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uDay XV – Umgebungsunterstütztes Leben
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Wenn pflegende Angehörige weiter entfernt leben – Technik
eröffnet Chancen für Distance Caregiving, ist aber nicht
schon die Lösung
Ulrich Ottoa, Iren Bischofbergera, Anna Hegedüsa, Birgit Kramerb, Karin van Holtena,
Annette Frankeb
a Careum Forschung, Kalaidos Fachhochschule Gesundheit, Zürich
b Evangelische Hochschule Ludwigsburg
Zusammenfassung. Aufgrund von demografischen Prozessen, Wertewandel und veränderten Fami-
lienstrukturen leben An- und Zugehörige oft räumlich (auch weit) entfernt. Dennoch wird von ihnen häufig
erhebliche Unterstützung für zuhause lebende Pflegebedürftige geleistet. Dieses Phänomen des Distance
Caregiving ist gesellschaftlich und wissenschaftlich noch wenig thematisiert. Es bezieht sich auf eine große
Bandbreite an Unterstützung. Es steht für neuere Typen informeller Unterstützung jenseits der bisher vor-
rangigen Figur der hochinvolvierten „Hauptpflegeperson vor Ort“. Das Unterstützungsarrangement berührt
wesentlich die Vereinbarkeit von informeller Pflege- und Erwerbstätigkeit, kann durch assistive Technik
stark gestützt werden, verlangt aber auch von den Vor-Ort-Fachkräften systematisches Umdenken in Rich-
tung Koproduktion in gemischten Sorgesettings.
1 Einleitung
Angehörige12 sind seit jeher maßgebliche Akteure in der häuslichen, aber auch stationären
Gesundheitsversorgung. Aber Angehörige vor Ort, die sich verbindlich um die Pflege und
Hilfe kümmern können, werden – im Kontext von Demografie, Wertewandel und verän-
derten Familienstrukturen – immer mehr zur knappen Ressource. Vor diesem Hintergrund
sucht die Gesellschaft nach sämtlichen Formen, in denen Menschen bereit sind, private und
zumeist unbezahlte informelle Beiträge zur Sorge- und Pflegearbeit zu leisten – auch jen-
seits der bisher vorrangigen Figur der hochinvolvierten „Hauptpflegeperson vor Ort“. Hier
kommen – von der Gesellschaft und den Unternehmen noch weithin unbeachtet – die Bed-
ingungen in den Blick, die u.a. zu Distance Caregiving führen:
•Wenn Pflegebedürftige überhaupt nächste Angehörige haben, leben diese immer häufi-
ger weit entfernt, v.a. Kinder (vgl. Engstler & Huxhold, 2010; MAGS 2013; Steffen,
Klein, Abele & Otto, 2015).
•Erwerbstätigkeit und räumliche Distanzen erschweren familiäre Pflegeaufgaben – eine
neue Herausforderung für die Gesellschaft, die Angehörigen und deren Arbeitgeber13.
12!Im!vorliegenden!Text!werden!„Angehörige“!nicht!nur!im!verwandtschaftlichen!Sinne!verstanden,!sondern!als!jene!Personen,!
die!von!kranken,!behinderten!oder!älteren!und!hochaltrigen!Personen!als!Nahestehende!wahrgenommen!oder!bezeichnet!
werden.!Dafür!steht!auch!der!Begriff!An-!und!Zugehörige.!„Pflegende!Angehörige“!wird!als!Kurzform!für!begleitende,!be-
treuende!und!pflegende!Angehörige!verwandt.!
13!! Der!vorliegende!Text!bezieht!sich!auf!das!am!uDay!an!der!Fachhochschule!Vorarlberg!in!Dornbirn!(Österreich)!am!
22.06.2017!gezeigte!Poster.!Er!modifiziert!und!erweitert!dessen!Argumentationen!aber!grundlegend.!
Technik für Distance Caregiving – Otto et al.
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Zeitliche und räumliche Bedingungen sind sehr wichtige Faktoren: „We do know, that kin
contacts are affected by time constraints and geographic distance, which, in turn, may re-
sult in restrictions in the types and levels of informal care provided“ (Neal, Wagner, Bonn
& Niles-Yokum, 2008, p. 109). Das bedeutet aber nicht, dass Unterstützung und Pflege nur
oder vorrangig von nahelebenden An- und Zugehörigen geleistet wird. Eine große und
größer werdende Zahl unterstützt durchaus erheblich auch aus räumlicher Distanz.
2 Doppelte gesellschaftliche Herausforderung: Versorgung und Ver-
einbarkeit
Solches Distance Caregiving wirft Gestaltungsfragen mit Blick auf zwei große Pole auf. Es!
bezieht!sich!einerseits!auf!die!„Versorgungsfrage“!–!also!auf!das!Bündel!von!Aspekten!
bezüglich! der! Betreuungs-! und! Begleitungssituation! rund! um! die! pflegebedürftige!
Person:! Wie! lassen! sich! Distance! Caregiving-Beiträge! im! Rahmen! von! Vor-Ort-
Sorgegemeinschaften! systematisch! einbeziehen?! Welche! Auswirkungen! hat! dies!
beispielsweise! auf! die! Beziehungen! zwischen! allen! Beteiligten! insbesondere! im!
Pflegetriangel! (Carers! Trust,! 2016),! d.h.! zwischen! Unterstützten,! den! An-! und!
Zugehörigen!und!den! involvierten! Fachkräften?!Wesentliche! Ziele! bestehen!hier!da-
rin,!vielfältigste! Sorge-! und!Pflegebeiträge! auch! aus!der! Distanz! sichtbar!zu! machen!
und!zu!ermöglichen.!Gleichzeitig!sollen!Gestaltungs-!und!Rahmungsbemühungen!hin-
sichtlich! Distance! Caregiving! sowohl! zu! einer! guten! Unterstützungs-! und! Ver-
sorgungsqualität!im!gesamten!Unterstützungsprozess!beitragen,!aber!auch!möglichst!
zum!Kriterium!der!Lebensqualität!der!Beteiligten.
• Zugleich soll die o.g. Vereinbarkeit mit Blick auf das berufliche Umfeld gestärkt wer-
den, um beide Herausforderungen nachhaltig und mit Zufriedenheit zu meistern – so-
wohl aus Perspektive der Beschäftigten als auch der Arbeitgeber (vgl. Bischofberger,
Otto & Franke, 2015; Bischofberger, Franke, Otto & Schnepp, 2017). Das Ziel ist: Mit
besserer Vereinbarkeit von „Erwerbstätigkeit und Pflege auf
Distanz“ soll die Beschäftigungsfähigkeit und Produktivität
der pflegenden und betreuenden Angehörigen möglichst
nachhaltig gestärkt werden. Es handelt sich hier also um ei-
nen Spezialfall des seit einigen Jahren immer stärker gesell-
schaftlich wahrgenommenen allgemeinen Themas der Ver-
einbarkeit von Erwerbstätigkeit mit Familien- und Sorgeauf-
gaben im Lebenslauf, insbesondere im „later life caring“.
Einige Herausforderungen sind im Distanzsetting nicht an-
ders als bei räumlich nahegelegenen Unterstützungsverhält-
nissen. Eine Reihe differenzierter Fragen stellen sich aber
dennoch: „Later life caring presents particular life course challenges in managing fami-
liy and employment work roles. For example, whereas the main carers of young chil-
dren usually are parents who live with them, carers of an older person may be adult
children who have responsibilities to family members in their own households as well
as to elderly family members living at a distance. For the latter group, their caring chal-
lenges may include travel time and running two households in addition to the other de-
mands of care“ (Keating, Dosman, Swindle & Fast, 2008, p. 166).
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Eine Vorbemerkung: Im vorliegenden Aufsatz wird zwar vorrangig auf das Setting des
Gesundheitsstandorts Privathaushalt abgehoben. Aber auch bei An- und Zugehörigen, die
in Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung leben, stellt sich sehr häufig das
Thema der Unterstützung und Pflege auf Distanz.
3 Unterstützungsmöglichkeiten auf Distanz
Die meist unter dem Begriff „Pflege“ verstandenen Handreichungen oder körpernahen
Verrichtungen können „Distance Caregivers“ nicht im sonst üblichen Umfang leisten.
Aber gerade im Kontext eines erweiterten Begriffs von Begleitung, Betreuung und Pflege
geht es ja um ein viel größeres Bündel an Aktivitäten. Sie werden im vorliegenden Artikel
zum größten Teil im theoretischen Bezugsrahmen von Social Support / sozialer Unterstüt-
zung in sozialen Netzwerken verortet (vgl. Otto, 2011). Damit gelingt es, sowohl die Ebe-
ne der Aktivitäten in den Blick zu nehmen, als auch die Ebenen der Leistungen, Wirkungen
und Funktionen.
Hier ist eine zweite Vorbemerkung nötig: Distance Caregivers sind zu einem großen Teil
zeitweise auch vor Ort Unterstützende – teils unregelmäßig, teils in regelrechten Pen-
delverhältnissen. Gemäß der vorliegenden Literatur übernehmen auf Distanz Unter-
stützende also häufig auch klassische Pflegeaufgaben,14 nur eben nicht so regelmäßig und
ggf. nicht so umfangreich wie die vor Ort Lebenden (wobei auch „vor-Ort“ in größeren
Städten durchaus Distanzdimensionen umfasst). Die folgenden Bemerkungen beziehen
sich insofern bei ihnen auf den Teil der Unterstützungsleistungen, die sie im Modus Dis-
tance Caregiving beitragen (vgl. Tabelle 1).
• Von den sehr vielfältigen Unterstützungsformen können viele sowohl vor Ort als auch
auf Distanz geleistet werden, (vgl. Bledsoe, Moore & Collins, 2010; Kodwo-Nyamea-
zea & Nguyen, 2008; Bevan & Sparks, 2011; Bischofberger, Franke, Otto & Schnepp,
2017).
• Es sind nicht nur die „weichen“ Formen des Kommunizierens und der persönlichen
Zuwendung sondern auch ganz „handfeste“ Formen der Unterstützung – im theoreti-
schen Kontext der Unterstützungstheorie also Formen der informatorischen und tangib-
len Unterstützungen.
• In dem Maße, in dem aufgrund der Entfernung eine Unterstützung weniger in Form
personeller Aufgaben vor Ort nötig ist, gewinnen vor allem auch koordinative, organi-
satorische und administrative Aufgaben an Gewicht (Bledsoe u.a. 2010; Kodwo-Nya-
meazea & Nguyen 2008). Dabei geht es bspw. um Absprachen für Sach- und Finanz-
mittel, aber auch um das Anstellen und Begleiten zusätzlicher Mitarbeitender im Pri-
vathaushalt.
• Viele der auf Distanz möglichen Unterstützungsformen sind abhängig von den techni-
schen Möglichkeiten der involvierten Akteure.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
14!! Hierzu!liegen!bspw.!amerikanische!Befunde!vor:!Die!US-Studie!des!MetLife-Instituts!(MetLife!&!NAC!2004)!zeigt,!bei!einer!
Erwerbsquote!von!80%!unter!den!Pflegenden,!dass!72%!der!„Distance!Caregivers“!die!pflegebedürftige!Person!bei!instrumen-
tellen!Hilfen!unterstützen!und!sogar!40%!auch!„hands-on!care“!Hilfen!leisten.!
Technik für Distance Caregiving – Otto et al.
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•Natürlich: im Distance Caregiving sind diejenigen Aktivitäten ausgeschlossen, die in
der Tat das Merkmal der face-to-face-Anwesenheit bzw. der hands-on-Aktivität bedeu-
ten.
Vor diesem Hintergrund zählen zu den auf Distanz möglichen Dimensionen die folgenden.
Sie werden von uns in die beiden hauptsächlichen Bündel der Zuwendung und persönli-
chen (Be-) Stärkung einerseits, des Managements und der tangiblen Hilfen andererseits ge-
clustert:
§Emotionale Unterstützung
§Entscheidungssupport
§Selbstmanagement- und Motivationshilfe
§Informationsaufbereitung
§Finanzielle Unterstützung
§Patientenzentrierung stützen
§Fallmanagement
§Koordination, Organisation, Administration
§Kontrolle und Sicherheit
§Beiträge zur Qualitätssicherung des Gesamtsettings
Abbildung 1. Auf Distanz mögliche Unterstützungsformen und -funtionen
4 Hilfsmittel, um trotz Distanz zu unterstützen
Wo physische Anwesenheit fehlt und auch ein schnelles Aufsuchen nicht möglich ist, er-
lauben heute viele Hilfsmittel aus Ambient Assisted Living (AAL) und IT dennoch wir-
kungsvolles Unterstützen aus der Distanz (vgl. BMG, 2013; Otto, Tarnutzer & Bretten-
hofer, 2015). Mit der folgenden Einordnung der mittlerweile großen Zahl entwickelter
Technologien und Anwendungen wird auf die beiden weiter oben und in Abb. 1 unter-
schiedenen Funktionen Bezug genommen.
Einsatzbereiche
Technik-Beispiele
Kognitive Unterstützung
Elektronische Erinnerungshilfen (z.B. Medikamente),
Terminplanung auf eCareDiary
Kommunikationshilfen
Telefon, Videoübertragung, E-Mail, SMS, Tagebuch auf
iGoogle, telemedizinische Beratung statt Fahrt zum Arzt
Überwachung Vitalwerte und
Aktivitäten, Notfallerkennung
Telemonitoring, tragbare Sensoren, Bewegungsmelder,
Ortungsgerät, Alarmtrittmatte, Sturzerkennung
Informationsübermittlung,
Koordination
Elektronische Patientenakte, Kollaborationstools zur
Vernetzung der Versorger
Abbildung 2. Technische Hilfsmittel für Distance Caregiving
Schon in dieser Darstellung weniger ausgewählter Hilfsmittel und Anwendungen wird
deutlich, dass heute durch die Vielzahl vorhandener Technologien gerade den Herausfor-
derungen des Nicht-Vor-Ort-Seins potenziell viel besser begegnet werden kann – mit Blick
auf alle Bereiche der linken Spalte. Allerdings gilt auch hier – wie im gesamten AAL-
Thema – dass die Anwendungen für viele potenzielle primäre und sekundäre End-User-
Innen kaum überschaubar sind, dass sie nicht optimal „zu ihnen kommen“, und dass sie im
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Fall der Nutzung nicht optimal unterstützt werden. Damit können die technischen Möglich-
keiten ihr Potenzial nicht annähernd im eigentlich heute möglichen Umfang entfalten. Dass
es für Unterstützende, die nicht vor Ort bei den Pflegebedürftigen leben, nochmals schwie-
riger ist, hier sinnvolle Beratung zu bekommen und Partner für Lieferung, Einbau, Anlei-
tung, Wartung zu finden, macht die Herausforderungen noch größer. Ausgerechnet für
Distance Caregivers, die in so besonders hohem Maße Nutznießer und Anwender vieler
der Technologien sein könnten.
Es wird außerdem deutlich, dass damit vermutlich keineswegs nur das Kriterium erledigter
Aufgaben tangiert wird, sondern dass auch wichtige Dimensionen der Lebensqualität damit
in Zusammenhang stehen, so wie dies im Rahmen der Forschungen zu AAL- Anwendun-
gen immer wieder thematisiert wird (vgl. Siegel, Hochgatterer & Dorner, 2014).
5 Spezifische Herausforderungen der Pflege auf Distanz
Schon die Betreuung und Pflege vor Ort ist vielfach sehr herausfordernd und komplex. Die
entfernt lebenden Angehörigen jedoch sehen sich zusätzlichen Barrieren gegenüber (vgl.
Bevan & Sparks, 2011; Bischofberger, 2011) – während möglicherweise in einigen Di-
mensionen auch geringere Herausforderungen bestehen. Gerade die Gestaltung der Bezie-
hung zur pflegebedürftigen Person sowie der Umgang mit Kooperationspartnern, sozialen
und pflegerischen Diensten und Einschätzungsfragen des Vor-Ort-Situation sind vor allem
durch die fehlende face-to-face-Kommunikation sowie das Nicht-nah-dran-und-nicht-da-
Sein zusätzlich herausgefordert. Die Sachthemen rund um die auf Distanz nochmals zu-
sätzlich herausgeforderte Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege kommen hinzu:
§ Wie eine gute Beziehung gewinnen und/oder aufrechterhalten?
§ Etwaige Konflikte bewältigen
§ Welche Arten der Kommunikation sind möglich/sinnvoll
§ Wie möglichst hohe Selbstbestimmung flankieren
§ Erwerbsarbeit und Distanz-Pflege vereinbaren
§ Den Unterstützungs- und Pflegebedarf auf Distanz einschätzen
§ Informationen zu Therapien/Behandlungen/Hilfen beschaffen
(auch: entspr. Informationen zu assistiven Techniken beschaffen)
§ Die Distanz bzgl. Reisen, Zeitaufwand, Kosten bewältigen
§ Ein verbindliches «koproduktives» Arbeitsbündnis
mit den involvierten Profis finden
§ Für sich selbst Entlastung und für die Pflege Unterstützung
finden und beanspruchen
§ Eigene Unterstützungsintensität nachhaltig steuern und absichern
Abbildung 3. Herausforderungen für Unterstützung aus Distanz
Auch wenn die Forschungsliteratur zum Thema Distance Caregiving noch sehr lückenhaft
ist, ist von folgendem Zusammenhang auszugehen: Werden die o.g. Herausforderungen
nicht gut gemeistert, führt das zu negativen Folgen – sowohl auf Seiten der potenziell Un-
terstützungsleistenden sowie deren Arbeitgebern, der Pflegebedürftigen sowie ggf. auch
auf Seiten der weiteren Unterstützungspersonen rund um die pflegebedürftige Person.
Technik für Distance Caregiving – Otto et al.
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• Konkret können dies insbesondere mehr Stress, Erschöpfung oder emotionale Belastun-
gen bei den Betroffenen bedeuten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich teilweise
um jahrelang aufrechterhaltende Unterstützungssettings handelt (Wagner, 1997, p. 16f.).
Im Kontext der Erwerbstätigkeit kann es Krankheits- und Abwesenheitstage sowie eine
verringerte Produktivität im Job bedeuten (vgl. Chou & Yeung, 2001), was sich sowohl
für die Arbeitgeber wie auch für die Erwerbstätigen ungüns-
tig auswirkt.
• Außerdem kommt es sehr wahrscheinlich zu einer subopti-
malen Mobilisierung des Distanz-Unterstützungspotenzials.
• Schließlich werden dann mit großer Sicherheit auch die po-
sitiven Seiten des auf Distanz Unterstützens zu wenig zum
Tragen kommen. Denn gemäß einigen der insgesamt nur
wenigen existierenden Studien ist distance caregiving ja
„both painful and rewarding“ (Harrigan & Koerin, 2007, p.
13).
6 Schlussbemerkungen: im Distance Caregiving zeigen sich wichtige
Modernisierungsherausforderungen der Angehörigenpflege
Hergebrachte Formen der Angehörigenpflege befinden sich bereits seit einiger Zeit in ei-
nem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Gerade die Phänomene des „Distance Caregiving“
scheinen wie in einem Brennglas den Blick für moderne Unterstützungsformen im familia-
len Umfeld zu schärfen – sowohl hinsichtlich schon im Gang befindlicher Veränderungs-
prozesse wie auch hinsichtlich nötiger Umorientierungen. Und damit zusammenhängender
struktureller, technologischer und interventionsbezogener Herausforderungen.
• Sie machen klar, dass Angehörige viel mehr leisten als Handreichungen bei Funktions-
einschränkungen.
• Sie machen klar, wie vielgestaltig die „Vereinbarkeitsfrage“ von Familien- und Sorge-
arbeit mit Erwerbsarbeit ist. Und wie differenziert sie analysiert werden muss, um zu
entsprechend differenzierten Maßnahmen zu kommen. Dies betrifft Mitarbeitende und
Arbeitgeber gleichermaßen.
• „Distance Caregiving“ führt nicht zufällig zu einem Bezug auf aktuelle „Zielgruppen“:
Von Männern in Pflegearrangements (vgl. Hammer, 2012), über die „Babyboomer“
(vgl. Steffen, Klein, Abele & Otto, 2015), Menschen mit erwerbsmobilen Lebensver-
läufen sowie die immer größer werdende Gruppe von Menschen mit verstärkten An-
sprüche auf gemischte Pflegesettings (vgl. BMFSFJ, 2017, S. 31).
• Distance Caregivers könnten zu Trendsettern werden beim Einsatz assistiver Techno-
logien. Aber dazu brauchen sie kompetente Ansprechpartner bei den Professionellen
und innerhalb ihrer sozialen Netze. Sie brauchen auch Partner für die komplexe Im-
plementation, den menschlichen „Einbau“ in die Vor-Ort-Situation – wenn Angehörige
dies aufgrund der Distanz nicht oder nicht ausreichend unterstützen können.
• In besonderem Maße wird auch das Thema der koproduktiven Zusammenarbeit mit
Vor-Ort-Unterstützenden berührt – seien dies andere An- und Zugehörige, freiwillige
Helferinnen und Helfer oder berufliche Fachkräfte. Wenn die konsequente Idee eines
Teams der Unterstützenden – interprofessionell und informell-beruflich-kombiniert –
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schon heute noch kaum selbstverständlich ist, so ist die selbstverständliche Einbezie-
hung von Distance Caregivers in dieses Team noch ein weiter Weg.
• Besonders berührt dies die Zusammenarbeit mit beruflichen Gesundheitsfachpersonen.
Ist es schon für im Pflegehaushalt präsente Angehörige noch immer teilweise gar nicht
einfach, als selbstverständlich Involvierte wahrgenommen zu werden, so potenziert
sich diese Schwierigkeit bei Unterstützung aus räumlicher Distanz. Hier scheinen die
Distance Caregivers in besonderem Maße auf eine entsprechend responsive Haltung
der Fachkräfte (sowie der anderen Vor-Ort-Involvierten) angewiesen zu sein. Und auf
die Mobilisierung und Akzeptanz sämtlicher technischer Ressourcen durch alle Betei-
ligten.
• Und ein Sonderthema sind sicher auch hier „Double Duty Caregivers“ (Bischofberger,
Jähnke & Radvanzsky, 2012; vgl. auch Ward-Griffin, 2008)15, d.h. Gesundheitsfach-
personen, die sich neben dem Beruf auch für ihre Angehörigen engagieren
• Und schließlich ein regelrechtes Zentralthema: Durch Distance Caregiving kommt der
erhebliche Entwicklungsbedarf beim Thema Fallführung, Koordination und Case Ma-
nagement zum Vorschein. Dies ist umso wichtiger, je komplexer die Pflegesituation ist.
Aus der Ferne können Defizite in diesem zentralen Bereich umso weniger ausgeglichen
werden.
Die sorgfältige Thematisierung eines Phänomens wie Distance Caregiving kann so exemp-
larisch dafür stehen, wie der Blick auf betreuende und pflegende An- und Zughörige genau
auf die so vielfältigen Wirklichkeiten und Bedürfnisse gerichtet wird. Und wie er dazu
beiträgt, diesen Bedürfnissen und Bereitschaften möglichst geeignete und einladende
Rahmenbedingungen zu bieten – auf dem Weg zu nachhaltigen Sorgemeinschaften.
Das! folgend! dargestellte!binationale,! interdisziplinäre! F+E-Projekt! „DiCa! –! Distance!
Caregiving“! (Deutschland! –! Schweiz;! 2016-2019)soll! einen! Beitrag! dazu! leisten: Die
gesellschaftliche Relevanz von Pflege und Hilfe auf Distanz steigt. Dennoch wird das
Thema wissenschaftlich, sozialpolitisch und betrieblich noch sehr schwach thematisiert.
Dies ist international ebenso wie in Deutschland und der Schweiz. Es mangelt sowohl an
gesichertem Forschungswissen (vgl. Cagle & Munn, 2012) als auch an systematisch kon-
zipierten Förderstrategien oder auch Einzelinterventionen. An beiden Desideraten setzt das
DiCa-F+E-Projekt an.
F+E-Ziele
• Exploration der Herausforderungen und Strategien von „Distance Caregiv-
ers“ aus der Perspektive der (berufstätigen) Angehörigen, der Arbeitgeber,
der Gesundheitseinrichtungen und weiterer sozialpolitischer Akteure
• Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von innovativen und in-
tersektoralen Lösungsansätzen zusammen mit Praxispartnern
Design
Multimethodisches Konzept mit Fokus auf Partizipation, Übertragbarkeit und
Nachhaltigkeit. Quantitative Sekundäranalysen, Experteninterviews, prob-
lemzentrierte Einzelinterviews; enge Verschränkung von Forschung und
Entwicklung sowie Transfer
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
15 Vgl. auch den Blogbeitrag im Careum-Blog: http://www.careum.ch/workandcare/double-duty-caregiving
Technik für Distance Caregiving – Otto et al.
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Praxispartner
Daimler AG, Wüstenrot und Württembergische AG, SAP Walldorf, Evange-
lische Diakonissenanstalt Stuttgart, BruderhausDiakonie Reutlingen, Statis-
tisches Landesamt Baden-Württemberg
Forschung-
spartner
Evangelische Hochschule Ludwigsburg, FB Soziale Arbeit (D):
Prof. Dr. Annette Franke, Dr. Birgit Kramer, Helena Kunz
Careum Forschung, Forschungsinstitut der Kalaidos FH Gesundheit Zürich
(CH): Prof. Dr. Ulrich Otto, Karin van Holten, Prof. Dr. Iren Bischofberger
Laufzeit
36 Monate, 2016-2019
Förderlinie
„Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ (SILQUA-FH; BMBF (D)
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