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39 PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN
24. Jahrgang 2013, Nummer 2
Zusammenfassung
Wissenschaft ist eine methodische Herangehensweise an Fragen und
Problemlösungen. Fast alles, was wir heute über die Welt faktisch
aussagen können, ist auf diesem Boden entstanden. Und dieser Wis-
sensbestand vermehrt sich weiterhin, das Falsche oder weniger Gute
wird durch das Wahrscheinlichere oder Bessere fortwährend ersetzt.
Wissenschaft macht einen Menschen zwar zum Wissenden, aber noch
nicht zu einem Weisen. Der weise Mensch weiß auch, dass die soge-
nannten „letzten Fragen“ mit Wissenschaft nicht lösbar sind, weil sie
zum Unwissbaren gehören. Dafür werden wir immer auch religiöse
oder ideologische Antworten angeboten bekommen. Solchen Antwor-
ten aber mehr Gewicht zu geben oder ihnen mehr Bedeutung zuzu-
weisen als dem überprüfbaren Pool an Wissen, wäre für jede Zivilisa-
tion fatal.
Schlüsselbegriffe
Wissenschaftliche Medizin, biopsychosoziales Modell, Spiritualität,
Esoterik, Aufklärung.
Zur spirituellen Dimension des
biopsychosozialen Modells
Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlicher Medizin und aufgeklärter
Rationalität einerseits und Spiritualität und Esoterik andererseits
Josef W. Egger
Spiritualität
Spiritualität (lat. spiritus = Geist, Hauch bzw. spiro = ich atme;
altgr. ψύχω bzw. ψυχή, also unser Wort „Psyche“) meint ganz
allgemein Geistigkeit. Spiritualität im spezifisch religiösen
Sinn umschreibt die Vorstellung einer geistigen Verbindung
zum Transzendenten, dem Jenseits oder der Unendlichkeit.
Der Begriff wird sehr unpräzise und unterschiedlich verwen-
det. Erschwerend kommt hinzu, dass die Begriffe Religiosität
und Spiritualität insbesondere im englischsprachigen Raum
oft synonym gebraucht wurden, obwohl ihnen recht unter-
schiedliche Vorstellungen zugrunde liegen können. Im deut-
schen Sprachgebrauch ist Spirituelles darüber hinaus zu einem
vielfach verschwommenen Modewort geworden und läuft
überwiegend unter den Oberbegriffen Esoterik und Lebenshil-
fe z. B. in Zusammenhang mit New Age und alternativer Heil-
kunde.
Aus psychologischer Sicht kann Spiritualität definiert werden
als Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, be-
sonders der eigenen Existenz und seiner Selbstverwirklichung
im Leben (Orientierung für die Lebensgestaltung). Innerhalb
weltanschaulicher Kontexte umfasst Spiritualität auch eine be-
sondere, nicht notwendiger Weise im konfessionellen Sinne
verstandene religiöse Lebenseinstellung eines Menschen, die
sich auf das immaterielle transzendente oder immanente göttli-
che Sein konzentriert bzw. auf das Prinzip der transzendenten,
nicht-personalen letzten Wahrheit oder höchsten Wirklichkeit
(vgl. Begriffsexplikation in wikipedia zu Spiritualität).
Der Leib-Seele-Aspekt im biopsychosozialen
Modell der wissenschaftlichen Medizin
Ein weit verbreiteter Irrtum hinsichtlich des Begriffs „biopsy-
chosozial“ besteht darin, dass angenommen wird, es handle
sich hier um drei separierte Wirklichkeitsaspekte, die nun ad-
ditiv zusammengeführt werden sollen. Die Bezeichnung “bio“
meint jedoch – als begrifflicher Platzhalter – die Gesamtheit
aller materiell festmachbaren Entitäten des menschlichen Or-
ganismus. Das Kürzel „psycho“ meint die Gesamtheit aller
seelischen Phänomene und die Kurzform „sozial“ umfasst die
Gesamtheit aller physiko-chemischen und sozialen Lebensbe-
dingungen (sämtliche „Umwelten“) des menschlichen Orga-
nismus. Alle diese Bereiche sind Aspekte ein und derselben
Wirklichkeit, sie sind untrennbar – hierarchisch geordnet und
dynamisch – miteinander vernetzt. Sie können (und müssen)
zwar zu Zwecken des Detailstudiums separiert betrachtet wer-
den, sie sind aber immer Teile ein und desselben Geschehens,
sodass durch die Reduktion auf einen dieser Systembereiche
zwangsläufig immer auch Information verloren geht.
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Ohne auf die wissenschaftstheoretischen Implikationen des
biopsychosozialen Modells hier näher eingehen zu können
(vgl. dazu Egger 2008), soll doch erwähnt werden, dass dieses
auf einem emergenten Materialismus aufbaut. Dies bedeutet,
dass es eine dingliche (und nicht nur in unseren Köpfen kon-
struierte) Wirklichkeit gibt, die wir zwar als solche nie voll-
kommen erfassen können, über die wir aber zweckmäßige Hy-
pothesen bilden, welche wir der Falsifikation unterwerfen.
Was sich dabei bewährt wird als „vorläufig richtig“ betrachtet.
Diese dingliche Welt – also die Materie als solche – ist aller-
dings anders zu verstehen, als dies in der konventionellen Be-
griffswelt gedacht ist, zumindest anders als es eine oberflächli-
che Nutzung des Begriffs Materie suggeriert. Es sind nämlich
nicht die materiellen Entitäten (wie klein sie auch sein mögen),
die das Universum und damit auch das Leben erklären, son-
dern die Beziehungen dieser materiellen Einheiten zueinander.
Nur durch diese permanenten Wechselwirkungen (oder ubi-
quitären Relationen) lässt sich die Welt verstehbar machen.
Das, was uns als „Materie“ erscheint, ist im Sinne von White-
head (dem genialen Mathematiker und Philosophen, Process
and Reality – An Essay in Cosmology, 1929, Prozess und Rea-
lität, 1979) nichts „Totes“, sondern ist selbst definiert durch
komplexe Wechselwirkungen bzw. Beziehungen von (subato-
maren) Teilchen. Im Gegensatz zur traditionellen „Subjektphi-
losophie“ und zu materialistischen Naturinterpretationen ent-
warf Whitehead ein System, in welchem sich das Universum
nicht aus Substanzen, d. h. aus einer passiven Materie, sondern
aus elementaren, ineinandergreifenden und miteinander ver-
wobenen Prozessen und Relationen zusammensetzt. Es geht
um die Relationen zwischen den verschiedenen Aspekten des
Seienden, um alle Mechanismen und Strukturen der Natur ein-
schließlich des Menschen und seiner Kultur. Hierin erscheint
die Welt als ein ganzheitlicher, strukturierter und schöpferi-
scher Organismus: In dieser Wirklichkeit kann es nichts
geben, was nicht aus ihren (atomistischen) Basis-Ereignissen
aufgebaut ist (Lesch &Vossenkuhl 2011; vgl. a. wikipedia zu
Alfred North Whitehead).
Auch alles Seelenleben – Gefühle, Gedanken, spirituelle Vor-
stellungen und jeweils darauf begründete Handlungen – sind
untrennbar mit dem Materiellen verbunden. Es gibt kein einzi-
ges seelisches Phänomen, das ohne ein entsprechend geartetes
Nervensystem denkbar ist. Ergo zählen Aspekte des Spirituel-
len zu den Phänomenen des menschlichen Geistes und sind
Teil einer „ganzheitlichen“ Betrachtung des menschlichen
Seins, wie es für die biopsychosoziale Theorie mit ihrer Leib-
Seele-Einheit typisch ist. Die spirituelle Dimension umfasst
keine Phänomene der dinglichen Welt, sie gehört zur Welt der
Vorstellungen und bildet im biopsychosozialen System logisch
richtig einen Teil der psychischen Welt des Menschen ab. An-
ders formuliert: Sie ist ein Phänomen, das den Leistungen der
menschlichen Psyche zuzuordnen ist. Dort hat sie ihren Platz –
egal, ob das Spirituelle religiös oder nicht-religiös verstanden
wird.
So gesehen kann die „Spiritualität“ auch als die gedankliche
Beschäftigung mit dem „Sein an sich“ und den Versuchen,
Antworten zu finden, wie unsere Existenz zu verstehen ist,
psychologisch gefasst werden. Den größten Beitrag zu dieser
Themenstellung leistet dazu in der bisherigen Menschheitsge-
schichte – paradoxer Weise – die Wissenschaft, obwohl ihr
Zuständigkeitsbereich sich auf Aussagen bezieht, die über-
prüfbar (und damit falsifizierbar) bleiben müssen. Es bleibt
aber immer ein Rest. Demzufolge entziehen sich einige, der
abstrakten Gedankenwelt angehörende Fragen der wissen-
schaftlichen Kontrolle, wie z. B. „Hat der Mensch eine göttli-
che Seele?“ etc. Es bleibt eine Unauflösbarkeit zwischen dem,
was wissenschaftlich erkannt werden kann (der erkennbaren
und damit „wissbaren“ Welt) und dem, was in unterschiedli-
chen Glaubenssystemen (den Glaubensbekenntnissen oder
Ideologien) als Antworten auf derartige Fragestellungen vor-
gegeben wird. Für die Lebenspraxis wird es immer bedeutsam
bleiben, Antworten zu finden auf die Grundfragen „Was kann
ich wissen?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was kann ich
tun?“.
Offensichtlich haben hier auch nicht wissenschaftliche bzw.
nicht überprüfbare Antworten einen benefit. Im Sinne der reli-
giösen Spiritualität wird – wenngleich auch bisher ohne ausrei-
chenden empirischen Beleg – vermutet, dass diese den betref-
fenden Menschen zum Vorteil in der Bewältigung ihres
Lebens gereichen. Dass Religiosität aber nicht per se zu einem
besseren oder erfolgreicheren Leben führt, zeigen nicht nur die
religiös motivierten Kriege über die Jahrtausende der Mensch-
heitsgeschichte bis in die heutigen Tage. Auch die Entwick-
lung unserer aktuellen Kulturen könnte dies unterstreichen.
Helmut Schmidt (2013) schreibt aus Anlass des 90igsten Ge-
burtstages von Henry Kissinger in Bewunderung seines Bu-
ches „On China“, in welchem der Autor seinen großen Res-
pekt gegenüber der 4000 Jahre alten chinesischen Hochkultur
bekundet: „Ich frage mich, wieso dies die einzige Hochkultur
ist, die gleichzeitig Vitalität entfaltet. Nicht die Ägypter, nicht
die Perser, nicht die Kulturen in Mesopotamien, nicht die Hel-
lenen, nicht die Römer, nicht die Inkas oder die Azteken oder
die Tolteken – wohl aber die Chinesen. Sie haben durch Jahr-
tausende ihre Kultur bewahren können – und sie schreiben
heute in der ökonomischen Realität Rekorde. Wieso die Chine-
sen dazu in der Lage sind, versuche ich mir mit der Abwesen-
heit einer verbindlichen Religion zu erklären. Die Chinesen
kommen nicht in den Himmel, auch nicht in die Hölle, sie sind
erstaunlich wenig religiös, sie sind diesseitsorientiert.“
Abendländische Aufklärung und Wissenschaft
Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit (gemeint sind damit
heute die Menschenrechte), die zentralen politischen Begriffe
der abendländischen Aufklärung, haben das Verständnis und
die Entwicklung unserer westlichen Zivilisation nachhaltig ge-
prägt. Erst dieses geistige Umfeld hat Wissenschaft im heuti-
gen Sinn ermöglicht. Noch nie in der Menschheitsgeschichte
sind in so kurzer Zeit so viele Säulen (und „Säulenheilige“)
alter Ordnungen gestürzt worden. Diese Entwindung aus Dog-
matismus und religiösem Fanatismus hatte allerdings einen
hohen Preis an kognitiven Irritationen, gesellschaftlichen Ver-
werfungen, aber auch an Menschenleben. Auf das Gelingen
dieser Befreiung – ein Denken, das sich befreit von Göttern
und unhinterfragten Mächten – ist unsere Kultur mit Recht
stolz.
Wann immer aber eine Gesellschaft ihre Grundwerte vernach-
lässigt und nicht mehr bereit ist dafür einzustehen, folgen Um-
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wälzungen. Im Bereich der Wissenschaft sehen wir dieses
Phänomen ebenfalls. Einerseits wähnt sich der größte Teil der
Wissenschafter in seiner Arbeit – der „Schaffung von Wissen“
– gesellschaftlich sicher, andererseits zeigen sich mehr oder
minder unverhohlen auch Ablehnung und Feindseligkeit ge-
genüber Wissenschaft. Unvernunft und Aberglaube lassen sich
nicht ausrotten. Die Methode der Wissenschaft – jede Aussage
über die „Wirklichkeit“ muss sich überprüfen lassen – ist vie-
len zu mühsam und führt oft nicht zu einem endgültigen oder
überschaubaren Resultat. Da ist es unserem der Evolution ge-
schuldeten denkfaulen Hirn lieber, auf einfachere Vorstellun-
gen und „Lösungen“ auszuweichen.
Der boomende Bereich der Esoterik gibt genügend Anschau-
ungsmaterial dafür. In der Medizin hat bisher jeder ernsthafte,
großflächige Versuch, komplementär-alternative Methoden
einer kritisch-rationalen Überprüfung zu unterziehen, zu wil-
den Auseinandersetzungen geführt. Allein die Gefahr, das ei-
gene Glaubensbekenntnis könnte sich als Irrtum herausstellen,
bringt die Vertreter auf die Barrikaden. Dabei könnte die Wis-
senschaft neutrale Bedingungen schaffen, um die in Frage ste-
henden Phänomene zu beschreiben, sie wiederholt der metho-
dischen Überprüfung zu unterziehen und erzielbare Ergebnisse
auch in einen größeren wissenschaftlichen Kontext zu stellen.
Dieser Zugang zum Erkenntnisgewinn ist vielen Menschen
auch in unseren Breiten und trotz weitläufiger Bildungsan-
strengungen nicht eigen. Wir erkennen hier weiterhin ein Defi-
zit an kritischem Hinterfragen und ein vorschnelles Annehmen
von simplen Antworten.
Es gilt, dass die seit dem späten 17. Jahrhundert in Europa ein-
setzende Aufklärung ein immerwährender Prozess bleibt und
von jeder Generation weitergeführt werden muss. Wichtige
Vertreter der Aufklärung wie z. B. Newton, Voltaire, E. Dar-
win, C. Darwin, Kant , Hume, Locke, Bacon, Condorcet, Dide-
rot, Jefferson u. a. bleiben in ihren grundsätzlichen Überlegun-
gen aktuell. Erst der Blick über die westliche Kultur hinaus
macht klar, welchen Schatz wir hier besitzen und wie viel
schwerer es Völker haben, die diese Erkenntnisse (noch) nicht
in ihrem Gedankengut verankert haben.
In einer sehenswerten mehrteiligen TV-Serie unter der Regie
von Sheila Hayman (Renegade 2011; arte 2012) „Helden der
Aufklärung“ wird folgendes Resümee gezogen:
Heute ist die Bedeutung von Wissenschaft und Bildung fast
überall anerkannt. Der abendländischen Aufklärung verdan-
ken wir auch die Überzeugung, dass durch das Teilen (bzw.
das zur Verfügung stellen) von Wissen eine Gesellschaft wei-
terentwickelt werden kann. Allerdings sind heute die Ideen der
Aufklärung und der Wissenschaft selbst in Gefahr, denn ein
wachsender religiöser Fundamentalismus und ein um sich
greifender Aberglaube bedrohen unsere moderne Gesell-
schaft. Sie drohen uns wieder weit in die Vergangenheit zu-
rückzuwerfen. Die großen menschlichen Errungenschaften
sind nicht schon von selbst für die Zukunft geschützt (wie dies
schon einmal das abendländische Mittelalter nach bereits
zuvor bestehenden blühenden Hochkulturen gezeigt hat).
Wir müssen das Erbe der Aufklärung bewahren, unsere Kinder
und Schüler mit den Ideen und Erkenntnissen der Aufklärung
vertraut machen und das Primat von Vernunft und Wissen-
schaft gegenüber Irrglauben und Dogmatismus stärken und si-
chern. Dies ist die Aufgabe jeder Generation, denn jede weite-
re Generation ist die Hoffnung für die Zukunft. Freiheit,
Gleichheit und Menschenrechte waren keine Selbstverständ-
lichkeit. Um diese Werte abzusichern, braucht es immerwäh-
rende Bildung und allgemein verfügbares Wissen. Die Welt, in
der wir heute leben, mit den uns vertrauten Strukturen wie De-
mokratie (mit Gewaltentrennung von Legislative und Exekuti-
ve), Gleichheit der Menschen und Religionsfreiheit verdanken
wir in großem Maße der Aufklärung. Eine repräsentative Re-
gierung, grundsätzliche Freiheiten des Individuums, Gleich-
heit vor dem Gesetz sind Ideen der Aufklärung, für die Men-
schen viele Jahrhunderte gekämpft haben und ihr Leben dafür
gegeben haben (Hayman 2011, sinngemäß).
So ist und bleibt es eine Pflicht, dem denkfaulen Wunderglau-
ben, den esoterischen Phantasien und dem Göttergehorsam mit
kritischer Vernunft und wissenschaftlicher Methodik entgegen
zu treten. Dies ist mit Sicherheit der anstrengendere Weg, aber
der einzige, der gegen die Entmündigung von Wissen und Ver-
stand hilft. Da der Mensch allerdings aufgrund seiner evoluti-
onsbedingten neurologischen Strukturen zum Aberglauben ten-
diert – weil dieser keinen nennenswerten intellektuellen
Aufwand oder kaum kognitive Anstrengung erfordert – wird
das Auftreten gegen jede Form von Dogmatismus und Wunder-
glauben ein immerwährender, notwendiger Prozess bleiben.
Spiritualität und Wissenschaft
Auch der durch die Aufklärung geläuterte Wissenschafter
kann das Bedürfnis nach einem übergeordneten, die erkennba-
re Welt übersteigenden Verständnis des Lebens haben. Auch
der Wissenschafter orientiert sich in seinem eigenen Leben an
einer Lebensphilosophie, die sein Wissenschaftsgebiet über-
steigt. Auch er operiert im Privaten mit Begriffen wie „Le-
benskraft“ und „Lebenssinn“ – auch wenn er einsieht, dass das
Leben nur sich selbst zum Zweck hat. Auch er benötigt kogni-
tiv-emotionale Entlastung, sucht Trost, Versöhnung, Zuver-
sicht und Perspektiven für sein Leben. Er sieht sich genauso
den Fragen nach Akzeptanz des Vergänglichen, des Uner-
Zur spirituellen Dimension des biopsychosozialen Modells
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messlichen oder auch Unbegreiflichen (wie dies auch Sterben
und Tod sein können) ausgesetzt.
Sofern religiöse oder religionsähnliche Vorstellungen dieses
Bedürfnis nach „Antworten auf die letzten Fragen“ befriedi-
gen, ist dieses Problem mehr oder minder gelöst. Jede Religion
hat hier eigene Antworten parat. Wie soll sich aber der aufge-
klärte Mensch, der sich nicht zu einer vorgegebenen religiösen
Illusion bekennen mag, den „letzten Fragen“ stellen? Dirnber-
ger (2012) ist der Auffassung, dass es selbstverständlich auch
eine aufgeklärte Spiritualität geben kann:
„Aufgeklärt spirituell heißt …, keine Angst vor scheinbar Irra-
tionalem, Unerklärbarem zu haben. Letztendlich bedeutet es
auch den Mut zu haben, Fragen nicht beantworten zu können,
sie als offen oder nicht lösbar zu akzeptieren und auszuhalten,
ohne in dogmatische Glaubensgeschichten zurück zu verfal-
len. So gesehen kann aufgeklärte Spiritualität nicht das neue
Dogma sein. Jeder dogmatische Ansatz pervertiert seine
Grundideen und wird der Vielfalt menschlicher Existenz nie
gerecht, weil er die Unterschiede im Menschen nivelliert oder
ignoriert und dadurch die Einheit, die Ganzheit aller Menschen
nicht fassen kann. … Was bleibt dem Menschen, wenn wir
ihm Gott nehmen? Möglicherweise alles! … Wahrhafte Spiri-
tualität als einzigartiger Teil der einzigartigen Menschheit,
alles Lebendigen, der Welt und des gesamten Kosmos, alles
Seienden, aller Existenz. Was heißt das? Wenn wir darüber
nachdenken, können wir es erahnen, in Märchen, Mythen und
Geschichten intuitiv erfassen, in Liebe voller zwischen-
menschlicher Begegnung erspüren, in der ruhigen Bewunde-
rung der Natur erstaunen und in der Stille der Meditation in
spiritueller Praxis uns annähern.“
Als aufgeklärte Menschen können wir festhalten: Alle Religio-
nen sind Schöpfungen von Menschen. Sie versuchen seit Ur-
zeiten, auf die großen Fragen des menschlichen Seins, aber
auch auf die Nöte und Anliegen der jeweiligen Zeit Antworten
zu geben und damit das anscheinend oder tatsächlich Unbe-
greifliche verständlich zu machen oder ihm Sinn zu geben. Re-
ligionen sind kognitive menschliche Leistungen, die auf die
Probleme ihrer jeweiligen Entstehungszeit nicht nur Antwor-
ten, sondern auch Handlungsanleitungen für die Lebenspraxis
geben. Sie sind naturgemäß immer an einer spezifischen Ver-
gangenheit orientiert und würden damit ein inhärentes Ablauf-
datum ausweisen, wenn sie nicht durch stetige Neuinterpreta -
tion bzw. Auslegung an die jeweiligen Lebensbedingungen
angepasst würden. In einer zunehmend komplexer werdenden
Welt wird dies schwieriger; die brennenden Fragen der Gegen-
wart und unmittelbaren Zukunft können nicht mehr nur aus
einer Extrapolation von lange zurückliegenden (weniger kom-
plexen) Lebens- bzw. Denkwelten ausreichend bewältigt wer-
den.
Aus der Sicht der Aufklärung – der wahrscheinlich größten in-
tellektuellen Leistung des Abendlandes – kann kritisch ange-
merkt werden, dass mit der Rückwärtsgewandtheit und Bezo-
genheit auf alte Lebenswelten, wie wir sie vor 3000, 2000 oder
1500 Jahren vorgefunden haben, Glaubenssysteme verbunden
sind, die in wesentlichen Aspekten grundsätzlich falsche Ziele
vorgeben bzw. fatale Überzeugungen prolongieren. So mochte
z. B. der Versuch, die Kontrolle der Geburtenrate mit allen
Mitteln zu verhindern, ohne großen Widerspruch hingenom-
men werden, als die Erde nicht einmal ein Zehntel der heuti-
gen Bevölkerung ausmachte. Heute, da wir die letzten Res-
sourcen der Erde ausbeuten, um 7 bis 8 Milliarden Bewohner
dieses Planeten zu ernähren und ihnen die selbstgewünschte
Wohnumwelt zu schaffen, mutet diese Haltung an wie ein un-
ermessliches Verbrechen an den zukünftigen Generationen,
die bald 9 bis 10 Milliarden Menschen umfassen werden. – So
werden ursprünglich sinnvolle, in Normen gegossene Erkennt-
nisse nach Jahrhunderten und Jahrtausenden zu gefährlichen
Hindernissen bei der Bewältigung der gegenwärtigen Mensch-
heitsprobleme. Es lassen sich in jeder der uns geläufigen mo-
notheistischen Weltreligionen (Judentum, Christentum und
Islam) zahlreiche solcher Widersinnigkeiten und kontrapro-
duktiven Gebote bzw. Lehrmeinungen finden.
Spiritualität und Psychotherapie
Petzold et al. (2012) äußern sich kritisch zur Welle der "Spiri-
tualität", die von den USA auch an die Ufer der europäischen
Psychologie und Psychotherapie herüber schwappt.
„Jetzt liest man von Ideen, religiöse Biographie in klinischen
Anamnesen zu erheben. Spiritualität soll Bestandteil von Psy-
chotherapie und Therapieausbildungen werden. Bislang wuss-
ten wir von der für uns inakzeptablen Situation, dass Thera-
peutInnen Astrologie, Tarot, Karma- und Wiedergeburtslehre
in ihren Behandlungen verwenden, wir hörten auch davon,
dass in Lehranalysen solche Konzepte und Praktiken vorkom-
men und haben dazu bzw. dagegen dezidiert Stellung genom-
men … Keine Frage findet sich zu möglichen Risiken oder
ideologischem Missbrauch, der dokumentiert ist. ... Es wird
auch keine Frage zum Leib-Seele-Problem, zu Dualismus oder
Monismus gestellt oder zur Begründung therapeutischer
Ethik.“
Ebenfalls kritisch stellt er sich zur therapeutischen Wirkung
von Spiritualität. Er und seine MitarbeiterInnen berichten aus
den Supervisionen, dass die Leistungsfähigkeit spiritueller
„Einwirkungen“ auf die Gesundheit marginal ist, dass u.U. die
Auseinandersetzungsbereitschaft mit den Themen der aktiven
Lebensbewältigung sogar behindert wird.
Spirituelle Interventionen gehören in die Hände von Seelsor-
gerInnen. In den Rahmen einer wissenschaftlichen, gesetzlich
geregelten Psychotherapie, als „psychologische Therapie mit
psychologischen Mitteln“, gehören spirituelle Interventionen
nicht. Sie könnten geradezu als gegen die Ethikreglements ver-
stoßend gesehen werden. Aufgrund des strukturellen Gefälles
der Therapeut-Patient-Situation und der Möglichkeit idealisie-
render Übertragungen ist bei solchen Interventionen das Ma-
nipulations- und Missbrauchsrisiko besonders groß.“
Allerdings befindet sich der Themenbereich „Spiritualität“,
der im angloamerikanischen Raum praktisch immer religiös
verstanden wird, hierzulande in starker Überschneidung mit
Themen wie „Wert“ und „Sinn“ des Lebens. Dazu formuliert
Petzold seine Haltung:
„Nicht von diesem „cave“ berührt sind für uns auch die in
Therapien immer wieder aufkommenden Gesprächsthemen um
„Sinn“, „Werte“, „Tugenden“, „Lebensziele“, „bürgerliches
Engagement“, Themen, die in einem Therapieprozess unver-
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zichtbar in einer Therapie sein können. Sokratische Gespräche
im Sinne einer philosophischen Therapeutik, die so wesentli-
che Beiträge zu leisten hat, und für die uns die „antiken See-
lenführer“ unserer abendländischen Tradition wie Sokrates,
Seneca, Epiktet wertvolle Konzepte und Methoden hinterlas-
sen haben, würden wir nicht als „spirituelle Interventionen“
bezeichnen. Man müsste allerdings wiederum wissen, ob man
über dasselbe bzw. gleiche spricht, wenn man „spirituell“,
„Spiritualität“ als Begriffe verwendet. Natürlich gibt es einen
Bereich „ästhetischer Erfahrungen“ (Kunst- u. Landschaftser-
fahrungen), die eine beruhigende und beglückende, eine „heil-
same“ Qualität haben können. Natürlich gibt es die Auseinan-
dersetzungen mit Themen wie Sinn, Werte, Gutes, Schönes,
Wahres – Begriffe, die für Menschen von zentraler Bedeutung
sind und die durchaus für „geistige Gesundheit“, für Lebens-
sicherheit, Lebenszufriedenheit und Lebensglück wesentlich
sein können. Die Themen „kultureller Partizipation“, der
„staatsbürgerlichen Moral“ und der „zivilgesellschaftlichen
Verantwortung“ sind von kardinaler Wichtigkeit für viele Pa-
tientInnen, u.a. weil sie für unser Gemeinwesen wichtig sind,
das PatientInnen Hilfen bereitstellt. Und dass eine „Sorge um
sich“ nicht ohne eine „Sorge um die Anderen“ zu haben ist,
sollte in individualisierenden, selbstzentrierten Therapien
durchaus häufiger verdeutlicht werden, als das – blickt man
auf die Fachliteratur – zu geschehen scheint.“
In Hinblick auf die therapeutische Haltung bzw. die Gefahr
einer ideologischen Verführung im Umgang mit spirituellen
Themen merkt Petzold an:
„Will man in einem wissenschaftlichen Rahmen verbleiben,
und das ist für den klinisch-therapeutischen Bereich unerläss-
lich, ist u. E. eine agnostische Position die klarste und intellek-
tuell stimmigste. Der Agnostizismus hält Übersinnliches, Gött-
liches, für unerkennbar, was nicht mit einer Leugnung seiner
möglichen Existenz gleichbedeutend ist, denn erkennbar sei le-
diglich Innerweltliches. Transzendentes könne man nur erah-
nen und glauben (Kant). Es ist durchaus möglich, im wissen-
schaftlichen Rahmen aus intellektueller Redlichkeit eine
agnostische Position zu vertreten, persönlich aber ein „Be-
kenntnis“ – das wäre der richtige Begriff – zu einer religiösen
Ausrichtung zu vertreten.“
Religiöse Spiritualität und Esoterik
Dass Petzold (Petzold et al. 2008, 2012) richtig liegt, zeigt der
große und zugleich wenig durchschaubare Markt der wahrsa-
genden „Lebensberater“. Bernd Kramer (2013) hat mit einem
verdeckten Versuch als Wahrsager reichhaltige Erfahrungen
gemacht: „Der Psychologe Ray Hymans hat beschrieben, wie
man Fremde zu Jüngern seiner Hellsichtigkeit macht. Die
wichtigste Formel lautet, ihnen jene Antworten zu geben, die
sie wünschen. Eine andere: selbstbewusstes Auftreten plus
vage Aussagen. Wie erfolgreich die Mischung aus Autorität
und Uneindeutigkeit ist, hatte bereits 1949 der Psychologe
Bertram Forer gezeigt: Er legte seinen Studenten einen aus
Zeitungshoroskopen zusammengesetzten Text als individuelle
Auswertung eines Persönlichkeitstests vor. Nahezu alle Pro-
banden sahen sich darin treffend beschrieben. … Ich finde es
beklemmend, wie sich große Fragen des Lebens mit einem Set
gefühliger Floskeln abtun lassen. Aber ich spüre auch die Ver-
suchung, doch an mein Talent zu glauben. Ich unterdrücke sie
und halte fest: Ein guter Wahrsager ist entweder skrupellos
oder Opfer seiner eigenen Täuschung. Ich weiß nicht, was ich
schlimmer finde.“
In einer aufschlussreichen Zusammenstellung der ZEIT (2013)
zum Thema „Die Renaissance der Unvernunft“ wird die Trag-
weite des Massenphänomens „Aberglaube“ recht deutlich:
Massenhafte Unvernunft ist jedenfalls ein Politikum, denn
wenn all unser Denken nur noch um uns selber kreist, wenn
das individuelle Wohlergehen zur höchsten Vernunft wird,
dann verabschieden wir uns von der Verantwortung füreinan-
der – und natürlich auch von der Nächstenliebe. Was übrig
bleibt, ist ein Klub von Autisten, eine Gesellschaft mehr oder
minder verrückter Egos.
Das griechische Wort esóterikós bedeutet „das Innere“, und
tatsächlich stand Esoterik ursprünglich für eine Lehre, die nur
einem gewissen eingegrenzten Zirkel zugänglich war (in Ab-
grenzung zum öffentlich verfügbaren Wissen, der Exoterik).
Erst später wurde der Begriff als Synonym für magische und
okkulte Praktiken verwendet. „Was heute unter Esoterik läuft,
ist ein großer Steinbruch“, sagt Bochinger, zit. n. Max Rauner
(2013). Der Berliner Religionswissenschafter Hartmut Zinser
fasst darunter alle Lehren und Praktiken zusammen, die „ent-
weder, soweit es sich um Religiöses handelt, mit den erklärten
Lehren der Kirche im Widerspruch stehen oder, soweit es sich
als Wissen versteht, mit der Wissenschaft unvereinbar sind“.
Der Soziologe Theodor W. Adorno bezeichnete den Okkultis-
mus als „Metaphysik der dummen Kerle“. Heute zeichnen
Sozialforscher ein weniger verächtliches Bild suchender Men-
schen: Es sind überdurchschnittlich viele Städter, Abiturien-
ten, religiös Interessierte, Frauen.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack (2013) ist überzeugt,
dass Religion (der Glaube an Gott oder Götter) und Esoterik
(z. B. Geisterbeschwörung) gleichermaßen Gutes wie Schlech-
tes bewirken können. „Der Glaube – an was auch immer –
macht manche Menschen zu Terroristen, andere zu Friedens-
stiftern. Aber manchmal erleichtert er einfach nur das Leben.“
Es lässt sich in den westlichen Gesellschaften eine Verschie-
bung zu einem flexiblen Glauben ohne starke institutionelle
Bindung an Kirchen oder alte Götter feststellen. Ein solcher
flexibler Glauben scheint besser zu unserer freien Lebensfüh-
rung zu passen, da sich jeder aussuchen kann, woran er glau-
ben möchte, weithin akzeptierte Autoritäten sind out. Während
also herkömmliche Religiosität sukzessive zurückgeht, wächst
zugleich das Interesse an so genannten religiösen und pseudo-
religiösen Praktiken. Am weitesten verbreitet sind traditionelle
Formen des Esoterischen wie Astrologie, Pendeln, New Age,
Anthroposophie, Zen, Reinkarnation oder Tarot. Esoterik ist
dabei individualistisch: Der Einzelne steht im Mittelpunkt, er-
lebt eine intensive Beschäftigung mit dem Selbst. Sie gibt dem
Suchenden z. B. durch Energietraining, bei der Klangmassage
oder beim Lösen von Liebesproblemen offenbar etwas, das er
im Wissenschaftlichen, in Vernunft und Logik nicht findet.
„Die Esoterik ersetzt das Erlösungsversprechen der Religion
durch das Versprechen der Selbsterlösung“ (Finger 2013).
Zur spirituellen Dimension des biopsychosozialen Modells
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Dies wurde gelegentlich als transzendentale Obdachlosigkeit
bezeichnet. Ist das eventuell ein unerwünschter Nebeneffekt
der rationalen Welterklärung? Die abendländische Aufklärung
nimmt den Menschen in die Verantwortung: „Wage, vernünf-
tig zu sein! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“
Nicht mehr Götter oder Schicksal bzw. Vorsehung bestimmen
unser Leben, sondern das eigene Handeln im Rahmen erkenn-
barer Naturgesetze. Diese Verantwortung auf sich zu nehmen,
wird von vielen nicht als Chance und Befreiung, sondern als
Last empfunden oder weckt zumindest ein Unbehagen an die-
sem rationalen Weltverständnis. Zugleich bleibt auch noch
viel Raum für Nichtwissbares, für Wahrscheinlichkeiten und
Unsicherheiten. Genau damit kann der menschliche Geist im
Allgemeinen besonders schlecht umgehen. So verwundert es
nicht, dass sich der Mensch auch nach 3 Jahrhunderten Auf-
klärung weiterhin dort nach Gewissheiten sehnt, wo sie nicht
zu finden sind, weil es sie in dieser Form vernünftigerweise
nicht geben kann. Aus diesem Dilemma entstehen neue Glau-
bensphänomene.
Pollack (2013) berichtet, dass 41 % der Deutschen angeben,
sie seien religiös aber nicht spirituell. 13 % sagen, sie seien
spirituell aber nicht religiös. Wenn man Spiritualität – wie im
Englischen üblich – zur Religion gehörend interpretiert, sind
das merkwürdige Abgrenzungsversuche. Faktum ist, dass viele
Esoteriker sehr kirchenkritisch sind, sie suchen Sinn stiftung
ohne Dogmen, zeigen eine prinzipielle Weltzugewandtheit, ein
positives Menschenbild und ein hohes Maß an Selbstbestim-
mung im Sinne der Wahlmöglichkeit. Zugleich erscheinen sie
antimodern, indem sie das Leistungsprinzip als Überforderung
des Menschen ablehnen. Allein mit Esoterikbüchern werden in
Deutschland pro Jahr etwa 500 Millionen Euro umgesetzt. Für
Rationalisten und Vernunftbegabte erscheinen Esoteriker zu-
weilen wie Narren, was nicht selten erklärt, warum die Debat-
ten um diese Themen so heftig und hochemotional geführt
werden.
Die Sozialpsychologin Claudia Barth (zit. n. Finger 2013) hat
analysiert, wie Esoterik dem gestressten Einzelnen den Ein-
druck vermittelt, im Falle eines Scheiterns nicht selber versagt
zu haben oder unzulänglich zu sein: Schuld ist die unzulängli-
che Welt, in der er oder sie lebt. – Wer dies Ansicht vertritt,
müsste vernünftigerweise die Welt verändern wollen. „Doch
Esoteriker ziehen sich lieber zurück in ihr Paradies auf Erden,
bevölkert von erleuchteten Menschen, in die man sich verwan-
deln kann – mit kostspieliger Hilfe professioneller Engel, Me-
dien und Jenseitscoachs“, wie sie es formuliert.
Die Esoterik ist eine Verlockung für Individualisten, meint
auch Evelyn Finger (2013). Gerade darum muss die Vernunft
gegen den Aberglauben verteidigt werden. „Ihr vorgebliches
Geheimwissen über das menschliche Dasein posaunen Esoteri-
ker laut in die Welt hinaus. Esoteriker treffen sich auf einem
Markt, wo die Hoffnung zu Schleuderpreisen verkauft wird.
Trotzdem zählen sie sich zum exklusiven Club der Erleuchte-
ten. Für sie sind das Exklusive und das Populäre, das Göttliche
und das Alltägliche kein Gegensatz. Glauben und Wissen – der
subjektive Weg eines Menschen zur Wahrheit und die objekti-
ve Betrachtung der Welt – schlossen einander nicht aus, son-
dern ergänzten sich.“
„Spiritualität“, sagt der Rostocker Theologieprofessor Tho-
mas Klie (zit. n. Finger 2013), „ist ein Containerbegriff für
spätmoderne Religiosität.“ Was in den Container kommt, ent-
scheidet jeder Glaubende selbst. Vier Merkmale der Esoterik
passen zum Selbstbild des autonomen Subjekts: „Esoterik ist
prinzipiell undogmatisch. Sie verbindet sich mit leiblicher Er-
fahrung. Sie kann gruppenbezogen ausgelebt, aber auch indi-
viduell praktiziert werden. Sie bietet gleichzeitig größtmögli-
che Distanz zu autoritär empfundenen Institutionen.“ …
„Anders als viele Theologen wertet Klie die Esoterik nicht ab.
Er
behauptet auch nicht, sie sei das Gegenteil von Religion. Mo-
derne Esoterik entstehe im Überschneidungsbereich von Reli-
giosität, Spiritualität und Wellness. Das Verbindende zum
Christentum sei der Glaube an ein gestaltendes Prinzip – grö-
ßer als der Gläubige selbst. Doch während der Christ an einen
Schöpfergott glaube, dem er sich und sein Leben verdankt,
könne der Esoteriker nicht ertragen, dass ein Bereich des Da-
seins seinem Zugriff entzogen sein soll. Der Esoteriker er-
schaffe sich selber, der esoterische Markt setze ihm keine
Grenzen. So würden Glaubenscocktails gemixt, deren Konsum
dem eigenen Ego dient und zu nichts verpflichtet“ (Finger
2013).
Zurück zum Mittelalter? Wissenschaft kontra
Aberglauben
Die einzige bekannte Gegenstrategie, auch festgefügte Be-
hauptungen bzw. Meinungen zu hinterfragen und der Zeit an-
gepasste Lösungen für die erdumspannenden Megaprobleme
der Gegenwart zu erarbeiten, besteht im kritischen Einsatz
wissenschaftlicher, d. h. überprüfbarer Problembewältigungs-
strategien. Diese liefern natürlich keine fertigen Rezepte, son-
dern nur Näherungswege, die fortdauernd über Versuch und
Irrtum (Hypothesenprüfung) und viel intellektuelle Mühe bei
der Erarbeitung von Verstehensmodellen verbessert werden
müssen. Dass dies gleich bedeutend ist mit dem Prinzip der
permanenten Aufklärung ist leicht einzusehen.
Ebenfalls leicht einzusehen ist natürlich der immense Wider-
stand althergebrachter Glaubensbekenntnisse gegen Wissen-
schaft, wie wir dies in unserer abendländischen Geistesge-
schichte in dramatischer Weise kennen gelernt haben – und in
einigen Regionen gegenwärtig wieder hautnah erleben. Mit
dem Erstarken des menschlichen Geistes bzw. der wissen-
schaftlichen Überprüfung von Behauptungen – oder anders
ausgedrückt: dem Primat der Aufklärung, „scientia potentia
est!“ – mussten die tautologischen Welterklärungsansätze
einen Bedeutungsverlust hinnehmen. Die Absicherung gegen
Veränderung oder Infragestellung ihrer Axiome haben die Re-
ligionen seit jeher dadurch gelöst, dass sie ihre Herkunft einer
virtuellen Instanz zuschreiben, die quasi unangreifbar und un-
hinterfragbar ist – also den vielen Ausgestaltungen von Gott-
heit (früher meist auch mehreren oder sogar vielen Göttern).
Unbestreitbar ist allerdings auch, dass der Mensch immer
schon nach einer Erklärung von für ihn schwer begreifbaren
Phänomenen gesucht hat und nach einer Orientierung in einer
zunehmend komplexeren und schwer durchschaubaren Welt
Ausschau hält. Dabei haben die Wissenschaften keine guten
Karten, denn sie liefern die Erklärungen ja nur als Puzzle-Stü-
cke und nicht in der gewünschten intellektuell einfachen „Ver-
Josef W. Egger
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24. Jahrgang 2013, Nummer 2
daubarkeit“. Wissenschaft ist verbunden mit einer unvermeid-
lichen Unschärfe und erhebt keinen Anspruch auf letztgültige
Wahrheit, weil es diese logisch nicht geben kann.
So hat sich das Bild vom Menschen als von Gott geschaffenes
Wesen – auf dem im Zentrum der Welt gedachten Globus na-
mens Erde lebend – in den letzten Jahrtausenden mehrmals,
aber stetig in Richtung geringerer (kosmologischer) Bedeu-
tung gewandelt. Die relativ kleine Erde steht eben nicht im
Mittelpunkt des Weltalls, die Sonne selbst ist nur ein unbedeu-
tender Teil einer Galaxie und diese wiederum nur ein Staub-
korn größerer galaktischer Einheiten usw. Der Mensch, als re-
lativ junges Wesen auf dieser Erde, teilt sein Erbe mit der
Geschichte des Lebens auf diesem Planeten und seine Zukunft
ist durchaus ungewiss, gewiss scheint nur der Untergang des
gesamten Sonnensystems in fernen Zeiten.
Aus dem Blickwinkel des Mesokosmos (also der Perspektive
des Menschen, vgl. Vollmer 1981, 2002, zit.n. Egger 2005) ist
die Evolutionstheorie das bedeutendste aller bekannten Mo-
delle zum Verständnis des Lebens an sich und hat ihre wis-
senschaftliche Strahlkraft noch lange nicht eingebüßt. Inzwi-
schen gelangt man sowohl aus theologischer als auch
naturwissenschaftlicher Perspektive zum überzeugenden
Schluss, dass es keinen prinzipiellen qualitativen Unterschied
zwischen Mensch und Tier geben kann. „Seele“ (Empfindun-
gen, emotionales Erkennen von Wirklichkeitsaspekten),
„Geist“ (Schlussfolgerndes Urteilen, Denkvermögen) und
sogar „Bewusstsein“ (Meinigkeits-Bewusstsein, Ich-Bewusst-
sein) können bei beiden vorhanden sein, wenngleich in sehr
unterschiedlicher Komplexität, abhängig von der Leistungs-
kapazität des jeweiligen Nervensystems. Das ist einsichtig, da
der Mensch ja selbst ein evolutionäres Produkt seiner tieri-
schen Vorfahren innerhalb eines viele Millionen Jahre wäh-
renden Evolutionsprozesses ist. Das anthropozentrische Welt-
bild lässt sich schon lange nicht mehr aufrechterhalten.
„Welche Menschen soll Gott denn mit der „Geistseele“ (die
dem Tier angeblich nicht innewohnt) ausgestattet haben: den
Australopithecus afarensis oder erst den Homo erectus? Und
hat „Er“ sie dem Homo neanderthalensis wieder entzogen,
nachdem dieser im Wettstreit mit dem Homo sapiens den
Kürzeren gezogen hat?“ – fragt in pointierter Diktion Hagen-
cord (zit. n. William 2009).
Das Prinzip „Hoffnung“ als conditio humana
Hoffnungen sind psychologisch gesehen positive Erwartun-
gen. Sie sind assoziiert mit Erfreulichem, Wünschenswertem,
Erhofftem – kurz: mit vorweggenommenen Belohnungen. Sie
können unser Belohnungssystem aktivieren. Sofern diese Ak-
tivierungen physiologisch ausreichend wirksam und auf diese
Weise auch psychoimmunologisch von Bedeutung sind, müs-
sen sie als reale Wirkfaktoren verstanden werden. Nachweis-
bar ist dieser positive Effekt allerdings nur, solange die damit
provozierbaren neurologischen und immunologischen Reak-
tionen noch etwas Signifikantes im Krankheitsgeschehen zu
bewirken imstande sind. Jedenfalls sind Hoffnungen die –
über die Lebenszeit gesehen – wirksamsten Motivationen des
Menschen. Sie sind antidepressiv, im Wesentlichen mit Sero-
tonin und Dopamin assoziiert, was auch die damit verknüpfte
bessere Stimmungslage zu erklären hilft. Hoffnungen können
aber auch – wie uns die Optimismusforschung zeigt – kontra-
produktiv sein, nämlich dann, wenn sie ein vernünftiges Maß
übersteigen und irrational werden. Solche übertriebenen bzw.
irrationalen Hoffnungen verlieren ihren Anpassungswert, weil
sie an der Wirklichkeit scheitern. Abgesehen davon helfen sie
uns aber nachhaltig bei der Ressourcenaktivierung, wenn es
darum geht, schwerwiegende, auch existentielle Krisen anzu-
packen. Hoffnungen haben also einen hohen funktionellen
Wert im Sinne von Anpassungs- und Bewältigungsreaktio-
nen, sie vermitteln uns die Perspektiven für die weitere Ent-
wicklung und den proaktiven Antrieb im Handlungsbereich.
Im therapeutischen Prozess ist der Umgang mit Hoffnung
daher ein wichtiges und zugleich auch hochdynamisches
Thema.
Resümee und Ausblick
Gesundheit ist für große Teile der Bevölkerung in unserer Zeit
die zentrale Wunschvorstellung. Die eigene Gesundheit wie in
alten Zeiten in Gottes Hand zu legen, ist in einer Gesellschaft,
die durch Wissenschaft und Aufklärung geläutert ist, undenk-
bar geworden. Wir verstehen heute Gesundheit weniger als
gottgegeben oder schicksalshaft, sondern erkennen sie als Er-
gebnis komplexer Wechselwirkungen, an welchen wir als In-
dividuen mit unserem je eignen Risiko- und Schutzfaktoren-
Profil mehr oder minder immer beteiligt sind. Wir erkennen
aber sehr häufig auch unsere Schwächen bei der Erfüllung „ge-
sunder“ Lebensweisen, verzagen im Fall der Störung unserer
Liebes- und Arbeitsfähigkeit und werden auch schmerzhaft
leidend an der Vergänglichkeit unseres Körpers. Für diese
Phänomene wird der Mensch in alle Ewigkeit Zufluchtstätten
der Linderung oder Heilung suchen bzw. sich schaffen – einer-
lei ob dieser Hort nun in Äußerem (z. B. Gotteshäusern) oder
Innerem (z. B. Spirituellem) besteht.
Es besteht hier die – zugegebenermaßen verwegene – Option,
unsere Krankenhäuser als solche „Orte der Besinnung“ zu for-
men. Eine dafür adäquate Medizin müsste folgerichtig nicht
nur das erkennbar Materielle des menschlichen Leids erfassen
und behandeln können, sondern auch das Denken, Fühlen und
Handeln des Leidenden als wesentlichen Bestandteil für Diag-
nostik und Therapie nützen können. Da sich alles Leben in
Kontexten abspielt, gilt es natürlich auch die sozialen Lebens-
bedingung und ökologischen Lebensumwelten als pathogene
oder salutogene Wirkgrößen ins Kalkül zu ziehen. Mit ande-
ren Worten: Die erwähnte Be-Sinnung meint hier, sich darü-
ber zu verständigen, an welchen Punkten des Krankheitspro-
zesses sind welche Einflussmöglichkeiten zugänglich bzw.
sinnvoll zu nutzen und wer übernimmt für welche Änderun-
gen bzw. Eingriffe auf den verschiedenen beteiligten System-
ebenen die Arbeit bzw. deren Kosten. Von Reparieren bis Ak-
zeptanz des nicht Änderbaren reicht hier die Palette der
Zugehensweisen. Ohne Ziel- und Werteklärung werden sol-
che Fragen nicht sinnvoll zu beantworten sein. Genau das ist
aber weniger ein Thema der materiellen sondern vielmehr der
geistigen Welt.
Zur spirituellen Dimension des biopsychosozialen Modells
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PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN 24. Jahrgang 2013, Nummer 2
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Autor und Korrespondenzadresse
Univ.-Prof. Dr. Josef W. Egger, Professur für biopsychoso-
ziale Medizin i.d.L., Forschungseinheit für Verhaltensmedizin,
Gesundheitspsychologie und Empirische Psychosomatik, Uni-
versitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychothera-
pie Graz, Medizinische Universität Graz, Villa Hahnhof, Ro-
seggerweg 50, A-8036 Graz
E-Mail: josef.egger@medunigraz.at
www.bpsmed.net
Josef W. Egger
9. Grazer Psychiatrisch-Psychosomatische Tagung
„Herzschmerz – Macht und Ohnmacht der Gefühle“
Donnerstag, 16. bis Samstag, 18. Jänner 2014
Graz, Minoritensaal
www.psychosomatik-graz.at
Für die Tagungsorganisation:
Univ.-Prof. DDr. M. Lehofer, Univ.-Prof. DDr. H.-P. Kapfhammer, Univ.-Prof. Dr. J.W. Egger