Revolution von
1848/1849 niedergeschlagen wurde »und in den 1860er Jahren auch die sogenannte Wehrvereins-
bewegung versiegte, verschwanden Idee und Begriff – ablesbar an dem dramatischen Schrump-
fungsprozess der Stichworterläuterungen in den Lexika der 1870er und 1880er Jahre«. Den histo-
rischen Bürgerwehren sei eine »Doppelfunktion« zugedacht worden:
»Auf der einen Seite sollte die Einrichtung als Sicherungsorgan für Besitzende und Reiche die-
nen, um Übergriffe der ärmeren Bevölkerung auf Grundeigentum und Besitz zu verhindern.
Auf der anderen Seite sollten Bürgerwehren als bewaffneter Arm der Revolution fungieren.
Damit verbunden war ihre Funktion als Verfassungsschutz und machtpolitischer Kontrahent
des Stehenden Heeres.« (Ebd., S. 62)
Das Ende der Revolution 1849 bedeutete »das faktische Ende einer autarken Bürgerbewaffnung«.
Stattdessen wurde das Militär verstärkt zum einzigen Instrument sozialer und politischer Ord-
nung auf- und ausgebaut.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren bewaffnete nichtstaatliche Gewaltgruppen erneut im
Aufwind, insbesondere vor dem Hintergrund der sich zunehmend polarisierenden Lage in
Deutschland. Mitglieder der »Wilmersdorfer Bürgerwehr« waren es beispielsweise, die 1919 die
Marxist_innen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ohne Haftbefehl festnahmen und der Frei-
korps-Division übergaben, welche die beiden ermordete.
1921 ging aus dem Saalschutz der NSDAP die Sturmabteilung (SA) hervor, die zu ihrer Hoch-
zeit nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 mehr als 4 Millionen Mitglieder umfasste. Die
SA überzog insbesondere die politischen Gegner_innen der Nationalsozialist_innen mit brutalem
Straßenterror. Der Historiker Schmidt (2011) beschreibt diese »Straßenpolitik« als »breites Spek-
trum physisch-symbolischer Auseinandersetzungen auf der Straße und um die Straße«, innerhalb
dessen sich »Konflikte zwischen einerseits dem Staat und seinen Institutionen und andererseits
denjenigen sozialen Gruppen, die von der Teilhabe an der Herrschaft ausgeschlossen waren«,
vollzogen. Dem folgend strebten verschiedene politische Akteure damals danach, »den öffentli-
chen Raum zu besetzen oder zu behaupten – und folgen dabei symbolpolitischen Strategien«. Die
kommunistischen und faschistischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg traten als neue
Gruppen im Kampf um die Straße in Erscheinung. Insbesondere die Nationalsozialist_innen be-
trachteten die Straße als ihr zentrales Handlungsfeld, während die Kommunist_innen auch ande-
re »Schauplätze von Politik im Blick hatten, insbesondere den Betrieb«. So hieß es in einem Hitler-
befehl für die SA aus dem Jahr 1926: »Wir haben dem Marxismus beizubringen, daß der künftige
Herr der Straße der Nationalsozialismus ist, genauso wie er einst der Herr des Staates sein wird«.
Der Straßenterror der SA führte in eine Gewaltspirale, in der sich sowohl die Aktionen der politi-
schen Gegner_innen als auch das Handeln der Polizei radikalisierte. Nach der Machtübernahme
der NSPAP erhob Reichsminister Göring Teile von SA und SS zum Organ des Staates: Als »Hilfspo-
lizei« wurden sie weiterhin zur Verfolgung politischer Gegner_innen eingesetzt (Benz, 2000, S. 21).
In der Nachkriegszeit verschwanden die zivilen Ordnungsgruppen hierzulande weitgehend aus
der Öffentlichkeit. In einigen westeuropäischen Staaten wurden aus Furcht vor einem kommunis-
6
tischen Umsturz und der Invasion der Sowjetunion von Geheimdiensten geheime, parastaatliche
Netzwerke von Zivilist_innen geschaffen, die im Fall der Fälle »hinter feindlichen Linien« operie-
ren sollten. Dazu wurde bisher kaum seriöse Forschung betrieben.
Bürgerwehr-Boom im Januar 2016
Wie viel haben nun heutige Formationen, die sich als Bürgerwehr bezeichnen, mit den unter-
schiedlichen historischen Vorgängern gemeinsam? Anders als im 19. Jahrhundert, als Bürgerweh-
ren auf Erlass zur Bewaffnung gegründet wurden, entstehen die modernen Bürgerwehren der
letzten Jahre meist ohne Auftrag der Herrschenden und oft sogar entgegen den ausdrücklichen
Warnungen von Politik und Polizei, bei der das zentrale Gewaltmonopol liegt. Die selbst autori-
sierten Bürgerwehr-Gruppen verfügen über keine rechtlichen Privilegien oder Sonderstellungen.
Vielfach verfolgen sie nicht sicherheitsbezogene Ziele, sondern versteckte und häufig politische.
Beispiele für Bürgerwehren finden sich seit 2013 gehäuft in der medialen Berichterstattung:
Die ZEIT informierte im Mai 2014 über Bürgerwehren, in denen sich unter anderem »Rechtsex-
treme, Blockwarte und Schlägertypen« sammeln würden. Mehrfach, schreibt die Zeitung, seien
»freiwillige Ordnungshüter schon außer Kontrolle« geraten. So standen in Neuruppin mehrere
Menschen vor Gericht, denen vorgeworfen wird, »zwei polnische Erntehelfer verprügelt und stun-
denlang festgehalten [zu] haben, weil sie sie des Einbruchs verdächtigten«. Vor allem auf Face-
book präsentieren und vernetzen sich zahlreiche Gruppen, die sich Bürgerwehr nennen.
2015 und insbesondere im Januar 2016 nahm die Zahl von Zusammenschlüssen, die sich zum
Beispiel »Bürgerwehr Hannover«, »Freikorps Bürgerwehr Selbstschutz der Patrioten und unserer
Familien« oder »Düsseldorf passt auf« nennen, sprunghaft zu. Die kriminellen und gewaltsamen Vor-
fälle in der Silvesternacht in Köln wirkten für die Gründung von Bürgerwehren als Initialzündung.
In dieser Nacht kam es bei großen Menschenansammlungen zu zahlreichen sexuellen Über-
griffen und Eigentumsdelikten. Der Polizei gelang es lange nicht, den Betroffenen zu Hilfe zu
Bilder einer Demonstration von LEGIDA in Leipzig am 11. Januar 2016. Muslimische Flüchtlinge wurden dabei
von der Bühne pauschal als »Sex-Terroristen« stigmatisiert. Das Logo »Rapefugees not welcome« geht zurück
auf den PI-News-Karikaturisten Götz Wiedenroth. Lutz Bachmann, Initiator von Pegida, verbreitet dieses Logo
u.a. auf T-Shirts und schürt damit massiven Hass. Quelle: Christoph Hedtke
7
kommen. Öffentlich verschwieg sie die Vorfälle zunächst komplett und berichtete in einer Presse-
mitteilung, die Silvesterfeierlichkeiten seien »weitgehend friedlich« verlaufen. Erst später wurden
Details der Geschehnisse auch seitens der Polizei öffentlich gemacht. In sozialen Netzwerken kur-
sierten da bereits hoch emotionale Schilderungen und Schuldzuweisungen gegenüber Geflüchte-
ten, Politik und Polizei. Mehr als 1.000 Strafanzeigen mit 1.108 Opfern und Geschädigten aus der
Silvesternacht lagen Anfang Februar 2016 bei der Kölner Polizei vor. Bis Mitte Februar wurden
73 Beschuldigte ermittelt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft stammen die meisten Verdäch-
tigten aus Marokko und Algerien. Auch aus anderen Städten wurden Übergriffe gemeldet.
Rechtsextreme und rechtspopulistische Akteure haben die Ereignisse und die Betroffenen
instrumentalisiert, um alle »Flüchtlinge« pauschal vorzuverurteilen. Dadurch blieben andere
Ursachen und Einflussfaktoren für die Eskalation der Ereignisse in Köln unberücksichtigt. Pau-
schalisierungen, die Angehörige einer sozialen oder ethnischen Gruppe für das Handeln ande-
rer Angehöriger dieser Gruppe in »Sippenhaft« nehmen, sind ohnehin unzulässig und nicht zu
rechtfertigen. Besonders deutlich zeigt sich das rassistische und instrumentelle Ausbeuten der
Ereignisse für politische Ziele, die nichts mit den Vorkommnissen zu tun haben, wenn geflüch-
tete Menschen und die Asylpolitik der Bundesregierung generell mit den Taten in Verbindung
gebracht werden. Die absolute Mehrzahl der Menschen, die 2015 nach Deutschland flüchtete,
stammt aus Syrien. Von den 73 Tatverdächtigen der Kölner Silvesternacht kommen nur drei aus
Syrien ebenso viele Deutsche sind unter den Beschuldigten. Unbeeindruckt von den Fakten
nutzen Rechtsextreme, Rechtspopulist_innen und andere Rassist_innen die Ereignisse, um gegen
alle Geflüchteten zu hetzen.
»Wer Straftaten begeht, der wird wegen dieser Taten verfolgt. Dabei ist es wie gesagt völlig
egal, aus welchem Land diese Person stammt. Und um auch das noch einmal festzuhalten:
Der Anteil der Straftäter unter den Flüchtlingen ist nicht größer, als es etwa bei Einheimi-
schen der Fall ist.« (Udo Küch, Chef der Sonderkommission Asyl der Kriminalpolizei Braun-
schweig, Küch 2016)
»Neonazis oder Rechtspopulist_innen geht es nicht um diese Ängste oder eine Auseinander-
setzung damit. Sie instrumentalisieren diese Ängste. Sie agitieren emotional und propagie-
ren ihre rassistischen Weltbilder. Dabei benutzen sie alte und weit verbreitete Mythen über
›den fremden, sexuell übergriffigen Mann‹. Und sie erfinden neue Geschichten, in denen
diese Bilder wieder auftauchen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Tatsachen, vielmehr
um Erfundenes und um Projektionen dieser Ängste.« (Radvan et al., S. 4)
Der Kriminologe Feltes attestiert: »Nach der Kölner Silvesternacht ist von der Politik und auch
von den Medien eine Hysterie losgetreten worden.« Diese stehe in keinem Verhältnis zur krimina-
listischen Wirklichkeit. »Der Großteil von Gewalt und sexueller Gewalt passiert in den Familien.
Siebzig bis achtzig Prozent passieren zu Hause«.
Zahlreiche Aktivist_innen, Journalist_innen, Politik_inner, Wissenschaftler_innen, Künst-
ler_innen und andere schlossen sich dem antirassistischen und feministischen Aufruf
»#ausnahmslos. Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer.« an (www.ausnahmslos.
org). Sie kritisieren: »Der konsequente Einsatz gegen sexualisierte Gewalt jeder Art ist un-
abdingbar und von höchster Priorität. Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen
von Populist_innen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen
zu hetzen, wie das aktuell in der Debatte um die Silvesternacht getan wird. Sexualisierte
Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich ›Anderen‹
sind: die muslimischen, arabischen, Schwarzen oder nordafrikanischen Männer – kurzum,
all jene, die rechte Populist_innen als ›nicht deutsch‹ verstehen.«
8
Wie die Abbildung 1 zeigt, nahm die öffentliche Virulenz von Bürgerwehren nach diesen Ereignis-
sen sprunghaft zu. Die Grafik verdeutlicht, dass sich die Zahl der Anfragen aus Deutschland zum
Begriff »Bürgerwehren« bei Google nach den Ereignissen in Köln verzehnfachte. Seitdem nahm sie
jedoch wieder erheblich ab und unterschritt Mitte März 2016 wieder den Stand vom November
des Vorjahres.
Bürgerwehr-Gruppen gründeten sich vor allem im Internet. Mitglieder forderten »Rache für unsere
Frauen«. Aus dieser Bewegung heraus kam es unter anderem in Köln zu organisierten Gewaltaus-
brüchen gegen Menschen aus Einwandererfamilien. Angesichts der Gründung von Bürgerwehren
in Sachsen und in Düsseldorf titelte der rechte Koppverlag auf seiner Internetseite: »Deutschland
erwacht« – in unmissverständlichem Anklang an den gleichnamigen Propagandafilm der Natio-
nalsozialisten von 1933, in dem die SA verherrlicht wird. Doch nicht alle Bürgerwehren treten
derart offensichtlich rechtsextrem in Erscheinung. Zwar ziehen bei vielen Gruppen Personen aus
der rechtsextremen Bewegung die Fäden – aber nicht bei allen. Nicht nur aggressiver Rassismus,
auch Vertrauensverlust in die Effizienz des staatlichen Gewaltmonopols motiviert Privatpersonen
dazu, sich zu Bürgerwehren zusammenzuschließen und auf den Straßen zu patrouillieren – oder
zumindest damit zu drohen.
Dabei berufen sich diese Gruppen auf das sogenannte »Jedermannsrecht«127 Strafprozess-
ordnung Absatz 1), in dem es heißt:
(1) Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig
ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch
ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen. Die Feststellung der Identität einer
Person durch die Staatsanwaltschaft oder die Beamten des Polizeidienstes bestimmt sich
nach § 163b Abs. 1.
Das bedeutet, jede_r Bürger_in darf eine_n Straftäter_in bis zum Eintreffen der Polizei festhalten.
Ein Recht, Waffen zu tragen oder die Identität von Verdächtigten festzustellen, besteht nicht.
Dezember 15
Januar 16
Februar 16
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
Mai 15
Juni 15
Juli 15
August 15
November 15
Suchanfragen für »Bürgerwehr« bei Google
Abbildung 1: Suchanfragen für »Bürgerwehr« bei Google in Relation zum Höchstwert der Suchanfragen
(Datenquelle: Google Trends (www.google.com/trends)
9
Systemerhaltende Selbstjustiz
Vigilantismus: Vom Schutz vor Pferdedieben zur Selbstjustiz
Akteure in Bürgerwehren werden im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als Vigilant_in-
nen bezeichnet. Der Begriff taucht bereits im 19. Jahrhundert in den USA auf, zunächst in
der Selbstbezeichnung von Gruppen, die sich zur Bekämpfung von Pferdedieben zusam-
mengetan hatten, als »Vigilance Committees« oder »Vigilant Societies«. Eine allgemeine De-
finition von Vigilant lautet: »Anhänger einer Bürgerwehr, die das Recht in die eigenen Hän-
de nimmt« (Akers Chacón/Davis 2007, S. 11). Das lateinische Stammwort vigilans bedeutet
»wachsam«; Vigilantismus »ist der Ausdruck für systemstabilisierende Selbstjustiz«. Der For-
scher Abrahams (1998) schreibt, der Vigilantismus weist den Staat selbst nicht zurück. Aber
der Vigilantismus lebt von der Idee, dass die Legitimität eines Staates von seiner Fähigkeit
abhängt, der Bürgerschaft zu jedem Zeitpunkt das Maß an Gesetz und Ordnung zur Verfü-
gung zu stellen, dass sie verlangt (ebd.). Das Auftauchen von Vigilantismus ist demnach ein
Misstrauensvotum in die Effizienz eines Staates, nicht in das Konzept des Staates selbst.
Zunehmende Privatisierung von Sicherheit
In der sicherheitspolitischen Debatte erlebt der Ansatz privatisierter Sicherheitskräfte im Zuge
des neoliberalen Umbaus der westlichen Gesellschaften immer wieder Konjunkturen. 1996 ti-
telte der SPIEGEL: »Mehr Sicherheit durch private Polizei? Bürger machen mobil«. Die Debatte
vor 20 Jahren weist frappierende Ähnlichkeiten mit der heutigen auf – im SPIEGEL war damals
zu lesen: »Weil sie der Polizei nicht mehr trauen, schließen sich vielerorts Bürger zu wachsamen
Nachbarschaftsinitiativen zusammen oder kaufen sich bei privaten Unternehmen Sicherheit.« Ein
Trend, der sich fortsetzt: Das private Geschäft mit der Sicherheit in Deutschland boomt. Zwischen
1994 und 2014 hat sich die Zahl der privaten Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland
von knapp 1.700 auf 4.000 mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Zahl der
Beschäftigten: Mehr als 185.000 Menschen arbeiteten 2014 bei privaten Sicherheitsunternehmen,
1997 waren es 121.000.
Quelle: Spiegel.de
10
Wie die ZEIT berichtet, steigen die Umsätze dieser Firmen »noch viel rasanter«: Im Jahr 2013 setz-
ten Wachdienste in Deutschland 5,2 Milliarden Euro um. Knapp ein Drittel davon stammte aus
Aufträgen der öffentlichen Hand, d.h. von Kommunen und Behörden. Darin zeigt sich ein weiterer
Trend: Bewachten private Unternehmen vor einigen Jahren »hauptsächlich Gewerbeobjekte und
Einkaufszentren oder waren als Personenschützer unterwegs«, werden sie inzwischen verstärkt
auch dafür eingesetzt, Botschaften, Abschiebegefängnisse und Asylbewerberheime, Flughäfen,
Militäranlagen und sogar Atomkraftwerke zu sichern, wie die ZEIT schreibt. Ursächlich dafür
ist, dass die Polizei unterbesetzt ist und den Kommunen das Geld fehlt, um eigene Sicherheits-
mitarbeiter_innen zu beschäftigen. Private Anbieter bewegen sich häufig im Niedriglohnsektor
und sind damit wesentlich billiger als der öffentliche Dienst. Sie sind schlechter ausgebildet und
werden kaum überprüft. Kein Wunder, dass es immer wieder zu Berichten über rassistische Be-
leidigungen und Übergriffe durch private Sicherheitsbedienstete kommt. Gerade der Einsatz in
sensiblen Bereichen erfordert hohe fachliche, soziale, interkulturelle, sprachliche und bisweilen
sozialpädagogische Kompetenzen – und das bei einem meist miserablen Gehalt. Oft sind die dafür
nicht ausgebildeten Wachbediensteten vor Ort die einzigen Ansprechpartner_innen für Geflüchte-
te. Anstatt die staatlichen Behörden mit ausreichend qualifiziertem Personal und ausfinanzierten
Jobs auszustatten, fließen Millionen Euro Steuergeld in die Kassen privater Sicherheitsfirmen.
Diese Unternehmen stoßen in die Lücke, die der Stellenabbau bei der Polizei in einigen Bun-
desländern hinterlässt. Zwischen 2008 und 2014 wurden vor allem in den ostdeutschen Ländern
Stellen von Polizeibeamt_innen gestrichen. Diese, beklagen Polizeivertreter_innen, fehlen nun,
etwa um die Registrierung von Geflüchteten sowie den Schutz von Asylunterkünften vor rassis-
tischen Demonstranten und Gewalttäter_innen zu gewährleisten. Allein im Jahr 2015, berichtet
der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Malchow, haben Polizist_innen in den
Bundesländern insgesamt knapp zehn Millionen Überstunden angesammelt. Daher müssten, so
der Gewerkschafter, eigentlich bundesweit zusätzlich 9.000 Polizeibeamt_innen eingestellt wer-
den. Sicherheitspartnerschaften und Bürgerwehren, die den Mangel an Polizeibeamt_innen kom-
pensieren sollen oder vorgeben, dies zu tun, werden daher auch von der GdP als »Billiglösung«
kritisiert.
Der Rückzug des Sozial- und Rechtsstaates von seinen Kernaufgaben in den vergangenen Jahr-
zehnten betrifft nicht nur den Bereich der öffentlichen Sicherheit, sondern auch die Fürsorge,
Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl der Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland in den Jahren
von 1995 bis 2014 (Quelle: Statista 2016)
4500
4000
3500
3000
2500
2000
1500
1000
500
0
1697 1800 18972065 2237 2399 2570 2728 27482825 29593150 3342 3430
3572
3435 3599 3676 3716 3727
4000
Entwicklung der Anzahl der Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland
in den Jahren 1995 bis 2014
1995
1996
1997199
199
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
11
Pflege und Wohlfahrt. Neben dem Stellenabbau bei der Polizei zeigt er sich in der Privatisierung
und Prekarisierung sozialer Dienstleistungen, von Pflegetätigkeiten und pädagogischem Personal.
Problemverschärfend wirkt, dass diese Entwicklungen auf neue Unsicherheiten in der Gesell-
schaft treffen.
Die Bürger erleben »den Schutz des Staates nicht mehr als leistungsfähig«, sagt der Chef des
Bundes der Deutschen Kriminalbeamten André Schulz. Immer mehr Bundesländer bauten
massiv Polizei ab. Als Reaktion liefen nun »Bürgerwehren Streife durch die Dörfer«.
Quelle: www.berlinjournal.biz/polizei-schuetzt-nicht-mehr-deutsche-bilden-buergerwehren
Vor allem der islamistische Terrorismus nach dem 11. September 2001 und deren Folgeattentate
in Europa führten zu einer starken Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls. Die Anschläge des
sogenannten Islamischen Staates (IS) in Frankreich 2015 und Deutschland 2016 und die Zunahme
rechtsextremer Gewalt steigern die Verunsicherung. Law and Order-Versprechen der Politik tra-
gen dazu bei, sicherheitszentrierte Ansprüche zu fördern, die auch deswegen nicht umzusetzen
sind, weil sie den Trends von »Outsourcing«, Privatisierung und Prekarisierung von öffentlichen
Aufgaben entgegenlaufen. Insofern ist die Kritik von Polizeigewerkschaften nachvollziehbar, die
über Personalmangel und Stellenabbau klagen, während der ehemalige Innenminister Friedrich
die Sicherheit zum »Supergrundrecht« erklärte.
Die bestehenden Defizite in diesen Bereichen wurden besonders sichtbar an den gewaltigen
Problemen bei der Versorgung, Unterbringung und Registrierung der Geflüchteten, die 2015 nach
Deutschland gekommen waren. In dem Jahr sind so viele Menschen vor den weltweiten Kon-
fliktherden – vor allem aus Syrien – nach Europa und Deutschland geflohen wie seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Die Politik reagierte vielfach überrascht, unvorbereitet und
überfordert auf die Ausnahmesituation. Logistisch und finanziell stellte die rasche Unterbrin-
gung, Versorgung und Integration der Geflüchteten viele Kommunen und Landkreise vor große
Herausforderungen. Eindrucksvoll zeigte sich dann, was Pollack (2004) als »Renaissance« von
Zivilgesellschaft zusammenfasst. Versorgungslücken, die mit der Beschneidung des Sozialstaates
einhergehen, wurden durch bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt ausgefüllt: Ohne das
massenhafte Engagement ehrenamtlicher Helfer_innen im Sommer 2015 wäre die Erstversorgung
und Unterstützung der Bedürftigen vielerorts zusammengebrochen.
Die Überforderung staatlicher Institutionen wird von Teilen der Zivilgesellschaft als Staats-
versagen gedeutet. Sehr viele Menschen reagieren auf dieses »Versagen von oben« durch eine
beeindruckende »Willkommenskultur von unten«, indem sie Geflüchtete unterstützen, aufneh-
men und für sie spenden. Auf dieses Staatsversagen reagieren aber nicht nur jene Kräfte der
Zivilgesellschaft, die in humanistischer Absicht bei der Versorgung und Aufnahme helfen wol-
len. Insbesondere die faktische Außerkraftsetzung des Schengener Abkommens und der Dublin
III-Verordnung führen nicht nur zu Irritationen in der internationalen Politik, sondern wurden
auch gedeutet als Überforderung der staatlichen Institutionen darin, geltendes Recht umzusetzen.
Besonders drastisch gebärdeten sich einige demokratische Politiker in der Ausnahmesituation:
Sie drohten öffentlich mit »Notwehr«. Damit gossen sie Wasser auf die Mühlen derjenigen, die
sich dazu berufen sehen, trotz fehlender Autorisierung hoheitliche Aufgaben zu übernehmen,
die ihrer Meinung nach von den Behörden nicht mehr ausreichend gewährleistet werden kön-
nen. Die als Krise wahrgenommene Situation dient für die gewaltbilligende bis offen gewalttätige
Selbstermächtigung von Personen als Rechtfertigung, gegen die vorgebliche »Bedrohung«, »Ge-
fährdung« oder Veränderung bestehender Verhältnisse vorzugehen und sich für die Aufrechter-
haltung der Ordnung in der Gesellschaft einzusetzen – insbesondere für ihre ethnisch homogene
Zusammensetzung. Weil dem Staat nicht mehr die nötige Effizienz oder Fähigkeit zugetraut wird,
den Anforderungen der Vigilant_innen nachzukommen, sehen sie sich dazu legitimiert, das Recht
– beziehungsweise das, was sie für Recht halten – in die eigene Hand zu nehmen. Das kann leicht
zur Gewalt führen: zum einen in eskalierenden Konfrontationen, in denen Mitglieder von Bürger-
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wehren auf vermeintliche oder tatsächliche Straftäter_innen stoßen können, zum anderen – und
derzeit vorrangig – zum sprunghaften Anstieg von Gewalttaten vor allem gegen Geflüchtete und
Asylunterkünfte.
Internationaler Kontext
Bürgerwehren gab und gibt es nicht nur in Deutschland. Unter anderem existieren in Finnland,
Dänemark, Griechenland und in Ungarn ähnliche Gruppen. Auch in den USA haben solche Grup-
pen eine lange und blutige Geschichte. Die bekannteste ist die des rassistischen Ku-Klux-Klans,
dessen Ziel es ist, die »weiße Vorherrschaft« (White Supremacy) aufrechtzuerhalten und die
Schwarzen unter Kontrolle zu halten. 2004 wurde im amerikanischen Bundesstaat Arizona das
sogenannte Minuteman Project gegründet, um mittels privater Patrouillen illegale Grenzübertrit-
te durch mexikanische Einwanderer_innen zu verhindern. Der Initiator James Gilchrist dazu: »Wir
müssen unsere Heimat schützen, die durch Horden einfallender illegaler Ausländer ausgeplün-
dert wird«. Gruppen wie Minuteman oder der Ku-Klux-Klan, so die amerikanischen Historiker
Akers Chacón und Davis (2007), versuchen, das »Anrechtsdenken« der im Inland Geborenen zu
bekräftigen und die Unterordnung migrantischer Communitys bzw. von People of Color aufrecht-
zuerhalten: Ihr Hauptziel sei der Schutz weißer Privilegien. Hinter dem vorgeblichen Ziel der
Aktivist_innen, die unregistrierten Migrationsbewegungen in die USA zu erfassen, stand noch
ein größeres Ziel, wie Chavez (2007) analysiert: Es sollte ein Spektakel produziert werden, um
öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und so die Migrationspolitik des Bundesstaates zu
beeinflussen. Chavez sieht die Grenzkontrollen des Minuteman Project als Ausübung von Macht,
die die rechtliche Grenze zwischen »Bürgern« und den »Anderen«, d.h. den »illegalen Fremden«,
definiert. Subjekt dieses Spektakels sind die »Illegalen«, die durch die Grenzüberschreitungen
das herrschende Gesetz verletzen und durch diese Handlung in den Augen der Vigilant_innen
die Privilegien der Staatsbürgerschaft infrage stellen. Minuteman sei es darum gegangen, Macht
auszuüben, um die Privilegien und Reinheit der Staatsbürgerschaft sowie die Integrität des Na-
tionalstaates zu bewahren.
Verteidigung von Privilegien
Um den Ausschluss von als »fremd« Angesehenen und die Aufrechterhaltung der Autorität des
Nationalstaates geht es auch den neuen deutschen Bürgerwehren und bei chauvinistischen Pro-
testmobilisierungen wie Pegida; freilich mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ursächlich für
die sich in diesen Gruppen äußernden Anspruchspositionen als »Einheimische« ist vor allem die
subjektive Angst davor, ökonomisch oder sozial benachteiligt zu sein oder zukünftig benachteiligt
zu werden und Alltagsprivilegien zu verlieren. Diese Privilegien bestehen beispielsweise in den
»Freiheiten« dazu, Angehörige schwächerer Gruppen abzuwerten, zu diskriminieren und ihnen
die Teilnahmeberechtigung an der Gesellschaft zu bestreiten.
Auch innerhalb demokratischer Gesellschaften bestehen objektiv Ungleichheiten und Benach-
teiligungen für Bürger_innen, die zu Frustrationen führen und die an »Fremden« als Sündenbock
abreagiert werden können. Dieser Sachverhalt verweist auf einen tief greifenden Grundkonflikt
moderner Gesellschaften und auf die Ursachen des Rassismus. Insbesondere durch die Geflüch-
teten, die auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren, menschenwürdigen Leben nach
Deutschland kommen, wird der Widerspruch zwischen den konstituierenden Grundwerten un-
serer Gesellschaft und den im Alltag vorhandenen weltweiten und lokalen Ungleichheiten, Un-
gerechtigkeiten und Feindschaften sichtbar. Diese Asymmetrien gab es immer, doch durch die
historisch großen Migrationsbewegungen werden die weltweiten Ungerechtigkeiten, die Relativi-
tät und Verletzlichkeit von Frieden und Wohlstand »vor der eigenen Haustür« sichtbar. Aus den
»Sorgen« vieler Bürger_innen spricht daher auch das Bedürfnis, die eigenen Privilegien und den
eigenen Wohlstand in einer reichen Gesellschaft gegen die zu verteidigen, die weniger haben und
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denen, den egalitären Grundwerten unserer Gesellschaft zufolge, das Recht auf gleiche Chancen
auf Wohlstand und Glück zusteht wie den »alten Deutschen«.
Seinen rechtlichen Ausdruck findet dieser Anspruch im exklusiven Charakter der Staatsbür-
gerschaft. Im politischen Alltag wird der Ausschluss aus dem Kreis der Gleichberechtigten zudem
häufig völkisch-nationalistisch, d.h. unter Bezug auf die Abstammung von Menschen, interpre-
tiert. Diese rassistischen Deutungen widersprechen den Grund- und Menschenrechten.
Die Inszenierung der Bürgerwehren zielt unter anderem darauf ab, neu Dazukommende vom
privilegierenden Bürgerstatus und dem damit verbundenen Anrecht auf gleiche Teilhabechancen
auszuschließen. Dieses Motiv spielt auch bei anderen rassistischen und rechtspopulistischen Pro-
testen, etwa bei Pegida und bei der AfD, eine bedeutsame Rolle. Es ist ein sozialpsychologisches
Paradox, dass verunsicherte Bevölkerungsteile sich in der Geschichte immer wieder gegenüber
den Schwächeren abgrenzen und gegen diese vorgehen. Aufgrund des autoritären Momentes
(»nach oben buckeln, nach unten treten«) können Rassismus und Vigilantismus so verschleiernd
und systemstabilisierend für die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wirken.
Gegen diesen autoritären Mechanismus sind auch Menschen aus Einwandererfamilien nicht
immun. Insbesondere in den alten Bundesländern beteiligen sich ebenfalls Menschen, die aus
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, an asylfeindlichen Pro-
testen. Sie haben oft einen jahrelangen, erfolgreichen Integrationsprozess hinter sich und sehen
ihre mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Privilegien durch Geflüchtete bedroht. Auch die An-
erkennung ihrer Integrationsleistung seitens der deutschstämmigen Mehrheitsbevölkerung kön-
nen sie durch die bisweilen unverhohlen fremdenfeindliche öffentliche Debatte und den erstark-
ten Rechtsextremismus als bedroht empfinden. Ein Mechanismus für integrierte Menschen aus
Einwandererfamilien kann es dann sein, sich den scheinbaren Mehrheitspositionen der einheimi-
schen Bevölkerung anzuschließen und sich nach unten abzugrenzen, auch aus der Befürchtung
heraus, selbst (wieder) zum Opfer von Diskriminierung zu werden. Diese Angst ist nicht unbe-
rechtigt, denn viele Rechte nutzen die Migrationsdebatte für pauschale rassistische Abwertungen
von Menschen aus Einwanderfamilien. So der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Höcke, der sich
wiederholt gegen die Integration von »Fremdstämmigen« ausgesprochen hat. Hinzu kommt, dass
selbstverständlich auch Menschen aus Einwandererfamilien von politischer Unzufriedenheit und
Verunsicherung betroffen sind. Russische Staatsmedien befördern dies mitunter durch Fehlinfor-
mationen und Angstmache.
Die sozialen Mechanismen, die beispielsweise in Gestalt von Bürgerwehren konkret werden,
sind widersprüchlich. Zwar stabilisieren sie im Ergebnis die Machtverhältnisse zwischen sozialen
Gruppen innerhalb der Gesellschaft, gleichzeitig negieren sie jedoch das staatliche Gewaltmono-
pol und die offiziell gültigen Werte der Demokratie. Durch Straf- und Gewalttaten von Vigilant_in-
nen wird der Staat zum Handeln gezwungen. Oftmals tun sich Vertreter_innen und Institutionen
des Staates jedoch schwer dabei, den nötigen Nachdruck in der Verfolgung und Verurteilung von
vigilantistischen Täter_innen an den Tag zu legen. Darum stehen sich Vigilant_innen und Staats-
gewalt in der Regel öffentlich als Gegner_innen gegenüber, wenngleich es im Alltag durchaus zu
wechselseitigen Sympathien und Kollaborationen kommen kann.
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In der Gewaltspirale
Der renommierte Terrorismusforscher Peter Waldmann (2011) brachte den Begriff des Vigilan-
tismus im Zusammenhang mit rassistischer Gewalt auch in die deutschsprachige Debatte ein.
Typisch für vigilantistische Gewalttäter_innen ist es demnach, vorzugeben, am Staat vorbei, unter
Verletzung der Gesetze, die bestehende soziale Ordnung zu schützen. Dies bezeichnet Waldmann
als »rechtsradikalen oder vigilantistischen Terrorismus«. Für den Vigilantismus ist demnach zwei-
erlei wesenhaft:
1) Er zielt nicht auf eine grundlegende strukturelle Veränderung ab, sondern hat sich die
Verteidigung des Status quo auf die Fahnen geschrieben oder sogar die »Rückkehr zu ver-
meintlich solideren Verhältnissen und besseren Strukturen wie dem Führerprinzip, der
Abschaffung der Parteien und vor allem die Ausweisung der Migranten«.
2) Der Vigilantismus richtet sich »nicht primär gegen die Regierung und das politische Sys-
tem, sondern gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen«. Nur ausnahmsweise, »wenn die
Regierung gemeinsame Sache mit den ›Feinden‹ des Volkes macht oder gar in deren Hände
gefallen zu sein scheint«, glauben Vigilant_innen bzw. Rechtsextreme sich dazu legitimiert,
mit Gewalt gegen sie vorzugehen.
Vigilantismus lebt von der Anwendung von Gewalt beziehungsweise von der Drohung, Gewalt an-
zuwenden. Der Soziologe Popitz schreibt: »Drohungen steuern das Verhalten, weil sie Furcht, Ver-
sprechungen, weil sie Hoffnungen erzeugen.« (Popitz 1992, S. 79) Machtverhältnisse, wie sie etwa
zwischen »Einheimischen« und »Fremden«, zwischen »Etablierten« und »Außenseitern« bzw. zwi-
schen Mehrheit und Minderheit bestehen, resultieren unter anderem aus der Wirkungsmacht von
Ausschluss, Abwertung und Drohungen. Dies gilt im Besonderen für die selbst ernannten neuen
Bürgerwehren, die mit der Drohung auftreten, dem Staat das Monopol legitimer Gewaltausübung
strittig zu machen. Die Selbstinszenierung als Bürgerwehr ist eine Form des unkonventionellen
Protestes. Noch stärker als beispielsweise bei Demonstrationen die mitunter durchaus auch
eine »Aura der Gewalt« (Virchow) begleitet – wohnt dieser Form des Protestes die Androhung von
Gewalt zur Sozialkontrolle inne. Diese Bürgerwehren tragen damit dazu bei, bei stigmatisierten
Gruppen, insbesondere bei Geflüchteten, Angst zu schüren, um deren Außenseiterposition sym-
bolisch und öffentlichkeitswirksam zu manifestieren.
Vigilantistische Gewalt
Die Selbstinszenierung der Bürgerwehren nach der Kölner Silvesternacht reiht sich ein in die
Eskalation rassistischer Gewalttaten gegen Geflüchtete und Asylunterkünfte im Jahr 2015. Nach
Angaben des Bundeskriminalamtes sowie von der Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl gab es
im 2015 mehr als 1.000 Angriffe auf Asylunterkünfte. Dies ist im Vergleich zum Vorjahr eine Ver-
fünffachung. Nicht nur die Zahl, auch die Schwere und der Organisationsgrad der Attacken haben
zugenommen. Neben spontanen Taten zählen vorbereitete Sprengstoffanschläge und Tötungsver-
suche zum Gewaltrepertoire. Nur ein geringer Teil der Angriffe können aufgeklärt werden.
Viele Täter_innen rechtfertigen Gewalttaten über eine konstruierte Notwehrsituation: Zum
Schutz »ihres Volkes« sehen sie sich zur Anwendung von Gewalt berechtigt. Diese völkische Insze-
nierung zur Legitimation von Diskriminierung und Gewalt wird begünstigt durch die aufgeheizte
mediale und öffentliche Debatte und die Aufwertung subjektiver »Sorgen« zu objektiven Argu-
menten der politischen Auseinandersetzung. So wird der Zuzug Geflüchteter in der Wahrnehmung
vieler Menschen unmittelbar als Beeinträchtigung der Sicherheit wahrgenommen. Noch bevor
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die Bürgerwehren Schlagzeilen machten, wurde über steigende Waffenkäufe in Deutschland im
Zusammenhang mit der Migrationsbewegung berichtet. So sei beispielsweise der Verkauf von
Pfefferspray um 600 Prozent angestiegen. Die Angaben sind mit großer Vorsicht zu interpretieren:
Einerseits gibt es tatsächlich Bürger_innen, die Geflüchtete als Bedrohung sehen und sich daher
mit dem Ziel bewaffnen, ihr Sicherheitsempfinden zu verbessern. Rechte Akteure heizen mit Ge-
rüchten und Lügen diese Verunsicherung an. Andererseits hat die Zahl gewalttätiger Proteste
in Deutschland und Europa zugenommen: Auch die Polizeibehörden rüsten daher verstärkt auf
und haben einen höheren Bedarf an Pfefferspray. Dies gilt ebenso für die privaten Sicherheits-
unternehmen, die für die Sicherheit in Unterkünften für Asylsuchende sorgen oder zum Schutz
von Journalist_innen beispielsweise bei Demonstrationen von Pegida und AfD eingesetzt werden.
Anzunehmen ist darüber hinaus, dass auch Menschen, die (potenziell) betroffen sind von rassis-
tischen und rechten Gewalttaten, zum Selbstschutz aufrüsten – gerade vor dem Hintergrund der
enormen Zunahme rechtsextremer Angriffe. Eine Untersuchung zu den Erfahrungen und Bewäl-
tigungsstrategien von Betroffenen rechter Gewalt in Thüringen ergab, dass knapp ein Drittel der
Befragten seit der Gewalterfahrung »immer« Gegenstände zu Verteidigung bei sich trägt (Quent
et al. 2014).
Aufrüstung der Gesellschaft
Und noch eine Gruppe in der Gesellschaft rüstet massiv auf: Rechtsextreme Unternehmer_innen
profitieren von der alarmistischen Stimmung nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich.
Nach den Übergriffen von Köln organisierten rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure
öffentliche Verteilaktionen von Pfefferspray an Frauen. Internetversandhandel, die von Rechtsex-
tremen geführt werden, erwirtschaften mit solchen Gegenständen Gewinne: Beispielsweise heißt
es auf den Seiten des Onlineversandes des stellvertretenden NPD-Landesvorsitzenden in Thürin-
gen Thorsten Heise zu Pfefferspray: »Auf Grund der starken Nachfrage, die wohl durch die Asyl-
krise entstanden ist, haben wir zur Zeit eine längere Lieferzeit. Wir hoffen auf Ihr Verständnis.«
Abbildung 3: Gewaltspirale
wachsende
Verunsicherung
(vigilantistische)
Gewalt
Aufrüstung
(bspw.
Pfefferspray,
Bürgerwehren)
steigende
Verkaufszahlen
und Schlagzeilen
zur »Flüchtlings-
krise«
Halbwahrheiten,
Gerüchte und
Propaganda
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Dies zeigt die perfide Choreografie der Inszenierung als Bürgerwehr von Rechtsaußen: Gerüchte
und Falschdarstellungen, vermeintliches Staatsversagen und tatsächliche Fälle von Kriminalität
durch Geflüchtete führen zu einer Erosion des Sicherheitsgefühls. Dabei nimmt vor allem rassis-
tische Gewalt zu. Es kommt zur inneren Aufrüstung mit steigendem Absatz von Selbstschutzarti-
keln. In den Medien wird berichtet, dass der Verkauf von Waffen zunimmt, was – unabhängig von
den tatsächlichen Ursachen – einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleichkommt: So wird der Ein-
druck verstärkt, die Sicherheit sei bedroht und private Schutzvorkehrungen notwendig. Rechts-
extreme nutzen die Debatte, um sich als wachsame Bürger_innen zu inszenieren. Durch diesen
Alarmismus treiben sie zugleich den Absatz von Waffen in die Höhe, womit sie neue Schlagzeilen
über die zunehmende Verunsicherung produzieren. Dabei entsteht bei vielen Menschen schon
aufgrund des tendenziösen Sprachgebrauchs über die »Flüchtlingskrise« der Eindruck, Geflüchte-
te stellten pauschal eine Krise und damit eine Gefahr für die Sicherheit dar.
Diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen, um aus der Gewaltspirale auszusteigen. Dafür tragen
Politik, Polizei, Medien und die demokratische Zivilgesellschaft Verantwortung.
Zielrichtungen vigilantistischer Gewalt
Gewalttätige Aktionen der Vigilant_innen lassen sich in drei Kategorien einteilen: Vigilantismus
erster Ordnung adressiert schwache Gruppen und solche, die von relevanten Teilen der Mehr-
heitsbevölkerung stigmatisiert werden (z.B. Geflüchtete). Vigilantismus zweiter Ordnung wendet
sich gegen politische Gegner_innen, die als Bedrohung für das Überleben oder die Erfolge der vi-
gilantistischen Kampagne angesehen werden oder denen vorgeworfen wird, mit den Schwachen
beziehungsweise den »Fremden« gemeinsame Sache zulasten des »Volkes« zu machen. Erst der
Vigilantismus dritter Ordnung greift den Staat (und seine Repräsentant_innen) an, weil dieser
als komplett in die Hände des »Feindes« gefallen erscheint, eine Veränderung im Sinne der Vigi-
lant_innen als unmöglich angenommen wird oder weil die vermeintlich »manipulierten« Organe
des Staates für die Vigilant_innen zur Bedrohung werden. Gruppendynamiken und Interaktions-
prozesse zwischen Kontrahent_innen können dazu führen, dass sich die Gewalt vom sozialen
auf den politischen Bereich verschiebt – vor allem dann, wenn der Staat droht, in einer für die
Vigilant_innen unerträglichen Weise Partei zu ergreifen für die schwachen Gruppen oder gegen
ihre positive Bezugsgruppe.
Im Fadenkreuz vigilantistischer Gewalttäter_innen stehen Angehörige schutzloser Gruppen
ohne öffentlich-politische Lobby: 2015 waren dies vor allem Geflüchtete. Mit der gestiegenen Zu-
wanderung durch Fluchtmigration haben zum einen die Gelegenheiten für Gewaltausübung ge-
gen Geflüchtete – insbesondere in ländlichen Regionen – sowie der von Rassist_innen angenom-
mene Handlungsdruck erheblich zugenommen. Zum anderen führt die krisenförmige Debatte
über die Herausforderungen der neuen Migration auch zur Politisierung und Legitimierung von
Gewalt bei Menschen, die nicht der rechtsextremen Bewegung zuzurechnen sind. Nur etwa ein
Drittel der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen bei diesen Anschlägen vigilantistischer Gewalt
erster Ordnung wurden 2015 vom BKA oder vom Bundesamt für Verfassungsschutz der rechtsex-
tremen Szene zugeordnet. Der Brandanschlag auf eine geplante Asylunterkunft in Escheburg in
Schleswig-Holstein ist ein Fallbeispiel für einen vigilantistischen Terrorakt, der nicht von einem
Anhänger der rechtsextremen Bewegung begangen wurde: Im Februar 2015 steckte ein zuvor un-
auffälliger Finanzbeamter aus der Nachbarschaft das Haus, das als Unterkunft für Asylsuchende
vorgesehen war, in Brand. Vor Gericht, so berichtet unter anderem »Spiegel Online«, betonte der
Täter, er habe »geglaubt, […] mit dem Brandanschlag ›etwas Gutes‹ zu tun« (Jüttner/Wiedemann-
Schmidt 2015). Er habe sich, urteilt die Richterin, »als Beschützer von Frauen und Kindern« (ebd.)
inszeniert und auch während der Verhandlung keine »echte Reue« (ebd.) gezeigt.
Allerdings werden auch ehrenamtliche Helfer_innen, Fürsprecher_innen und Politiker_innen
zum Ziel von Gewalttaten. Vigilantismus zweiter Ordnung umfasst solche Aktivitäten, die sich
gegen Akteure richten, die als Unterstützer_innen für schwache Gruppen bzw. als Verräter_innen
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der vermeintlich homogenen Interessen der etablierten Bevölkerung angesehen werden. Dazu
können Repräsentant_innen und andere öffentliche Akteure zählen, die nicht in unmittelbarer
Verantwortung staatlicher Institutionen stehen (dann nämlich würde es sich um Vigilantismus
dritter Ordnung handeln). Beispielhaft für vigilantistische Gewalttaten zweiter Ordnung sind An-
griffe auf Mitarbeiter_innen und Freiwillige unter anderem des Deutschen Roten Kreuzes und des
Technischen Hilfswerkes beim Aufbau und Betrieb von Asylunterkünften. Im Sommer 2015 kam
es beispielsweise in den sächsischen Städten Dresden und Niederau zu solchen Angriffen. Zu die-
ser Form des Teilzeitterrorismus zählen auch Angriffe auf Kommunalpolitiker_innen, Parteibüros,
Fahrzeuge, wie sie sich im Sommer 2015 im sächsischen Freital gegen einen Kommunalabgeord-
neten häuften, der sich für die Rechte der Geflüchteten im Ort einsetzt. Tatverdächtig sind Mit-
glieder der »Bürgerwehr Freital«, welche die Generalbundesanwaltschaft für eine terroristische
Organisation hält.
Der Attentäter Frank S., der Henriette Reker, die Kandidatin für das Kölner Oberbürgermeis-
teramt und zuvor in Köln Zuständige für Integration, am 17. Oktober 2015 mit einem Messer
angegriffen und schwer verletzt hat, wurde in den Medien zitiert mit den Worten: »Ich wollte sie
töten, um Deutschland und auch der Polizei einen Gefallen zu tun«. Der vorbestrafte und bekann-
te Rechtsextremist hat sich also nicht als Freiheitskämpfer inszeniert, sondern als Vollstrecker
und Bewahrer, der getan hat, was getan werden musste – als Vigilant. Der Mordversuch an einer
Politikerin der bürgerlichen Mitte ist eine Zäsur der rechtsextremistischen Gewalt, die 2015 im
Zusammenhang mit der Migrationsdebatte stark angestiegen ist. Die Tat ist beispielhaft für einen
Vigilantismus dritter Ordnung, der vorgibt, den Staat vor seinen selbstzerstörerisch wirkenden
Vertreter_innen zu schützen. Derartige Anschläge sind derzeit im Vergleich zu vigilantistischen
Terroranschlägen erster und zweiter Ordnung die Ausnahme.
Quelle: www.schwaebische.de/region_artikel,-SPD-Fraktionschef-
Sorgen-wegen-Buergerwehr-_arid,10381046_toid,705.html
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Typen zeitgenössischer Bürgerwehren
Viele der neuen Gruppen, die sich selbst Bürgerwehr nennen, werden von bekannten Akteuren
aus der rechtsextremen Bewegung organisiert oder zumindest unterstützt. Bei anderen bleibt
unbekannt, wer hinter den Aktivitäten steckt. Insbesondere der weitgehend virtuelle Aktivismus
ermöglicht es den Führungspersonen, anonym zu bleiben. Einige Bürgerwehren, vor allem in den
alten Bundesländern, werden auch von Menschen aus Einwandererfamilien unterstützt. Neben
den Gruppen, die sich seit 2015 verstärkt hier zusammengefunden haben, existieren auch länger
bestehende Gruppen der Nachbarschaftshilfe, die zum Teil als Bürgerwehr bezeichnet werden.
Die unterschiedlichen Hintergründe und Erscheinungsformen belegen die Notwendigkeit, eine
analytische Differenzierung dieser Zusammenschlüsse vorzunehmen, die in ihrer aktuellen Vi-
rulenz neuartig sind. Wie bei den meisten sozialwissenschaftlichen Definitionen handelt es sich
hierbei um begriffliche Idealtypen, die in der Realität als Mischformen mit spezifischen Schwer-
punkten auftreten können.
Bisher gibt es kaum Forschung zur politischen Programmatik von Bürgerwehren in Deutsch-
land. Die folgende Typisierung basiert auf eigenen Analysen und Beobachtungen des Autors und
dient als Orientierungshilfe zur allgemeinen Einteilung, Abgrenzung und Einschätzung dieser Zu-
sammenschlüsse. Es ist zu unterscheiden zwischen (1) Korporatistischen Sicherheitsinitiativen,
(2) Bürgerwehren als Vehikel für vorpolitische Eigeninteressen, (3) Bürgerwehren als Protestgrup-
pen und (4) Bürgerwehren als rechtsextremen Gewaltgruppen. Hinsichtlich der sich öffentlich
präsentierenden und in der Presse betrachteten sind vigilantistische Protestgruppen nach Typ 3
derzeit am häufigsten festzustellen.
Typ 1) Korporatistische Sicherheitsinitiativen
Sicherheitspartnerschaften
Um die Entstehung nicht autorisierter Bürgerwehren in ihrer Stadt zu verhindern, ist die Bürger-
meisterin der brandenburgischen Kommune Nuthetal, Hustig, mit einer ungewöhnlichen Idee an
die Öffentlichkeit getreten: Die Märkische Allgemeine Zeitung meldete, die Gemeinde plane eine
»Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei«. Anders als in den »Bürgerwehren« würden »Sicherheits-
partner« zuvor polizeilich überprüft und offiziell ernannt, sofern keine Vorstrafen vorhanden sind.
Die »Sicherheitspartner« würden mit Jacken ausgestattet und erhielten »eine kleine Aufwandsent-
schädigung«. Nach Informationen der Zeitung existieren in Brandenburg seit 1992 solche Sicher-
heitspartnerschaften. Grundlage dafür ist der Erlass zur »kommunalen Kriminalitätsverhütung«
des Innenministeriums des Landes. 2015 gab es in Brandenburg 70 Sicherheitspartnerschaften mit
418 Aktiven. Diese würden durch Präsenz für ein besseres Sicherheitsgefühl sorgen, dadurch auch
Einbrecher_innen abschrecken und zudem Aufklärungs- und Informationsarbeit leisten.
In anderen Bundesländern existieren vergleichbare Initiativen: In Hessen und Baden-Württem-
berg werden Ehrenamtliche des »Freiwilligen Polizeidienstes« von Polizist_innen geschult, durch
Uniform und Landeswappen ausgewiesen und autorisiert. In Bayern und Sachsen unterstützt die
offizielle »Sicherheitswacht« den Streifendienst der Polizei. Das Engagement in Maßnahmen, die
von der Polizei unterstützt werden, ist professioneller und sicherer als die Beteiligung in privaten
Bürgerwehren und wird zum Teil sogar finanziell entlohnt.
Für die Gründer_innen und Mitglieder von Bürgerwehren in diesen Bundesländern scheinen
die Sicherheitspartnerschaften jedoch keine Alternative zu sein. Ein Grund dafür ist sicherlich,
dass bestehende Vorstrafen hilfspolizeiliche Tätigkeiten unmöglich machen. Vor allem aber eig-
nen sich diese relativ unspektakulären Projekte nicht für die politische Inszenierung.
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Nachbarschaftswachen
Zu Unrecht in »die rechte Ecke« gestellt sehen sich auch einige Mitglieder privater Nachbarschafts-
wachgruppen, die zum Teil schon seit mehreren Jahren bestehen. Im »General-Anzeiger« ergriff
im Januar 2016 Elke Wolber, Initiatorin der »Escher Bürgerhilfe«, das Wort: »Bürgerwehr ist nicht
gleich Bürgerwehr«. Nach mehreren Einbrüchen schlossen sich Menschen aus der Nachbarschaft
zusammen und gründeten die »Bürgerhilfe Esch«. Dies hat, so Wolber, zu erhöhter Wachsamkeit
in der gesamten Gemeinde geführt. Zudem arbeitet die Gruppe mit der Polizei zusammen. Diese
käme im Kreis Ahrweiler an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit: »Die Polizei ist unterbesetzt,
Stellen wurden gestrichen, Einsatzgebiete vergrößert und qualifizierte Kräfte in anderen Berei-
chen eingesetzt. Dadurch wird der Ruf der Polizei ruiniert, ohne dass sie dafür kann«, wird die
Organisatorin der Bürgerwehr zitiert.
So wie in Deutschland gibt es in vielen westlichen Staaten, vor allem in den USA, ähnliche
Nachbarschaftshilfen oder Neighbourhood Watch-Gruppen also Bürger_innen, die sich insbe-
sondere wegen Wohnungseinbrüchen zusammenschließen. Zu diesem Typ gehören im weiteren
Sinne auch die privaten Sicherheitsunternehmen, die als marktförmige Akteure auf die öffentli-
che Nachfrage nach Sicherheit reagieren und die seit Jahren ein großes Wachstum verzeichnen
(s.o.).
Zentrale Merkmale und Kritik
Die privaten Initiativen für Sicherheit haben mit anderen Formen von Bürgerwehren gemeinsam,
dass sie als Reaktion auf wahrgenommene Sicherheitsdefizite entstehen. Dies hängt mit größeren
Globalisierungs- und Privatisierungsprozessen zusammen, mit der Kriminalität in Grenzregionen
und der Ausdünnung polizeilicher Präsenz insbesondere in ländlichen Gebieten. Gleichwohl sind
diese korporatistischen Sicherheitsinitiativen wesenhaft verschieden von anderen Bürgerwehren
(der nachfolgend erläuterten Typen 2, 3 und 4) insbesondere im Hinblick auf vier Punkte:
1. Die Gruppen kooperieren intensiv mit der Polizei und mit lokalen Behörden.
2. Konkrete Ereignisse im eigenen Sozialraum sind ausschlaggebend für die Gründung der
Initiative.
3. Die Gruppen sind vor allem in ihrem Sozialraum aktiv. Außendarstellung und Unterstüt-
zungswerbung in sozialen Netzwerken finden in der Regel nicht statt.
4. Die Gruppen verfolgen keine explizit politische Agenda; bestenfalls treten sie für eine
höhere Präsenz der Polizei ein.
Motiv für das Engagement dieser Gruppen ist die Leitfrage: Wie können wir Kriminalität in unse-
rem Sozialraum verhindern? Die Initiativen arbeiten nicht mit den Bürgerwehren der folgenden
Typen zusammen.
Diese korporatistischen Sicherheitsinitiativen verfolgen keine rechtsextremen Ziele. Ehrenamt-
liche Sicherheitsgruppen, die mit der Polizei kooperieren, unterscheiden sich in ihren Motiven,
Absichten, ihrer Struktur und Zusammensetzung von selbst organisierten Bürgerwehren. Doch
sie deuten einen Vertrauensverlust in die Effizienz der Staatsgewalt an: Sie stellen eine Reaktion
auf ein beschädigtes Sicherheitsempfinden bei Bürger_innen dar und machen deutlich, dass die
Polizei in einigen Regionen nicht in der Lage ist, die von der Bürgerschaft gewünschte Präsenz zu
zeigen. Der Münchner Kriminologe Kölbel kritisiert beispielsweise die bayerische »Sicherheits-
wacht«, da mit ihr die Gefahr einhergeht, dass »das Gewaltmonopol des Staates erodiert«. Vor dem
Hintergrund des Stellenabbaus bei der Polizei und wachsender Aufgaben für die Beamt_innen ist
diese Form der Privatisierung von Sicherheit das Resultat eines Gesellschaftsmodells, in dem sich
der Staat zunehmend aus öffentlichen Aufgaben zurückzieht.
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Was tun? Ein fiktives Beispiel
In Kommune A kommt es verstärkt zu Wohnungseinbrüchen. Aufgrund der abgelegenen
ländlichen Lage findet kein regelmäßiger polizeilicher Streifendienst statt. Bei einer Ver-
sammlung entschließen sich Bewohner_innen in Zusammenarbeit mit Gemeindeverwaltung
und der zuständigen Polizei, zu sensiblen Zeiten im Ort zu patrouillieren und ungewöhnliche
Ereignisse zu protokollieren. Die Freiwilligen lassen sich von der Polizei beraten. Behörden,
Medien und zivilgesellschaftliche Akteure können keinen Hinweis darauf finden, dass Mit-
glieder der Gruppe unter der Hand andere Ziele, wie beispielsweise eine politische Agenda,
verfolgen. In der Folge nehmen die Einbrüche im Ort A zwar ab, steigen dafür aber in der
Nachbargemeinde an. Politische Parteien nehmen diese Entwicklung zum Anlass, um eine
öffentliche Debatte über die Zukunft im ländlichen Raum zu führen.
Typ 2) Bürgerwehren als Vehikel für vorpolitische
Eigeninteressen
Auf lokaler Ebene können sich die vorgeblichen Leitmotive für die Inszenierung als Bürgerwehr
unterscheiden. Den Anstrich als »Hilfspolizei« und die damit verbundene Infragestellung des staat-
lichen Gewaltmonopols sowie der darin zum Ausdruck kommende Anspruch darauf, in einem
bestimmten Gebiet »auf der Straße« Sozialkontrolle und damit Macht auszuüben, können unter-
schiedlichen Interessen dienen. In vielen Fällen verbirgt sich dahinter eine politische Kampagne
rassistischer und rechtsextremer Akteure – diese werden als Typen 3 und 4 gesondert betrachtet.
Mitunter stehen hinter den Bürgerwehren Gruppen, deren wahre Motive weder in der Krimi-
nalitätsprävention noch in politischer Agitation bestehen. Beispielsweise berichtete die Ulmer
Polizei, dass sich in Tuttlingen Mitglieder einer Rockergruppe als Bürgerwehr in Szene gesetzt
haben. Die Gruppe habe sich als Beschützer der Schwachen und Frauen präsentiert und dadurch
»Werbung in eigener Sache gemacht, […] um sich in einem besseren Licht darzustellen«. Eine
andere Bürgerwehr in Ulm, so der Pressesprecher der Polizei, kommt aus dem Fußballfanmilieu.
Der Polizist gibt zu bedenken, dass allgemein die Gefahr bei solchen Gruppen groß ist, »dass die
Leute ganz andere Interessen verfolgen«. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Jäger (SPD),
warnte davor, dass sich in Bürgerwehren auch Rechtsextremist_innen und Kriminelle organisie-
ren. So fand sich in Bielefeld eine Gruppe aus bewaffneten Hooligans, Türstehern, Rockern und
Rechtsextremisten zusammen. Bei ihnen beschlagnahmte die Polizei Waffen.
Motive dafür, dass sich Gangs und Personen mit Verbindung in kriminelle Milieus als Bürger-
wehren ausgeben, können vielfältig sein. Es
geht im Kern um Gebietsansprüche, d.h. dar-
um, wer »auf der Straße das Sagen hat«. Dazu
können Rivalitäten zwischen konkurrierenden
Gruppen und zwischen Gangs und der Polizei
kommen. Machtansprüche, ökonomische Inter-
essen, Männlichkeitsinszenierungen, Selbst-
darstellung oder Imagepflege: Das Vehikel
Bürgerwehr ermöglicht vorzugeben, Frauen zu
schützen und »etwas zu tun« gegen die zuneh-
mende Verunsicherung. Dies ist für verschie-
dene eigennützige Interessen attraktiv.
Quelle: www.schwaebische.de/region_artikel,-Nach-
Vorfaellen-Red-Devils-kuendigen-Patrouillen-an-_
arid,10373385_toid,705.html
21
Zentrale Merkmale und Kritik
Selbsternannte Bürgerwehr-Gruppen dieses Typs weisen im Allgemeinen folgende Merkmale auf:
1. Es findet keine Kooperation mit Polizei oder anderen Behörden statt. Im Gegenteil: Diese
Bürgerwehren werden häufig selbst zum Gegenstand polizeilicher Maßnahmen.
2. Die Gruppen entstehen vorrangig als Reaktion auf spektakuläre Vorfälle. Konkrete Ereig-
nisse im eigenen Sozialraum können eine verstärkende Rolle spielen, sind aber nicht nötig.
3. Die Gruppen können vereinzelt in ihrem Sozialraum durch Patrouillen als Bürgerwehr in
Erscheinung treten. Im Alltag treten die Mitglieder vor allem in ihren sonstigen Rollen (z.B.
als Mitglied eines Rockerklubs) auf. Die meisten dieser Gruppen bestehen als Bürgerwehr
fast ausschließlich in sozialen Netzwerken. Dort übersteigt die Zahl der Unterstützer_innen
ihre tatsächliche Mobilisierungsfähigkeit zu Patrouillen um ein Vielfaches.
4. Die Gruppen verfolgen nicht vordergründig eine politische Agenda. Sie gehen jedoch eige-
nen Interessen nach, die sie hinter dem Vorwand der »Sicherheit« verbergen. Durch ihre
Aktivitäten im öffentlichen Raum und in Konkurrenz zur Polizei erhalten sie gesellschafts-
politische Bedeutung.
Motiv für das Engagement dieser Gruppen ist die Leitfrage »Wem gehört die Straße?« Dabei kön-
nen unterschiedliche Hintergründe und Interessen von Organisator_innen und Unterstützer_in-
nen zu einer gemeinsamen Inszenierung als Bürgerwehr zusammenkommen. Gruppen dieses
Typs arbeiten daher nicht in Sicherheitspartnerschaften oder mit Nachbarschaftswachen des
ersten Typs zusammen. Kooperationen und Überschneidungen zu den Bürgerwehr-Typen 3 und
4 sind jedoch möglich.
Diese Zusammenschlüsse instrumentalisieren die Verunsicherungen und Ängste von Menschen
sowie komplexe gesellschaftspolitische Diskurse und Entwicklungen zum eigenen Vorteil. Dabei
avancieren sie selbst zum Motor der Verunsicherung, indem Ängste geschürt, Gerüchte verbreitet
werden und die Autorität der Staatsgewalt unbegründet unterminiert wird. Indem sie Misstrau-
en säen, sind sie mitverantwortlich für Polarisierung, Entsachlichung und Verrohung. Durch die
Drohung, die der Inszenierung als Bürgerwehr innewohnt, tragen sie zur objektiven und subjek-
tiven Unsicherheit von Sozialräumen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen bei, die in das
Feindbild dieser Vigilant_innen gehören (etwa People of Color, Geflüchtete, Linke). Weil die Polizei
dazu gezwungen wird, diese Bürgerwehren zu überprüfen, werden die Beamt_innen von anderen
Aufgaben abgehalten. Das vorgebliche Motiv, für Sicherheit sorgen zu wollen, wird dadurch zum
Bärendienst an der Gemeinschaft. Zum Dilemma gehört auch, dass die möglicherweise berechtig-
ten Teilnahmemotive einzelner Sympathisant_innen missbraucht werden, ohne dass dadurch die
Ursachen der Verunsicherung bearbeitet bzw. gelöst werden.
Was tun? Ein fiktives Beispiel
Nach Meldungen über nächtliche Übergriffe auf Frauen in der Stadt B gründet sich im Inter-
net eine anonyme Bürgerwehr mit dem vorgeblichen Ziel, für Sicherheit im Kneipenviertel
zu sorgen. Der Plan trägt zu Verunsicherung bei: Einige Menschen vermeiden es, in den
betroffenen Straßen auszugehen. Recherchen von Journalist_innen vor Ort ergeben, dass
hinter der Initiative ein Sicherheitsunternehmer der Region steht. Ein Kommentator der
Tageszeitung vermutet, dass hinter dem Bestreben vor allem das finanzielle Eigeninteresse
steht, die Verunsicherung zu steigern, damit Restaurants, Clubs und öffentliche Einrichtun-
gen mehr Geld für Sicherheitsleistungen ausgeben. Die Polizei reagiert durch Aufklärung
und verstärkte Streifenpräsenz. Daraufhin löscht der Initiator der Bürgerwehr die Seite.
22
Typ 3) Bürgerwehren als Protestgruppen
Auch Gruppen des dritten Typs nutzen das Vehikel Bürgerwehr, um dadurch eigene Interessen
durchzusetzen. Sie stellen mit einer explizit politischen Programmatik gegenüber den Gruppen
zweiten Typs eine Sonderform dar.
Im Oktober 2015 wollte die Stadt Dresden eine Turnhalle in einem Ortsteil als Notunterkunft
für Geflüchtete nutzen. Unterstützer_innen von Geflüchteten protestierten wegen des schlechten
Zustands der Halle. Andere Anwohner_innen aus dem Ortsteil demonstrierten aus rassistischen
Gründen gegen die Unterbringung von Geflüchteten in ihrer Nachbarschaft: Drei Wochen blo-
ckierten Demonstrant_innen unter dem Slogan »Wir sind Übigau« den Eingang zur Halle, um zu
verhindern, dass dort Geflüchtete einziehen. Unterstützung kam unter anderem von Pegida und
von der rechtsextremen »Bürgerwehr Freital 360«. Als die Polizei am 22. Oktober die Blockade
räumte, nahmen noch etwa 20 Personen teil. Einige davon mussten die Beamt_innen wegtragen.
Nachdem Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Übigau scheiterten, gründete die
Initiative »Wir sind Übgiau« eine »Bürgerstreife«, die mit Warnwesten durch die Straßen patrouil-
lierte. Im Februar 2016 stoppte die Polizei die Gruppe bei ihrer Patrouille: Die »Bürgerstreife«
soll ihre Kompetenzen überschritten und Personen kontrolliert haben. Die »Morgenpost« zitierte
einen Sprecher der Polizei mit den Worten: »Das Vorgehen der Streife passt nicht zu unserem
Verständnis von Nachbarschaftshilfe.« Drei Frauen und neun Männer im Alter zwischen 36 und
64 Jahren wurden polizeilich festgestellt. Bereits Tage zuvor soll die »Bürgerstreife« unerlaubt das
Gelände der Geflüchtetenunterkunft betreten haben. Die Vigilant_innen gaben an, sie hätten das
Alkoholverbot in der Unterkunft durchsetzen wollen. Unterdessen berichtet die Polizei, es habe
keinerlei Straftaten von Asylsuchenden gegenüber Anwohner_innen gegeben: »Straftaten zum
Nachteil der Nachbarschaft sind uns nicht bekannt«, so ein Polizeisprecher gegenüber der »Mor-
genpost«, allerdings seien einige Ruhestörungen gemeldet worden. Straftaten gab es jedoch gegen
Unterstützer_innen der Geflüchteten: »Zugleich gab es laut Polizei Straftaten gegen Befürworter
der Unterkunft. Demnach zerstachen Unbekannte Reifen, beschädigten Briefkästen und Klingel-
schilder.« Teilnehmer_innen der »Bürgerstreife« nahmen an Pegida-Versammlungen teil, wie sie
stolz bei Facebook berichteten. Auf der Seite der Gruppe finden sich auch Beiträge, in denen
Medien als »Rattenpresse« und »Lügenpresse« bezeichnet werden: »Wir sind Übigau« gefällt das.
Die Zustände in Dresden sind seit Jahren speziell, dennoch gründeten sich 2016 bei Facebook
bundesweit sogenannte Bürgerwehr-Gruppen, in denen primär eine ähnliche migrationsfeindli-
che Agenda propagiert wird. Auch in Westdeutschland: Der »Südkurier« berichtet beispielweise
über Bürgerwehren am Bodensee. In den virtuellen Gruppen heißt es: »Wenn uns der Staat nicht
hilft, dann helfen wir uns selbst«. Außerdem heben die Vigilant_innen hervor, dass die Bürger-
wehr »vornehmlich der Planung von Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik im ganzen
Landkreis diene«. In der virtuellen Gruppe werden demnach Geflüchtete als »Monster« beschrie-
ben, die »Frauen und Kinder vergewaltigen« und die »Islamisierung« Deutschlands anstreben
würden. Bundeskanzlerin Merkel gehöre »verhaftet« und »an die Wand gestellt« (ebd.). Auch in
Niedersachsen wurden zahlreiche Aufrufe zur Gründung von Bürgerwehren registriert, die vor
allem eigene politische Ziele verfolgen: »Die Sicherheitsbehörden vermuten dahinter vor allem
Wichtigtuer und Rechtsextremisten, die aus der Verunsicherung von Menschen wegen des Flücht-
lingszuzugs Profit schlagen wollen.«
In einigen westdeutschen Städten, zum Beispiel in Pforzheim, gründeten Russlanddeutsche so-
genannte Bürgerwehren. Stellungnahmen aus diesen Gruppen deuten darauf hin, dass vor allem
russische Medien und gezielte Fehlinformationen aus dem Kreml mit dem Ziel, die innere Sicher-
heit in Deutschland zu destabilisieren, bei der Entstehung von flüchtlingsfeindlichen Protestgrup-
pen in diesen Milieus beigetragen haben. Die unter anderem von der russischen Regierung ge-
streute Lüge im Januar 2016 über das angeblich von Geflüchteten vergewaltigte russlanddeutsche
Mädchen Lisa aus Berlin mobilisierte bundesweit Tausende Russlanddeutsche zu Protestveran-
staltungen gegen »Ausländergewalt«. Diese Ereignisse instrumentalisierte auch die rechtsextreme
23
Szene, wie die FAZ beobachtete: »Deutschen Rechtsextremisten kam der Aufruhr sehr gelegen
– das einschlägige Magazin ›Compact‹ berichtete ausführlich über die wahrscheinlich aus Moskau
gesteuerten Demonstrationen.«
Doch nicht alle Organisator_innen oder Unterstützer_innen von Bürgerwehren ticken so. Für eini-
ge Aktivist_innen, die nach den Geschehnissen in der Silvesternacht in Köln tätig wurden, stand
der Vertrauensverlust in die Fähigkeit des Staates, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, im
Vordergrund. Unbedachter Aktionismus führte zur Gründung von virtuellen Bürgerwehren, die
für Rechtsextreme anschlussfähig waren und die Polizei auf den Plan riefen. Mehrere Gruppen,
zum Beispiel in Gießen und Landshut, wurden nach Warnungen der Polizei vor rechtsextremer
Unterwanderung und Selbstgefährdung geschlossen. Dabei handelt es sich um einen entscheiden-
den Punkt zur Unterscheidung von Bürgerwehren: Kooperieren sie mit der Polizei im Interesse
der Sicherheit, oder geht es den Vigilant_innen darum, Polizei und Staat bloßzustellen und das
Etikett der Bürgerwehr für hintergründige politische Ziele zu nutzen? Vigilantistische Gruppen,
die auch nach polizeilicher Verwarnung in ihren Aktivitäten fortfahren, haben sehr wahrschein-
lich andere Interessen, als in der Rolle einer »Hilfspolizei« die allgemeine Kriminalitätsprävention
zu unterstützen.
Entscheidender Punkt zur Unterscheidung von Bürgerwehren: Kooperieren sie mit der Po-
lizei im Interesse der Sicherheit, oder geht es ihnen darum, Polizei und Staat bloßzustellen
und das Etikett der Bürgerwehr für hintergründige politische Ziele zu nutzen?
Der Kriminologe Feltes beobachtet, dass Menschen, die bei einer Bürgerwehr mitmachen, das
Gefühl haben, etwas tun zu müssen. Bürgerwehren scheinen zu diesem Zweck für einige das pas-
sende Ventil zu sein, das zudem Spaß und Abenteuer verspricht: »Da schwingt auch eine gewisse
Pfadfindermentalität mit«. Dass sie diesen Aktivismus nicht für andere Ziele nutzen, liegt daran,
so Feltes in der »WAZ«, weil die Mitglieder von Bürgerwehren oft eine ganz ähnliche Gesinnung
wie Pegida und Co haben – Furcht vor Fremden, Furcht vor Konkurrenz. Alles in allem: diffuse
Angst. In »Nordafrikanern« haben sie einen Sündenbock gefunden. Die ideologische Nähe die-
ser Art von Bürgerwehren zur Protestbewegung Pegida ist augenscheinlich. Internetrecherchen
innerhalb solcher Gruppen zeigen, dass viele Unterstützer_innen mit Pegida und der AfD sympa-
thisieren. Der Pegida-Protest ist egoistisch, schreibt der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn
(2015, S. 360), »weil es nicht ernsthaft um Angst vor etwas, sondern um Angst um etwas geht: um
die eigenen (gefühlten) Privilegien« (Salzborn 2015, S. 360). Dabei ist das »von Pegida verwandte
Screenshot von der Facebook-Seite »Bürgerwehr Piesau-Lichte« (2016)
24
Schlagwort ›Islamisierung‹ […] lediglich ein Vorwand, um rassistische und völkische Positionen
wieder öffentlich zu platzieren«. Dieses Motiv findet sich in ähnlicher Form auch bei den vigilan-
tistischen Bürgerwehren wieder, wobei hier »Sicherheit« der Vorwand für die aggressive Verteidi-
gung von Privilegien ist.
Durchsetzung eines völkischen »Selbstbestimmungsrechts«
Wie auch bei Vertretern von Pegida und der AfD bringt die Forderung nach »Selbstbestimmung«
durch Mitglieder von Bürgerwehren den antiegalitären Kern auf den Punkt. So schreibt der An-
führer einer Bürgerwehr in Hannover: »Wir sind das Volk und wir haben ein Recht auf Selbstver-
teidigung und Selbstbestimmung«. Das Narrativ eines völkischen Selbstbestimmungsrechts be-
dient auch der rechtsextreme AfD-Politiker Björn Höcke. Dieses »Selbstbestimmungsrecht« – ein
aus dem Völkerrecht entliehener und umgedeuteter Begriff – wird von Höcke im Volksmund in-
terpretiert mit den Worten: »Wir haben als Volk das Recht, Herr im eigenen Haus zu bleiben!« Die
Umsetzung von Selbstbestimmung leitet Höcke ab aus »numerischer Überlegenheit […] im eigenen
Land«. Durch die Migrationsbewegungen nach Deutschland, so Höcke, werde diese Selbstbestim-
mung bedroht: »Ich will unsere Selbstbestimmung aber nicht an eine fremdstämmige Migranten-
Mehrheit abgeben! […] Und wir sind nicht verpflichtet, zur Minderheit im eigenen Land zu werden
und unsere Selbstbestimmung im eigenen Land an Migranten-Mehrheiten abzugeben.« Schon rein
statistisch ist die Behauptung paranoid und irrsinnig, das Mehrheitsverhältnis zwischen Men-
schen aus »deutscher« Abstammung (über 64 Millionen) und solchen mit Migrationshintergrund
(2014: ca. 16 Millionen Menschen, von denen die Mehrheit einen deutschen Pass besitzt) würde
durch die Zuwanderung von einer, zwei oder auch zehn Millionen Migrant_innen kippen. Schwe-
rer wiegt aber, dass das nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie nach
dem Grundgesetz Diskriminierung aufgrund von Abstammung, wie sie Höcke forciert, unzulässig
ist. Die Grundrechte und deren Unabänderlichkeit in der Verfassung sind nicht zuletzt eine Lehre
aus dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat, in dem völkisches Denken unter anderem durch
das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« im Rahmen der Nürnber-
ger Rassengesetze umgesetzt wurde.
»[Das Selbstbestimmungsrecht] ist ein Kampfbegriff, jedoch nicht im Kampf schwacher
Einzelner gegen Mächtige, sondern im Kampf um die Etablierung von Macht. Für Anwälte
des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes ist das Volk oft nur notwendiges Instrument der
Machtergreifung.« (Dahrendorf 1989)
Auch im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise wurde der Begriff des »Selbstbestimmungsrecht
der Völker« strapaziert: Der Historiker Götz Aly schreibt im diesen Kontext, bei dem Begriff han-
dele es sich um eine im 19. Jahrhundert entstandene »nationalistische Kampfparole«, die mitver-
antwortlich sei für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. 1989 kritisierte der Soziologie Ralf
Dahrendorf den Begriff des »Selbstbestimmungsrechts« als »Kampfbegriff, jedoch nicht im Kampf
schwacher Einzelner gegen Mächtige, sondern im Kampf um die Etablierung von Macht« (Dahren-
dorf 1989). Dahrendorf schrieb weiter:
»Um die These in aller Konsequenz zu formulieren: Es gibt kein Recht der Armenier, unter
Armeniern zu leben. Es gibt aber ein Recht für armenische Bürger ihres Gemeinwesens, Glei-
che unter Gleichen zu sein, nicht benachteiligt zu werden, ja auch ihre eigene Sprache und
Kultur zu pflegen. Das sind Bürgerrechte, Rechte der Einzelnen gegen jede Vormacht. Das so-
genannte Selbstbestimmungsrecht hat unter anderem als Alibi für Homogenität gedient, und
Homogenität heißt immer die Ausweisung oder Unterdrückung von Minderheiten.« (Ebd.)
25
Daher solle der Begriff, der ein »Instrument der Entzivili-
sierung und Barbarisierung ist, ein Zeugnis der Unfähig-
keit zur Freiheit in Vielfalt, […] aus dem Wortschatz der
internationalen Politik« verschwinden.
Den rechten Aktivist_innen von Pegida, AfD und bei
den vigilantistischen Bürgerwehren geht es darum, Mi-
grant_innen als »Ungleiche« zu markieren und damit
als potentielle Konkurrent_innen auszuschließen. Der
Rechtfertigung dieser Diskriminierung dienen diverse
kulturalisierende, ethnisierende und rassifizierende Ab-
wertungen. Mit dem Rechtsextremismus teilen sie, dass
im Kern ihres Agierens das Gleichheitspostulat im Fa-
denkreuz steht (vgl. Salzborn 2014, S. 22).
Dabei bedienen sich diese Rechten zunehmend der
modernisierten Formen des Rassismus, die in Folge der
umfassenden sozialen Ächtung des biologistischen, rasse-
theoretischen Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg neue Praktiken des Othering hervorge-
bracht haben. So versichern Ethnopluralismus und Neorassismus zwar, »daß alle Menschengrup-
pen im Prinzip gleichwertig sind. Unterschiedlich und miteinander unvereinbar sind jedoch ihre
Kulturen, und von daher muß jede Gruppe innerhalb ihres eigenen Territoriums bleiben.« (Castles
1998, S. 141) Neorassistische Ansätze begreifen »kulturelle Differenzen als unveränderlich, weil
sie entweder auf der ›menschlichen Natur‹ beruhen oder tief in der Geschichte verwurzelt sind«.
Rekurse auf »Kultur« oder »Identität« bieten damit pseudowissenschaftliche Erklärungen »für
Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraktiken, ohne als rassistisch im herkömmlichen Sinne zu
erscheinen«. Diskriminierung, die eine quasinatürliche Existenz und Unwandelbarkeit von Kultur
behauptet und sich damit rechtfertigt, widerspricht daher ebenso wie herkömmliche »Rassen-
diskriminierung« den Menschenrechten und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Solch kultu-
ralisierende Deutungen sind zum zentralen Narrativ rechtsextremer und rechtspopulistischer
Parteien avanciert, und auch vigilantistische Protestgruppen greifen darauf zurück, etwa indem
Migrant_innen aufgrund ihrer Herkunft oder Kultur pauschal eine vermeintliche Affinität zu
Kriminalität und zur Nichtbeachtung hiesiger Gesetze zugeschrieben wird.
Zentrale Merkmale und Kritik
Gruppen des dritten Typs weisen im Allgemeinen und in Abgrenzung zu den anderen Typen
folgende Merkmale auf:
1. Es findet keine Kooperation mit der Polizei oder anderen Behörden statt. Über Warnungen
der Behörden wird sich hinweggesetzt. Häufig werden diese Bürgerwehren selbst zum Ge-
genstand polizeilicher Maßnahmen.
2. Die Gruppen entstehen vorrangig als angebliche Reaktion auf spektakuläre Triggerereig-
nisse. Konkrete Ereignisse im eigenen Sozialraum können eine verstärkende Rolle spielen,
sind aber nicht nötig. Mitunter werden solche Ereignisse konstruiert, d.h. durch Lügen
oder Halbwahrheiten zur ideologischen Rechtfertigung in die Welt gesetzt.
3. Die Gruppen treten nur ausnahmsweise in der realen Welt in Erscheinung. Viele bestehen
ausschließlich in sozialen Netzwerken als Form des virtuellen Aktivismus.
4. Die Gruppen verfolgen vorrangig politische Ziele. Ihre Inszenierung zielt darauf ab, Staat
und Polizei bloßzustellen und politische Gegner_innen sowie Migrant_innen in Misskredit
zu bringen. In der Selbstdarstellung als Bürgerwehr schwingt dabei die Drohung mit, tat-
sächlich auf den Straßen zu patrouillieren.
Screenshot von der Facebook-Seite »Mühl-
hausen will Sicherheit« (2016, mittler-
weile gelöscht)
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Motiv für das Engagement in diesen Gruppen ist die Leitfrage »Wie drücken wir mit so wenig
Aufwand wie möglich und so hohem Effekt wie möglich unsere Wut aus und mobilisieren dafür
Unterstützung?« Unterschiedliche Hintergründe und politische Interessen von Organisator_innen
und Unterstützer_innen können zu einer gemeinsamen Inszenierung als Bürgerwehr zusammen-
kommen. Gruppen dieses Typs arbeiten nicht in Sicherheitspartnerschaften oder mit Nachbar-
schaftswachen des 1. Typs zusammen. Kooperationen und Überschneidungen zu den Bürgerwehr-
Typen 2 und insbesondere 4 sind möglich.
Vigilantengruppen dieser Art drohen damit, die Straße als politische Arena zu besetzen. Sie bilden
eine Form unkonventionellen Protestes, da sie maßgeblich symbolisch und im virtuellen Raum
agieren. Ihr öffentlicher Resonanzraum sind die Medien, die diese Gruppen thematisieren und
mitunter Gefahr laufen, sie dadurch aufzuwerten. Diese Bürgerwehren sind eine radikalisierte
Form von demonstrativem Protest wie bei Pegida, insofern sie über die öffentliche Kundgabe
ihrer politischen Ansichten hinaus damit drohen, ihre Ziele durch unangemeldete und unkontrol-
lierte Patrouillen zu verfolgen. Sie stellen das staatliche Gewaltmonopol infrage und üben symbo-
lische Gewalt aus, die darauf zielt, das nationale Zugehörigkeitsmanagement sowie die lokale So-
zialkontrolle zu privatisieren. Dabei handelt es sich um einen antidemokratischen Mechanismus,
der das vordemokratische Konzept der Bürgerwehr romantisierend adaptiert. Antidemokratisch
sind diese Bürgerwehren deshalb, weil die Androhung von Sanktionen, Ausschluss und Gewalt
durch dazu nichtautorisierte Akteure den Gesellschaftsvertrag, die Rechtsstaatlichkeit und die
Legitimation der staatlichen Institutionen untergräbt. Weil es das zentrale Motiv dieser Gruppen
ist, politische Ziele zu verfolgen, werden in diesen Gruppen häufig Menschenfeindlichkeit, Rassis-
mus, Hass und Hetze verbreitet.
Was tun? Ein fiktives Beispiel
In der Kleinstadt C gründet sich öffentlichkeitswirksam eine Bürgerwehr mit dem vorgebli-
chen Ziel, »endlich was gegen die Ausländerkriminalität zu machen«. Lokale Medien berich-
ten unter Berufung auf die Initiator_innen der Bürgerwehr, dass es mehrfach zu Überfällen
und Vergewaltigungen durch Asylsuchende gekommen sei. Durch die Berichte gewinnt die
Bürgerwehr an Zulauf. Polizei, Politiker_innen und Beratungsstellen stellen später klar, dass
es solche Vorfälle nicht gegeben hat. Zudem wird informiert, dass die »Bürgerwehr C-Stadt«
maßgeblich von Personen organisiert wird, die bereits früher rassistische Proteste organisiert
haben. Die Bürgerwehr tritt zwar nur im Internet in Erscheinung, konnte aber mehrere Hun-
dert Personen aus C-Stadt dazu mobilisieren, ihre Facebook-Seite zu »liken«. Dort verbreitet
sie Meldungen rechtsextremer und rassistischer Seiten aus dem gesamten Bundesgebiet, die
erst dadurch vor Ort eine Leserschaft finden. Zivilgesellschaftliche Initiativen, Presse und
Politik informieren und sensibilisieren über die rassistischen Hintergründe der Gruppe.
Typ 4) Bürgerwehren als rechtsextreme Gewaltgruppen
Im Schatten der Pegida-Bewegung gründeten sich schon vor den Ereignissen der Silvesternacht
2015/2016 mehrere lokale Zusammenschlüsse mit angeblich sicherheitsorientiertem Gruppen-
zweck: In der sächsischen Stadt Freital wird die »Bürgerwehr FTL/360« in Zusammenhang ge-
bracht mit Anschlägen und Übergriffen auf Geflüchtete und politisch Andersdenkende. Auf ihrer
Facebook-Seite bejubelt die Gruppe Gewalttaten. Die »Sächsische Zeitung« berichtet, die »[s]elbst
ernannte Sicherheitstruppe soll in Freital mit einem Baseball-Schläger Pro Asyl-Aktivisten ange-
griffen haben«. Anfang November 2015 wurden führende Mitglieder aufgrund verschiedener Ge-
walttaten festgenommen – die Generalbundesanwaltschaft nahm im Frühjahr 2016 Ermittlungen
wegen des Verdachtes auf Gründung einer terroristischen Vereinigung gegen die Vigilanten aus
Sachsen auf.
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2014 gründeten Rechtsextreme im
Ortsteil Silberhöhe in Halle/Saale eine
Bürgerwehr, die gegen Roma-Familien
mobil machte. In Güstrow gingen – wie
die »Schweriner Volkszeitung« berich-
tete – im April 2015 »mehrere Jugend-
liche unter Leitung des NPD-Politikers
Nils M. in der Barlach-Stadt auf Streife.
Angeblich, um Güstrower vor Auslän-
derkriminalität zu schützen.« Wäh-
rend einer Hausdurchsuchung stellte
die Staatsanwaltschaft bei dem vorbestraften NPD-Aktivisten 60 Elektroschocker und mehrere
Schlagstöcke sicher.
In Köln machten Anfang Januar 2016 größere Gruppen unter dem Label Bürgerwehr Jagd auf
Migrant_innen. Organisiert über soziale Netzwerke haben sich Rassist_innen unter anderem aus
rechtsextremen Gruppen, aus der Türsteherszene und aus Rockerklubs verabredet, um die Vorfäl-
le der Silvesternacht als Legitimation für Gewalttaten gegen Migrant_innen zu missbrauchen. Es
kam zu Hetzjagden auf Schwarze und arabisch aussehende Menschen, mindestens zwölf Personen
wurden verletzt. Ende Januar 2016 versammelten sich in Bielefeld 68 bewaffnete Hooligans mit
Sturmhauben, Messern, Bengalos, Fackeln, Böllern und Quarzhandschuhen und wollten als selbst
ernannte Bürgerwehr durch die Stadt ziehen. Die Polizei stoppte den Tross, beschlagnahmte die
Waffen und verwies die Gruppe aus der Innenstadt. Der Initiator der »Bürgerwehr Kreis Soest«
wird in der »WAZ« als »ein Rassist der üblen Sorte« bezeichnet, unter anderem weil er Geflüchtete
als »Scheiß Abschaum« beleidigte. Asylsuchende seien »zur Schlachtung frei gegeben«. Der zustän-
dige Soester Polizeisprecher Meiske beobachtet in diesem Zusammenhang, dass selbst ernannte
Bürgerwehren wie »Pilze aus dem Boden« schießen. Seine Beobachtung ist unmissverständlich:
Rechtsextreme und Neonazis versuchen, die Sicherheitsdebatte nach den Silvesterexzessen aus-
zunutzen.
Derartige Gruppen, die von Rechtsextremen initiiert oder unterstützt werden, dominierten die
Medienberichte zu Bürgerwehren nach den Silvestervorfällen. Dabei griffen sie nicht selten auf
Lügen über angeblich kriminelle Einwanderer_innen zurück, um sich zu rechtfertigen. So wie die
neonazistische Gruppe »Nationale Sozialisten Müritz«, die ankündigte, unter anderem in Waren ge-
gen »Belästigungen von Frauen, die nicht bei der Polizei angezeigt worden seien«, zu patrouillieren
(vgl. »Ostsee Zeitung«). Für die Gründung von Bürgerwehren setzt sich die NPD schon seit Jahren
ein (Kopke 2013, S. 45). Auch das »Deutsche Polizei Hilfswerk« aus den Reihen der rechtsextremen
Reichsbürgerbewegung gehört zu diesem Typ vigilantistischer Gruppen (Rathje 2014, S. 23ff).
Deutsche, die sich in Gruppen zusammentun und durch die Straßen ziehen, um Sozialkontrolle
auszuüben, d.h. durch eine Aura der Gewalt und durch offene Gewalt zu zeigen, »wem die Straße
gehört«, gibt es schon lange. Mehr oder weniger explizit orientiert am Straßenterror der Sturm-
abteilung (SA) der NSDAP rotten sich seit Jahren rechtsextreme Gruppen in der Bundesrepublik
zusammen, besetzen öffentliche Plätze, ziehen durch die Straßen und schüchtern Minderheiten
und politische Gegner_innen ein. Sie nutzen die als solche wahrgenommene Schwäche des Staa-
tes aus, um sich vor Ort als wirksame Ordnungsmacht zu präsentieren. So entstehen »No go Areas«
bzw. Angsträume für Menschen, die der rechtsextremen Ideologie nach kein Recht besitzen, sich
in bestimmten kulturellen, nationalen oder lokalen Kontexten aufzuhalten. Patrouillen als Bür-
gerwehr sind dabei die offensichtlichste Form dieser Straßenpolitik. Die alleinige Präsenz von
Rechtsextremen an öffentlichen Räumen, symbolische Reviermarkierungen in Form von Aufkle-
bern oder Graffitis, verbale Beleidigungen und Gewalt gegen Menschen und Sachbeschädigungen
sind der alltägliche Ausdruck dieser lokalen Dominanzbestrebungen. Von diesen vigilantistischen
Gewaltgruppen geht eine große Gefahr sowohl für die körperliche Unversehrtheit potentieller
Opfer als auch für die Qualität des demokratischen Zusammenlebens vor Ort aus.
Bürgerwehr Piesau-Lichte, a. a. O. (2016)
28
Neu ist die Inszenierung der Rechtsex-
tremen als »Verteidiger« oder »Bewah-
rer« nicht. Die Attraktivität, die von
autoritären, parastaatlichen Selbst-
darstellungen für die Rechtsextremen
ausgeht, drückt sich beispielsweise in
einem Lied der rechtsextremen Band
»Störkraft« von 1991 aus: »Wir sind
Deutschlands rechte Polizei, wir ma-
chen die Straßen wirklich frei.« Auf
eine vorgeblich Schutzfunktion, näm-
lich den »Schutz« der Nation vor an-
geblichen Bedrohungen, beziehen sich
daher auch immer wieder rechtsextre-
me Akteure – zum Beispiel der Zusam-
menschluss rechtsextremer Kamerad-
schaften in Thüringen, der »Thüringer
Heimatschutz«, aus dem der NSU her-
vorging.
Auch in anderen europäischen Län-
dern organisieren sich nichtstaatliche
Gruppen zur Flüchtlingsabwehr und inszenieren sich als Bürgerwehr. In Österreich besetzten
Mitglieder der »Identitären Bewegung« zeitweise einen Grenzübergang, um die Einreise von Ge-
flüchteten zu verhindern. Schon länger gehen vigilantistische Gruppen in Ungarn insbesondere
gegen Roma vor: »In eigener Uniform, mit polizeilichem Habitus und über mehrere Wochen hin-
weg patrouillieren Mitglieder rechter Gruppierungen im Frühjahr 2011 ungehindert durch den
ungarischen Ort Gyöngyöspata. Sie kontrollieren den Alltag der lokalen Roma und schränken
die Community im alltäglichen Leben so stark ein, dass ihr rigoroses Auftreten und ihre massi-
ven Gewaltandrohungen schließlich das Rote Kreuz dazu veranlassen, die Mehrheit der im Ort
wohnenden Roma zeitweise zu evakuieren.« (Koob 2012, S. 86) Der Sozialwissenschaftler Koob
stellte an diesem Beispiel heraus, wie »Antiziganismus und Vigilantismus dabei ein spezifisches
Wechselspiel eingehen: Im Zusammenhang mit essenzialisierenden Abwertungen wird Raum im
Kontext der vigilanten Praxen zum Feld schikanierender Handlungen. Durch ein Fortbestehen der
etablierten Angsträume über die vigilante Präsenz hinaus generieren sich neue Ausschließungs-
mechanismen.«
In Griechenland haben im Oktober 2015 Vermummte vor der Insel Lesbos mehrere Flücht-
lingsboote angegriffen und deren Motoren zerstört, sodass diese stundenlang manövrierunfähig
auf dem offenen Meer trieben. In Finnland, Norwegen, Bulgarien, Frankreich, Estland und nach
eigenen Angaben auch in Großbritannien, den USA, in Schweden und Deutschland existiert die
rechtsextreme Gruppe »Soldaten Odins«, die als rassistische Bürgerwehr auf »Patrouille« gegen
Migrant_innen geht.
Für rechtsextreme Akteure wirken die öffentliche Debatte der sogenannten »Flüchtlingskri-
se«, verbale Bestätigungen rechtsextremer Positionen durch etablierte Politiker_innen sowie die
Mobilisierungserfolge populistischer Gruppen legitimierend dafür, Gewalt anzuwenden. Das Eti-
kett der Bürgerwehr eignet sich dafür hervorragend, weil es die nationalistischen Abwehrbe-
strebungen und die Drohung der Straßengewalt in einer innovativen Art und Weise miteinander
verbindet, die öffentliche Aufmerksamkeit sowie den Zuspruch aus Teilen der Gesellschaft ver-
spricht. Die Bezeichnung Bürgerwehr dient Rechtsextremen dazu, die eigene Gewaltaffinität und
die Diskriminierung und Verfolgung insbesondere von Migrant_innen zu rechtfertigen. Dabei hat
ihr tatsächliches Verhalten mehr zu tun mit den parastaatlichen SA-Methoden als mit der Form
hilfspolizeilicher Nachbarschaftshilfe, die sie zu betreiben vorgeben.
Screenshot von der Facebook-Seite »Bürgerwehr Piesau-Lichte«
(2016)
29
Häufig argumentieren diese Gruppen deutlich weniger subtil als die Protestgruppen des 3. Typs,
um ihre Motive zu rechtfertigen. In sozialen Netzwerken finden sich Aufrufe zum Rassen- bzw.
Bürgerkrieg, es werden nationalsozialistische Symbole und Slogans verbreitet. Abstammung, Aus-
sehen, Religion oder Kultur werden als Indizien für die angebliche Minderwertigkeit von Men-
schengruppen betrachtet, aufgrund derer es in den Augen der Vigilant_innen nicht nur richtig,
sondern notwendig ist, diese Gruppen gewaltsam zu bekämpfen. Es wird kaum argumentiert, da
es für die meisten Unterstützer_innen legitim ist, Gewalt gegen Menschen aus sozialen Gruppen
auszuüben, die als »fremd« oder »schwach« angesehen werden. Diese Gruppen sind Teil der rechts-
extremen Bewegung. Sie reagieren oft schnell auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und
Diskurse, die für sie anschlussfähig sind. Für diese rechtsextremen Gruppen ist die Inszenierung
als Bürgerwehr ein wirksames und kostengünstiges Etikett, um öffentliche Aufmerksamkeit zu
erlangen sowie um für sich und die Billigung bzw. Anwendung von Gewalt zu werben. Diesen
Akteuren geht es vorrangig weder um Sicherheit noch darum, den Staat bloßzustellen. Ihr Ziel ist
Gewalt und die Schaffung parastaatlicher Sanktionsräume, in denen nicht das offiziell-staatliche
Recht, sondern das »Gesetz der Straße«, das »Recht des Stärkeren« gilt.
Vigilantistische Gewaltgruppen können sich radikalisieren bis hin zur Ausübung von tödli-
chem Terrorismus, wie der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) zeigt. Vigilantistische Grup-
pen und Rechtsterrorist_innen wie den NSU oder den Norweger Breivik verbindet global das
gemeinsame Ziel: »Die Wahrung einer bedrohten hierarchischen Ordnung, in der Männer vor
Frauen, Weiße vor Nicht-Weißen und Christen vor Muslimen rangieren.« (Theleweit 2015, S. 106)
Zentrale Merkmale und Kritik
Diese Gruppen weisen im Allgemeinen und in Abgrenzung zu den Vigilantengruppen anderer
Typen folgende Merkmale auf:
1. Es findet keine Kooperation mit Polizei oder anderen Behörden statt. In der Regel sind
Akteure dieser Gruppen bereits polizeibekannt.
2. Einige Akteure in diesen Gruppen weisen eine schon länger bestehende Zugehörigkeit zur
rechtsextremen Bewegung auf. Sie nennen sich beispielsweise Heimatschutz oder Bürger-
wehr und nutzen konkrete lokale Anlässe als Legitimation für ihre politischen Ziele, für
deren Umsetzung sie die Anwendung von Gewalt mindestens billigen. Auf individueller
Ebene werden politische Argumente nicht selten vorgeschoben, um die eigene Gewaltaffi-
nität zu rechtfertigen.
3. Akteure dieser Gruppen treten häufig nicht nur im Internet, sondern auch in der realen
Welt durch gewalttätige und/oder öffentliche Aktivitäten in Erscheinung, wobei das Etikett
Bürgerwehr gegen andere Bezeichnungen austauschbar ist.
4. Die Gruppen verfolgen politische Ziele. Ihre Inszenierung als Bürgerwehr zielt darauf ab,
Gewalt zu rechtfertigen und die Dominanz auf dem Politikfeld Straße in »national befreiten
Zonen« oder »Angsträumen« zu übernehmen.
Motiv für das Engagement dieser Gruppen ist die Leitfrage »Wie können Nichtdeutsche und Nicht-
rechte vor Ort vertrieben, eingeschüchtert und marginalisiert werden?« Gruppen dieses Typs
arbeiten nicht in Sicherheitspartnerschaften oder mit Nachbarschaftswachen des 1. Typs zusam-
men. Kooperationen und Überschneidungen zu den Bürgerwehr-Typen 2 und insbesondere 3 zum
gegenseitigen Vorteil sind möglich.
Mit dem Vehikel Bürgerwehr gelingt es diesen rechtsextremen Gruppen, öffentliche Aufmerk-
samkeit und Sympathien auch außerhalb der rechtsextremen Bewegung zu mobilisieren. Dies
wird begünstigt über anonyme, virtuelle Inszenierungen, in denen für unkritische Beobachter_in-
nen zunächst über den rechtsextremen Hintergrund hinweggetäuscht werden kann, um dann
rechtsextreme Inhalte zu verbreiten. Diese rechtsextremen Gewaltgruppen bedrohen die körper-
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liche Unversehrtheit von Menschen und die Grundlagen eines angstfreien Zusammenlebens, das
für sachliche und demokratische Auseinandersetzungen über politische Themen notwendig ist.
Die gewaltsamen Sozialraumstrategien rechtsextremer Gewaltgruppen sind besonders erfolg-
reich dort, wo die demokratische Zivilgesellschaft und das Vertrauen in die Polizei schwach sind.
Insbesondere in ländlichen und abdriftenden Regionen gelingt es Rechtsextremen durch diesen
Alltagsterror, die Kontrolle über lokale Kontexte zu übernehmen und Gruppen zu vertreiben, die
sie als feindlich definieren. Am erfolgreichsten geschieht dies dort, wo auf eine aufwendige öffent-
liche Darstellung und Rechtfertigung verzichtet wird, denn diese führt in der Regel zu öffentlichen
Debatten und polizeilichen Maßnahmen gegen die Vigilant_innen. Inszenieren sich rechtsextreme
Gruppen in Kommunen als Bürgerwehr oder Heimatschutz, wie in Freital oder Meißen (Sach-
sen), werden die gewaltsamen Machtbestrebungen auch für Außenstehende sichtbar und können
problematisiert werden. Doch die meisten rechtsextremen Akteure, die mit dem Ziel, in lokalen
Kontexten Sozialkontrolle auszuüben, ähnlich gewaltsam handeln wie etwa die Bürgerwehr in
Köln, bleiben weitgehend unsichtbar. Die größte Gefahr geht daher nicht von vigilantistischen
Gewaltgruppen aus, die sich öffentlich inszenieren, sondern von solchen, die weitestgehend un-
entdeckt und unthematisiert den Alltag vor allem in kleineren Dörfern und Städten bestimmen.
Was tun? Ein fiktives Beispiel
In der Kommune D gibt es seit Jahren eine rechtsextreme Szene, die geprägt ist von der
NPD und von informell organisierten Rechtsextremist_innen. Nachdem in einer entfernten
deutschen Großstadt ein terroristischer Anschlag mit islamistischem Hintergrund in letzter
Minute verhindert wurde und bundesweit über die Gefahren der inneren Sicherheit durch
religiös motivierten Terrorismus diskutiert wird, entsteht bei Facebook eine Seite mit dem
Titel »Heimatschutz D – Wir gegen den Islam«. Auf dem Profil der Gruppen werden rechts-
extreme Videos, Bilder und Gewaltaufrufe geteilt. Die Gruppe kündigt an »Wir sorgen in
unseren Straßen für deutsche Ordnung«. In D kommt es zu Sachbeschädigungen an Partei-
büros und zu Hetzjagden und Übergriffe auf Asylsuchende und linke Jugendliche, zu denen
sich der »Heimatschutz D« im Internet bekennt. Nachdem die Gefahr zunächst nicht ernst
genommen wurde, organisieren zivilgesellschaftliche Akteure eine Demonstration gegen
den »Heimatschutz D«. Mitglieder der Gruppe kündigen im Internet an, die Versammlung
anzugreifen. Am Rande der Kundgebung nimmt Polizei nimmt mehrere bewaffnete Rechts-
extreme fest und kann bei anschließenden Hausdurchsuchungen bei den Verdächtigen Pro-
pagandamaterialien, PC-Technik und weitere Waffen beschlagnahmen. In der Folge löscht
die Gruppe ihr Facebook-Profil.
Bürgerwehr Freital/360
Quelle: www.zeitpunkt-kultur-
magazin.de/leipzig/blaulicht/
zahl-selbstorganisierter-buer-
gerwehren-nimmt-in-sachsen-
stark-zu.html
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Virtueller Aktivismus als Inszenierung
Die Selbstbezeichnung kollektiver Akteure als Bürgerwehr ist in den Formen 3 und 4 eine Form
politischen Protestes, dessen Grundlage die Androhung ist, das, was man für das Recht hält (bspw.
ein völkisches »Selbstbestimmungsrecht«), in die eigene Hand zu nehmen. Dabei handelt es sich
im Nachgang zu den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht vor allem um einen virtuellen Aktio-
nismus, womöglich sogar um eine neue Form einer virtuellen sozialen Bewegung. Die Mehrzahl
der Gruppen, die sich insbesondere bei Facebook gründet, tritt in der realen Welt öffentlich (etwa
durch Patrouillen) nicht als Bürgerwehr in Erscheinung. Gründe dafür liegen zum einen im Droh-
Charakter der Bürgerwehr-Inszenierung, die keine wirklichen Aktivitäten entfalten muss, um öf-
fentliche Resonanz hervorzurufen. Zum anderen ist es für Sympathisant_innen und potenzielle
Unterstützer_innen leicht und unverbindlich, die Zugehörigkeit zu einer virtuellen Gruppe zu
erklären. Tatsächliche Aktivitäten in der realen Welt sind dagegen zeit- und kostenaufwendig, risi-
koreich und schnell langweilig. Der Politikwissenschaftler Nils Weidmann führte dazu gegenüber
dem »Südkurier« aus: »Eine Mitgliedschaft in solch einer Online-Gruppe bedeutet zunächst einmal
nicht viel«, weil man anonym und gratis beitreten könne. Außerdem, so Weidmann, »wissen [vie-
le], dass die Mehrheit der Bevölkerung ihre Haltung nicht unterstützt«. Daher sei der tatsächliche
Schritt auf die Straße eine Hürde. Facebook erleichtere die überregionale Bündelung von Gleich-
gesinnten: »Was früher am Stammtisch besprochen wurde, passiert jetzt online. Früher wusste
man nichts voneinander, heute vernetzt man sich«, so Weidmann.
Tatsächlich berichteten zahlreiche Medien beispielsweise über die Gründung von Bürgerweh-
ren in Schwerin und Wismar, mussten jedoch bald feststellen: Hinweise auf eine tatsächlich exis-
tierende Bürgerwehr gab nicht. In Stralsund muss der Initiator der Bürgerwehr »Menschen Hilfe
Stralsund 201 mangels Freiwilligen allein auf Streife gehen. Mitte Januar 2016 berichtete die
Deutsche Presseagentur:
»Nach Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln gibt es auch im Norden Aufru-
fe zur Gründung von Bürgerwehren, die selber für Recht und Ordnung sorgen wollen. Bis-
lang haben derartige Aktionen aber praktisch nur in sozialen Netzwerken Zulauf erhalten,
auf der Straße ist noch kaum einer der selbst ernannten Ordnungshüter gesichtet worden,
wie eine Umfrage der dpa bei den Polizeidirektionen in Niedersachsen und Bremen ergab.
Die Sicherheitsbehörden vermuten hinter den sogenannten Bürgerwehren Wichtigtuer und
Rechtsextremisten, die aus der Verunsicherung von Menschen wegen des Flüchtlingszuzugs
Profit schlagen wollen.«
Vergleichbare Meldungen über rein virtuelle Bürgerwehren gibt es aus dem gesamten Bundesge-
biet. Einige Gruppen, die öffentlich patrouillierten, stellten ihre Aktivitäten bereits nach wenigen
Wochen ein, so etwa in Schwanewede. In vielen Fällen genügte bereits die virtuelle Behauptung,
man habe eine Bürgerwehr gegründet, um öffentlichen Druck auszuüben. Dies ist die erklärte
Strategie, wie der umtriebige rechte Carsten Schulz, Gründer einer Bürgerwehr in Hannover, ge-
genüber dem »VICE-Magazin« einräumt: Bürgerwehren auf Streife können nicht viel ausrichten,
das sei eine Illusion, so Schulz. Vielmehr wolle er mit seiner Idee die herrschende Politik provo-
zieren und den Druck auf die Polizei erhöhen.
Erhöhte Achtsamkeit gegenüber solchen Gruppen ist gleichwohl geboten: Denn der Drohung
durch die virtuellen Gruppen wohnt ein reales Gefährdungspotenzial inne, weil dadurch lokale
Mobilisierungsnetzwerke geschaffen werden, deren Mitglieder die Anwendung von Gewalt gene-
rell zumindest billigen.
Die unterschiedlichen Typen von »Bürgerwehren« zeigen, dass eine diffuse Gemengelage von Ein-
flüssen und Narrationen für Einzelne Motiv dafür sein kann, mit derartigen Gruppen zu sympa-
thisieren. Verunsicherung als Folge multipler Gesellschaftskrisen in den letzten Jahren auf der
32
einen Seite und die Ausnutzung dieser Verunsicherung durch diverse rechtsextreme, rechtspo-
pulistische oder reaktionäre Akteure auf der anderen Seite liefern dafür den Nährboden. Zu den
Anheizer_innen und Profiteur_innen gehört beispielsweise auch der bei Rechtspopulisten und
Verschwörungstheoretikern beliebte Publizist Udo Ulfkotte, der die Sorgen und Ängste von Men-
schen unter anderem in dem im rechten Kopp-Verlag erschienen pseudowissenschaftlichen Buch
»Unruhen in Europa. Der Vorsorgeplan für Staatsbankrott, Zwangsenteignung und Bürgerkrieg«
(2014) anheizt.
Bürgerwehren dienen ihren Mitgliedern auch dazu, aus einer subjektiven Ohnmacht ange-
sichts von Verunsicherungen auszubrechen. Sie verkörpern in einer als überkomplex und ano-
misch empfundenen Welt im praktischen und übertragenen Sinne ein Ordnungsbedürfnis, d.h.
den Wunsch nach einfachen und tatkräftigen Maßnahmen, um lieb gewonnene Übersichtlichkeit
und Privilegien zu bewahren.
Vigilantistische Gruppen schüren wiederrum Verunsicherung – weil sie selbst die Polizei be-
schäftigen und den Eindruck verbreiten, Staat und Polizei könnten die Sicherheit im Lande nicht
mehr gewähren: Der Vigilantismus reproduziert sich und seine Legitimationslogik selbst. Der neo-
liberale Trend der Privatisierung von Sicherheit sowie gesellschaftspolitische Krisen in Europa
wirken zusätzlich verstärkend.
Vigilant_innen sehen sich als Angehörige eines größeren Kollektives, von dem sie sich ermäch-
tigt erfahren, mit illegalen Mitteln eine als »natürlich« und legitim bewertete Asymmetrie zwi-
schen sozialen Gruppen in der Gesellschaft zur Erhaltung oder Erweiterung von Privilegien ihrer
Bezugsgruppe durchzusetzen. Vigilant_innen sind nichtstaatliche Akteure, die im Namen einer
Etabliertengruppe gegen Außenseitergruppen kämpfen. Auf der Suche nach Projektionsmöglich-
keiten für politisierte Unsicherheit und Unzufriedenheit zielen sie stets auf die Schwachen. Dazu
gehören beispielsweise sozial Randständige, Kriminelle oder Menschen aus Einwandererfamilien,
wobei sich das Feindbild der Vigilant_innen oft am Bild des »kriminellen Ausländers« rassistisch
verdichtet. Die von den diskriminierten Menschengruppen ausgehenden Wirkungen werden als
zerstörerisch bewertet; sie werden als »gefährliche Überfremdung«, als »Invasion« oder als Angriff
auf die »Reinheit der Rasse« gebrandmarkt. Weil es sich bei diesen Zuschreibungen um Projek-
tionen handelt, sind viele Vigilant_innen gegenüber objektiven Argumenten immun. Für sie ist
es folgerichtig, stellvertretend Angehörige oder Objekte dieser Gruppen anzugreifen. Vigilantisti-
sche Gewalttäter_innen lehnen geltendes Recht nicht per se ab, konstruieren jedoch Ausnahmesi-
tuationen, aufgrund derer sie vermeintlich gezwungen sind, Gewalt bis hin zu Morden auszuüben.
Das Auftreten und spätestens die Gewalt der Vigilant_innen fordern den Staat heraus, weil
sie dessen Monopol legitimer physischer Gewalt infrage stellen. Der Staat wird von Vigilant_in-
nen somit in letzter Konsequenz dazu provoziert, das Terrain demokratischer Politikgestaltung
tendenziell zulasten von Freiheit und Gleichheit zu verschieben – entweder durch politische Zu-
geständnisse an die Vigilant_innen oder durch das Ausweiten der Sicherheitsarchitektur und
-befugnisse. Lassen sich das Verhalten und die Äußerungen der Repräsentant_innen des Staates
nicht länger als mehr oder weniger heimliche Zustimmung interpretieren, geraten auch sie in den
Fokus radikalisierter Vigilant_innen. Sie werden jedoch nicht als Vertreter_innen einer als falsch
bewerteten staatlich und kapitalistisch verfassten Ordnung angegriffen, sondern in »zweiter Se-
quenz« (Waldmann 2011) zum Beispiel als »Multi-Kulti-Befürworter«, »Drahtzieher des Volkstods«
oder »Kulturmarxisten«. »Volksverrat« lautet der Vorwurf, den derzeit Neonazis ebenso erheben
wie die Anhängerschaft von Pegida oder Politiker_innen der AfD und Akteure der Bürgerwehren.
33
Was tun? Der richtige Umgang mit Bürgerwehren
In der medialen Öffentlichkeit lassen Sprecher_innen der Polizei keinen Zweifel daran, was aus
ihrer Sicht von den Bürgerwehren zu halten ist, die sich in den ersten Wochen des Jahres 2016
gehäuft gegründet haben: Vielerorts warnen Polizeivertreter_innen vor diesen Gruppen und nen-
nen deren Schutzversprechen »trügerisch«. Im »Soester Anzeiger« war beispielsweise zu lesen:
»Das Gewaltmonopol liege beim Staat und somit bei der Polizei. Und einzig diese Polizei sei auch
für die Verhinderung und Aufklärung von Straftaten zuständig. ›Daher werden wir weder lai-
enhafte Alleingänge von selbsternannten Ordnungshütern noch jegliche Form von Selbstjustiz
dulden‹, ging in dem Statement eine klare Warnung an die Mitglieder von Bürgerwehren. Statt
einer Arbeitserleichterung sieht die Polizei in den Bürgerwehren sogar eine ›zusätzliche Aufga-
benbelastung‹, weil die Beamten nun auch noch ›ein Auge auf die Bürgerwehren zu halten‹ hätten
und somit für ›andere Belange weniger zur Verfügung‹ stünden.«
Das Gewaltmonopol liegt exklusiv beim Staat, von Bürgerwehren wird abgeraten. Im Alltag ist
Zivilcourage wünschenswert, doch »Bürgerwehren« sind eine Gefahr – so lautet das Urteil vieler
Polizeisprecher, Bürgermeister und Lokalpolitiker. Mehrere Innenminister der Länder und der
Bundesjustizminister Maas (SPD) äußerten sich ablehnend gegenüber den Bürgerwehren.
Bundesjustizminister Heiko Maas warnt: »Es ist nicht die Aufgabe von ›Bürgerwehren‹ oder
anderen selbsternannten Hobby-Sheriffs, Polizei zu spielen.«
Politik
Fürsprecher_innen haben die Bürgerwehren im Parteienspektrum nur in den Rechtsaußenpar-
teien AfD und NPD. Seitens der demokratischen und etablierten Parteien vor Ort sollten im Falle
der Entstehung von Bürgerwehren eindeutige Positionierungen gegen diese Gruppen selbstver-
ständlich sein. Allerdings hat insbesondere die Bundespolitik in den jüngeren Migrationsdebatten
immer wieder hektischen und alarmistischen Aktivismus hervorgerufen und somit ein schlechtes
Vorbild für eine sachliche und überlegte Auseinandersetzung geliefert. Um populistischen Mobil-
machungen wirkungsvoll zu begegnen, ist es eine Daueraufgabe, auch verunsicherten Bürger_in-
nen zu erklären, dass es für komplexe soziale Entwicklungen und Veränderungen keine einfachen
Lösungen gibt: Umso mehr ist die demokratische Haltung Einzelner gefragt.
Ambivalent ist die Rolle der Politik, weil es politische Entscheidungen sind, die zum Abbau
von Stellen im öffentlichen Dienst führen und die damit zu einem Vertrauensverlust in die Effi-
zienz des Staates vor Ort beitragen können. Politiker_innen sollte daher nicht nur aufklären und
vermitteln können, warum es gefährlich ist, wenn Bürger_innen das Recht in die eigene Hand
nehmen wollen, sondern auch konkrete Maßnahmen, Konzepte und Antworten für objektive
Missstände entwerfen, etwa in strukturschwachen Regionen. Dafür wird es künftig auch lang-
fristig erforderlich sein, deutlich mehr finanzielle Mittel für polizeiliche Präsenz und politische
Aufklärungsarbeit einzusetzen.
Polizei
Warnungen und Distanzierungen von Bürgerwehren aus den Reihen von Polizei und Politik sind
wichtige Bestandteile der kritischen Auseinandersetzung mit den Vigilant_innen. Die öffentlich
geäußerte Ablehnung insbesondere durch die Polizei ist von besonderer Wichtigkeit, weil damit
der Anspruch der Bürgerwehren zurückgewiesen wird, als »Hilfspolizei« zur Herstellung von Si-
cherheit beizutragen. Dadurch lassen sich die hintergründigen Motive dieser Gruppen entlarven
und ihnen kann die Legitimation entzogen werden. Zusätzlich müssen Polizeibehörden auch wei-
terhin prüfen, ob von Bürgerwehren Straf- und Gewalttaten ausgehen.
34
Medien
Die öffentliche Berichterstattung in lokalen und überregionalen Medien hat zu einer Sensibilisie-
rung gegenüber den Bürgerwehren beigetragen. Häufig führen erst die Recherchen von Journa-
list_innen dazu, dass sich Polizei und Politik mit den Hintergründen und Akteuren der Gruppen
auseinandersetzen. Medien stehen jedoch in einem Spannungsfeld zwischen der gebotenen sachli-
chen Berichterstattung und der Gefahr, sich an der Inszenierung der auf öffentliche Aufmerksam-
keit ausgerichteten Bürgerwehren zu beteiligen. Kritisch zu betrachten sind besonders Leitfäden
zum Thema »Was dürfen Bürgerwehren?«, die von zahlreichen Medien veröffentlicht wurden.
Zum einen kann dies als Ermunterung zur Gründung und Beteiligung an Bürgerwehren aufgefasst
werden, zum anderen geraten damit die hintergründigen, häufig politischen Ziele dieser Gruppen
aus dem Blick. Von solchen Hilfestellungen sollten Medien Abstand nehmen.
Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Gruppen führten in einigen Städten Demonstrationen gegen Bürgerwehren
und Rassismus durch. Auch Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen sowie Presse- und Online-
beiträge können die Aufklärung und Sensibilisierung fördern. Gegenproteste zivilgesellschaftlicher
Initiativen sind sinnvoll und folgerichtig, weil sie dazu beitragen, die vorgeblich unpolitische und
sicherheitsbezogene Inszenierung der Bürgerwehren als politische Protestkampagne aufzudecken
und darauf hinzuweisen, dass diese Gruppen nicht im Namen der Bürgerschaft vor Ort handeln.
Bürgerwehren und ihre Hintergründe zu entlarven und zu kritisieren genügt jedoch nicht.
Kriminalität, Verunsicherung und Rassismus haben Ursachen, mit denen sich die demokratische
Zivilgesellschaft auseinandersetzen muss, wenn sie mehr sein will als eine Krisenfeuerwehr. Kri-
tische Debatten über den Stellenabbau im öffentlichen Dienst, die Privatisierung von Sicherheit,
die Prekarisierung sozialer Berufe und die soziale Ungleichheit sind nicht nur sachlich geboten:
Alternative Antworten auf Herausforderungen für die Gesellschaft tragen auch dazu bei, rechter
Agitation den Boden zu entziehen. Im Umgang mit den Konflikten, die sich im Zusammenhang von
Migrationsbewegungen nach Deutschland ergeben, ist ein aufgeklärter und offener Diskurs nötig,
damit Probleme nicht verschleppt und verfestigt werden und damit ethnisierenden Verklärungen
sozialer Konflikte sowie die Entstehung rassistischer Mythen präventiv begegnet werden kann.
35
Fazit
Viele Bürgerwehren erweisen sich bei genauem Blick als kurzfristige Inszenierungen, bei denen
politische Akteure die Verunsicherungen und »Krisen«-Rhetorik in der Gesellschaft aufnehmen
und zum eigenen Vorteil ausnutzen. Mit der Drohung, »das Recht in die eigene Hand zu nehmen«,
wollen sie politische Veränderungen herbeizuführen. Die Bestandszeit dieser Gruppen ist in der
Regel nur so lang, wie die öffentliche Aufmerksamkeit dieser Inszenierung auf den Leim geht.
Die vor allem im virtuellen Raum bestehenden Gruppen verlieren für ihre Mitglieder und Sym-
pathisant_innen schnell an Attraktivität, wenn die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft abnimmt
und die eigenen Aktivitäten in der Wirklichkeit als langweilig, mühselig und unergiebig erfahren
werden. Vor allem für Akteure aus der rechtsextremen Bewegung ist es aber auch längerfristig at-
traktiv, ihre Aktivitäten als Bürgerwehr und Heimatschutz zu etikettieren, um sozialer Ächtung zu
entgehen sowie ihre Ideologie und Gewaltaffinität zu rechtfertigen. Nicht nur offene Grenzen und
Migration sind gesellschaftliche Entwicklungen, die für rassistische und rechtsextreme Akteure
anschlussfähig sind: in diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere das Thema »Sicherheit«
als mobilisierungsfähig.
Umso wichtiger sind klare Distanzierungen der Sicherheitsbehörden und verantwortlicher
Politiker_innen. Ein aufgeklärter und sensibilisierter Umgang mit diesen Erscheinungen ist die
beste Prävention gegen künftige Bürgerwehr-Inszenierungen, die auf Grund der vielschichtigen
Ursachen konjunkturell zu erwarten sind. Für die demokratische Zivilgesellschaft ist es darüber
hinaus auch wichtig, das Feld berechtigter Kritik an der Privatisierung von Sicherheit nicht den
politischen Akteuren von Rechtsaußen zu überlassen. Denn sicher ist: Gerade in Zeiten des trans-
nationalen Terrorismus wird das Thema Sicherheit die helle und die dunkle Seite der Zivilgesell-
schaft weiter beschäftigen.
The Society in Dedham for Apprehending Horse Thieves: als älteste bis heute existierende Gruppe zur
Bekämpfung von Pferdedieben in den USA ein Prototyp vigilantistischer Organisationen.
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Society_in_Dedham_for_Apprehending_Horse_Thieves
36
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Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich für eine demokratische Zivilgesellschaft ein, die sich
konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Sexismus und andere Formen gruppen-
bezogener Menschenfeindlichkeit wendet. Hierfür fördert und unterstützt die Stiftung Ini-
tiativen überall in Deutschland, die sich in Jugendarbeit und Schule, im Opferschutz und der
Opferhilfe, in kommunalen Netzwerken und vielen anderen Bereichen engagieren. Zu diesen
bereits über 1.000 unterstützten Projekten gehören zum Beispiel:
das Alternate Reality Game »Die Bewegung« des Waldritter e.V., eine Rollenspiel-Stadt-
rallye über eine fiktive Bürgerbewegung
die Tagung »Rassismus und Männlichkeiten« des Kölner Bündnis14-Afrika zum Thema
Migration und Geschlecht in der sozialen, pädagogischen und politischen Arbeit
die Bürgerstiftung Barnim Uckermark mit ihrem Projekt »Gemeinsame Sache! – Koopera-
tion mit geflüchteten Familien in Schule«
Die Stiftung ist nach Amadeu Antonio benannt, der 1990 von rechtsextremen Jugendlichen
im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelt wurde, weil er eine schwarze Hautfar-
be hatte. Er war eines der ersten von heute fast 200 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit
dem Fall der Mauer.
Die Amadeu Antonio Stiftung wird unter anderem von der Freudenberg Stiftung unterstützt
und arbeitet eng mit ihr zusammen. Sie ist Mitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen
und hat die Selbstverpflichtung der Initiative Transparente Zivilgesellschaft unterzeichnet.
Kontakt
Amadeu Antonio Stiftung
Novalisstraße 12
10115 Berlin
Telefon: 030. 240 886 10
Fax: 030. 240 886 22
info@amadeu-antonio-stiftung.de
amadeu-antonio-stiftung.de
facebook/AmadeuAntonioStiftung
twitter.com/AmadeuAntonio
Spendenkonto
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IBAN: DE32 4306 0967 6005 0000 00
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UNTERSTÜTZEN SIE PROJEKTE ZUR
STÄRKUNG LOKALER DEMOKRATIE
Bitte geben Sie bei der Überweisung eine
Adresse an, damit wir Ihnen eine Spenden-
bescheinigung zuschicken können.
Sie nennen sich »Bürgerwehr Hannover«, »Freikorps Bürgerwehr Selbstschutz der
Patrioten und unserer Familien« oder »Düsseldorf passt auf«: zivile Gruppen, die
nach angeblichen oder tatsächlichen Straf- und Gewalttaten die fehlende Effizienz
der Polizei beklagen. Unter dem Vorwand »Sicherheit« nehmen sie das, was sie für
ihr Recht halten, in die die eigene Hand. Gegen die »Bürgerwehr Freital« nahm die
Generalbundesanwaltschaft im Frühjahr 2016 Ermittlungen wegen des Verdachts
auf Gründung einer terroristischen Vereinigung auf. Vor allem bei Facebook sym-
pathisieren Zehntausende mit solchen Gruppen.
Werden Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung, Polizei und Medien vor Ort mit sol-
chen Bürgerwehren konfrontiert, stehen sie dem Problem meist ratlos gegenüber.
Dies bedroht die demokratische Kultur, denn viele dieser Gruppen verfolgen vor
allem eigennützige Interessen, die häufig rassistisch und demokratiegefährdend
sind.
Doch wie lassen sich »harmlose« private Sicherheitsinitiativen von demokratie-
gefährdenden unterscheiden? Die vorliegende Analyse ordnet das Phänomen
der Bürgerwehren historisch, gesellschaftlich und international ein und bietet
Handlungsempfehlungen für Institutionen und Zivilgesellschaft in der aktuellen
Auseinandersetzung vor Ort.
... Anika Hoff mann (2019) counted 326 self-defi ning Bürgerwehren on Facebook and documented their steady growth (in numbers as well as membership) between 2016 and 2018. However, groups with an online presence are not necessarily also active in the urban (or border) space: they may have been founded to pressure the state into undertaking action to ensure the security of citizens, and as such fulfi ll a performative function (see also Bust-Bartels 2021;Quent 2016aQuent , 2016b. ...
... Th e (mostly German language) scholarly literature on contemporary Bürgerwehren, in particular from an ethnographic perspective, is scarce. Contemporary Bürgerwehren are analyzed as violent manifestation and embodiment of the far right (Quent 2015(Quent , 2016a(Quent , 2016b or as a political tool for mobilization of the populist, anti-immigrationist far right (Koehler 2019). Matthias Quent (2016aQuent ( , 2016b emphasizes the performative function of such groups as the "staging" (Inszenierung) of a provocation towards the state, while simultaneously underlining the potential of far-right Bürgerwehren for political terrorism, inasmuch as they approve of the use of violence and form networks that can be further mobilized. ...
... Contemporary Bürgerwehren are analyzed as violent manifestation and embodiment of the far right (Quent 2015(Quent , 2016a(Quent , 2016b or as a political tool for mobilization of the populist, anti-immigrationist far right (Koehler 2019). Matthias Quent (2016aQuent ( , 2016b emphasizes the performative function of such groups as the "staging" (Inszenierung) of a provocation towards the state, while simultaneously underlining the potential of far-right Bürgerwehren for political terrorism, inasmuch as they approve of the use of violence and form networks that can be further mobilized. Bürgerwehren act from a subjective position of powerlessness facing a state that they deem unable to protect its own citizens amid growing chaos and anomie (2016b: 85). ...
Article
Full-text available
Informal policing has recently been on the rise in Europe: in several countries, “concerned citizens” have mobilized for the protection of their neighborhoods. This article examines the production and mobilization of vigilance in the negotiations around practices of informal policing in Italy and Germany and analyzes the relational way in which discourses and practices of vigilantism make and unmake the state. Grounded in research on practices of informal policing in Italy and Germany, the article argues that practices of vigilance manifested in informal policing are simultaneously and ambivalently state-(un)making practices. What is obtained in the process is an ambivalent regime of vigilance.
... The so called ACONDI hypothesis proposes that the presence of a very specific combination of emotions (namely anger, contempt, and disgust) has the power to actually mobilize people and turn feelings of dissatisfaction into violent action (Matsumoto, Hwang, & Frank, 2012;Matsumoto, Frank, & Hwang, 2015). In a similar way Quent (2016Quent ( , 2017 finds that an instrumentalization of 'hate' can trigger so-called 'vigilante terrorism' as a form of political protest (Quent, 2016;2017). colleagues (2012, 2015) find proof for their hypothesis comparing the rhetorical shifts in discourses during and prior to violent and non-violent events of political protest (eg. the salt marsh vs. the 'Kristallnacht'). ...
... The so called ACONDI hypothesis proposes that the presence of a very specific combination of emotions (namely anger, contempt, and disgust) has the power to actually mobilize people and turn feelings of dissatisfaction into violent action (Matsumoto, Hwang, & Frank, 2012;Matsumoto, Frank, & Hwang, 2015). In a similar way Quent (2016Quent ( , 2017 finds that an instrumentalization of 'hate' can trigger so-called 'vigilante terrorism' as a form of political protest (Quent, 2016;2017). colleagues (2012, 2015) find proof for their hypothesis comparing the rhetorical shifts in discourses during and prior to violent and non-violent events of political protest (eg. the salt marsh vs. the 'Kristallnacht'). ...
Conference Paper
Since emotions are considered to be an important precondition for persuasion, it is almost common place knowledge nowadays, that populists deliberately employ rhetorical strategies (e.g. metaphors, figurative language, see Boeynaems, Burgers, & Konijn, 2018) that aim at an emotionalization of their topics. Schneider et al. (2018) for instance find fear of crime to be one of the predominant themes in Islamist and right-wing YouTube videos. Moreover, there is reliable research suggesting that populist rhetoric that address a very specific combination of emotions (namely anger, contempt, and disgust, as proposed by the so called ACONDI model) have the power to actually mobilize people and turn feelings of dissatisfaction into violent action (Matsumoto, Hwang, & Frank, 2012; Matsumoto, Frank, & Hwang, 2015) or so called ‘vigilante terrorism’ by instrumentalizing ‘hate’ for political protest (Quent, 2016; 2017). However, it remains unclear how exactly, to what extent, and in which combination emotions are elicited in populist contents. In our current work we try to link dictionary-based approaches from the field of cognitive linguistics with machine learning techniques in order to better assess the emotionality of populist expressions on social media platforms: We heavily rely on the famous work of James Pennebaker (and colleagues) who compiled and validated a large set of word lists (so-called ‘dictionaries’) representing psychometric features of the authors that make use of these words (including categories for the expression of anger, anxiety, and sadness) (Tausczik & Pennebaker, 2010; Pennebaker, 2015; Boyd & Pennebaker, 2017). Additionally, we borrowed lists corresponding to anticipation, disgust, joy, surprise, and trust from the NRC (National Research Council Canada) emotion dictionary (Mohammad & Turney, 2013). Finally, we enhanced these pre-existing collections of words by performing supervised and unsupervised topic modelling on our data corpus – creating an algorithm that looks out for emotion expressions that are ‘domain specific’ for populist discourse. These final lists at hand, we are able to profile the emotional nature of populist discourse, trace the relation of different emotions across time, and gather support for the ACONDI hypothesis.
... (Quent, 2016;2017). colleagues (2012, 2015) find proof for their hypothesis comparing the rhetorical shifts in discourses during and prior to violent and non-violent events of political protest (eg. the salt marsh vs. the 'Kristallnacht').However, it remains unclear how exactly, to what extent, and in which combination emotions are expressed in populist contents. ...
Conference Paper
Since emotions are considered to be an important precondition for persuasion, it is almost common place knowledge nowadays, that extremists deliberately employ rhetorical strategies (e.g. metaphors, figurative language, see Boeynaems, Burgers, & Konijn, 2018) that aim at an emotionalization of their topics. The so called ACONDI model promotes the idea that a rhetoric that address a very specific combination of emotions (namely anger, contempt, and disgust) even has the power to influence social interaction so drastically as to actually mobilize people and turn feelings of dissatisfaction into violent action (Matsumoto, Hwang, & Frank, 2012; Matsumoto, Frank, & Hwang, 2015). Still, it remains unclear how exactly, to what extent, and in which combination emotions are elicited in modern radical discourses. Dictionary-based word-count approaches from the field of cognitive linguistics have been employed in order to provide answers to such questions. However, validation tests show that these dictionaries are not domain-specific enough to reliably assess the emotionality within modern radical discourses on the internet. This paper proposes a workaround that applies supervised learning algorithms dictionaries in order to enhance them.
... Auch hier sind kategoriale Zuordnungen und pauschale inhaltliche Bewertungen erschwert. Im vorliegenden Projektbericht findet das "Reichsbürger"-Phänomen deshalb noch keine ausführliche Berücksichtigung, genauso wenig wie das Phänomen der sogenannten "Bürgerwehren" (Quent 2016d Priester 2016, Bischoff et al. 2015, Wiedemann 1996. Deshalb wurde in die nachfolgenden Analysen zum Mobilisierungspotenzial für fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen in Thüringen bzw. ...
Research
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Topografie des Rechtsextremismus und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Thüringen (Projektbericht 2018)
... Auch hier sind kategoriale Zuordnungen und pauschale inhaltliche Bewertungen erschwert. Im vorliegenden Projektbericht findet das "Reichsbürger"-Phänomen deshalb noch keine ausführliche Berücksichtigung, genauso wenig wie das Phänomen der sogenannten "Bürgerwehren" (Quent 2016d Priester 2016, Bischoff et al. 2015, Wiedemann 1996. Deshalb wurde in die nachfolgenden Analysen zum Mobilisierungspotenzial für fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen in Thüringen bzw. ...
Book
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Projektbericht der "Topografie des Rechtsextremismus und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in THüringen", Dezember 2018
Chapter
Zwei Jahre nach dem »Sommer der Flüchtlinge« 2015 sind viele Flüchtlinge im Alltag angekommen. Mancherorts wurde gegen die Aufnahme von Asylsuchenden Unbehagen formuliert - doch warum erfahren Flüchtlinge innerhalb ihrer Nachbarschaft oftmals Ablehnung? Die Beiträger_innen des Bandes nähern sich dieser Frage für Thüringen und beobachten dabei, wann Prozesse der gegenseitigen Annäherung, wie sie in Städten als Ort der Begegnung von Fremden üblich sind, misslingen und in Rassismus und Rechtsextremismus umschlagen. Sie bereichern den Diskurs über »Stadt und Gewalt« sowie die Forschung zur gesellschaftlichen Funktion des Denkbildes vom »guten Nachbarn«.
Article
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On April 1, 2005, volunteers began arriving along the Arizona-Mexico border, converging on Tombstone, the site of the historical Wild West shootout at the OK Corral between Wyatt Earp's men and a gang of roughneck cowboys. 1 These modern-day volunteers came in search of another confrontation, another example of cowboy justice, only this time the scofflaws were "illegal" immigrants. These volunteers came to be part of the Minuteman Project, a name with immediate appeal because it called forth the patriotic volunteers who fought against British rule of the American colonies. The Minuteman Project's ostensible goal was to monitor the Arizona-Mexico border in the hopes of locating clandestine border crossers. However, this surveillance operation also had a larger objective, which was to produce a spectacle that would garner public media attention and influence federal immigration policies. The Minuteman Project's start date of April 1 st , which is known as April Fool's Day in the United States and is a time to play a joke on someone else. In a sense that is what their spectacle in the desert did. It made the press into the unwitting co-conspirators of the Minuteman Project's attempt to shape public 1 Claudine LoMonaco, 'Minutemen gather in Tombstone for border watch', in Tucson Citizen, April 1, 2005, pp. A-7.
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Der Begriff der Zivilgesellschaft hat in den letzten Jahren an Attraktivität gewonnen. Zunächst wurde er im westlichen Kontext vor allem von politisch links orientierten Denkern zur Bezeichnung des radikal-demokratischen Projekts der Ausweitung von politischen Partizipationsmöglichkeiten und im Kontext der Diskussionen osteuropäischer Intellektueller als normativ und utopisch angereicherter Begriff zur Kennzeichnung der Zielvorstellungen von oppositionellen Gruppierungen in ihrem Streben nach Emanzipation der unterdrückten Gesellschaft von allen obrigkeitlichen Reglementierungen gebraucht. Inzwischen wird er auch von Vertretern des Kommunitarismus benutzt, um republikanische Tugenden wie bürgerschaftliches Engagement, individuelle Verantwortungsübernahme, Gemeinwohlorientierung oder Toleranz einzuklagen. Ebenso verwenden ihn heute aber auch konservativ eingestellte Intellektuelle, die den Begriff einsetzen, um gegen den allgemeinen Werteverfall Front zu machen. Er hat auf diese Weise eine Bedeutungsvielfalt erlangt, die seine analytische Gebrauchsfähigkeit stark einschränkt.
Article
Am Morgen des 16. Oktober 1932 befanden sich die ausgedehnten Arbeiterquartiere der Dortmunder Nordstadt in heller Aufregung – von Süden kommend näherten sich mehrere Kolonnen uniformierter SA-Männer, insgesamt etwa 800 Nationalsozialisten, die von einigen Hundertschaften Polizei begleitet wurden.
Chapter
Zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich gravierende Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Diese Veränderungen waren europaweit zu beobachten, wenngleich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und verschiedenen Entwicklungsstufen, zudem sektoral gestaffelt. Die Forschung hat denn auch von einer Doppelrevolution gesprochen (E. Hobsbawm) und damit die politische wie die ökonomisch-technische Dimension dieser Entwicklung thematisiert. Allmählich setzt sich zugleich die Erkenntnis durch, dieses Jahrhundert als Epoche ganz eigenen Charakters, als Epoche des Übergangs, zu verstehen. Reinhart Kosellecks gefl ügeltes Wort von der Sattelzeit oder Überlegungen von Rudolf Vierhaus, die Zeit zwischen 1763 und 1830 als Einheit zu begreifen, zielen in diese Richtung: In einem mehrere Generationen übergreifenden Prozess wurden die großen Maximen ebenso wie der Alltag der Menschen tiefgreifend umgepfl ügt: Aus einer frühneuzeitlichen Ständegesellschaft bildete sich eine bürgerliche Klassengesellschaft heraus, industrielle Revolution und die Aufhebung der Zunftökonomie markierten neue wirtschaftsliberale Marktbedingungen; vor allem aber veränderten sich die Bedingungen und Voraussetzungen von Herrschaft.
Vigilant citizens. Vigilantism and the state
  • R G Abrahams
Abrahams, R. G. (1998): Vigilant citizens. Vigilantism and the state. Malden, Mass: Polity Press.
Nur Menschen haben Rechte In: Die ZEIT, 28.04 Online verfügbar unter http
  • Ralf Dahrendorf
Dahrendorf, Ralf (1989): Nur Menschen haben Rechte. In: Die ZEIT, 28.04.1989. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/1989/18/nur-menschen-haben-rechte/komplettansicht, zuletzt geprüft am 13.11.2015.
Vigilantes Scharnier -Handlungs-und Raumbezüge des Antiziganismus im ungarischen Gyöngyöspata
  • Andreas Koob
Koob, Andreas (2012): Vigilantes Scharnier -Handlungs-und Raumbezüge des Antiziganismus im ungarischen Gyöngyöspata. In: Kriminologisches Journal (2), S. 86-99.
Soko Asyl. Eine Sonderkommission offenbart überraschende Wahrheiten über Flüchtlingskriminalität München: riva
  • Ulf Küch
Küch, Ulf (2016): Soko Asyl. Eine Sonderkommission offenbart überraschende Wahrheiten über Flüchtlingskriminalität München: riva.
): »Wir sind wieder da«. Die »Reichsbürger«: Überzeugungen, Gefahren und Handlungsstrategien
  • Rathje
Rathje, Jan (2014): »Wir sind wieder da«. Die »Reichsbürger«: Überzeugungen, Gefahren und Handlungsstrategien. Berlin: Amadeu Antonio Stiftung.