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Barbara Schlücker*, Kati Hannken-Illjes und Nicole Dehé
Zuhören vs. Lesen: Verständnis literarischer
Texte bei Schüler_innen
Listening vs. reading: Schoolchildren’s
comprehension of literary texts
https://doi.org/10.1515/zfal-2017-0021
Abstract: This paper investigates the effect of the mode of reception (listening
vs. reading) on the comprehension of literary texts of different degrees of
linguistic complexity in German, testing schoolchildren in Grade 8. To this
end, two texts were used: the grammatically and lexically comparatively
more complex novella Das Erdbeben in Chili by Heinrich von Kleist, and the
comparatively less complex novella Kleider machen Leute by Gottfried Keller.
Thus, in contrast to previous studies on schoolchildren’sreadingandlisten-
ing comprehension, which often use very short texts composed specifically
for the purpose of the study, a major aim of the current study is to test
authentic literary material, which German students are regularly confronted
with at school. Students read or listened to excerpts of these novellas and
subsequently filled in a questionnaire containing questions on the correct
comprehension of the respective texts, thereby addressing both local and
global aspects of comprehension. The results are twofold: First, listening
comprehension is better than reading comprehension, regardless of the com-
plexity of the text (i.e. for both the Kleist and the Keller text). Second, the
first effect is even stronger for global text comprehension than for compre-
hension of local details.
*Corresponding author: Barbara Schlücker, Universität Bonn, Institut für Germanistik,
Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Am Hof 1d, 53113 Bonn, Deutschland;
Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig, Deutschland,
E-mail: barbara.schluecker@uni-bonn.de; barbara.schluecker@uni-leipzig.de
Kati Hannken-Illjes, Universität Marburg, Institut für Germanistische Sprachwissenschaft,
AG Sprechwissenschaft, Wilhelm-Röpke Straße 6c, 35032 Marburg, Deutschland,
E-mail: kati.hannkenilljes@uni-marburg.de
Nicole Dehé, Universität Konstanz, Fachbereich Sprachwissenschaft, Fach 186, 78457
Konstanz, Deutschland, E-mail: nicole.dehe@uni-konstanz.de
Zeitschrift für Angewandte Linguistik 2017; 67: 149–177
Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2--1u4fnfwtj7m561
Erschienen in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik ; 67 (2017), 1. - S. 149-177
https://dx.doi.org/10.1515/zfal-2017-0021
Keywords: audio books, text comprehension, grammatical complexity, listening
vs. reading, global vs. detailed comprehension, didactics of German, teaching
German, literary texts
1 Einleitung
Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss der Rezeptionsform auf das
Verständnis literarischer Texte bei Schüler_innen im Deutschunterricht. Zu diesem
Zweck vergleichen wir das Detailwissen und das globale Verständnis literarischer
Texte, die einmal als Hör- und einmal als Lesefassung rezipiert werden. Überprüft
wird dabei die Annahme, dass das Hören eines Textes im Vergleich zum stillen
Lesen zu einem besseren, d.h. korrekteren Textverständnis führt. Der Effekt des
besseren Textverständnisses beim Hören, so die zweite Annahme, zeigt sich umso
stärker, je schwieriger –insbesondere lexikalisch-syntaktisch komplexer –der
Text ist. Wir bringen linguistische, deutschdidaktische und literaturwissenschaft-
liche Perspektiven zusammen, wobei der Schwerpunkt aber klar auf den (im
Folgenden genauer beschriebenen) linguistischen Fragestellungen liegt. Gerade
die Forschung zum Hörbuch profitiert momentan von einer sehr interdisziplinären
Herangehensweise an den Gegenstand (s. z.B. Bung & Schrödl 2017, Hannken-
Illjes et al. 2017). Diesem Zugang schließen wir uns an.
Im Folgenden berichten wir die Ergebnisse unserer Studie, bei der
Schüler_innen der achten Klasse jeweils die ersten knapp 2.500 Wörter eines
sprachlich schwierigen Textes (Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili) und
eines sprachlich weniger schwierigen Textes (Gottfried Keller, Kleider machen
Leute) gehört bzw. gelesen und im Anschluss einen Fragebogen mit Fragen zum
Detailwissen und globalen Textverständnis beantwortet haben. Die
Schwierigkeiten dieser Texte sind dabei einerseits grammatisch, andererseits
semantisch-konzeptuell basiert. Die Ergebnisse stützen unsere Annahme, dass
das Zuhören das grammatisch-semantische Textverständnis literarischer Texte
im Vergleich zum Lesen erleichtert. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass dieser
Effekt gleichermaßen für den schwierigeren und für den weniger schwierigen
Text zu finden ist. Auf die weitergehende, literaturwissenschaftliche
Interpretation des Textes kann hingegen im Rahmen des vorliegenden
Aufsatzes nicht eingegangen werden.
1
Man könnte in Anlehnung an Spinners
1Andere als die hier vorgestellten Ergebnisse der Studie konzentrieren sich stärker auf die
Spezifik literarischer, erzählender Texte, wie z.B. auf die Motivation, einen Text weiter zu lesen
(Hannken-Illjes et al. 2016) oder zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht und auf die
Anschlusskommunikation mit den Schüler_innen. Zu letzterem Aspekt steht die Auswertung
150 Barbara Schlücker et al.
(2006: 8-10) elf Aspekte des literarischen Lernens sagen, dass der hier referierte
Teil unserer Studie die Aspekte „beim Lesen und Hören Vorstellungen entwi-
ckeln“und „die sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“stärker in
den Blick nimmt als „mit Fiktionalität bewusst um(zu)gehen“oder „sich auf die
Unabschließbarkeit von Sinnbildungsprozessen einzulassen“.
2 Forschungsstand
2.1 Hör- und Leseverstehen
Im Folgenden beziehen wir uns mit Hören bzw. Zuhören durchweg auf die
kognitive, nicht die rein perzeptive Leistung: „Von Zuhören soll gesprochen
werden, wenn akustisch vermittelte Information sprachlicher oder nichtsprachli-
cher Art selektiert, organisiert, interpretiert und integriert wird“(Imhof 2003: 11).
Seit dem breit rezipierten Forschungsüberblick über die psychologische
Leseforschung von Sticht & James (1984: 296) gehen viele Arbeiten davon aus,
dass Leseverstehen und Hörverstehen eng gekoppelt sind und diese Kopplung in
der kindlichen Entwicklung umso enger wird, je älter die lesende bzw. zuhörende
Person wird. Zahlreiche Studien zum Vergleich des Lese- und Hörverstehens seit
mindestens den 1970er Jahren haben gezeigt, dass kein genereller Vorteil einer
der beiden Modalitäten angenommen werden kann (s. z.B. Sticht & James 1984:
301ff.), sondern dass viele Faktoren dazu beitragen, ob eine bessere
Verstehensleistung durch Lesen oder Hören eines Textes erfolgt. So betonen
Behrens & Krelle (2014: 88), dass das Hörverstehen von akustischen, auditiven,
kognitiven, motivationalen und kommunikativen Faktoren abhänge und dass
„keiner von ihnen …als monokausal für gelingendes oder misslingendes
Zuhören gelten“kann. Kürschner & Schnotz (2008: 141-143) stellen allerdings
fest, dass sich durchaus Vertreter_innen für die monistische Position (kognitive
Verarbeitungsprozesse sind modalitätsunabhängig) und die dualistische Position
(kognitive Verarbeitungsprozesse sind modalitätsabhängig) finden lassen und
schließen selbst aus ihrem Forschungsüberblick, dass die Modalität unter
bestimmten Bedingungen Auswirkungen auf Behalten und Verstehen haben
kann.
Einer der wichtigsten Faktoren für ein besseres Lese- als Hörverstehen ist
der Entwicklungsgrad der Lesefähigkeit (u.a. Rubin et al. 2000), der wiederum
noch aus. Hier spielen dann literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Aspekte wie
Unabgeschlossenheit von Verstehensprozessen und die Subjektivität der Annäherung an
Literatur eine Rolle.
Zuhören vs. Lesen 151
stark altersabhängig ist und damit abhängig von Erwerbsvariablen, die mit
Lesen und Zuhören interagieren (s. Danks 1980: 12). Für das Grundschulalter
stellen Rost & Hartmann (1992) für deutsche Kinder der vierten Klasse eine
signifikant bessere Verstehensleistung beim Zuhören im Vergleich zum Lesen
fest. Auch Behrens et al. (2009) finden (bei Kindern der dritten und vierten
Klasse) für das Deutsche bessere Zuhör- als Lesekompetenzen, die sie aufgrund
der Tatsache, dass das Zuhören der für den Spracherwerb zentrale Sinn ist,
durch einen großen Übungs- und Bedeutungsvorsprung des Zuhörens
gegenüber dem Lesen erklären. Selbst im Vergleich von der dritten zur vierten
Klasse findet sich in dieser Studie noch eine Zunahme der Zuhörkompetenz. Bei
Erwachsenen ist insgesamt kein eindeutiger Unterschied mehr festzustellen
(Sticht 1972, Sticht et al. 1974). Zu der Frage, in welchem Alter bzw. bei
Erreichen welcher Lesefähigkeitsstufe der Umbruch von einem besseren Hör-
zu einem besseren Leseverstehen anzusetzen ist, gibt es nur wenige konkrete
Aussagen in der Literatur. Eine frühe Annahme findet sich bei Sticht & James
(1984) für das Englische, die, auch in Rückgriff auf die Studie von Sticht (1974),
feststellen, dass die siebte Klasse der Umschlagpunkt sei, ab dem das
Leseverstehen dem Hörverstehen überlegen ist. Für das Zypriotische zeigen
Diakidoy et al. (2005), dass nach anfänglich besserem Hörverstehen (Klasse 2)
das Lese- und Hörverstehen in den Klassenstufen vier und sechs etwa gleich
entwickelt ist. In der achten Klasse mit etwa 13 Jahren ist das Leseverstehen
erstmals besser ausgeprägt als das Hörverstehen. Die Autoren unterscheiden
hier aber weder verschiedene Textsorten noch die unterschiedliche
Komplexität von Texten oder verschiedene Sprechfassungen.
Allerdings sind nicht nur das Alter, sondern auch individuelle Kompetenzen
entscheidend für die Ausprägung von Lese- und Hörverstehen. So ist in der Studie
von Rost & Hartmann (1992) der Unterschied des (besseren) Hörverstehens
gegenüber dem (schlechteren) Leseverstehen bei denjenigen Schüler_innen aller
untersuchten Viertklässler, die über eine bessere Lesefähigkeit verfügen (festge-
stellt im Vorhinein u.a. über die Deutschnote), weniger stark ausgeprägt als im
Durchschnitt. Auch Royer et al. (1990) zeigen, dass eine unterentwickelte
Lesefähigkeit in verschiedenen Altersstufen zu einem besseren Hör- als
Leseverstehen führt. In Bezug auf den Unterschied zwischen Jungen und
Mädchen finden Behrens et al. (2009: 368f) bei Schüler_innen im Primarbereich
für das Deutsche keinen Leistungsunterschied in Bezug auf die Zuhörkompetenz,
was als unerwartet bewertet wird, da Mädchen in anderen Kompetenzbereichen
einen deutlichen Leistungsvorsprung aufweisen. Bereits Hurrelmann et al. (1993:
51f.) und Baumert & Klieme (2001: 256) haben gezeigt, dass das Geschlecht die
stabilste Variable für die Vorhersage der Lesekompetenz ist, und zwar dahinge-
hend, dass Mädchen eine höhere Lesekompetenz als Jungen haben.
152 Barbara Schlücker et al.
Zum direkten Vergleich zum Verstehen still gelesener Texte einerseits und
gehörter Texte andererseits finden sich einige vornehmlich psychologische und
neurowissenschaftliche Studien. Dabei ist eine der leitenden Auffassungen, dass
Lesen und Zuhören nicht grundsätzlich in unterschiedlichen Verstehensleistungen
resultieren bzw. unterschiedliche Verstehensprozesse und -fähigkeiten vorausset-
zen (z.B. Kintsch & Kozminsky 1977, Smiley et al. 1977), und dass sich beide
Modalitäten in Bezug auf die Verstehensleistung im Laufe des Lesenlernens anglei-
chen (s. auch Diakidoy et al. 2005). Beispielsweise finden Kintsch & Kozminsky
(1977) nur sehr geringe Unterschiede zwischen den Zusammenfassungen identi-
scher Erzählungen, die von Collegestudierenden entweder gehört oder gelesen
wurden. Sie interpretieren das Ergebnis als Hinweis auf die Annahme, dass
Lesen und Zuhören identische comprehension skills voraussetzen. Darüber hinaus
ist anzunehmen, dass der familiale Kontext und die Motivation, sich mit einem
Text auseinanderzusetzen, einen Einfluss auf das Verstehen in verschiedenen
Modalitäten hat, worauf einige Ergebnisse der Leseforschung hinweisen (z.B.
Hurrelmann et al. 1993: 222ff).
Insgesamt zeigt sich, dass die Ergebnisse zum Verhältnis von Textmodalität
und Behalten und Verstehen von vielen Faktoren bestimmt sind und sich hetero-
gene Befunde feststellen lassen (s. Kürschner & Schnotz 2008). Die bisher dar-
gestellten Grundannahmen zum Lese- und Hörverstehen müssen jedoch weiter
differenziert werden, zum einen in Hinblick auf die verschiedenen Arten von
Textverstehen und zum anderen in Bezug auf unterschiedliche Textsorten und
Schwierigkeitsgrade von Texten.
Es ist wiederholt angenommen worden, dass der Vorteil des Lesens
gegenüber dem Zuhören vor allem bei schwierigen, komplexen Texten besteht
(z.B. King & Madill 1968, Hildyard & Olson 1978, Rickheit & Strohner 1983,
Müsseler et al. 1985). Hierbei müssen zwei Arten des Textverstehens unterschieden
werden: Das (auch als global bezeichnete) Textverstehen, bei dem es um das
Erfassen des Textes als Ganzes und das Verstehen der zentralen Aussagen zur
Haupthandlung oder der Bedeutung der Geschichte geht, und das Detailwissen,
das sich auf einzelne, mitunter für die Geschichte nur periphere Einzelheiten
bezieht. Das Detailwissen stellt also nicht notwendigerweise eine Voraussetzung
für das globale Verstehen dar.
2
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich der
Vorteil des Leseverstehens in erster Linie auf das Detailwissen, also die
2Diese beiden Arten des Textverstehens sind nicht mit den verschiedenen (bis zu fünf)
Teilprozessen des Verstehens gleichzusetzen, bei denen häufig zwischen hierarchieniedrigeren
und hierarchiehöheren Prozessen unterschieden wird (z.B. Rickheit & Strohner 1999,
Christmann & Groeben 1999, Baurmann 2006). Hier wird u.a. zwischen lokaler Kohärenz, d.h.
dem semantischen Zusammenhang von direkt aufeinander folgenden Sätzen, und der globalen
Zuhören vs. Lesen 153
vollständige und detaillierte Wiedergabe einzelner Propositionen bezieht,
während das Zuhören den Hörer schneller in die Lage versetzen soll, den Kern
des Textes zu erfassen, semantische Makrostrukturen zu bilden und Inferenzen zu
ziehen (Hildyard & Olson 1978, 1982, Rubin et al. 2000). Diese Studien gehen also
davon aus, dass das Lesen das Detailwissen, das Zuhören hingegen das
Textverstehen verbessert. Eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied ist,
dass Hörer_innen aufgrund der geringeren Selbststeuerungsmöglichkeiten
stärker darauf bedacht sind, rasch semantische Makrostrukturen zu bilden, sich
also auf die wesentlichen Informationen konzentrieren, während Leser_innen
Fokus stärker auf Details legen können (s. Kürschner & Schnotz 2008: 142f).
Kürschner et al. (2006) finden nur einen Unterschied zwischen Lesen und
Zuhören bei der Wiedergabe von Detailwissen, dessen Wiedergabe, wie in den
älteren Studien, beim Lesen besser als beim Zuhören war. Beim globalen
Textverstehen hingegen konnte in dieser Studie kein Unterschied zwischen den
Modalitäten Lesen und Zuhören gefunden werden.
In der Hörbuchforschung sind die Annahmen zum Einfluss der Komplexität
des Textes auf das Hörverstehen versus Leseverstehen gegenläufig. So geht Janz-
Peschke (2010) davon aus, dass insbesondere konzeptionell mündliche Texte
sich für Hörfassungen eignen. Diese seien zumindest syntaktisch deutlich weni-
ger komplex als konzeptionell schriftliche Texte. Die Studie von Rubin et al.
(2000) kann diesen Befund allerdings nicht bestätigen, sondern findet nur
leichte Tendenzen hin zu einem besseren Hörverstehen bei konzeptionell
mündlichen im Gegensatz zu konzeptionell schriftlichen Texten.
Jäger (2014) sieht das Potenzial von Hörbüchern oder Hörtexten gerade darin,
unzugängliche Texte zugänglich zu machen. „Das Hörbuch ist insofern eine
Readressierung –oder wie man auch sagen könnte –eine Transkription eines
unzugänglich gewordenen skripturalen Sinnes für ein neues, nämlich auditives
Publikum“(Jäger 2014: 240). Bei Jäger ist dies allerdings keine empirisch, sondern
eine theoretisch fundierte Annahme. Ähnlich gehen auch Belgrad et al. (2011)
davon aus, dass die auditive Rezeption das Textverstehen erleichtert: „Beim
Vorlesen entfällt das eigene, mühsame Dekodieren des Textes. Durch
die Entlastung des Dekodierens wird blockierte Verarbeitungskapazität frei
für Verstehensleistungen“(Belgrad et al. 2011: 12). Diese freie
Verarbeitungskapazität kann dann genutzt werden, um mentale Modelle zum
Gehörten zu entwickeln. Allerdings beziehen Belgrad et al. ihre Aussagen auf
Studien zum Vorlesen in leiblicher Ko-Präsenz und bei Schüler_innen der
Hauptschule mit geringer Lesekompetenz.
Kohärenz, dem semantischen Zusammenhang zwischen größeren Textabschnitten, unterschie-
den (s. z.B. Schnotz 2006).
154 Barbara Schlücker et al.
Bei der Auswahl der Altersgruppe für die in Abschnitt 3 berichtete Studie
haben wir uns an bereits vorliegenden Studien zum Effekt des Vorlesens auf
das Textverstehen orientiert (s. Abschnitt 3.4). So untersucht die
Forscher_innengruppe um Belgrad (2011) Hauptschüler_innen der achten Klasse.
Ebenso entwickelt und untersucht Gailberger (2011, 2013) sein Konzept der
Leseförderung, das „Lüneburger Modell“, mit und für Schüler_innen der
Sekundarstufe I.
2.2 Hörbücher in der Deutschdidaktik
Zum Einsatz von Hörbüchern im Unterricht gibt es nur wenige Studien. Eine der
wichtigsten Arbeiten stammt von Gailberger (2011, 2013). Gailberger entwickelt
und erprobt Verfahren zur Verbesserung der Lesekompetenz und Lesemotivation
bei Schüler_innen niedriger Kompetenzstufen, in erster Linie Hauptschüler_innen.
Dabei nutzt er das Hörbuch, allerdings in Verbindung mit dem simultanen Lesen
der Texte. Das Hörbuch soll hier andere, sozial stigmatisierte Formen des laut
Lesens ersetzen, dennoch aber die lautliche Struktur der Texte erfahrbar werden
lassen. So benennt Gailberger (2011: 108) als ein Ziel des entwickelten Programms
„[d]ie Förderung expressiver Ausdrucksformen während des Lesens durch die
gezielt und gekonnt eingesetzte Stimme des Vorlesers im Hörbuch“.
Als weiteren Aspekt neben der Steigerung von Lesekompetenz und
Lesemotivation führen Arbeiten zum auditiven Textverstehen an, dass damit die
Fähigkeit der Schüler erhöht wird, mentale Modelle zum Gehörten entwickeln zu
können („Kopfkino“). Dieses ‚En-passant-Training‘von Vorstellungsbildern erhöht
zugleich die Möglichkeit des Verstehens von Texten, auch wenn sie nicht selbst
gelesen werden (Belgrad et al. 2011: 12). Gegenstand der Studie von Belgrad et al.
(2011) war das Vorlesen im Deutschunterricht in der achten Klasse von
Hauptschulen, gelesen wurde durch den/die Lehrer_in (also in leiblicher Ko-
Präsenz). Ziel der Intervention war „durch regelmäßiges Vorlesen der Lehrkraft
im Unterricht das Verhalten der Schüler hinsichtlich einer erhöhten
‚Lesebereitschaft‘zu verändern“(Belgrad et al. 2011: 12). Dass die Intervention
erfolgreich war, zeigt sich im signifikanten Anstieg des Lesequotienten (ermittelt
nach dem Salzburger Lesescreening; s. Auer 2011) bei der Vorlesegruppe im
Gegensatz zur Kontrollgruppe. Allerdings wies auch die Kontrollgruppe einen
leichten Anstieg auf.
Insgesamt zeigt der Forschungsstand zum Lese- und Hörverstehen und dem
Einsatz von Hörbüchern erstaunliche Divergenzen. Die psychologische
Leseforschung nimmt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden
Modalitäten Zuhören und Lesen in Bezug auf ein besseres Textverstehen an,
Zuhören vs. Lesen 155
sondern geht davon aus, dass der Unterschied stark altersabhängig ist und der
Vorteil des Zuhörens gegenüber dem Lesen insbesondere in frühen
Entwicklungsstadien (d.h. mindestens bis zum Ende des Grundschulalters/der
vierten Klasse) besteht (Abschnitt 2.1). Anwendungsbezogene Studien zum
Hörbucheinsatz im Deutschunterricht legen hingegen nahe, dass das Zuhören
das Verstehen grundsätzlich unterstützen kann und sich außerdem positiv auf
die Lesefähigkeit auswirkt. Letzteres unterstützt die Annahme einer engen
Kopplung von Lesen und Zuhören.
2.3 Material und Methodik der vorliegenden
Forschungsarbeiten
Viele der hier genannten empirischen Studien, die die Rezeptionsmodalitäten
beim Textverstehen untersuchen, beziehen sich auf die altersbedingte
Entwicklung von Hör- und Lesefähigkeiten und zielen dabei auch auf mögliche
Verbesserungen in der schulischen Ausbildung als praktische Umsetzung ihrer
Resultate. Mit Ausnahme der Studien von Belgrad et al. (2011) und Gailberger
(2011, 2013) handelt es sich allerdings bei den Texten, die in den Studien verwen-
det wurden, überwiegend um Material, das speziell für diese Studien entwickelt
wurde. Die Texte weichen in verschiedener Hinsicht von den Texten, mit
denen Schüler_innen im Unterricht tatsächlich konfrontiert sind, ab, so dass
zu diskutieren ist, inwieweit die Ergebnisse realistische (schulische)
Verstehensanforderungen abbilden und die Beobachtungen und Ergebnisse der
Studien praktische Relevanz für den muttersprachlichen Unterricht haben.
Die Textgattung wird bei einigen Studien als Variable berücksichtigt, dabei
geht es i.d.R. um die Unterscheidung zwischen Sach- und erzählenden Texten
(z.B. Diakidoy et al. 2005). Allerdings wird auch hier ganz überwiegend auf
eigens für die Studien verfasste Texte zurückgegriffen (s. Kintsch & Kozminsky
1977 für eine Ausnahme). Gerade in Bezug auf den Deutschunterricht (oder
anderen muttersprachlichen Unterricht) wäre aber die Untersuchung des
Textverstehens authentischer literarischer Texte von großem Nutzen. Während
Sachtexte Fakten und Erkenntnisse der realen Welt vermitteln, die das
Sachwissen der Leser_innen erweitern sollen (z.B. Baurmann 2006), beschreiben
literarische Texte nicht unbedingt die reale Welt. Vielmehr regen sie zur menta-
len Konstruktion möglicher Welten an, die dann wiederum die Frage nach ihrer
Beziehung zur Wirklichkeit aufwerfen (s. Rosebrock 2007), d.h. sie rufen innere
Bilder hervor, transportieren aber auch Werte und Haltungen und können
Empathie erzeugen. Insbesondere spielt hier die Gestaltung der Sprachform
eine wichtige Rolle. Es werden stilistische Mittel angewendet, die auch
156 Barbara Schlücker et al.
grammatisch und semantisch von der Norm abweichen können. Diese
Unterschiede machen plausibel, dass das Textverstehen literarischer Texte
auch ohne die Dimension der weitergehenden literaturwissenschaftlichen
Interpretation besonderen Schwierigkeiten unterliegen kann und dass die
Textgattung deshalb bei Untersuchungen zum Textverstehen Berücksichtigung
erhalten sollte. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die besonderen
Schwierigkeiten älterer literarischer Texte, mit denen Schüler_innen
regelmäßig konfrontiert sind. Für die vorliegende Studie haben wir uns daher
für den Vergleich zweier authentischer literarischer Texte entschieden.
Ein zweiter Aspekt ist die Textlänge: Gegenstand der Studien sind häufig
kurze Texte von ca. 50 bis 430 Wörtern (u.a. Hildyard & Olson 1982, Müsseler et
al. 1985, Rost & Hartmann 1992; s. aber Kintsch & Kozminsky 1977 für längere
Texte von ca. 2000 Wörtern). Z.T. werden auch nur einzelne Sätze getestet
(z.B. Hildyard & Olson 1978). Tatsächlich sind Schüler_innen jedoch –
unabhängig von der Textgattung –fast immer mit deutlich längeren Texten
konfrontiert. Eine größere Textlänge hat nicht nur Einfluss auf die Anzahl
der zu verarbeitenden Propositionen und die Komplexität der Textstruktur,
sondern beansprucht –über die Dauer der Rezeption –auch die
Konzentrationsfähigkeit.
Eine wichtige Rolle in vielen Studien spielt die Unterscheidung zwischen
leichten und schwierigen Texten und die diesbezüglichen Unterschiede für
die beiden Rezeptionsmodalitäten (s. Kürschner & Schnotz 2008: 142). Dabei ist
die Feststellung des Schwierigkeitsgrades komplex und wird unterschiedlich
gehandhabt (für aktuelle Vorschläge in Bezug auf das Deutsche siehe
Willenberg 2005 und Winkler 2013, s. Abschnitt 3.2). In Übereinstimmung mit
unserem Untersuchungsschwerpunkt liegt der Fokus hier auf linguistischen
Aspekten. Für ausgesuchte Textsorten haben psycholinguistische
Untersuchungen zur Verständlichkeit von Texten schon früh gezeigt, dass
bestimmte syntaktisch und morphologisch komplexe Konstruktionen das
Textverständnis erschweren (z.B. Sherman 1976, Charrow & Charrow 1979,
Dietrich & Kühn 2000). Unter den syntaktischen Konstruktionen, die
grundsätzlich die Verständlichkeit von Sätzen bzw. Texten erschweren, finden
sich demnach beispielsweise multiple Negation, komplexe Satzgefüge,
Nominalisierungen verbaler Ausdrücke sowie verkürzte Relativsätze und
Passivkonstruktionen. In Übereinstimmung mit diesen Annahmen verwenden
Müsseler et al. (1985) zwei unterschiedlich schwierige Versionen desselben
Textes bei denen die schwierigere Version durch komplexe Einbettungen aus
der leichteren erzeugt wurde. In den meisten anderen Studien wird jedoch
nicht oder nur sehr allgemein berichtet, worin genau die Textschwierigkeit
besteht bzw. sich der Komplexitätsgrad bemisst.
Zuhören vs. Lesen 157
Ein letzter Punkt betrifft die Sprechfassung. Interessanterweise werden in
den vorgestellten Studien die Form des gelesenen Textes und seine spreche-
rische Realisierung kaum thematisiert. Damit lassen die Studien einen zent-
ralen Aspekt für die Verarbeitungs- und Verstehensleistung unbeachtet. Dabei
weisen bereits verschiedene ältere Studien darauf hin, dass gesprochene Texte
durch prosodische Parameter wie Intonation, Pausen und Betonung
zusätzliche Mittel zur Analyse der syntaktischen Struktur und der
Informationsstruktur bereitstellen, die das Textverständnis im Vergleich zum
Lesen erleichtern (s. Kleiman & Schallert 1978, Danks 1980, Danks & End 1987,
Samuels 1987). Ein weiterer Aspekt, in dem sich Sprech- und Hörfassung des-
selben Textes unterscheiden, ist nach Danks (1980) die Zeit, die Leser_innen
bzw. Hörer_innen zur Verfügung steht, um bestimmte sprachliche Sequenzen
zu verarbeiten: Während die Lesefassung unmittelbar greifbar ist und eine
bestimmte Zeit vor dem Leser oder der Leserin verbleibt, ist die gesprochene
Sprache flüchtig und nicht mehr greifbar, nachdem sie ausgesprochen ist (s.
auch Imhof 2003: 24). Auch sind Lesegeschwindigkeiten individuell unter-
schiedlich und die Lesedauer kann sich von der Länge der gehörten
Sprechfassung und damit von der Dauer des Zuhörens unterscheiden. Auch
Faktoren wie Geschlecht und Professionalität des/der Sprecher_in und –beim
Vergleich mehrerer Texte –Identität (d.h. ob es sich um den-/dieselbe
Sprecher_in handelt) könnten von Einfluss sein.
Die sprecherische Realisierung steht auch bei Lang & Pheby (2011) im
Mittelpunkt. In ihrer Studie zu Kafkas Erzählung Auf der Galerie nehmen sie
eine genaue syntaktische Analyse des Textes vor, insbesondere mehrerer syn-
taktischer Ambiguitäten, und formulieren anschließend die Anforderungen an
die prosodische Realisierung dieser syntaktischen Strukturen. Ziel dieser Studie
ist allerdings nicht der Vergleich mit dem Leseverstehen, sondern die
Überprüfung der Sprechfassung in sieben verschiedenen Hörbuchfassungen
mit professionellen Sprechern.
3
Obwohl also zu vermuten ist, dass die Sprechfassung einen maßgeblichen
Einfluss auf das Hörverstehen hat (siehe oben Abschnitt 2.3), wird die genaue
3Auch sprechwissenschaftliche und phonetische Studien zum Hörverstehen kontrastieren
dieses in der Regel nicht mit dem Leseverstehen, sondern vergleichen verschiedene
Sprechstile in Bezug auf ihre Wirkung. So zeigt Neuber (2002), dass verschiedene prosodische
Formen unterschiedlich auf die Bildung globaler Textkohärenz wirken. Ähnlich vergleicht
Widera (2004) die prosodische Gestaltung von Spontansprache mit gelesener Sprache in
Bezug auf die wahrgenommene Lebendigkeit. In der vorliegenden Studie bieten wir den
Probanden nur eine Sprechfassung an.
158 Barbara Schlücker et al.
Beschaffenheit der Sprechfassungen in der Forschungsliteratur i.d.R. nicht oder
nur sehr knapp berichtet.
4
Die vorliegende Studie, die explizit das Textverständnis im
Deutschunterricht untersucht, setzt an den Punkten Textgattung, Textlänge
und Textschwierigkeit an und untersucht längere Ausschnitte zweier literari-
scher Texte aus dem 19. Jahrhundert, die regelmäßig im muttersprachlichen
Deutschunterricht behandelt werden. Es wird jeweils derselbe Text in den bei-
den verschiedenen Modalitäten angeboten (Lesen vs. Zuhören), wobei beide
Hörfassungen von derselben professionellen Sprecherin eingesprochen wurden,
die Sprechervariable also konstant gehalten wurde.
2.4 Ziele und Hypothesen
Mit unserer Studie versuchen wir einigen divergierenden Annahmen der
Leseforschung Rechnung zu tragen, indem wir das Lesen und Zuhören bei
zwei längeren, literarischen Texten unterschiedlicher Komplexität untersuchen.
Die in 1 aufgeführten Hypothesen basieren auf dem in den vorangegangenen
Abschnitten berichteten Forschungsstand. Zusätzlich haben wir den Faktor
Geschlecht der Teilnehmer_innen in die Analyse aufgenommen, um zur
Auflösung des Widerspruchs zwischen Behrens et al. (2009) einerseits und
Hurrelmann et al. (1993) und Baumert & Klieme (2001) beizutragen.
1. Hypothesen
H1: Gehörte literarische Texte werden im untersuchten Alter besser ver-
standen als gelesene.
H2: Erhöhte Schwierigkeit bzw. erhöhte grammatische Komplexität eines
Textes führt zu erhöhten Schwierigkeiten beim Textverstehen.
H3: Das globale Textverstehen verbessert sich durch das Zuhören im
Vergleich zum Lesen in stärkerem Maße als das Detailwissen.
3 Studie
Um die in 1 formulierten Hypothesen zu testen, wurde die im Folgenden darge-
stellte Studie durchgeführt. Dabei wurden 159 Schülerinnen und Schülern Lese-
bzw. Hörfassungen von zwei literarischen Texten vorgelegt, zu denen sie im
Anschluss einen Fragebogen ausfüllten. Neben Fragen zur Rezeptionsmotivation
4Dies gilt nicht für die Studie von Lang & Pheby (2011), die aber nicht auf den Vergleich von
Lese- und Hörverstehen abzielt.
Zuhören vs. Lesen 159
(s. Hannken-Illjes et al. 2016) enthielt dieser Fragebogen Fragen zum
Detailwissen und globalen Textverstehen, auf die wir uns in diesem Aufsatz
konzentrieren.
3.1 Textauswahl
Für die Studie haben wir zwei literarische Texte gewählt, die in mehreren
Bundesländern zum Kanon des muttersprachlichen Deutschunterrichts an
Gymnasien in der achten Klasse zählen. Es handelt sich um die beiden
Novellen Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist (1807) und Kleider
machen Leute von Gottfried Keller (1874). Novellen sind als Textsorte für die
Untersuchung gut geeignet, weil es sich dabei um kürzere Erzählungen handelt.
Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich die Handlung schnell
entwickelt, was wichtig ist, da in der Studie nur ein Textausschnitt untersucht
werden kann.
Obwohl beide Novellen gleichermaßen in der 8. Klasse gelesen werden, gilt
der Text von Kleist, der auch einige Jahrzehnte älter ist, im Vergleich zu dem von
Keller als deutlich schwerer in seiner Verständlichkeit. Die Ursachen hierfür sind
u.a. sprachlicher Natur, insbesondere sind die Komplexität der Syntax und
Unterschiede in der Lexik zu nennen.
In neueren Arbeiten zur Beurteilung von Textschwierigkeit wie Willenberg
(2005) und Winkler (2013) werden neben Wortschatz und strukturellen
Merkmalen wie Satzlänge und Verwendung von Junktoren auch inhaltliche
Aspekte wie historische Distanz und unterschiedliche Lebenserfahrung genannt,
die den Schwierigkeitsgrad eines Textes aus Leser_innensicht beeinflussen. Ein
Mangel an Erfahrungen, die vergleichbar mit dem im Text Geschilderten sind,
oder die Unvertrautheit mit moralischen Werten, beides also Instanzen fehlen-
den Vorwissens, können das Textverständnis erheblich erschweren (s. Winkler
2013: 402-404). Beides tritt nicht nur, aber besonders häufig beim Umgang mit
historischen Texten auf. Ein diesbezüglicher Unterschied zwischen beiden
Texten ist offensichtlich: Wenn auch eine historische Distanz aus heutiger
Schüler_innen-/Leser_innensicht für beide Texte anzunehmen ist, so unterschei-
den sich dennoch die moralischen Werte, die bei Keller verhandelt werden, in
geringerem Maße von den heute (in Westeuropa) herrschenden Werten als die
bei Kleist (z.B. die angedrohten grausamen Todesstrafen für Kindsvater und
-mutter wegen der vorehelichen Schwangerschaft).
Die historische Distanz ergibt sich aber auch aus dem verwendeten
Wortschatz. In Bezug auf die Lexik kann die Schwierigkeit eines Textes zum
einen durch alte, nicht mehr usuelle und daher als fremd empfundene Wörter
160 Barbara Schlücker et al.
erhöht sein. Solche Wörter bzw. Phrasen sowie abweichende Schreibweisen
finden sich zahlreich in beiden Texten, bei Kleist jedoch wiederum häufiger
als bei Keller, z.B. bei Kleist als er eines Ringes an seiner Hand gewahrte;
Ahndung; die Seinigen; Morgenbrot; Anerbieten; dessen Mutter dort […]
beschädigt liege; es ist nur auf wenige Augenblicke; Gejauchz; wollüstig; Dämpfe
auskochen; anloben; Hülfe; teuern; schmähliche Art; Gestade; aus den Wochen
erstehen; eine geheime Bestellung und bei Keller Eulenspiegelei; Zeche; aufs
Kerbholz gebracht; ließ er […] anspannen; schalkhaft; jdm. etw. aufrechnen,
Zuckerbeck; ehrenfest; das Anerbieten; von dannen; Falliment; Mittagsbrot. Zum
anderen tragen auch Formen nicht-wörtlicher Rede wie Metaphern,
Mehrdeutigkeiten und Ironie zu Schwierigkeiten im Bereich der Lexik bei, ins-
besondere, wenn sie in der Gegenwartssprache nicht mehr usuell sind. In beiden
Texten finden sich dafür viele Beispiele (s. 2. und 3.). Insbesondere der Kleist-
Text zeichnet sich durch heute nicht mehr gebräuchliche Metaphern und
Personifikationen aus.
2. Beispiele literarischer Sprache aus Kleist, Das Erdbeben in Chili:
a. die Zungen fielen so scharf über das ganze Kloster her (S. 49, Z. 33-34)
b. Fittig der vermessensten Gedanken (S. 50, Z. 18-19)
c. ein Haus […] jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd (S. 51,
Z. 20-21)
d. wo sich der Strom der Flucht noch bewegte (S. 53, Z. 10-11)
e. den Jammer von ihrer Brust entfernend (S. 54, Z. 23-24)
3. Beispiele literarischer Sprache aus Keller, Kleider machen Leute:
a. unfreundlichem Novembertage (S. 3, Z. 1)
b. so erstarben ihm […] die Worte im Munde (S.4, Z. 7-8)
c. heiß […] nach Nahrung gesehnt (S. 7, Z. 18-19)
d. goldene Freiheit der Landstraße (S. 8, Z. 6-7)
e. er betrat […] den abschüssigen Weg des Bösen (S. 8, Z. 12-13)
Ein weiterer Schwierigkeitsaspekt betrifft die Anordnung von unterschiedlichen
Handlungsebenen und die Erzählperspektive, insbesondere, wenn diese wech-
selnd oder unklar ist (s. Winkler 2013: 405f). Bei Kleist erschwert im Gegensatz
zu Keller die Chronologie der Ereignisse im fiktiven Geschehen das
Textverständnis. Während das Geschehen in den untersuchten
Textausschnitten bei Keller durchgängig chronologisch erzählt wird, werden
die Leser_innen bei Kleist mit mehreren Rückblenden und zeitlichen sowie
personenbezogenen Perspektivwechseln konfrontiert. Auch aus Sicht der
Gegenwartssprache ungewöhnliche deiktische Verschiebungen tragen bei
Zuhören vs. Lesen 161
Kleist zur erschwerten Textverständlichkeit bei. Dies zeigt Beispiel 4, in dem das
Wort hier innerhalb eines Satzes insgesamt neun Mal vorkommt, jedoch jeweils
auf einen anderen Ort referiert. Statt einer festen Sprecherlokalisierung, von der
aus auf weitere Orte verwiesen wird (hier …dort …dort), muss also eine stets
wechselnde Position der Sprecherperspektive inferiert werden.
4. Deiktische Verschiebungen bei Kleist, Das Erdbeben in Chili (S. 51, Z. 20-31)
(Eigene Hervorhebung)
Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit
umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in
Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in
eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der
Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag
ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem
Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier
kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger
Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer, bleich wie der Tod,
und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel.
Außerdem finden sich bei Keller regelmäßig Dialoge in direkter Rede, wohingegen
bei Kleist ausschließlich indirekte Rede verwendet wird. Sehr deutliche
Unterschiede weisen die beiden Texte schließlich auch in Bezug auf die syntak-
tisch-strukturelle Komplexität auf. Das Vorhandensein von Junktoren, worauf
Willenberg (2005: 97f) verweist, kann als ein Aspekt dieses Merkmals gelten.
Lange, komplexe Satzgefüge sind bei Kleist zahlreich vorhanden. Zwei Beispiele
dafür sind in 5 und 6 gegeben. Der Satz in 5 besteht aus 66 Wörtern. Die Komplexität
ergibt sich durch zwei Koordinationen (und, weder …noch) und drei Relativsätze
(angebunden mit in welchem, welche und mit welcher), wobei sich die ersten beiden
Relativsätze jeweils nur auf ein Konjunkt einer Koordination beziehen. Beispiel 6
enthält u.a. eine Koordination zweier syntaktisch unterschiedlicher Konjunkte (die
Präpositionalphrase nach der Tochter Asterons koordiniert mit dem indirekten
Interrogativsatz ob die Hinrichtung an ihr vollzogen worden sei), wobei die
Einschübe und Konjunkte wiederholt durch Kommata abgetrennt sind, was nicht
mit den gegenwärtigen Regeln der Zeichensetzung konform ist.
5. Komplexes Satzgefüge bei Kleist, Das Erdbeben in Chili (S. 49, Z. 31 - S. 50,
Z. 4)
Man sprach in der Stadt mit einer so großen Erbitterung von diesem
Skandal, und die Zungen fielen so scharf über das ganze Kloster her, in
welchem er sich zugetragen hatte, daß weder die Fürbitte der Familie
162 Barbara Schlücker et al.
Asteron, noch auch der Wunsch der Äbtissin selbst, welche das junge
Mädchen wegen ihres sonst untadelhaften Betragens liebgewonnen
hatte, die Strenge, mit welcher das klösterliche Gesetz sie bedrohte, mil-
dern konnte.
6. Komplexes Satzgefüge bei Kleist, Das Erdbeben in Chili (S. 52, Z. 23-28)
Er mischte sich unter das Volk, das überall, mit Rettung des Eigentums
beschäftigt, aus den Toren stürzte, und wagte schüchtern nach der Tochter
Asterons, und ob die Hinrichtung an ihr vollzogen worden sei, zu fragen;
doch niemand war, der ihm umständliche Auskunft gab.
Auch finden sich bei Kleist viele syntaktische Konstruktionen, die der Syntax des
Gegenwartsdeutschen nicht mehr entsprechen, was zusätzlich zum erschwerten
Textverstehen beiträgt; s. z.B. den aus gegenwartssprachlicher Sicht
ungewöhnlichen Gebrauch von Präpositionen (nach dem Kloster in 7a) und
Konjunktionen (da i.S.v. ‚als‘,hierauf i.S.v. ‚daraufhin‘, in 7b-c),
Infinitivanschlüsse ohne um (sich zu halten in 7d) sowie flektierte Eigennamen
(Josephens in 4e).
7. Veraltete Syntax bei Kleist, Das Erdbeben in Chili
a. und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen (S. 53, Z. 33)
b. und reichte ihm, da sie vollendet hatte, den Knaben zum Küssen dar
(S. 55, Z. 10-11)
c. Hierauf, unter vielen Küssen, schliefen sie ein (S. 56, Z. 6)
d. raffte alle ihre Kräfte zusammen, sich zu halten (S. 54, Z. 22-23)
e. erinnerte er sich plötzlich auch Josephens (S. 52, Z. 17-18)
Auch enthält Kleists Text wiederholt anaphorische Bezugnahmen mithilfe der
Pronomina dasselbe, derselbe, dieselbe, teils über mehrere Einbettungen hinweg,
die in der Gegenwartssprache entweder durch Possessivpronomen oder ganz
andere syntaktische Konstruktionen realisiert würden, s. 8.
8. Anaphorische Bezüge bei Kleist, Das Erdbeben in Chili
a. Drauf, als er eines Ringes an seiner Hand gewahrte, erinnerte er sich
plötzlich auch Josephens, und mit ihr seines Gefängnisses, der
Glocken, die er dort gehört hatte, und des Augenblicks, der dem
Einsturze desselben vorangegangen war. (S. 52, Z. 17-21)
b. Als Jeronimo das Tor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben
bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder. (S. 51, Z.
31-33)
Zuhören vs. Lesen 163
Der letzte Aspekt der Textschwierigkeit ist schließlich die Satzlänge: Kürzere
Sätze sind einfacher zu verarbeiten als längere (s. dazu auch das Drei-Sekunden-
Fenster bei Willenberg 2005). Im Text von Keller sind solche syntaktisch kom-
plexen Strukturen, wie in 5 bis 8 anhand von Kleists Werk illustriert, nicht oder
wesentlich seltener vertreten. Dass der Keller-Text sich durch weniger syntakti-
sche Einbettungen und kürzere Sätze auszeichnet, lässt sich auch durch fol-
gende Zahlen belegen: Bei fast gleicher Wortzahl im verwendeten Textausschnitt
(Kleist: 2.457, Keller: 2.439) weist der Kleist-Text deutlich weniger und dafür
längere Sätze (Keller: 94 Sätze/34,5 Wörter pro Satz; Kleist: 71 Sätze/48 Wörter
pro Satz) und Abschnitte (Keller: 31, Kleist: 15) auf als der Keller-Text.
3.2 Studienmaterial
Für die vorliegende Studie wurden jeweils die ersten knapp 2.500 Wörter ver-
wendet (Keller Kleider machen Leute: 2.439 Wörter /Gesamtlänge: 14.269 Wörter;
Kleist Das Erdbeben in Chili: 2.457/5.396).
5
Dabei wurde darauf Rücksicht genom-
men, dass das Ende des Textauszuges auf einen zentralen Wendepunkt der
Geschichte fällt.
6
Für den Leseteil der Studie wurden die Textauszüge in ein
Textverarbeitungsprogramm kopiert und auf weißem DIN A4 Papier ausge-
druckt. Für den Hörteil der Studie wurden beide Textauszüge von der ausge-
bildeten Schauspielerin und Sprecherin Lisan Lantin eingesprochen. Die in
Abschnitt 2.3 erwähnte Sprechervariable bleibt somit konstant. Die Aufnahmen
wurden ohne Regie in einer schalldichten Kabine im Phonetik-/Phonologie-
Labor am Fachbereich Sprachwissenschaft der Universität Konstanz
durchgeführt. Die Sprecherin hat sich vor dem Aufnahmetermin intensiv auf
5Der untersuchte Auszug aus Kellers Kleider machen Leute endet mit dem Satz Seine
Eulenspiegelei aufs äußerste treibend, bestieg er auch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich
und die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhr aus der Stadt, und alles ward so in der
Ordnung befunden und dem guten Schneider aufs Kerbholz gebracht. (S. 12).
Der Auszug aus Kleists Das Erdbeben in Chili endet mit dem Satz Josephe antwortete, daß sie
dies Anerbieten mit Vergnügen annehmen würde, und folgte ihm, da auch Jeronimo nichts einzu-
wenden hatte, zu seiner Familie, wo sie auf das innigste und zärtlichste von Don Fernandos beiden
Schwägerinnen, die sie als sehr würdige junge Damen kannte, empfangen ward. (S. 56).
6Das offene Ende des unvollständigen Textauszugs erlaubt es, die Frage nach der
Rezeptionsmotivation zu untersuchen, d.h. den Teilnehmer_innen Fragen zu stellen, die auf
das Interesse und die Motivation weiterzulesen zielen. Die Ergebnisse dieser Fragen werden hier
nicht weiter berichtet; s. dazu aber Hannken-Illjes et al. (2016).
164 Barbara Schlücker et al.
das Einsprechen vorbereitet. Bei Versprechern während der Aufnahme hat sie
den ganzen Satz neu eingesprochen; das fehlerhafte Material wurde nach Ende
des Einsprechens herausgeschnitten. Die Sprecherin hat die Textvorlagen weder
gekürzt noch anderweitig verändert. Sie hat sie allerdings stimmlich-spreche-
risch interpretiert. Trotz fast identischer Anzahl von Wörtern unterscheiden sich
die Hörfassungen in ihrer Länge (Keller: 17:30 Minuten, Kleist: 18:47 Minuten),
was durchaus auf die unterschiedliche Komplexität der Texte zurückgeführt
werden kann. Beispielsweise kann Komplexität durch verringerte
Sprechgeschwindigkeit oder Einfügen von Pausen klarer strukturiert und/oder
aufgelöst werden.
3.3 Fragebogen
Zusätzlich zu diesem Text- und Hörmaterial wurde für beide Texte jeweils ein
Fragebogen erstellt, der für zuhörende und lesende Teilnehmer_innen
gleichermaßen verwendet wurde und die in 9 genannten Bereiche umfasst.
9. Aufbau des Fragebogens
a. Informationen zum/zur Teilnehmer_in (z.B. Alter, Geschlecht,
Vorkenntnis des Textes)
b. Abfrage der Motivation und der erlebten Schwierigkeit
c. Fragen zum globalen Textverstehen und zum Detailwissen
Relevant für die vorliegende Studie ist der in 9c genannte Bereich, der das
Detailwissen und das globale Textverstehen abfragt. Beispiele für die Formen
der Wissensabfrage (und die Antworten der Teilnehmer_innen) in diesem Teil
des Fragebogens sind in den Abbildungen 1 und 2 gegeben. Abbildung 1 illus-
triert das Abfragen des globalen Textverstehens. Die Schüler_innen sollten
Schaubilder zur Darstellung von Beziehungen zwischen Personen
vervollständigen. Abbildung 2 dient als Beispiel für das Abfragen des
Detailwissens. Es handelt sich um Multiple Choice-Fragen, die ein konkretes
im Text beschriebenes Ereignis abfragen und auf die nur je eine richtige Antwort
möglich ist. Weitere Fragetypen umfassten u.a. die chronologische Einordnung
mehrerer Ereignisse in einen Zeitstrahl, die Auswahl aus vorgegebenen
Adjektivattributen als Beschreibung einer Person, aber auch die freie
Beantwortung von Fragen in eigenen Worten. Insgesamt wurden für beide
Fragebögen jeweils sechs Fragen zum globalen Textverstehen und vier Fragen
zum Detailwissen ausgewertet; s. Abschnitt 3.5 (Die Fragebögen befinden sich
online im Anhang zu diesem Aufsatz.)
Zuhören vs. Lesen 165
3.4 Teilnehmer_innen und Durchführung der Studie
Die Studie wurde in achten Klassen an drei weiterführenden Schulen, vornehmlich
Gymnasien, in Mannheim, Marburg und Berlin im Rahmen des Deutschunterrichts
durchgeführt.
7
Insgesamt nahmen 159 Schüler_innen teil (Mannheim: 79, Marburg:
34, Berlin: 46; insgesamt 85 weiblich, 73 männlich, 1x keine Angabe zum
Geschlecht). Die meisten Teilnehmer_innen waren 13 Jahre alt (91 von 159); insge-
samt reichte die Altersspanne von 12 bis 18 Jahren (12 Jahre: 11; 13 Jahre: 91; 14
Abbildung 2: Fragen zum Detailwissen (links: Fragebogen Keller, rechts: Fragebogen Kleist).
Abbildung 1: Fragen zum globalen Textverstehen (links: Fragebogen Keller, rechts: Fragebogen
Kleist.
7Gymnasien schließt hier äquivalente Schulformen ein, konkret: Berlin: Integrierte
Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe/staatliche Europaschule Berlin; Marburg: gymnasia-
ler Kurs in einer integrierten Gesamtschule. In Marburg handelte es sich außerdem um eine
neunte Klasse, da der dortige Lehrplan die verwendeten Texte für die neunte Klassenstufe
vorsieht.
166 Barbara Schlücker et al.
Jahre: 28; 15 Jahre: 21; 16 Jahre: 6; 17 Jahre: 1; 18 Jahre: 1). Schüler_innen der
achten Klasse wurden aus drei Gründen bewusst ausgewählt. Erstens besitzen sie
bereits eine recht hohe Lesekompetenz (s. Abschnitt 2.1). Zweitens ist ihre
Erfahrung mit abweichenden Satzkonstruktionen, insbesondere aus älteren
Sprachstufen des Deutschen und mit älteren Wortschätzen, noch nicht sehr stark
ausgeprägt, genausowenig wie ihr historisches Bewusstsein bzw. das Wissen um
historische Lebenskontexte. Diese beiden Faktoren erschweren das Verständnis
und die Interpretation älterer literarischer Texte oft erheblich. Drittens entspricht
die achte Klasse dem in der Literatur bereits untersuchten (Belgrad 2011, Gailberger
2011, 2013) oder als Umschlagpunkt im Verstehen in Abhängigkeit von der
Modalität identifizierten Alter (Diakidoy et al. 2005), so dass die Vergleichbarkeit
gewährleistet ist.
Die teilnehmenden Schüler_innen wurden jeweils in vier Gruppen eingeteilt,
die auf separate Räume verteilt wurden. Die vier Gruppen waren: (i) Gruppe
Keller/lesen, d.h. eine Gruppe von Schüler_innen, die den Keller-Auszug gelesen
hat; (ii) Keller/hören, d.h. eine Gruppe von Schüler_innen, der die Hörfassung
des Keller-Auszugs präsentiert wurde; (iii) Kleist/lesen; (iv) Kleist/hören. Die
Aufteilung der Schüler_innen auf die vier Gruppen war insgesamt wie folgt:
(i) Gruppe Keller/lesen: 30; (ii) Keller/hören: 31; (iii) Kleist/lesen: 48; (iv) Kleist/
hören: 50.
8
Die beteiligten Lehrerinnen wurden gebeten, die Gruppen jeweils so
einzuteilen, dass die Leistungsstärke ausgeglichen war und den Gruppen
möglichst gleich viele Jungen und Mädchen angehörten, um ausschließen zu
können, dass eine Gruppe deshalb besser/schlechter abschneidet, weil das
Leistungsvermögen der beteiligten Schüler_innen ohnehin besser/schlechter
war. Eine Studienleiterin erklärte den Schüler_innen den Ablauf und versicherte
ihnen, dass es sich nicht um eine schulische Leistung handelt, die in die
Notengebung einfließt. Die Schüler_innen, die den Lesegruppen angehörten,
wurden instruiert, den ihnen vorgelegten Text einmal sorgfältig und aufmerk-
sam zu lesen. Um später die Lesezeit notieren zu können, wurden sie gebeten,
sich nach Ende der Lesezeit zu melden. Gleichzeitig mussten sie den Lesetext
wieder abgeben. Die Schüler_innen, die den Hörgruppen angehörten, wurden
instruiert, der Hörfassung aufmerksam zuzuhören. Ihnen wurde die Hörfassung
des entsprechenden literarischen Werkes über Lautsprecher vorgespielt, ohne
dass ihnen gleichzeitig der Text vorlag. Nach dem Lesen/Zuhören wurden die
oben beschriebenen Fragebögen ausgeteilt und die Schüler_innen wurden gebe-
ten, die Fragen zu beantworten. Rückfragen zum Vorgehen waren jederzeit
8Die ungleiche Verteilung der Gruppengrößen ergibt sich daraus, dass einige Schüler_innen
Kellers Text bereits kannten. Die Gesamtanzahl der Zuhörenden und Lesenden ist jedoch fast
identisch (Hören: 81, Lesen: 78).
Zuhören vs. Lesen 167
erlaubt. Waren die Schüler_innen mit der Beantwortung der Fragen fertig, wur-
den die Bögen eingesammelt. Die Bearbeitungszeit der Fragebögen wurde für
jeden/jede Schüler_in auf dem entsprechenden Fragebogen notiert. Dem
Ausfüllen der Fragebögen folgte noch eine Gruppendiskussion, die sowohl auf
den Inhalt der Texte (z.B. Welche Passagen haben dir besonders gut gefallen?
Welche nicht? Warum?) als auch auf das Textverständnis einging (z.B. Ist dir am
Text etwas aufgefallen? War er schwierig zu verstehen? Gab es Wörter, die du nicht
verstanden hast?) und Bezüge zur Gegenwart herstellte (z.B. Könnte (dir/euch)
etwas Ähnliches heute noch passieren?). Diese Diskussion wurde per Audio auf-
gezeichnet. Außerdem gab es Raum für offene Rückmeldungen und Fragen.
Durch die Erhebung (Fragebogen und Anschlussdiskussion) werden ver-
schiedene Dimensionen der Textverstehens-/Lesefähigkeit erhoben, die von
Hurrelmann (2007: 24) als konstitutiv für Lesekompetenz gesetzt werden:
„Lesekompetenz ist damit definiert als Fähigkeit zum Textverstehen im
Horizont einer kulturellen Praxis, zu der es gehört, dass sich (1) kognitives
Textverständnis, (2) Motivation und emotionale Beteiligung, (3) Reflexion und
Anschlusskommunikation (mit anderen Lesern) ergänzen und durchdringen.“
Für diesen Aufsatz fokussieren wir die erste Dimension, das kognitive
Textverständnis.
3.5 Datenbehandlung und Auswertung
Für die vorliegende Studie wurde, neben den personenbezogenen Daten, nur der
Teil des Fragebogens ausgewertet, der die Fragen zum inhaltlichen
Textverständnis abfragte (s. 9c). Für jede Frage wurden Punkte vergeben, d.h.
die Antworten auf jedem Fragebogen entsprechend ihrer Richtigkeit bewertet
und die Ergebnisse notiert. Das Gesamtergebnis für jeden Fragebogen ergibt sich
aus der Addition aller erreichten Punkte; es wurde jeweils sowohl in absoluten
Zahlen als auch in Prozent notiert (31,5 Punkte = 100% für den Fragebogen bei
Keller, 35 Punkte = 100% bei Kleist). Aufgrund der unterschiedlichen
Gesamtpunktzahl der beiden Fragebögen, die sich durch eine Zusatzfrage beim
Fragebogen zu Kellers Text erklärt, wurden nur die Prozentwerte für die weitere
Analyse berücksichtigt.
Die Daten wurden getrennt nach den Faktoren T
EXT
(Keller/Kleist),
M
ODALITÄT
(Zuhören/Lesen) und G
ESCHLECHT
(Mädchen/Junge) der teilneh-
menden Schüler_innen ausgewertet.
9
Außerdem wurden bei den Lesegruppen
9Wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, steht der Faktor T
EXT
für die unterschiedliche Schwierigkeit
der Texte.
168 Barbara Schlücker et al.
die individuelle Lesezeit (L
ESEZEIT
) und für alle Gruppen die für die Bearbeitung
der Fragebögen benötigte Zeit (D
AUER
) erhoben. Diese beiden Faktoren werden
allerdings in der vorliegenden Arbeit nicht näher betrachtet.
10
Neben der
Gesamtpunktzahl wurden die Ergebnisse für die Fragen einzeln erhoben, die
zum Vergleich zwischen Detailwissen und globalem Textverstehen relevant
waren. Pro Fragebogen wurden die Ergebnisse für sechs Fragen zum globalem
Textverstehen (gTV) und vier Fragen zum Detailwissen (DW) erhoben (Kleist/
gTV: Fragen 1, 2, 6, 7, 10, 11; Kleist/DW: Fragen 3, 4, 9, 12; Keller/gTV: Fragen 1,
2, 7, 8, 10, 12; Keller/DW: Fragen 4, 5, 11, 13).
11
3.6 Ergebnisse
Für den Faktor T
EXT
, d.h. den direkten Vergleich der Ergebnisse für den Keller-
Text vs. den Kleist-Text ohne Berücksichtigung der Modalität oder der anderen
Faktoren, zeigt sich eine insgesamt deutlich bessere Verstehensleistung
(Detailwissen und globales Textverstehen zusammen) für den Keller-Text (60%
erreichte Punktzahl) als für den Kleist-Text (51%). Das Ergebnis einer logisti-
schen Regressionsanalyse für diesen Vergleich, durchgeführt mit dem statisti-
schen Analyseprogramm R (R Core Team 2014), bestätigt die Signifikanz des
Faktors T
EXT
(p < 0.005, ß = -0.09, SE = 0.03, t = -3.08), was aufgrund der unter-
schiedlichen sprachlichen Komplexität (s. Abschnitt 3.1) und dem damit ver-
bundenen Schwierigkeitsgrad erwartet wurde (s. die Hypothesen in Abschnitt
2.4 oben und die Diskussion in Abschnitt 4 unten).
Für den Faktor M
ODALITÄT
, d.h. den direkten Vergleich der Ergebnisse für
Zuhören vs. Lesen ohne Berücksichtigung des Faktors T
EXT
oder einen der
anderen Faktoren, zeigt sich wie erwartet eine insgesamt bessere
Verstehensleistung (Detailwissen und globales Textverstehen zusammen) für
die Zuhören-Gruppen (57% erreichte Punktzahl) als für die Lesen-Gruppen
10 Im Hintergrund stand die Überlegung, dass die Dauer der Fragebogenbearbeitung und die
Lesezeit bei den Lesegruppen einen Einfluss auf das Abschneiden beim Fragebogen haben
könnte. Z.B. könnte längere Bearbeitung des Fragebogens mit Sorgfalt und daraus resultieren-
dem besseren Ergebnis einhergehen. Allerdings –und deshalb wurden die Ergebnisse hier nicht
weiter berücksichtigt –gibt es keine Garantie für den Zusammenhang zwischen D
AUER
und
Sorgfalt. Denkbar ist auch, dass Schüler_innen zwischen der Beantwortung einzelner Fragen
Pausen eingelegt haben. Ähnliches gilt für die Lesezeit: Es gibt keine Garantie, dass längeres
Lesen auch gleichzeitig sorgfältigeres bzw. genaueres Lesen bedeutet.
11 Nicht in die Auswertung eingegangen ist jeweils die letzte Frage des Fragebogens (Was
glaubst Du, wie die Geschichte weitergeht?), die zwar ebenfalls Textverständnis voraussetzt, aber
dennoch eher auf das Vorstellungsvermögen der Schüler_innen abzielt.
Zuhören vs. Lesen 169
(52%). Dieses Ergebnis nähert sich in der statistischen Analyse der Signifikanz
an (p < 0.06).
Nimmt man beide Faktoren T
EXT
und M
ODALITÄT
zusammen (s. Abb. 3),
zeigt sich, dass einerseits die Keller-Gruppen insgesamt besser abschneiden als
die Kleist-Gruppen, andererseits aber die M
ODALITÄT
Zuhören die
Verstehensleistung unabhängig vom Text (und damit von dessen Komplexität
und Schwierigkeit) erhöht. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass sich statis-
tisch keine Interaktion zwischen den Faktoren T
EXT
und M
ODALITÄT
zeigt
(p = 0.8084).
Der Vergleich zwischen Detailwissen und globalem Textverstehen ergibt, dass
das Detailwissen bei den Schüler_innen mit durchschnittlich 55% erreichten
Punkten insgesamt deutlich schlechter ist als das globale Textverständnis
(61%). Dieser Eindruck wird durch die statistische Auswertung bestätigt
(p < 0.04, ß = -0.06, SE = 0.028, t = 2.16). Zusätzlich zum Gesamtergebnis haben
wir den Einfluss der Faktoren T
EXT
und M
ODALITÄT
auf das Detailwissen und
das globale Textverstehen untersucht. Dabei wird der Faktor T
EXT
, und damit
die Schwierigkeit bzw. Komplexität des Textes nicht signifikant und hat somit
keinen Einfluss auf das Detailwissen (p =0.791) oder das globale Textverstehen
(p = 0.923). Im Gegensatz dazu hat der Faktor M
ODALITÄT
einen signifikanten
Einfluss auf das globale Textverstehen; hier schnitten die Lesegruppen im
Durchschnitt um 8% schlechter ab als die Hörgruppen. Das globale
Textverstehen wird durch die Modalität Zuhören also signifikant verbessert
(p < 0.05, ß = -0.081, SE = 0.039, t = -2.05). Das Detailwissen wird durch die
Modalität Zuhören hingegen nicht signifikant verbessert (p = 0.345).
Die Auswertung für den Faktor G
ESCHLECHT
zeigt eine signifikant bessere
Verstehensleistung (Detailwissen und globales Textverstehen) bei Mädchen
(58% erreichte Punktzahl) als bei Jungen (51%) (p < 0.02; ß = 0.07, SE = 0.03,
63% 58%
54% 48%
0%
20%
40%
60%
80%
Hören Lesen
MODALITÄT − TEXT
Keller
Kleist
Abbildung 3: Erreichte Gesamtpunktzahl (in %) nach T
EXT
und M
ODALITÄT
.
170 Barbara Schlücker et al.
t = 2.42). Dies gilt sowohl für die Bedingung Hören, als auch für die Bedingung
Lesen (Hören: ß = 0.069, SE = 0.028, t = 2.42, p < 0.02; Lesen: ß = 0.086, SE = 0.03,
t = 2.27, p < 0.03).
4 Diskussion
Basierend auf den Arbeiten aus der schulischen/didaktischen Leseforschung
sollte gemäß Hypothese 1 (Abschnitt 2.4) die gehörte Version der Texte besser
verstanden werden als die gelesene. Diese Hypothese hat sich grundsätzlich
bestätigt, und zwar unabhängig vom Text und der damit verbundenen
Schwierigkeit und sprachlichen Komplexität. Wir führen dies auf die spreche-
risch-stimmliche Interpretation des Textes durch die ausgebildete Sprecherin
zurück, die den Text durch prosodische Mittel für Hörer_innen so aufbereitet
hat, dass die Verarbeitung der sprachlichen Komplexität erleichtert wird. Da dies
für beide Texte gilt und beide Texte von derselben Sprecherin gesprochen
wurden, findet sich keine Interaktion zwischen Text und Modalität. Der schwie-
rige Text wird durch die stimmlich-sprecherische Bearbeitung leichter
verständlich und der leichtere Text wird sogar noch leichter verständlich. Das
„mühsame [eigene] Dekodieren“, wie Belgrad et al. (2011: 12; s. Abschnitt 2.1) es
nennen, entfällt. Auch mag es gerade bei Kleists Text von Einfluss sein, dass
sich beim Zuhören ein Vorteil für die Repräsentation visuell-räumlicher
Informationen ergibt (Kürschner & Schnotz 2008). Unsere Ergebnisse sind
daher im Einklang mit den Annahmen aus der schulisch-didaktischen
Leseforschung, u.a. mit der Auffassung von Belgrad et al. (2011), dass das
Hören eines literarischen Textes eine Entlastungsfunktion für die
Schüler_innen haben kann und sie somit stärker auf das Nachvollziehen der
erzählten Welt fokussieren können (s. Abschnitt 2.1). Zugleich liefern sie empi-
rische Evidenz u.a. für die Annahmen von Jäger (2014) und Belgrad et al. (2011).
Gleichzeitig scheinen unsere Ergebnisse bestimmten (wenigen) Annahmen
aus der vornehmlich psychologischen Leseforschung entgegenzustehen, die
besagen, dass im getesteten Alter das Leseverstehen besser ausgeprägt sei als
das Hörverstehen oder dieses Alter zumindest die Umbruchphase vom besseren
Hörverstehen zum besseren Leseverstehen sei, sich also keine Unterschiede
zeigen sollten (z.B. Sticht & James 1984, Diakidoy et al. 2005; s. Abschnitt 2.1).
Die Unterschiede zwischen diesen und unseren Ergebnissen lassen sich
möglicherweise u.a. durch die verwendeten Texte und deren Länge sowie die
verwendeten Textgattungen erklären. So liegen den Studien aus der
Zuhören vs. Lesen 171
psychologischen Leseforschung überwiegend sehr kurze Texte zugrunde (s. 2.3),
die zudem teilweise eigens für den Zweck der Studie verfasst wurden. Unsere
Studie hingegen untersucht deutlich längere Auszüge authentischer literarischer
Texte. Es ist daher naheliegend anzunehmen, dass sich das in den Studien
genannte Umbruchalter von 14 Jahren bzw. der achten Klasse bei solchen
Texten nach oben verschiebt bzw. möglicherweise andere Faktoren –neben
dem Alter –dazu führen, dass Zuhören insgesamt zu einem erleichterten
Textverstehen führt. Dies würde auch bedeuten, dass kein generelles,
unabhängiges Alter für den Umbruch zwischen Hör- und Leseverstehen ange-
nommen werden kann, sondern immer in Abhängigkeit von Faktoren wie
Textlänge und -schwierigkeit (insbesondere syntaktische Komplexität,
Diskursstruktur und Lexik, aber auch inhaltliche Aspekte) argumentiert werden
muss. Eine solche Abhängigkeit steht wiederum in Übereinstimmung mit ande-
ren Annahmen aus der Literatur, wonach nicht nur das Alter, sondern auch
weitere Faktoren (z.B. Motivation, Rolle des Lesens in der Familie) eine Rolle für
das Verhältnis von Hör- und Leseverstehen spielen.
Laut Hypothese 2 führt erhöhte Textschwierigkeit und -komplexität zu
einem schlechteren Textverständnis. Diese Hypothese bestätigen wir eindeutig
durch den Vergleich der beiden Texte, die sich durch unterschiedliche sprach-
liche Komplexität und Schwierigkeit auszeichnen (Abschnitt 3.1). Das
Textverständnis ist insgesamt beim Keller-Text signifikant besser als beim
Kleist-Text, unabhängig von der Rezeptionsmodalität (Zuhören vs. Lesen).
Verantwortlich dafür machen wir die oben beschriebenen semantisch-konzep-
tuellen und grammatischen Faktoren, in denen sich die beiden Texte
unterscheiden.
Hypothese 3 besagt, dass sich das globale Textverstehen durch das Zuhören
im Vergleich zum Lesen in stärkerem Maße als das Detailwissen verbessert.
Diese Hypothese wird durch unsere Ergebnisse bestätigt. Dies entspricht der
Auffassung in der Literatur, dass das Zuhören das globale Textverstehen ver-
bessert (s. Abschnitt 2.1). Die in Abschnitt 2.1 ebenfalls beschriebene Annahme,
dass das Lesen das Detailwissen verbessert, konnten wir hingegen nicht
bestätigen. Insofern stehen unsere Ergebnisse diametral zu denen von
Kürschner et al. (2006), die beim Detailwissen einen Vorteil des Lesens
gegenüber dem Zuhören nachweisen, jedoch keinen Unterschied zwischen den
Modalitäten in Bezug auf das globale Textverstehen finden konnten. Der Befund,
dass die Ergebnisse zum Detailwissen insgesamt schlechter als die zum globalen
Textverstehen sind (55% gegenüber 61% der Punkte), deutet außerdem auf eine
gewisse Unabhängigkeit dieser beiden Lernleistungsarten hin; insbesondere
scheint das Detailwissen keine notwendige Voraussetzung für das globale
Textverstehen zu sein; s. Abschnitt 2.1.
172 Barbara Schlücker et al.
Zusätzlich zu diesen Ergebnissen, die sich konkret auf die Hypothesen
beziehen, haben wir den Faktor G
ESCHLECHT
untersucht. Wir konnten zeigen,
dass Mädchen insgesamt besser als Jungen abschneiden, sowohl beim Zuhören
alsauchbeimLesen.DerBefundweichtvondenErgebnisseninBehrensetal.
(2009) ab, die –allerdings für den Primarbereich –keinen Unterschied in
Bezug auf die Hörverstehensleistung zwischen Mädchen und Jungen festge-
stellt haben. Er steht aber im Einklang mit derjenigen Literatur, die festgestellt
hat, dass das Geschlecht die stabilste Variable für die Vorhersage der
Lesekompetenz ist (s. z.B. Hurrelmann et al. 1993: 51f., Baumert & Klieme
2001: 256) und zwar dahingehend, dass Mädchen eine höhere Lesekompetenz
als Jungen haben. Ebenso wird in der PISA-Studie von 2006 festgestellt, dass
Mädchen, auch im internationalen Vergleich, im Lesen signifikant besser
abschneiden als Jungen (s. Drechsel & Artelt 2007: 234, in Bezug auf 15-
jährige Schüler_innen).
Insgesamt unterstreichen unsere Ergebnisse die Annahme, dass Zuhören
grundsätzlich das Textverstehen positiv beeinflusst, dass allerdings mehrere
Faktoren berücksichtigt werden müssen, darunter das Geschlecht der rezi-
pierenden Personen, aber auch die Schwierigkeit bzw. Komplexität des rezi-
pierten Textes. Weitere Faktoren, die wir für wichtig erachten und die in
zukünftigenArbeitengezieltvergleichend berücksichtigt werden sollten,
schließen die Textgattung, Textlänge und Eigenschaften der Sprechfassung
mit ein.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Hören literarischer Texte nach
unseren Ergebnissen einen förderlichen Effekt für das Textverständnis haben
kann, allerdings unabhängig von der Komplexität des Textes. Dabei profitiert
das globale Textverstehen stärker vom Zuhören als das Detailwissen. Dies
könnte dafür sprechen, dass das Hören eines literarischen Textes insbesondere
für die erste Begegnung mit dem Text geeignet ist.
Es bleiben einige Aspekte, die weitergehend untersucht werden sollten. So
haben wir die Schüler_innen mit einer einzigen Sprechfassung konfrontiert. Hier
wäre es interessant, verschiedene Fassungen zu nutzen, sowohl von verschiede-
nen Sprecher_innen als auch mit Variation in Bezug auf die Ausdrucks- bzw.
Grundhaltungen der Sprecher_innen. Auch der Einfluss des Geschlechts des/der
Sprecher_in wäre zu untersuchen. Zudem haben wir das Verstehen direkt nach
der Rezeption erhoben. Interessant wäre hier, auch die Behaltensleistung einzu-
beziehen und die Schüler_innen nach einigen Wochen noch einmal zu befragen.
Zuhören vs. Lesen 173
Für weitere Studien sollen auch die Probandengruppen variiert werden. Dies
betrifft zum einen andere Schulformen, aber auch andere Altersklassen: Die von
uns untersuchten Achtklässler im Gymnasium bringen wahrscheinlich eine
andere Motivation zur Auseinandersetzung mit als beispielsweise Erwachsene
in einem Lesekreis oder Studierende in literaturwissenschaftlichen Seminaren.
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Danksagung
Wir danken allen Schüler_innen für ihre Teilnahme sowie den betreuenden Lehrerinnen und
Lehrern für ihre Unterstützung: Laura Löffler (Berlin), Inge Bruckmann (Berlin), Ulla Brandhove
(Marburg), Alexander Sauter (Mannheim) und Urte Kupfer (Mannheim). Weiterhin danken wir
den Schüler_innen und Lehrer_innen an den Schulen in Meersburg und Stuttgart, an denen wir
vorbereitende Pilotstudien durchgeführt haben. Für das professionelle Einsprechen der Texte
danken wir Lisan Lantin. Ein herzlicher Dank geht außerdem an unsere studentischen
Mitarbeiterinnen und Kolleginnen Annekatrin Anders, Truus De Wilde, Nicole Faßbender, Eva-
Maria Gauß, Stephanie Gustedt, Anna Räuber, Daniela Wochner und Nora Wünsche für die Hilfe
bei der Durchführung der Studie. Den anonymen Gutachter_innen danken wir für die hilfreichen
Anregungen.
Zuhören vs. Lesen 177