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DAS ONLINE-SUPPLEMENT DES FORSCHUNGSJOURNALS
FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 30. JG. 2 ǀ 2017
Empathie und Emotion
Der E-Faktor in der digitalen Kultur
Karim Fathi/ Anja Osswald
Einleitung
Empathie und Emotion: diese beiden E’s
haben die gesellschaftlichen und politi-
schen Debatten im zurückliegenden Jahr
2016 entscheidend geprägt. Ob Flücht-
lingsthematik oder Brexit, die AfD oder der
Wahlkampf von Trump sowie, ganz am
Ende dieses krisengeschüttelten und kata-
strophenverhangenen Jahres, der Terror-
anschlag auf den Berliner Weihnachts-
markt: Überall wurde eine intellektuell-
rationale Diskussion der jeweiligen Ereig-
nisse überlagert von emotionalisierten
Wertedebatten, in denen „gefühlte“
Standpunkte eine entscheidende Rolle
spielten. Wahrhaftigkeit trat an gegen
Wahrheit.
Tatsächlich liegt der Schluss nahe, diese
Emotionalisierung des Politischen als Ant-
wort auf eine immer komplexer werdende
Welt zu deuten. Die zunehmende Unüber-
sichtlichkeit, Unüberschaubarkeit und vor
allem eine Gleichgültigkeit der Fakten
scheint eine Ohnmacht zu erzeugen, bei
der das Bauchgefühl als einzig verlässliche
Instanz des Erlebens bleibt.
Der folgende Artikel geht den Spuren der
beiden E’s nach und fragt nach den Grün-
den, warum diese „weichen Faktoren“ in
einem zunehmend technisierten Zeitalter
scheinbar an Relevanz gewinnen. Eine
solche Gegenüberstellung birgt auf den
ersten Blick die Gefahr eines Vergleichs
von Äpfeln mit Birnen. Empathie und Emo-
tion sind menschliche Eigenschaften; die
Digitalisierung hingegen bezeichnet einen
technologischen Trend mit weitreichen-
den Implikationen für das menschliche
Zusammenleben. Trotzdem - oder gerade
deshalb - wollen wir der Frage nachgehen,
welche Verbindungen zwischen den bei-
den E’s und dem dominanten technologi-
schen Veränderungstreiber unserer Zeit,
der Digitalisierung, bestehen. Welche Rol-
le spielen die sozialen Medien als Diskurs-
verstärker und emotionaler Echoraum? Ist
Empathie so etwas wie der Human Factor
der Digitalisierung?
1| Was bedeuten die beiden E’s und wa-
rum sind sie wichtig?
Empathie bedeutet Einfühlung (von
griech. „En“ = hinein, drin und „path“ =
fühlen, leiden.) Sie gehört zu den Grund-
kompetenzen des Menschen als soziales
Wesen. Die Einfühlung bildet eine Brücke
zwischen dem Ich und dem Anderen und
markiert den Wunsch nach Verbindung,
nach Gehört-Werden, nach Resonanz.
Empathie bedeutet so gesehen ein In-
Beziehung-Setzen, zu uns und zu anderen,
das die Selbst-Wahrnehmung permanent
prägt und transformiert. In diesem Sinne
beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa in
seinem Werk „Resonanz. Eine Soziologie
der Weltbeziehungen“, wie Menschen in
ihrer ganzen Existenz darauf angewiesen
sind, erkannt und gewollt zu werden (Rosa
2016). Ohne diesen Beziehungsmodus, ein
permanentes Schwingen zwischen Ich und
Welt, können wir nicht leben. Das macht
die existenzielle Verletzlichkeit des Men-
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schen aus, aber auch seine außergewöhn-
lichen sozialen Fähigkeiten.
Gerade weil Menschen Beziehungswesen
sind, die sich in der Erfahrung des Anderen
immer auch selbst erleben, kann Empathie
auch manipulativ eingesetzt werden. Da-
rauf weist der Psychologe Arthur
Ciaramicoli hin, der zwischen „authenti-
scher“ und „funktionaler Empathie“ unter-
scheidet (Ciaramicoli/ Ketcham 2001).
Während erstere meint, dass wir Men-
schen intuitiv mit allem Leben verbunden
sind, beinhaltet letztere, dass die Fähigkeit
des sich „In-Beziehung-Setzens“ auch zum
Aufbau eines Machtverhältnisses instru-
mentalisiert werden kann. Dieser Aspekt
wurde zuletzt von Fritz Breithaupt in sei-
nem aktuell diskutierten Buch „Die dunk-
len Seiten der Empathie“ herausgearbeitet
(Breithaupt 2017).
Rechtspopulistische Vertreterinnen und
Vertreter haben diese manipulative Taktik
perfektioniert. In der Identifizierung mit
den vermeintlich Schwachen, den Entrech-
teten, den Abgehängten und Opfern der
Globalisierung etablieren Petry, Pretzell &
Co. ein Abhängigkeitsverhältnis, von dem
beide Seiten profitieren. Die Schwachen
werden gehört, sie erfahren eine - ver-
meintliche - Anerkennung und damit die
Resonanz, die ihnen im aktuell herrschen-
den politischen Diskurs verwehrt bleibt.
Im Gegenzug sind diejenigen, die diese
Anerkennung auszusprechen in der Lage
sind, im Besitz der Macht. Auf Grundlage
eines dialektischen Verhältnisses von Herr
und Knecht repräsentieren sie in einer Art
Stellvertreterfunktion eben jene Stärke,
die den Schwachen verwehrt bleibt. Und
genau in dieser Besetzung eines Vakuums
liegt das Erfolgsgeheimnis der AfD, Marine
Le Pen, Donald Trump & Co. Ihre populisti-
sche Propaganda verleiht denjenigen eine
Stimme, die scheinbar keine Stimme ha-
ben. Und diese Stimme ist mächtig, gerade
weil sie die Menschen bei dem packt, was
sie in ihrem Innersten bewegt: ihrer Emo-
tionalität.
Die Empathieforschung kennt dafür den
Begriff der emotionalen Ansteckung. Da
der Mensch ein Beziehungswesen ist, ist
er empfänglich für emotionale Reize. Die-
se gehen direkt ins Stammhirn, in den äl-
testen Teil unseres Gehirns, dorthin, wo
die Instinkte lokalisiert sind, die seit Jahr-
tausenden von Jahren unser Überleben
gesichert haben. Emotionen leiten sich
vom lateinischen Begriff „emovere“ her,
welches sich mit „bewegen“ übersetzt
(wie auch das englische Wort „move“).
Spätestens seit der Popularisierung der
Begriffe „Emotionale Intelligenz“ (1990er
Jahre) und „schnelles Denken vs. langsa-
mes Denken“(seit den 2000er Jahren, vgl.
Kahneman 2012) ist deutlich, wie sehr uns
Emotionen in der Entscheidungsfindung
beeinflussen. Emotionen bzw. das „schnel-
le Denken“ läuft weitgehend unbewusst
ab, es ist ständig aktiv und ist deutlich
schneller als unser bewusstes „langsames
Denken“ (Kahneman 2012). Das leuchtet
ein: Wenn Sie spontan und im Affekt han-
deln, ist Ihre Reaktion schneller als wenn
Sie Ihre Handlung wohl überlegt haben.
Dem Nürnberger Emotionsforscher Ri-
chard Graf zufolge stammen alle Hand-
lungsimpulse, die wir in einer gegebenen
Situation innerhalb von 300 Millisekunden
spüren, aus unserem Emotionssystem. In
allen Impulsen, die wir danach spüren, ist
bereits das bewusste Denken eingeschal-
tet, wenn auch nach wie vor und konstant
in einem emotionalen Tonus eingebettet
(Graf 2014). Vielleicht ist Ihnen schon auf-
gefallen, dass Sie in unterschiedlichen
emotionalen Zuständen (z.B. bei Ärger,
Trauer oder Freude) zu völlig unterschied-
lichen Handlungen und Entscheidungen
kommen, aber diese im jeweiligen Zustand
stets logisch erscheinen. Teil dieses emo-
tionalen Entscheidungssystems ist auch
die Intuition als „erkenntnisfähig fühlende
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Emotion”, die sich bei den meisten Men-
schen meist in Form eines Bauchgefühls
zeigt. Kein Wunder, besitzen wir im Be-
reich unseres Darms doch mehr Neuronen
als in unserem Rückenmark oder Gehirn.
Allerdings zeigen die Forschungen von
Daniel Kahneman auch auf, dass wir mit
unserem Gefühl ebenso völlig falsch liegen
und unser rationales Denken dadurch ver-
zerren können. In seinem Bestseller „Emo-
tionale Intelligenz“ schreibt Daniel Gole-
man gar von der Macht der Emotionen
über das Denken und über die Gefahr
„emotionaler Kurzschlussreaktionen“ (Go-
leman 2001).
Darin liegt die Macht der Emotionen, denn
sie wirken unmittelbar, mit ihnen kann
weit mehr manipuliert werden als mit abs-
trakten Wahlversprechen oder intellektu-
eller Zahlenakrobatik. Gefühlte Wahrhei-
ten scheren sich einen Dreck um die Fak-
ten. Und das gilt umso mehr für eine post-
faktische Gesellschaft – wir erinnern uns:
die Gesellschaft für deutsche Sprache hat
„postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016
gekürt –, deren Währung nicht objektiv
messbare Wirklichkeiten, sondern gefühl-
te Wahrheiten sind. Dieser Logik folgend
bescheinigt der in Berlin lehrende Philo-
soph ByungChul Han Emotionen eine Pro-
duktivkraft: „Man muss sich im Klaren sein
über den gesellschaftlichen Hintergrund
der eigenen Forschung, weil jedes Wissen
eingespannt ist in die Herrschaftsstruktur
eines Systems. Warum wird die Emotions-
forschung heute so intensiv betrieben?
Vielleicht weil Emotionen heute eine Pro-
duktivkraft darstellen. Emotionen werden
als Steuerungsmittel eingesetzt. Wenn
man Einfluss nimmt auf Emotionen, wird
das menschliche Verhalten auf einer un-
bewussten Ebene gesteuert und manipu-
liert“ (Han 2014a).
Auf geradezu unheimliche Weise konse-
quent versteht es Donald Trump, Emotio-
nen als Steuerungsmittel für seine Zwecke
einzusetzen. Mit Beleidigungen und Wut-
ausbrüchen gegenüber der politischen
Kaste einerseits und Solidarbekundungen
für die Schwächeren andererseits erreich-
te er in seinem Wahlkampf, was niemand
für möglich gehalten hatte.
Trump hat verstanden, dass man Men-
schen, die von einer komplizierten Welt
verunsichert sind, da abholen muss, wo
individuelle Sicherheit entsteht: im
Selbstwertgefühl. „I am your voice“ tönte
Trump während seines Wahlkampfs pau-
senlos, und das war durchaus wörtlich
gemeint. Er verlieh denen eine Stimme,
die sonst zu wenig gehört werden, und
gab denen eine Heimat, für die eine offe-
ne Gesellschaft kein heimatlicher Ort ist.
Trumps Identifikation mit den Armen, Ab-
gehängten und Entrechteten erzeugte
dabei ein stabilisierendes Wir-Gefühl, das
letztlich gegen die intellektuelle Sprödig-
keit von Hillary Clinton stach. Trump selbst
sprach nach seinem Wahlsieg vom
„Enthusiasmusfaktor“, der ihm den ent-
scheidenden Vorsprung von Clinton ver-
schafft habe. Dabei spielte es keine Rolle,
dass Trump als einer der Superreichen
eigentlich denkbar weit von den Armen,
Abgehängten und Entrechteten entfernt
ist; im Gegenteil, seine Macht wurde ihr
Enthusiasmus. Das ist emotionale Anste-
ckung par excellence.
Emotionale Ansteckung und Steuerung
funktioniert nicht nur über Enthusiasmus,
sondern auch über die Ausnutzung eines
„empathischen Reflexes“. Dieser empathi-
sche Reflex bezeichnet eine impulsive,
unreflektierte Form von Empathie. So
weist der Psychologe Paul Bloom darauf
hin, dass eine sich solcherart ausprägende
Empathie dazu verführen könne, auf un-
besonnene Weise zu reagieren. Dabei wies
er in seiner aktuellen Studie nach, dass
Empathie rachsüchtiger machen kann. Sie
könne zu Rachegefühlen führen, die aus
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Empathie für die Opfer entstehen, und zu
Vergeltungsschlägen verleiten, die nie-
mandem helfen. Bloom beschreibt das
Paradoxon einer „selektiven Empathie“ –
ich identifiziere mich mit dem Opfer und
distanziere mich von den Ursachen, die
die Tat des vermeintlichen „Täters“ erklä-
ren und verliere damit den Blick auf das
große Ganze. Im politischen Zusammen-
hang bedeutet dies: Gerade wenn Populis-
ten Missstände anprangern, womöglich
sogar drastische Maßnahmen propagieren
würden, würden sie häufig an die Empa-
thie der Mitmenschen appellieren (Bloom
2016). Es wird ein emotionaler Reflex an-
gestoßen, der Empathie mit einer be-
stimmten Menschengruppe anregt und
Antipathie gegenüber einer anderen.
2| Was hat die Digitalisierung damit zu
tun?
Digitalisierung ist alles und sie ist überall.
Sie verändert die Art und Weise, wie wir
leben und wie wir arbeiten. Sie nimmt
Einfluss darauf, auf welche Weise wir kon-
sumieren und produzieren, wie wir reisen
und die Welt erleben. Digitalisierung prägt
unsere zwischenmenschlichen Beziehun-
gen, sie verändert unseren Umgang mit
Bildung und Wissen - und sie verändert
unser Kommunikationsverhalten.
Als führendes Informations- und Kommu-
nikationsmedium ist das WWW auch der
Ort, an dem der E-Faktor seine stärkste
Wirkung entfaltet. Schließlich wird in den
sozialen Medien geliked, geschimpft und
verbal gewütet, was das Zeug hält. Doch
warum ist das so?
Dazu lohnt ein Blick auf die strukturelle
Logik des Internet, das bereits im Namen
auf Vernetzung und Interdependenz zwi-
schen unterschiedlichen Sphären hinweist.
Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft,
wie ihn der Soziologe Manuel Castells in
seinem gleichnamigen Buch beschrieben
hat (Castells 2001), ist ein Aufstieg der
elektronischen Technologien, bei dem
Information zum Rohstoff vernetzter Han-
delsprozesse wird und Mehrwert über den
Austausch von Daten, Kenntnissen und
professionellem Know-how entsteht. In
einer digitalen Kultur hängt alles mit allem
zusammen. Staaten, Wirtschaftsunter-
nehmen, Menschen und Maschinen wer-
den Teil einer Superstruktur, bei der alles
sich in permanenter Bewegung und Wech-
selwirkung befindet. Nicht das einzelne
Element oder der Knoten im Netzwerk ist
bedeutsam, sondern die jeweilige Art und
Weise der Beziehungen der Elemente un-
tereinander.
Soweit die Logik des „informationellen
Kapitalismus“. Doch je globaler das Netz
wird, je transnationaler die Feedbacks und
je komplexer die Wechselwirkungen, des-
to mehr nimmt die „informierte Verwirrt-
heit“ zu. Diese Verwirrtheit kennen wir
alle mehr oder weniger: Syrienkonflikt,
Ukraine-Krise, Chinapolitik, TTIP, die USA
und die (neuen) Beziehungen zu Russland:
all das hängt irgendwie miteinander zu-
sammen, aber entwirren kann das kaum
einer mehr (zumindest nicht ohne grobe
Vereinfachungen oder Verkürzungen der
Situation zu riskieren). Und so treibt die
Vernetzung der Welt im WWW parado-
xerweise neue Grenzziehungen hervor, die
die Komplexität eindämmen und dazu
beitragen, dass der Einzelne wieder in di-
rekten Kontakt und Austausch mit dem
treten kann, was ihn als soziales Wesen
ausmacht und antreibt.
Abgrenzung und Ausschlussmechanismen
wie Rassismus und Nationalismus sind die
negativen Effekte einer Sehnsucht nach
Resonanz (im Sinne von Hartmut Rosa).
Insofern ist Fremdenhass auch der Ver-
such, die eigene Situation durch Abgren-
zung zumindest einigermaßen überschau-
bar zu halten und die eigene Identität
durch die Adressierung des Anderen als
„Fremden“ zu stabilisieren. Kriterien der
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Unterscheidung funktionieren als Leit-
planken und sorgen für Orientierung. Die
„Macht der Identität“ wird gegen die
„Macht der Apparate“ mobilisiert.
3| Emotionale Ansteckung in den sozialen
Medien
„Soziale Medien sind Gefühlsmedien“
schreibt Sascha Lobo in seiner Kolumne
auf Spiegel online im Dezember 2016.1
Und er benennt damit zugleich die emoti-
onalen Bindungskräfte der digitalen Platt-
formen von facebook, twitter, snapchat,
Instagram & Co. Als Medien des sozialen
Austauschs und der Kommunikation kulti-
vieren die sozialen Medien Formen der
Partizipation und Gemeinschaft, die im
Gegensatz zu den etablieren Beteiligungs-
ritualen der politischen Kultur als authen-
tisch und echt erlebt werden. Im Netz ist
alles auf ein WIR angelegt. Das Mantra der
Sharing Ökonomie lautet Teilen, was ent-
gegen dem kapitalistischen Besitzdenken
ein Teil-Haben suggeriert und an den Ge-
meinsinn appelliert. Mitmachen und Tei-
len funktionieren im Netz direkt und un-
mittelbar. Konnektivität und Interdepen-
denz sind dabei die entscheidenden Fakto-
ren.
In der Betonung eines kollektiven „Wir“
lebt ein Rest der alten 68er Utopie eines
freien, demokratischen Netzes weiter, das
jeder gestalten und bei dem jeder mitma-
chen konnte (Osswald 2014). Diese Utopie
führt in der heutigen hochtechnisierten
und digitalen Gesellschaft ein Nischenda-
sein in den sozialen Medien, das von
facebook, Amazon und den anderen gro-
ßen „Sirenenservern“ (Jaron Lanier 2014)
gerne aufrechterhalten wird, da die dort
1 „Weil soziale Medien Gefühlsmedien sind, sind
nicht etwa ausgewogene Nachrichten im Vorteil,
sondern Sensationen, Begeisterung und Empörung.
Und weil in der Aufmerksamkeitsökonomie des
Internets jeder Klick monetarisierbar ist, entstehen
in marktlogischer Folge Inhalte, die keinem ande-
ren Kriterium folgen als dem Verbreitungswillen.“
(Lobo 2016)
bereitgestellten Interaktions- und Partizi-
pationsangebote detaillierten Aufschluss
über individuelle Nutzerverhalten und
Konsumvorlieben geben.
Letztlich verbirgt sich hinter dem An-
spruch, den Menschen zu einem soziale-
ren Wir-Wesen zu machen, eine äußerst
effektive Ausweitung der Ökonomisierung
des Sozialen. „Der Kapitalismus vollendet
sich in dem Moment, in dem er den Kom-
munismus als Ware verkauft“ schreibt der
an der Berliner UdK lehrende Philosoph
Bjung-Chul Han und darin steckt viel
Wahrheit (Han 2014b). Denn die Sharing
Economy stellt eine radikale Kapitalisie-
rung aller Lebensbereiche dar. Aus dieser
Perspektive bedeutet die Wir-Kultur im
Netz immer auch eine Art Empathie-
Ersatz. Denn in den sozialen Medien wird
etwas gerettet, das im realen Leben im-
mer weniger Raum hat. Nachbarschaftshil-
fe, Nächstenliebe, das sich Kümmern um
den Anderen - all das wird ausgelagert in
den virtuellen Raum. Wenn ich abends
mein Notebook zuklappe, bleiben der
kranke Nachbar und das Flüchtlingsprob-
lem draußen. Netzwerkgesellschaft kann
so auch bedeuten: kein Netz für reale so-
ziale Begegnungen und Empathie.
4| Resonanzkatastrophen
In den sozialen Medien scheint jeder mit
jedem verbunden. Jedem ausgesendeten
Signal folgt fast unmittelbar eine Antwort -
fast wie im wirklichen Leben. Oder sogar
noch besser, denn anders als im wirklichen
Leben findet hier auch noch der letzte
Troll irgendjemand, der ihm zuhört und
antwortet. Im Zweifelsfall sogar eine gan-
ze Anhängerschar. Dafür verantwortlich ist
der Exponentialfaktor, vielleicht das wich-
tigste Kriterium im Netz, aufgrund dessen
die Reichweite von Nachrichten innerhalb
kürzester Zeit sprunghaft zunehmen kann
- je nachdem, wie viele Nutzer die jeweili-
ge Nachricht wieder an ihre eigenen
Netzwerke weitergeben. Dabei entsteht
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eine Dynamik, bei der sich Likes und
Tweets rasant zu Shitstorms oder, je nach-
dem, Sympathiebekundungen aufschau-
keln und eine grandiose Wucht entwickeln
können.
Für den Zukunftsforscher Matthias Horx
sind diese Dynamiken im Netz „Resonanz-
katastrophen“.2 Die sozialen Medien be-
dienen den Wunsch nach Resonanz. Die
Katastrophe bestehe dabei, so Horx, in der
„Hypervernetzung“ durch die sozialen
Medien, die einen gigantischen Echoraum
erzeugt, in dem sich Emotionen aufschau-
keln und eine zerstörerische Wirkung ent-
falten.
Populisten nutzen diese mediale Mathe-
matik zur möglichst flächendeckenden
Verbreitung ihrer Ideen, in dem sie die
Energien der wutbürgerlichen Communi-
ties strategisch durch Algorithmen unter-
stützen, mit denen Ängste und Vorurteile
in Dauerschleifen bestätigt und somit zur
Stärkung des eigenen Wahlprogramms
genutzt werden können.
In diesem Kontext gewinnen in jüngster
Zeit die sogenannten „Social Bots“ eine
besondere Bedeutung. Dabei handelt es
sich um nicht-menschliche Akteure, die
vor allem in politische Diskussionen einge-
schleust werden, um dort gezielt Interes-
sen zu beeinflussen: Sie betreiben eigene
Profile mit Bild, Namen und wenigen An-
gaben; sie streuen Argumente und können
sogar die Meinungen anderer verunglimp-
fen. Dank der künstlichen Intelligenz kön-
nen etwa die Follower- und Fanzahlen
politischer Accounts in die Höhe getrieben
oder die Abrufzahlen von Videos manipu-
liert werden. Dabei sind Social Bots kaum
von menschlichen Akteuren zu unter-
scheiden. In der aktuellen Debatte setzen
sich gerade populistische Parteien, wie
z.B. die AfD, dafür ein, diese Instrumente
2 Im Rekurs auf Hartmut Rosa beschreibt Matthias
Horx das Phänomen der „Resonanzkatastrophe“ am
Beispiel von Donald Trumps Hass-Populismus im
Netz. (Horx, M. 2016)
stärker zu nutzen, während andere, wie
z.B. die CDU oder der Medienwissen-
schaftler Simon Hegelich, vor nicht weni-
ger als einer „Gefahr für die Demokratie“
warnen (Meier 2016).
5| Konnektivität als zentrales Charakte-
ristikum der Netzwerkgesellschaft
All den negativen gesellschaftlichen und
politischen Ereignissen der letzten Monate
zum Trotz, bei denen eine unglückliche bis
fatale Allianz zwischen dem E-Faktor und
der Digitalisierung zu beobachten ist,
bleibt doch festzuhalten, dass Konnektivi-
tät ein beide Seiten verbindendes, grund-
sätzlich positives, Element darstellt. Kon-
nektivität ist das zentrale Charakteristikum
der digitalen Netzwerkgesellschaft und
Konnektivität bedingt auch eine gewisse
Relativierung von sogenannten „Fakten“.
Denn was wie wahrgenommen und inter-
pretiert wird, ist zunehmend definiert von
dynamischen Wechselwirkungen, die klare
Standpunkte erschweren und eine Fließ-
geschwindigkeit erzeugen, die jeweils ein-
genommene Perspektiven in eine fließen-
de Bewegung versetzt.
Konnektivität, verstanden als soziale Kom-
petenz zum Aufbau von Beziehungen und
Ur-Prinzip des Menschen ist auch das, was
Emotion und Empathie verbindet. In einer
Welt, die mehr denn je von gegenseitigen
Abhängigkeiten geprägt ist, wird die Fä-
higkeit, den eigenen Egoismus zu über-
winden und die Sichtweisen und Bedürf-
nisse anderer in die eigenen Handlungen
einzubinden, zu einer notwendigen Kern-
kompetenz. Um in einer Welt mit immer
mehr gegenseitigen Abhängigkeiten klar-
zukommen, bedarf es Empathie.
In diesem Sinne müsste es in Zukunft da-
rum gehen, diese Fähigkeiten zum In-
Beziehung-Setzen, zur Resonanzerzeugung
(im Begriff von Hartmut Rosa) zwischen
Digitaltechnologien und Sozialtechnolo-
gien stärker auszubauen. Und zwar nicht
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im Sinne der oben beschriebenen Reso-
nanzkatastrophen, sondern in Form einer
Förderung von Empathiefähigkeit für die
Netzwerkgesellschaft. Darüber hinaus
geht es auch um die Förderung von emo-
tionaler Weisheit und damit höherer Ent-
scheidungskompetenz. Denn wie das digi-
tale Umfeld unsere Emotionen und damit
unsere Entscheidungen beeinflusst, und
damit auch anfällig für irrationale Ent-
scheidungen macht, bemerken wir im un-
reflektierten Alltag meist nicht.
6| Herausforderungen
Die Förderung von Empathie und von Ent-
scheidungskompetenz auf der Basis emo-
tionaler Weisheit steht unserer Beobach-
tung nach vor zwei wesentlichen Heraus-
forderungen.
6.1| Wie kommen wir zu höherer Empa-
thie in der digitalen Gesellschaft?
Die erste Herausforderung besteht in den
teilweise empathiehemmenden Auswir-
kungen der Digitalisierung. Eine der in
diesem Zusammenhang derzeit am häu-
figsten zitierten Studien stammt von der
US-Psychologin Sara Konrath. Sie macht
auf das so genannte „Empathie-
Paradoxon“ aufmerksam, dem zufolge
trotz zunehmender Vernetzung die allge-
meine Empathie abzunehmen scheint. Die
Metastudie ihres Forschungsteams grün-
det sich auf Daten von 14.000 US-
Studenten, deren Empathiefähigkeit zwi-
schen 1972 und 2009 stetig gesunken ist.
Die sich daraus ergebende Frage ist: Wie
kommt es, dass soziale Bindungen ab-
nehmen, obwohl die Welt immer mehr
zusammenwächst? (Konrath 2012) Eine
Antwort, die andere Studien belegen, ist
die Zunahme von Stress angesichts zu-
nehmendem Leistungs-, Konsum- und
Termindrucks in einer im Zuge der Digitali-
sierung immer schnelllebigeren, hochver-
netzten Welt. Stress, Hektik und Müdigkeit
sowie damit einhergehende negative Ge-
fühle können Empathie einschränken und
sogar langfristig verschütten. Starke, das
persönliche Wohlbefinden einschränken-
de, Emotionen lassen Menschen so sehr
um sich selbst kreisen, dass der Blick auf
den Anderen dadurch verstellt ist. So ge-
sehen kann emotionale Ansteckung durch
populistische Hasspropaganda, die durch
digitale Kommunikationsmedien verstärkt
wird, zu einem abnehmenden Mitgefühl
führen.
Antworten auf diese hier beschriebene
Herausforderung finden sich in aktuellen
Debatten im Zusammenhang mit der For-
derung nach einer achtsameren Lebens-
weise. Empathieförderung im Digitalen
bedeutet hier vor allem Gelassenheitsför-
derung bzw. im weitesten Sinne von Acht-
samkeit. Achtsamkeit beinhaltet, die Fä-
higkeit, sich selbst und die Umwelt auf-
merksam beobachten zu können und nicht
blind auf die vielen Reize in unserem All-
tag zu reagieren. Sie ist nicht nur der not-
wendige Baustein zu mehr Selbst-
Wirksamkeit, sondern auch zu einer „rei-
feren Empathie“. In der Akademie für Em-
pathie nennt sich dieses Konzept „Empa-
thie 3.0“ – sie ist nicht identisch mit der
impulsiven emotionalen Ansteckung
(„Empathie 1.0“) oder einer eher instru-
mentell verstandenen Empathie (2.0) (Fa-
thi 2014). Vielmehr meint sie eine intuitive
Verbindung mit allem Leben, sie ist daher
nicht „selektiv“ und damit auf einer be-
stimmte Menschengruppe, auf Kosten
einer anderen beschränkt. Auch ist damit
eine Empathie gemeint, die Stressresis-
tenz, auch angesichts von digitaler Über-
reizung, und echtes Mitgefühl miteinander
vereint. Diese Art von „authentischer Em-
pathie“ ist in jedem von uns angelegt und
über Techniken zur Förderung der eigenen
Gelassenheit und im weitesten Sinne
Achtsamkeit zugänglich. Aufgrund der
inzwischen weiten Verbreitung und Akzep-
tanz von Yoga- und Meditationstechniken
ist ein systematisches Training des eige-
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nen „Achtsamkeitsmuskels“ heute für je-
dermann möglich.
6.2| Wie kommen wir zu höherer Ent-
scheidungskompetenz angesichts des
emotionalen Einflusses der Digitalisie-
rung?
Die zweite Herausforderung besteht darin,
dass sich digitale Medien direkt auf unser
Emotionssystem, unser „schnelles Den-
ken“, auswirken. Wir können uns dem
nicht entziehen, dass wir in einer über-
komplexen und zunehmend unübersichtli-
chen Welt emotional in Resonanz treten
und zugleich treffen wir tagtäglich Ent-
scheidungen. Und hier erweisen sich unse-
re beiden Entscheidungssysteme – der
Verstand (langsames Denken) und unsere
Emotionen/Intuition (schnelles Denken) –
je nach Situation als begrenzt. Denn einer-
seits ist unser Verstand/Kognition bzw.
unser „langsames Denken“ (Kahneman)
nur begrenzt fähig, komplexe Phänomene
und die im Zuge der Digitalisierung vermit-
telte Flut an Informationen vollständig zu
erfassen. Von der anderen Seite neigen
wir, durch den Einfluss unseres allzeit akti-
ven Emotionssystems, stets auch zu einer
Bewertung von bestimmten Situationen.
Einige Expertinnen und Experten bewer-
ten die Allgegenwart der Emotionen in
unseren alltäglichen Entscheidungen als
durchaus kritisch. So schlussfolgerte
Kahneman in einem jüngsten Artikel, dass
der Mensch aufgrund seiner Emotio-
nen ein „unzuverlässiger Entscheider“
und in mancherlei Hinsicht Computer-
algorithmen sogar unterlegen sei
(Kahneman et al. 2016). Zu einer ext-
remeren Position kommt, so berichte-
te der Guardian, der Gründer des
weltweit größten Hedgefonds,
Bridgewater Associates, Ray Dalio. Auf
seine Anweisung hin arbeitet ein Team
von Computerexperten an der Ent-
wicklung einer Software, durch die
sämtliche strategische Entscheidungen
(auch Personalentscheidungen) voll-
ständig von einer Künstlichen Intelligenz
getroffen werden sollen (Solon 2016).
Wir plädieren für einen anderen Ansatz.
Im digitalen Zeitalter sehen wir gerade in
den Emotionen das Potenzial zu höherer
Entscheidungskompetenz. Die Herausfor-
derung besteht unserer Ansicht nach nicht
darin, unsere Emotionalität zu verleugnen,
sondern achtsam mit ihr umzugehen. Dass
unser Emotionssystem permanent Situati-
onen bewertet, ist aus evolutionsbiologi-
scher Sicht durchaus sinnvoll, da uns eine
spontane emotionale Einschätzung auch in
völlig unübersichtlichen Situationen er-
möglicht, überhaupt Entscheidungen zu
treffen. Dies gilt besonders für komplexe
bzw. chaotische Situationen, die sich per
se nicht vorhersehen lassen und stets ein
gewisses Maß an Nicht-Wissen beinhalten.
Einerseits kann uns unser Bauchge-
fühl/Intuition dabei unterstützen, das was
im Hier-und-Jetzt ist, aktiv wahrzunehmen
und für Lösungen zu nutzen – in Fachkrei-
sen nennt sich dies „emergierende Prak-
tik“. Andererseits scheint die Intuition we-
sentliche Quelle der Innovation zu sein. Sie
kann uns dazu verhelfen, Situationen aus
einem anderen Blickwinkel zu betrachten
und so zu völlig neuen Lösungen, zu kom-
men. Mit anderen Worten: Im Zeitalter
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der Digitalisierung werden wir zunehmend
mit unvorhersehbaren komplexen und
chaotischen Phänomenen konfrontiert
und dabei scheinen sich unsere beiden
Entscheidungssysteme – die Kognition und
die Emotion – als nützlich und begrenzt
zugleich zu erweisen. Gerade die aus un-
serem Emotionssystem hervorgehende
Intuition hilft uns, „ungewusstes“ Wissen
einzusetzen und mit „Nicht-Wissen“ um-
zugehen.
7| Ausblick: Vier Perspektiven
Im vielschichtigen Zusammenhang zwi-
schen der digitalen Gesellschaft und dem
E-Faktor (Emotionen und Empathie) wer-
den unserer Beobachtung nach vor allem
die folgenden vier Komponenten weiter
an Bedeutung gewinnen:
7.1| Je mehr Komplexität, desto mehr E-
Faktor
Je komplexer die Welt, desto stärker der
Rekurs auf Werte und Wahrheiten, die
gefühlt und erlebt – und mit denen wir
uns in unserer Existenz buchstäblich „be-
greifbar“ werden. In dieser Zuspitzung
gewinnt die post-faktische Gesellschaft
eine andere Bedeutung. Botschaften wer-
den dabei weniger nach ihrem Wahrheits-
gehalt beurteilt, sondern nach dem Grad
ihrer gefühlten Authentizität. Liebe und
Hass, Wut und Empörung ebenso wie Mit-
leid und Solidarität sind solche gefühlt
authentischen Botschaften. Sie sind post-
faktisch, weil sie an Ur-Instinkte rühren
und damit eine überhistorische Wahrheit
behaupten. Damit sind sie letztlich auch
unwiderlegbar und es kann gut sein, dass
hierin die besondere Attraktivität des
Post-Faktischen liegt…?!
7.2| Konnektivität als missing link zwi-
schen E-Faktor und Digitalisierung
Der Wunsch nach Verbindung, nach Re-
sonanz, die größer ist, als die eigene
unmittelbare Lebenswirklichkeit, sind
stärkster Treiber des Menschen als sozia-
les Wesen. In der alles durchdringenden
digitalen Netzwerkgesellschaft wird die-
ser Effekt kanalisiert und potenziert –
und zwar im „Guten“ (z.B. Solidaritäts-
wellen) wie im „Schlechten“ (Resonanz-
katastrophen). Mit der weiteren Ent-
wicklung digitaler Konnektivität wird sich
dieser Trend mit all seinen positiven und
negativen Nebeneffekten noch verstär-
ken.
7.3| Konnektivität als entscheidendes
Kriterium für KI
Was passiert, wenn sich Menschen mithil-
fe von Technologie (z.B. Gehirnchips) noch
effektiver miteinander verbinden können?
Dieser Frage wird bereits zunehmend in
Literatur und Film nachgegangen.3 Sollte
es in diesem Bereich zu disruptiven Inno-
vationen kommen, könnte das heutige
3 Aktuelle Beispiele sind in der Literatur die kürz-
lich veröffentlichte „Nexus“-Trilogie von
RamezNaam oder der bald erscheinende Film
„Mindgamers“.
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Digitalisierungszeitalter nahtlos in ein
„Transhumanismuszeitalter“ übergehen.
Von der anderen Seite tangiert auch die
Entwicklung von Maschine-Maschine-
Kommunikation jenseits von operativ-
technologischen Möglichkeiten generelle
ethische Grundsätze. Auch diese Entwick-
lung beinhaltet durchaus ambivalente Per-
spektiven – etwa wenn man bedenkt, dass
es aus heutiger Sicht gar nicht mehr so
unrealistisch ist, dass Künstliche Intelligenz
(KI) den emotional handelnden Menschen
beim Treffen strategischer Entscheidun-
gen schon bald ablösen könnte. Die Zu-
kunft wird wahrscheinlich weniger von der
Frage bestimmt werden, wie wir uns vor
einer überlegenen KI wappnen, sondern
wie menschliche Intuition und KI zu neuen
und effektiven Kooperationsformen
(Mensch-Maschine-Maschine-
Applikationen) finden.
7.4| E-Faktor als Kernkompetenz der
Wissensgesellschaft
Eine wesentliche Kernkompetenz ist Em-
pathie, und zwar im Sinne einer in uns
allen angelegten „authentischen“ Empa-
thie, die sich vor allem dann erschließt,
wenn wir in uns zentriert sind (Empathie
3.0). Eine andere Kernkompetenz liegt in
der Fähigkeit zu achtsamer Entscheidungs-
findung, indem wir uns für die Potenziale
und Begrenzungen unserer beiden Ent-
scheidungssysteme Emotion/Intuition und
Kognition sensibilisieren. Dies wird uns in
einer digitalisierten Welt, die von zuneh-
mender Volatilität, Unvorhersehbarkeit,
Komplexität und Ambivalenz (VUKA) ge-
prägt ist, zu Gute kommen. Gerade weil
der E-Faktor auf ein (noch) nicht gewuss-
tes Wissen baut, wird er zentral für den
Umgang mit Nicht-Wissen – und besetzt
damit eine Schlüsselposition für die Wis-
sensgesellschaft der Zukunft.
Dr. Karim P. Fathi, Soziologe, Konflikt- und
Resilienzforscher, ist unter anderem als
geschäftsführender Gesellschafter der
Akademie für Empathie sowie als Partner
der DENKBANK tätig.
Dr. Anja Osswald, Kunst- und Kulturwis-
senschaftlerin, ist unter anderem Kreativ-
direktorin in den Bereichen Strategieent-
wicklung und Konzeption bei TRIAD sowie
Partnerin der DENKBANK.
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