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Die Unverzichtbarkeit der Werte? Zur Suspendierung der drei Säulen der europäischen Rechtsordnung

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Veröffentlicht in: DER STAAT 56 (2017), 193226
Verlagsfassung ist verfügbar unter: www.duncker-humblot.de
1
DIE UNVERZICHTBARKEIT DER WERTE?
ZUR SUSPENDIERUNG DER DREI SÄULEN DER EUROPÄISCHEN
RECHTSORDNUNG
Von Ibrahim Kanalan, Erlangen-Nürnberg, Maria Wilhelm, Münster und Timo Schwander,
Münster*
I. Einführung,
Menschenrechte, Demokratie und Solidarität sind die Grundpfeiler der europäischen Rechtsordnung
und stehen im Zentrum der Diskussionen um das Wertefundament der Europäischen Union.
1
Zumindest aus normativer Sicht steht es außer Frage, dass letztere nicht nur eine Wirtschafts- und
Rechtsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist.
2
Die präskriptive Grundlage dafür
bildet Art. 2 EUV. Für das auswärtige Handeln der Union sind diese Grundwerte darüber hinaus
explizit in Art. 21 EUV normiert
3
und sollen so auch das internationale Handeln der EU leiten.
4
Systematisch betrachtet stellt Art. 21 EUV eine Konkretisierung der Zielbestimmungen in Art. 2 und
3 EUV dar.
5
Das Handeln der Union ist somit nach innen wie nach außen an diesen Werten zu
messen
6
, die als normative Vorgaben verbindlich und justiziabel sind.
7
*Dr. Ibrahim Kanalan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg
(CHREN) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und
Völkerrecht ebenda. Maria Wilhelm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäisches
Verwaltungsrecht (EVR) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Timo Schwander ist
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungswissenschaften,
Kultur- und Religionsverfassungsrecht ebenda. Sie danken Andreas J. Braun (Münster), Jakob Hohnerlein
(Freiburg) und Helene Heuser (Hamburg) für zahlreiche Hinweise und konstruktive Kritik.
1
Vgl. etwa P. Hilpold, Solidarität im EU-Recht: Die Inseln der Solidarität” unter besonderer Berücksichtigung
der Flüchtlingsproblematik und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, EUR 2016, S. 373 (374 f.);
M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 9 Rn. 1; S. Schadendorf, Die UN-
Menschenrechtsverträge im Grundrechtsgefüge der Europäischen Union, EUR 2015, S. 28 (45 f.).
2
Vgl. C. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft - Integration und Identität durch europäisches
Verfassungsrecht?, JZ 2004, S. 1033. Ob tatsächlich bereits die EG eine solche war, soll dahingestellt bleiben. So
aber B. Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DÖV 2001, S. 980.
3
Ausführlich dazu A. von Arnauld, Das System der Europäischen Außenbeziehungen, in: ders. (Hrsg.),
Europäische Außenbeziehungen, 2014, S. 41 (74 ff.).
4
M. Hilf/F. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 51. EL 2013,
Art. 2 EUV Rn. 21; Arnauld (Fn. 3), S. 84 f.; M. Nowak, Menschenrechte als Grundlage der EU-
Wertegemeinschaft, DIE UNION - Vierteljahreszeitschrift für Integrationsfragen 2001, S. 7 (10).
5
W. Kaufmann-Bühler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 4, 41. EL 2010), Art. 21 EUV Rn. 2.
6
Kaufmann-Bühler (Fn. 5), Art. 21 EUV Rn. 6; Nowak (Fn. 4), S. 10 m.w.N.
7
Grundlegend bereits EuGH, Kadi I, Urt. v. 03.09.2008 – C-402/05 P, Rn. 285 ff.; zurückhaltender Hilf/Schorkopf
(Fn. 4), Art. 2 EUV Rn 46 f. Siehe auch EuGH, Kommission/Rat, Urt. v. 11.06.2014 - C-377/12, Rn. 47 ff. sowie
EuG, Frente Polisario/Rat, Urt. v. 10.12.2015 – T-512/12, Rn. 159 ff., 223 ff. Die letztgenannte Entscheidung
wurde durch EuGH, Frente Polisario/Rat, Urt. v. 21.12.2016 – C-104/16P aus anderen Gründen aufgehoben. Im
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2
Ungeachtet der Frage nach der normativen Rechtfertigung der genannten Werte und der
Sinnhaftigkeit ihrer Diskussion
8
setzt die vorliegende Untersuchung der Werte an ihrer jeweiligen
Positivierung an, auf die sich ihre normative Kraft gründet.
9
1. Die&Funktion&und&Geltung&von&Grundwerten&innerhalb&der&
Europäischen&Union&
Die plakativen Werte des Art. 2 EUV stellen keine unbestimmten Phrasen, sondern Konzepte dar, die
rechtlich greifbar und operationalisierbar sein sollen.
10
Sie sind nicht nur von politischer Relevanz;
vielmehr kommt ihnen über eine Integrations- und Identitätsfunktion hinaus
11
auch eine
stabilisierende Ordnungsfunktion zu.
12
Über Art. 2 EUV fungieren sie zudem als objektive
Wertordnung, die rechtliche Wirkung für alle Politikbereiche und Handlungen der Unionsorgane
entfaltet.
13
Der normative Gehalt der Vorschrift ist allerdings nicht nur auf die Union beschränkt. Er bezieht sich
auch auf die Wertordnungen und Rechtsstrukturen der Mitgliedstaaten.
14
Über Art. 2 S. 2 EUV wird
eine grundlegende Homogenität zwischen den Verfassungsstrukturen der Union und jenen der
Mitgliedstaaten hergestellt. Auch wenn dem Unionsgesetzgeber durch die offene Formulierung der
Werte ein beträchtlicher politischer Gestaltungsspielraum eröffnet wird, so bedeutet dies doch
keineswegs, dass dieser Spielraum unbegrenzt ist.
15
Dies wird durch die Rechtsprechung des EuGH
bestätigt
16
: So führt er in der Rechtssache Kadi I aus, dass „eine Abweichung von den Grundsätzen
Schlussantrag von GA Wathelet v. 13.09.2016, Rn. 254 ff. wird die Justiziabilität der Werte erneut bekräftigt.
Hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Sanktionen gem. Art. 7 ist die
Prüfungskompetenz des EuGH allerdings eingeschränkt (Art. 269, 275 AEUV).
8
Vgl. zu letzterem etwa R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1996, S. 1; E.-W. Böckenförde, Die
Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 92 (112); C.
Polke, Werte und Normen im Recht, Der Staat 52 (2013), S. 99 (101 ff.); C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte,
3. Aufl. 2011; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 162 ff. Zusammenfassend U. Volkmann,
Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 98 ff. Ausführlich zu
verschiedenen Begründungsansätzen im Kontext der Menschenrechte I. Kanalan, Begründung und
Geltungsgrund sozialer Menschenrechte, ARSP 103 (2017), S. 1 (3 ff.).
9
S. Kanalan (Fn. 8), S. 24 ff.
10
Siehe dazu Hilf/Schorkopf (Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 36 f.; M. Potacs, Wertkonforme Auslegung des
Unionsrechts?, EuR 2016, S. 164 (171); Nowak (Fn. 4), S. 7 (10 f.).
11
Siehe beispielsweise Calliess (Fn. 2), S. 1033.
12
So entfalten die Werte aus Art. 2 EUV Rechtswirkungen in Bezug auf das Sanktionsverfahren in Art. 7 EUV
und das Beitrittsverfahren in Art. 49 EUV; siehe Potacs (Fn. 10), S. 165, auch Calliess (Fn. 2), S. 1036 f. u. 1040;
T. Rensmann, Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung, in:
Blumenwitz/Gornig/Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 49.
13
Siehe Potacs (Fn. 10), S. 170. Siehe auch Rensmann (Fn. 12), S. 56 f., der von einer Fundamentalnorm spricht.
14
Hilf/Schorkopf (Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 9 f.
15
Potacs (Fn. 10), S. 170 f.; Hilf/ Schorkopf (Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 46 ff.
16
Siehe auch Potacs (Fn. 10), S. 168 m.w.N., 171 f.
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der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten […], die in
Art. 6 Abs. 1 EU[V a.F.] als Grundlage der Union niedergelegt sind“, nicht zulässig ist.
17
Wie sieht aber die Realität der genannten Werte aus? Die EU wird sei es durch die
sozioökonomische Krise, die Finanzkrise, die Verfassungskrise, die Demokratiekrise oder die
sogenannte Flüchtlingskrise
18
herausgefordert wie selten zuvor. Die Krise oder schon die
Behauptung der Krise sowie die Heranziehung der schlichten Krisenrhetorik ist zur Normalität
geworden. Sie ist nicht mehr Ausnahmezustand, sondern Normalzustand. Wenn die Ausnahme zur
Regel wird, besteht die Gefahr, dass zugleich Ausnahmezustands- oder Krisenmaßnahmen zur
Normalität werden. Diese Entwicklung ist insbesondere aus rechtlicher Perspektive alarmierend.
Denn in Zeiten der Krisen oder des Ausnahmezustandes wird implizit oder explizit stets der Ruf nach
Suspendierung des Rechts laut.
19
2. Zum&Begriff&der&Suspendierung&
Über die schlichte Missachtung hinausgehend bezeichnet der Begriff der Suspendierung zunächst
eine in der Regel vorübergehende Aussetzung der Anwendung eines Rechtsverhältnisses im
Gegensatz zu dessen echter Beendigung.
20
In der hier verwendeten, auf Werte als Normen
bezogenen Weise ist die Suspendierung einerseits von der bloßen Verletzung einer Rechtsnorm,
andererseits aber auch von deren förmlicher Aufhebung abzugrenzen. Von der Verletzung
unterscheidet sie sich dadurch, dass die rechtliche Annahme, ein Handeln in Übereinstimmung mit
der Norm sei der Regelfall, die Nichtachtung der Norm dementgegen die Ausnahme, im Fall der
Suspendierung nicht mehr zutrifft. Vielmehr geschieht die Missachtung der Norm ggf. auch in
einem bestimmten politischen Teilbereich in derart systematischer Weise, dass dadurch eine
Bindung an die Norm geleugnet wird, auch wenn diese Bindung vordergründig noch behauptet wird.
Der Versuch, das tatsächliche Handeln als im Einklang mit der Norm stehend zu rechtfertigen, findet
17
EuGH, Kadi I, Urt. v. 8.09.2008 - C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 303. Siehe auch EuGH,
Kommission/Deutschland, Urt. v. 9.03.2010 - C-518/07, Rn. 41 f.
18
Siehe nur P. Häberle, Fünf Krisen im EU-Europa Weltweite Implikationen, Möglichkeiten und Grenzen der
Verfassungstheorie für Europa, AVR 53 (2015), S. 409; Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA),
Die Europäische Wertegemeinschaft: Der Schutz der Grundrechte in Krisenzeiten, Luxemburg 2013.
19
Vgl. etwa die teilweise vollzogene Derogation der EMRK durch Frankreich Verbalnoten des Ständigen
Vertreters v. 24.11.2015, v. 26.02.2016, v. 26.05.2016 sowie v. 22.07.2016 und die Türkei Schreiben des
Ständigen Vertreters vom 21.07.2016 jeweils abrufbar unter:
http://www.coe.int/de/web/conventions/search-on-treaties/-/conventions/treaty/005/declarations. Zu den
Entwicklungen siehe auch F. Weber, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Türkei, DÖV 2016,
S. 921.
20
Vgl. M. Bungenberg, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015,
Art. 218 AEUV Rn. 85, ferner für das Arbeitsrecht R. Müller-Glöge, in: ders./Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter
Kommentar, 16. Aufl. 2016, § 620 BGB Rn. 43a f.; für das öffentliche Dienstrecht A. Reich, BeamtStG,
2. Aufl. 2012, § 39 Rn. 1.
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nicht mehr oder nur noch ausnahmsweise statt, vielmehr wird die Relevanz der Norm geleugnet.
21
Andererseits entspricht die Suspendierung auch nicht der förmlichen Aufhebung der Norm, die im
Fall der Suspendierung eben nicht erfolgt. Ein Akt des (endgültigen) Außerkraftsetzens der Norm
findet nicht statt. Gleichwohl muss die Suspendierung der Norm nicht zwingend rechtswidrig sein:
Derogationsvorschriften wie etwa Art. 15 EMRK ermöglichen
22
eine rechtlich zulässige, wenngleich
unter Bedingungen gestellte und überprüfbare
23
Suspendierung rechtlicher Gewährleistungen. In
Abwesenheit einer solchen Norm stellt die Suspendierung von Normen jedoch per definitionem einen
Verstoß gegen höherrangiges Recht dar.
24
Im Folgenden wird zwischen drei verschiedenen Formen der Suspendierung differenziert: Erstens der
strukturellen Form, also des Ausweichens auf informelle Verfahren bzw. Handlungsformen, wodurch
eine Anwendung rechtlich maßgeblicher Verfahrensnormen verhindert wird
25
, zweitens der
prinzipiellen Suspendierung durch Leugnung eines bestimmten Inhalts der Norm,
26
und drittens der
praktischen Form, durch schlichte systematische Nichtachtung unter Vorgabe entgegenlaufender
Sachzwänge.
27
Von diesen verschiedenen Arten der Suspendierung sind die Faktoren abzugrenzen, die zu einer
solchen führen können. Sie sind grundsätzlich in vier verschiedene Kategorien einzuteilen: Zunächst
in strukturelle oder systembedingte Faktoren, also Umstände, die sich aus den etwa rechtlichen
oder wirtschaftlichen
28
Systemen ergeben, innerhalb deren sich Suspendierungen ereignen. So
kann die Struktur eines solchen Systems eine Suspendierung zwar nicht selbst herbeiführen, aber die
21
Siehe zur Steuerungsschwäche des Rechts im Bereich der Moral und Ethik G. F. Schuppert, Grenzen und
Alternativen von Steuerung durch Recht, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben sinkende
Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 217 (221 ff.).
22
Zur Legalität der scheinbar rechtswidrigen, aber durch höherrangiges Recht „akzeptierten“ Durchbrechung H.
Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausg. d. 1. Aufl. 2008, S. 94 f.
23
Zu den Einzelheiten des Verfahrens H. Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK-GG-
Konkordanzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 8 Rn. 7 ff. sowie Rn. 15 ff., die im Übrigen auch für die
Derogation i.S.d. Art. 15 EMRK den Begriff der Suspendierung verwendet, z.B. Rn. 30, sowie Weber (Fn. 19),
S. 921.
24
Für das Verhältnis von Verfassung und einfachem Gesetz grundlegend Kelsen (Fn. 22), S. 84 ff. Historisch N.
Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 25 f. Zu einem anderen
Ergebnis kommt freilich, wer im Ausnahmezustand die Normativität des Rechts selbst bestreitet und damit die
Frage nach Recht und Unrecht für nicht anwendbar erklärt: Grundlegend C. Schmitt, Politische Theologie,
8. Aufl. 2004, S. 18 f.
25
Vgl. hierzu die von Hesse beschriebene Situation der „Verfassungsstörung“, in der die abnorme Lage gerade
nicht Einfallstor für Notstandsmechanismen sein darf, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 721 ff.
26
Siehe als Beispiel das an die demokratischen Legitimität anknüpfende „Vollzugsdefizit“ im Rahmen der
Verwaltungspraxis; ausführlich dazu A. v. Brünneck, Das Demokratieprinzip und die demokratische Legitimation
der Verwaltung, in: Grimm (Fn. 21), S. 253 (254 ff.).
27
Vgl. etwa zur Vorstellung des Krieges als Ausnahmezustand, „der die im Frieden geltende Rechtsordnung
weitgehend suspendiert“, prominent LG Bonn, NJW 2004, 525 (526).
28
Zu den verschiedenen Systemen N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 16.
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Möglichkeit einer Suspendierung eröffnen.
29
Hinzu können gesellschaftliche Faktoren treten. Diese
betreffen die Zusammensetzung der Gesellschaft, die kulturellen Traditionen und den
Erfahrungshorizont, der in der agierenden Bevölkerungsgruppe vorhanden ist.
30
Diese Faktoren
werden ergänzt durch politische Faktoren, die sich an den mehrheitlich durchsetzbaren
langfristigen oder kurzfristigen Handlungszielen der betroffenen gesellschaftlichen Gruppe
ausrichten. Schließlich treten praktische Faktoren hinzu: Es treten Zustände auf, die bei Einhaltung
der Normen nicht bewältigt oder verändert werden können.
31
Oft führt nicht nur einer dieser
Faktoren zur Suspendierung von Normen, sondern vielmehr ihr Zusammenspiel. Ungeachtet dessen
ist die Suspendierung von Normen eine Entscheidung, die nicht in Form einer force majeure über das
Rechtssystem hereinbricht, sondern in Reaktion auf und als Folge aus diesen Faktoren durch
politische Akteure getroffen wird, und sei es in der Form, sich einer als scheinbar unausweichlich
wahrgenommenen Entwicklung nicht entgegenzustellen.
Mithilfe der aufgezeigten konzeptionellen Analyse sollen die drei grundlegenden Säulen des
europäischen Rechtssystems aus Art. 2 EUVMenschenrechte (II.), Demokratie (III.) und Solidarität
(IV.) auf ihren normativen Gehalt, ihre Positivierung und ihre Durchsetzung geprüft werden. Hierbei
werden die Faktoren identifiziert, die zur Suspendierung führen, und deren tatsächlichen
Auswirkungen aufgezeigt. Werte der Slogan der modernen Gesellschaften
32
befinden sich in der
gegenwärtigen Rechtspraxis der EU und ihrer Mitgliedstaaten in einem desolaten Zustand. Denn ihre
Suspendierung droht in Krisenzeiten zur Normalität zu werden. Was einst dem Inhaber politischer
Gewalt nur für den Notstand vorbehalten war,
33
wird mit permanenter Krisensemantik zum
Regelfall.
34
II. Die,Säule,der,Menschenrechte,
Seit dem 19. Jahrhundert stellen die Grund- und Menschenrechte eine der wesentlichen
Legitimationsgrundlagen des Verfassungsstaats
35
und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen
29
Zu Einwendungen bezüglich der generellen Unsteuerbarkeit wirtschaftlicher und ähnlicher autopoietischer
Systeme Schuppert (Fn. 21), S. 223 m.w.N.
30
Siehe dazu die differenzierende Untersuchung von Multikulturalismus und Anerkennung bei C. Taylor,
Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2009, S. 14 ff.; allgemein zu der dieser Differenzierung
zugrunde liegenden Pluralismustheorie R. C. van Ooyen, Der Staat der Moderne, 2003, S. 24 ff.
31
Ein aktuelles Beispiel zu einer durch tatsächliche Faktoren bedingten Suspendierung ist das
Steuerungsversagen des Rechts im Rahmen technischer Sachverhalte. Siehe dazu Schuppert (Fn. 21), S. 218.
32
Luhmann (Fn. 24), S. 17.
33
Luhmann (Fn. 24), S. 25 f.
34
Grundlegend dazu G. Agamben, Ausnahmezustand, 2004, insb. S. 8 f., 13; im Kontext des „nackten
Überlebens“ im Ausnahmezustand das auf die Verhältnisse in den sog. Hotspots übertragbar ist (dazu unten)
G. Agamben, Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Überleben, 2002, insb. S. 125 ff., 175 ff.
35
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, S. 101 ff.; K. Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 184 Rn. 17 ff.
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wesentlichen Teil des internationalen Ordre public dar.
36
Auch die EU hat sich sukzessive auf sie
berufen
37
und sie als wesentliche Grundsätze etabliert.
38
1. Menschenrechte&als&Grundwert&im&supranationalen&Rechtssystem&
In normativer Hinsicht ist die Wahrung der Menschenrechte sowohl Vorgabe und Ausgangspunkt r
das Handeln der Union, als auch ihr Ziel.
39
Neben der plakativen Normierung der Grundwerte in
Art. 2 EUV finden sich extensive Ausführungen in der Grundrechtecharta (GRCh). Über
Art. 6 Abs. 3 EUV wird die Rechtsordnung der Union zudem um das Menschenrechtsregime des
Europarats (EMRK) erweitert. Auch der AEUV nimmt im Bereich der spezifischen Politiken und
Handlungen der EU auf die Menschenrechte
40
Bezug. Genannt seien beispielhaft Art. 67 und
Art. 151 AEUV.
Auch bei der Auslegung von Rechtssätzen sind die Menschenrechte in Form ihrer Konkretisierung in
der EMRK und der GRCh heranzuziehen. In diesem Sinne bekräftigt der EuGH ihre Bedeutung als
Prüfungsmaßstab nach innen wie außen (extraterritorial).
41
2. Geltung&von&Menschenrechten&in&Krisenzeiten&
Um die Bedeutung von Werten einschätzen zu können, muss analysiert werden, wie sich deren
Positivierung, insbesondere in sogenannten Krisenzeiten, in der Rechtsrealität auswirkt.
42
In diesen
ist neben einer bloßen Relativierung der normativen Vorgaben der Art. 2 und Art. 21 EUV auch ihre
Suspendierung zu beobachten. Die Union hat unterschiedliche Instrumentarien geschaffen,
43
durch
deren Anwendung das geltende Recht relativiert wird. Exemplarisch können dafür die
Implementierung des Hotspot-Konzepts im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise sowie die mit
dieser einhergehende Kooperation zwischen der EU und der Türkei angeführt werden. In beiden
Fällen wird das Wertesystem der Menschenrechte unter Angabe faktischer Zwänge weitgehend
ausgesetzt.
36
Siehe nur Art. 1 Nr. 3 der UN-Charta vom 26.06.1946, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom
10.12.1948, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16.12.1966 sowie
den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966.
37
J. P. Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, 2011.
38
Siehe beispielsweise Hilf/Schorkopf (Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 1 ff. u. 36 f.; Nowak (Fn. 4), S. 7 ff.; Speer (Fn. 2),
S. 981 ff.
39
Ausdrücklich für die Außenbeziehungen Art. 21 Abs. 2 lit. b EUV.
40
Die Termini Grund- und Menschenrechte werden in Verträgen und Charta nicht einheitlich und differenziert
verwendet, sondern als Synonyme. Aufgrund dieser unsystematischen Verwendung auf der unionalen Ebene
wird im Folgenden der Begriff der Menschenrechte verwendet, der auch die Grundrechte erfassen soll.
41
Vgl. EuGH, Kadi I, Urt. v. 03.09.2008 C-402/05 P, Rn. 285 ff.; EuG, Frente Polisario/Rat, Urt. v. 10.12.2015
T-512/12, Rn. 159 ff.
42
Siehe auch FRA (Fn. 18), S. 11 ff.
43
Ausführlich EU-Kommission, Die Europäische Migrationsagenda, COM(2015) 240 final, 13.05.2015. Siehe
auch EU-Kommission, Pressemitteilung v. 23.09.2015: Bewältigung der Flüchtlingskrise:
http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5700_de.htm.
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Das sogenannte Hotspot-Konzept illustriert eine systematische Nichtbeachtung des Rechts:
Willkürliche und massenhafte Inhaftierung, menschenunwürdige Bedingungen während der
Unterbringung, rechtswidrige Abschiebungen von Schutzsuchenden, Außerachtlassen von
rechtstaatlichen Garantien sowie die Nichtbeachtung zahlreicher fundamentaler Menschenrechte.
44
Diese Praktiken sind symbolisch für die Flüchtlingspolitik der Union. Es herrscht ein Zustand der
Inklusion durch Exklusion, ein Phänomen, das nach Agamben konstitutiv für die abendländische
Politik ist.
45
Ausgehend von der Europäischen Migrationsagenda vom Mai 2015 werden in Griechenland und
Italien sogenannte Hotspots
46
eingerichtet. Dort sollen Geflüchtete von Beginn ihrer Einreise an in
Aufnahmelagern untergebracht werden, bis sie entweder in einen anderen EU-Mitgliedstaat
umverteilt werden, in das reguläre Asylverfahren des Mitgliedstaats aufgenommen oder in die Türkei
abgeschoben werden.
47
Seit dem Abschluss der Vereinbarung mit der Türkei im März 2016 werden
grundsätzlich alle Schutzsuchenden, die in Griechenland ankommen, gegen ihren Willen zunächst
mindestens drei Tage in geschlossenen Einrichtungen festgehalten und an der Weiterreise
gehindert.
48
Die Unterbringung in den Aufnahmelagern kann zunächst auf bis zu 25 Tage verlängert
werden. Bestehen keine Alternativen zu dieser Art der Unterbringung, kann eine weitere
Unterbringung aus unterschiedlichen Gründen für bis zu 45 Tage angeordnet werden, die in
bestimmten Fällen um weitere 45 Tage verlängert werden darf. Eine Unterbringung bis zu 25 Tagen,
die um weitere 20 Tage verlängert werden darf, ist ebenso bei unbegleiteten Minderjährigen
vorgesehen.
49
Neben weiteren internationalen Organisationen kritisierte auch der UNHCR diese
Vorgehensweise und kündigte die Aussetzung einiger seiner Aktivitäten an den Hotspots an.
50
44
Ausführlich dazu Amnesty International, A Blueprint for Despair, Februar 2017:
https://www.amnesty.org/en/documents/eur25/5664/2017/en/; N. Markard/H. Heuser, Möglichkeiten und
Grenzen einer menschenrechtskonformen Ausgestaltung von sogenannten „Hotspots“ an den europäischen
Außengrenzen, 2016: https://www.jura.uni-hamburg.de/media/ueber-die-fakultaet/personen/markard-
nora/markard-heuser-hotspots-2016.pdf; H. Cremer (Deutsches Institut für Menschenrechte), Die EU-Türkei-
Vereinbarung vom 18. März 2016, Juni 2016: http://www.institut-fuer-
menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/DIMR_Stellungnahme_Menschenr
echtliche_Bewertung_EU-Tuerkei-Vereinbarung_in_ihrer_Umsetzung_20_06_2016.pdf; B. Kuster/V. S. Tsianos,
Hotspot Lesbos, August 2016: https://www.boell.de/de/2016/08/03/hotspot-lesbos.
45
Agamben (Fn. 34), Homo Sacer, S. 17 und 19.
46
Ausführlich zu dem Konzept Markard/Heuser (Fn. 44), S. 11 ff.
47
In den Lagern an den Hotspots erfolgt u.a. eine Befragung und Identifizierung durch Frontex, die
Registrierung, das sogenannte Screening und eine erste Analyse des Asylantrages, ausführlich dazu
Markard/Heuser (Fn. 44), S. 11 f.; Kuster/Tsianos (Fn. 44), S. 16 ff.
48
UNHCR, EU-Türkei-Deal: UNHCR ändert Rolle in Griechenland, 22.03.2016:
http://www.unhcr.de/home/artikel/e1a68ca0290c2d2f3f0fadf1a05d753d/eu-tuerkei-deal-unhcr-aendert-rolle-
in-griechenland.html.
49
N. Markard/H. Heuser, „Hotspots“ an den EU-Außengrenzen: Menschen- und europarechtswidrige
Internierungslager, ZAR 2016, S. 165 (S. 166); Cremer (Fn. 44), S. 6 f.; Kuster/Tsianos (Fn. 44), S. 25 f.
50
UNHCR (Fn. 48). Kritisch auch Amnesty International (Fn. 44); Cremer (Fn. 44).
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8
In den Hotspots ist die räumliche Bewegungsfreiheit der Betroffenen durch die Mitgliedstaaten auf
einen Ort beschränkt, sodass es sich gem. Art. 2 h) der Aufnahmerichtlinie
51
um eine Haft handelt.
52
Diese systematische Inhaftierung von Geflüchteten
53
, die einen strukturellen Teil des
Hotspotkonzepts darstellt,
54
verletzt deren Recht auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 6 GRCh,
Art. 5 EMRK
55
sowie ihre Freizügigkeit aus Art. 26 GFK.
56
Das Recht auf Freiheit schützt zumindest die körperliche Bewegungsfreiheit (Schutz vor
Freiheitsentziehung)
57
und wurde maßgeblich durch die Rechtsprechung des EGMR mit Bezug auf
Asylsuchende konkretisiert.
58
In das Recht darf nur nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK
eingegriffen werden; ferner stellt die Aufnahmerichtlinie weitere unionsrechtliche Anforderungen
auf. Im Rahmen des Hotspot-Konzepts fehlt es jedoch an den notwendigen Umständen für eine
Inhaftierung dieses Ausmaßes. Die Haftgründe aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK kommen nicht in
Betracht
59
: Die Norm erfordert, dass eine Verurteilung durch ein zuständiges Gericht oder eine
Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung vorliegt, die Freiheitsentziehung zur
Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung dient oder zur Verhinderung der
unerlaubten Einreise erfolgt. Nicht in der EMRK vorgesehen ist allerdings der Haftgrund der
Verhinderung der Weiterreise innerhalb der EU bzw. der Verhinderung einer unerlaubten Ausreise in
Richtung weiterer EU-Mitgliedsstaaten wozu die Festnahme in den Hotspots hauptsächlich dient.
60
Auch aus der Aufnahmerichtlinie ergeben sich keine Gründe, die eine Einschränkung der
Bewegungsfreiheit rechtfertigen könnten
61
: Die Verhinderung der Weiterflucht und die unerlaubte
Ausreise sind in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie eben gerade nicht angeführt. Demzufolge erweist sich
51
RL 2013/32/EU v. 26. Juni 2013.
52
So auch Markard/Heuser (Fn. 49), S. 168; Cremer (Fn. 44), S. 6-7.
53
Siehe zu der Feststellung der Unterbringung von Flüchtlingen als systematische Inhaftierung: EGMR,
Khalaifia, Urt. v. 15.12.2016 16483/12, Rn. 88 ff.; Markard/Heuser (Fn. 49), S. 166 f.; Cremer (Fn. 44), S. 6;
Amnesty International (Fn. 44), S. 8 f.; Human Rights Watch, Flüchtlings-„Hotspots“ gefährlich und
unhygienisch, 02.06.2016: https://www.hrw.org/de/news/2016/06/02/griechenland-fluechtlings-hotspots-
gefaehrlich-und-unhygienisch; Pro Asyl, Abschiebung und Haftlager: Der EU-Türkei-Deal und seine
verheerenden Folgen, 24.03.2016: https://www.proasyl.de/news/abschiebungen-und-haftlager-der-eu-
tuerkei-deal-und-seine-verheerenden-folgen/.
54
Markard/Heuser (Fn. 49), S. 166 m.w.N.
55
Art. 5 EMRK, an den die Union nach Art. 6 Abs. 3 EUV gebunden ist, ist nach Art. 52 Abs. 3 GRCh auch für die
Bestimmung des Art. 5 GRCh maßgeblich, vgl. C. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 6 GRCh Rn. 4 f.
56
Die EU ist über Art. 18 GRCh an die Vorgaben der GFK gebunden, sodass der Inhalt der GFK für die EU
verbindlich ist, vgl. M. Rossi, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 18 GRCh Rn. 1 f.
57
Calliess in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 6 GRCh Rn. 4 ff.
58
Siehe nur EGMR, Khalaifia, Urt. v. 15.12.2016 16483/12 mit weiteren zahlreichen Nachweisen.
59
Ausführlich dazu Markard/Heuser (Fn. 49), S. 168 f.
60
Markard/Heuser (Fn. 49), S. 168.
61
Markard/Heuser (Fn. 49), S. 169-170.
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9
diese Praxis, die entgegen menschenrechtlicher Vorgaben auch Kindern gegenüber erfolgt
62
, als
menschenrechts- und unionsrechtswidrig.
63
Von dieser pauschalen und willkürlichen Haft sind grundsätzlich alle Geflüchteten betroffen, die
Griechenland erreichen. Die Rechtsverletzung in den Hotspots erweist sich demnach nicht mehr als
Ausnahme von der Regel rechtskonformen Handelns.
Ein weiteres Beispiel, das als Sinnbild des nackten Lebensund der Rechtlosigkeit der Geflüchteten
in den Hotspots steht, sind die Haft- bzw. Aufnahmebedingungen.
64
Zu den Zuständen in den Lagern
in Griechenland konstatiert das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR), dass die Zustände
mitunter katastrophal seien.
65
Die hygienischen Bedingungen seien unzumutbar, es gebe nicht
genügend Toiletten, die Menschen müssten stundenlang für regelmäßig unzureichendes Essen, das
durchaus verfault sei, anstehen.
66
Auch die besonderen Bedürfnisse bestimmter schutzbedürftiger
Gruppen wie Kinder, Traumatisierter oder Frauen werden nicht berücksichtigt.
67
Diese Zustände
müssten ausnahmslos alle Schutzsuchenden für drei Tage und bestimmte Gruppen darüber hinaus
bis zu drei Monate ertragen. In dieser Zeit sind sie nicht nur ihrer Freiheit beraubt, sondern müssen
in ständiger Angst vor Abschiebung und Gewalt leben.
68
Aufgrund dieser unerträglichen Zustände
haben sich zivilgesellschaftliche Hilfsorganisationen bereits aus Aufnahmelagern zurückgezogen.
69
Die genannten Zustände entsprechen weder in Italien noch in Griechenland den Vorgaben der
Aufnahmerichtlinie, welche die grundrechtlichen Garantien der GRCh konkretisiert. Die dort
verlangten Mindestbedingungen zielen vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der
Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Art. 4, 7 und 21 GRCh zu fördern.
70
Dennoch werden diese Rechte keineswegs gewährleistet oder auch nur lanciert. Tatsächlich erfolgt
eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK). Schlechte
Unterbringungs- bzw. Haftbedingungen, wie überfüllte Anlagen, mangelhafte hygienische
62
Amnesty International (Fn. 44), S. 8 f., 25 f.; Cremer (Fn. 44), S. 6 f.
63
Markard/Heuser (Fn. 49), S. 168 f.; Cremer (Fn. 44), S. 6 f.; Dutch Council for Refugees u.a., The
Implementation of the hotspots in Italy and Greece A Study, Dezember 2016, S. 38: http://www.ecre.org/wp-
content/uploads/2016/12/HOTSPOTS-Report-5.12.2016.pdf.
64
Ähnlich auch Markard/Heuser (Fn. 49), S. 166. Hierzu ausführlich Dutch Council for Refugees u.a. (Fn. 63),
S. 25 f.; Amnesty International (Fn. 44), S. 22 f.; S. Klepp, Haftzentren für Migrant_innen in Italien der
andauernde Ausnahmezustand, SozProb 2015, S. 171; Cremer (Fn. 44), S. 17 f.; siehe auch Pro Asyl, Hot Spots in
der Ägäis: Zonen des Elends und der Rechtlosigkeit, 17.06.2016: www.proasyl.de/news/hot-spots-in-der-
aegaeis-zonen-des-elends-und-der-rechtlosigkeit/.
65
Cremer (Fn. 44), S. 8 m.w.N.
66
Cremer (Fn. 44), S. 8 m.w.N.
67
Cremer (Fn. 44), S. 9 m.w.N; Amnesty International (Fn. 44), S. 25 f.
68
Amnesty International (Fn. 44), S. 23 f.
69
Ärzte der Welt: Ärzte der Welt zieht sich aus Camp Vial zurück:
http://www.aerztederwelt.org/projekte/projekt-details/article/chiosgriechenland-aerzte-der-welt-zieht-sich-
aus-camp-vial-zurueck.html. Kritisch auch Ärzte ohne Grenzen: Ärzte ohne Grenzen nimmt kein Geld mehr von
EU und Mitgliedstaaten: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/aerzte-ohne-grenzen-stopp-eu-gelder.
70
Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU, Erwägungsgrund Nr. 35, 11, 17; EuGH, Saciri u.a., Urt. v. 27.02.2014 – C-
79/13, insb. Rn. 35 f.
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10
Bedingungen und Sanitäranlagen, fehlende Freizeiteinrichtungen, mangelnder Kontakt mit der
Außenwelt und ähnliches können diese konstituieren
71
, wie der EGMR hinsichtlich ähnlich
unerträglicher Zustände in Griechenland und Italien bereits in der Vergangenheit festgestellt hat.
72
Dies unterstrich er unter anderem in seinen Grundsatzurteilen „M.S.S. gegen Belgien und
Griechenland“ sowie Tarakhel“.
73
Insbesondere kritisierte der Gerichtshof, dass die systematische Unterbringung von Asylsuchenden in
Haftzentren ohne Angabe von Gründen eine weit verbreitete Praxis sei. Auch die überfüllten Zellen
und die unhygienischen Bedingungen in den Haftzentren wurden hervorgehoben. Hinsichtlich der
Lebensbedingungen stellte der Gerichtshof auf das monatelange Leben in extremer Armut, ohne in
der Lage zu sein, für die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterbringung und Hygieneartikel
aufzukommen, sowie auf die ständige Angst vor Angriffen und Überfällen ab. Die Kongruenz der dort
beschriebenen Zustände mit jenen, die gegenwärtig in den Hotspots herrschen, ist augenfällig.
74
Dies
gilt sowohl für die Zustände in Italien
75
als auch in Griechenland. Vor allem in den Lagern in
Griechenland kann eine solche Verletzung aufgrund des Zusammenkommens der ausgeführten
zahlreichen Mängel (kumulativer Effekt)
76
und der konkreten Unterbringungsbedingungen und
Inhaftierung für Kinder
77
angenommen werden.
Wie der EGMR ausdrücklich betont, stellt Art. 3 EMRK den Kern der gesamten Konvention dar und
beansprucht absolute Geltung. Eine Derogation ist, wie Art. 15 Abs. 2 EMRK klarstellt, selbst in Zeiten
eines öffentlichen Notstands ausnahmslos unzulässig.
78
Dennoch werden im Ergebnis gegenwärtig
grundlegende Menschenrechte stillschweigend außer Kraft gesetzt.
7" #$%&'()*'+$(,-)'+-.'(%/0'(+'/01'-*8-9!08'(-)'%-:;<=/01<*(,%4>'!<%?-8*1-)'+-
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Die Suspendierungssemantik sowie der Drang nach der Suspendierung der Werte sind auch
hinsichtlich der nach außen gerichteten Maßnahmen der EU zu beobachten. Der Grenzschutz wird
zunehmend externalisiert und militarisiert,
79
anstatt sichere und legale Möglichkeiten für
71
Siehe z.B. EMGR, Khalaifia, Urt. v. 15.12.2016 16483/12, Rn. 159 ff. Für weitere zahlreiche Nachweise
Markard/Heuser (Fn. 49), S. 171.
72
Siehe für zahlreiche Nachweise EGMR, Khalaifia, Urt. v. 15.12.2016 16483/12, Rn. 170 ff.
73
EGMR, M.S.S., Urt. v. 21.01.2011 30696/09; EGMR, Tarakhel, Urt. v. 04.11.2014 29217/12.
74
Mit ähnlicher Feststellung auch Markard/Heuser (Fn. 49), S. 171.
75
Ausführlich zu den Zuständen in italienischen Lagern siehe z.B. Klepp (Fn. 64).
76
Hierzu EMGR, Khalaifia, Urt. v. 15.12.2016 16483/12, Rn. 163 f.; so auch Markard/Heuser (Fn. 44), S. 35 ff.
m.w.N.; dies. (Fn. 49) S. 171; Kuster/Tsianos (Fn. 44), S. 22 ff.; zurückhaltend Cremer (Fn. 44), S. 8.
77
Siehe zum Verstoß gegen Art. 3 EMRK aufgrund der Inhaftierung von Minderjährigen EGMR, Rahimi, Urt. v.
5.04.2011 8687/08; EGMR, Popov, Urt. v. 19.01.2012 39472/07, 39474/07.
78
EMGR, Khalaifia, Urt. v. 15.12.201616483/12, Rn. 158 m.w.N.
79
P. Bendel, Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Menschenrechte wahren!, Wiso Diskurs, 2015, S. 7,
13 ff.; S. Dünnwald, Remote Control?. Europäisches Migrationsmanagement in Mauretanien und Mali,
movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 2015: http://movements-
journal.org/issues/01.grenzregime/08.duennwald--remote-control-mali-mauretanien.html.
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11
Schutzsuchende anzubieten.
80
Auf diesem Wege entledigt sich die Union ihrer menschenrechtlichen
Pflichten, wie die Kooperation mit der Türkei seit November 2015
81
zeigt. Die wesentliche Grundlage
dieser Kooperation wurde am 18. März 2016 gelegt.
82
Neben sechs Milliarden Euro wurde der Türkei
die Visaliberalisierung und die beschleunigte Fortsetzung des Beitrittsprozess in Aussicht gestellt. Als
Gegenleistung dafür sollte sie alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Ausreise über Land-
und Seewege in die EU zu unterbinden, eine schnelle „Rückführung“ zu ermöglichen und alle
„irreguläre Migranten“ zurückzunehmen, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei nach
Griechenland gelangen. Zudem sollten auch alle in türkischen Gewässern aufgegriffenen „irregulären
Migranten“ zurückgenommen werden.
Diese Kooperation wirft insbesondere im Hinblick auf die Beachtung der Grundwerte aus Art. 2,
21 EUV zahlreiche rechtliche Fragen auf.
83
Die EU setzt sich nach Art. 21 Abs. 2 lit b EUV bei ihrem
auswärtigen Handeln insbesondere für die Verfestigung und Förderung der Menschenrechte ein.
84
Im
Rahmen der sogenannten EU-Türkei-Vereinbarung waren diese Vorgaben für das Handeln der EU
jedoch offenbar nicht maßgeblich. Bereits vor der Vereinbarung, spätestens seit August 2015, war
ein autoritärer Stil des Präsidenten Erdogan und des türkischen Staatsapparats zu beobachten.
Zunehmende Menschenrechtsverletzungen gegenüber Opposition, Zivilgesellschaft und Presse,
Verwässerung rechtsstaatlicher Grundsätze sowie Einschränkungen der Menschenrechte prägten die
Lage in der Türkei.
85
Die Ereignisse seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 sind also keineswegs ein
Novum sie sind nur eine Modifizierung der Dimensionen des bereits zuvor herrschenden
Ausnahmezustandes, welcher nach dem Putschversuch nunmehr offiziell verhängt wurde. Dennoch
nahm die Kritik aus der Union und den Mitgliedstaaten seit Sommer 2015 zunächst ab und die
80
Bendel (Fn. 79), S. 7, 9 ff.; P. Endres de Oliveira, Legaler Zugang zu internationalem Schutz zur
Gretchenfrage im Flüchtlingsrecht, KJ 2016, S. 167.
81
Europäischer Rat, Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU mit der Türkei, 29.11.2016 Erklärung EU-
Türkei, Erklärungen und Bemerkungen Nr. 870/15: http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-
releases/2015/11/29-eu-turkey-meeting-statement/.
82
Europäischer Rat, Erklärung EU-Türkei, 18.03.2016, Pressemitteilung Nr. 144/16:
http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/.
83
Kaum überzeugend ist die jüngste Entscheidung des EuG, dass es sich bei der Vereinbarung nicht um eine
Handlung der Unionsorgane handle, weshalb es selbst unzuständig sei, über die Rechtmäßigkeit der
Vereinbarung zu befinden: EuG, B. v. 28.02.2017 - T-192/16. Ungeachtet der Feststellungen des Gerichts betont
die EU selbst, dass sie und nicht die Mitgliedstaaten an der Vereinbarung mit der Türkei festhalten werde
und dies auch von der Türkei erwarte, siehe z.B.: http://www.reuters.com/article/us-turkey-referendum-
netherlands-eu-idUSKBN16M1EO. Das EuG lässt im Ergebnis einen rechtsfreien Raum zu und wird Teil des
Suspendierungsprozesses - es entsteht eine Art Kapitulation der Gerichte. Kritisch zu der Entscheidung des EuG
auch J. Bast, Scharade im kontrollfreien Raum: Hat die EU gar keinen Türkei-Deal geschlossen?:
http://verfassungsblog.de/scharade-im-kontrollfreien-raum-hat-die-eu-gar-keinen-tuerkei-deal-geschlossen/.
84
Vgl. die Nachweise unter Fn. 3 und 6.
85
Siehe nur Europäisches Parlament, Fortschrittsbericht 2014 über die Türkei, P8_TA(2015)0228; Entschließung
des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2015 zu dem Fortschrittsbericht der Kommission von 2014 über die
Türkei, 2014/2953(RSP).
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12
Zusammenarbeit setzte sich fort. So verschob beispielsweise die EU-Kommission ihren kritischen
Fortschrittsbericht
86
über die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
87
Auch das massive Vorgehen der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung seit August 2015 zog keine
Konsequenzen gegenüber der Türkei nach sich:
88
Die Zerstörung und Bombardierung mehrerer
kurdischer Städte, der Tod von ca. 1.200 Menschen, die Vertreibung von mehreren hunderttausend
Menschen, Folter und weitere zahlreiche Menschenrechtsverletzungen
89
sowie der Verdacht von
Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit
90
wurden zunächst kaum beachtet. Erst
allmählich und nach der Festnahme zahlreicher Abgeordneten der HDP und der Mitarbeiter*innen
der Zeitung Cumhuriyet hat sich die Haltung einiger europäischer Institutionen geändert.
91
Praktische
Folgen sind bislang nicht ersichtlich.
Diese massiven Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sind auch für die Union von rechtlicher
Relevanz. Die Vorgaben des Art. 21 EUV verpflichten sie jedenfalls, menschenrechtswidriges Handeln
nicht schlicht auszublenden. Dennoch ist gegenwärtig nicht zu erkennen, dass diesen Vorgaben für
die Politiken der EU gegenüber der Türkei irgendeine Relevanz zukommt. Zugunsten der Abwehr von
Geflüchteten erfolgt eine Suspendierung der in Art. 2, 21 EUV verbrieften Werte.
3. Die&unzulängliche&Faktizität&der&Menschenrechte,
Die EU trägt zur Relativierung des Grundwerts der Menschenrechte bei, wenn es tatsächlich auf
diesen ankommt. Ihr Handeln geht von der Prämisse aus, das Politische in Form von Sachzwängen
müsse Vorzug vor dem Rechtlichen beanspruchen. Die Politik bestimmt die Anwendung des Rechts
nach ihrer Logik, was eine Suspendierung bedingt. Begünstigt durch gesellschaftliche und politische
Faktoren wird so die Autonomie des Rechts beeinträchtigt.
Hatte Luhmann einst pointiert ausgeführt, dass Werte Reflexionsstopp und Orientierungspunkte im
System sind und nur dann zur Anwendung kommen, wenn sie von Interesse sind
92
, so ist gegenwärtig
festzustellen, dass sie in dem aktuellen Zustand des Rechts teilweise überhaupt nicht zur Anwendung
kommen. Mit jeder (tatsächlichen oder behaupteten) Krise wird der Ausnahmezustand erklärt, der
86
Europäische Kommission, Turkey Report 2015, Brussels 10.11.2015, SWD (2015) 216 final.
87
K. Bensch, EU verkneift sich Türkei-Kritik bis zur Wahl: https://www.tagesschau.de/ausland/eu-
fortschrittsbericht-tuerkei-101.html.
88
Kritisch auch R. Marx, Europäische Integration durch Solidarität beim Flüchtlingsschutz, KJ 2016, S. 150 (153).
89
Siehe dazu insb. UN-HCHR, Report on the human rights situation in South-East Turkey July 2015 to
December 2016, Februar 2017: http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OHCHR_South-
East_TurkeyReport_10March2017.pdf; ferner auch C. Akyol, Der Krieg nebenan, Amnesty Journal April 2016:
http://www.amnesty.de/journal/2016/april/der-krieg-nebenan.
90
FAZ, Anzeige wegen Kriegsverbrechen gegen Erdogan, 27.06.2016:
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/anzeige-gegen-recep-tayyip-erdogan-wegen-kriegsverbrechen-
14311287.html.
91
Das Europäische Parlament hat am 24.11.2016 entschieden, die Beitrittsgespräche mit der Türkei
auszusetzen: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24.11.2016 zu den Beziehungen zwischen der
EU und der Türkei, 2016/2993(RSP).
92
Luhmann (Fn. 24) S. 17 ff.
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13
die Suspendierung des Rechts nach sich zieht. So entsteht ein perpetuierter Ausnahmezustand, in
dem die Suspendierung der Regelfall ist. Zu beobachten ist ein unaufrichtiges Verständnis von Recht:
Einerseits wird auf die Grundwerte insistiert, auf der anderen Seite aber werden diese zugleich außer
Acht gelassen, wenn sie für Entscheidungen von Relevanz sind. Die Beachtung der Menschenrechte
wird tatsächlich unter einen Ausnahmezustandsvorbehalt gestellt.
Im Ergebnis „lassen sich die grundlegenden Werte des Gemeinwesens Menschenwürde! Gleichheit!
Humanität! hochhalten, während gleichzeitig auf eine verschwiegene Weise dafür gesorgt ist, dass
sie nicht praktisch werden müssen.“
93
Noch kritischer könnte man das Ergebnis wie folgt
zusammenfassen: Migration wird in der Europäischen Union vornehmlich nach einer
Sicherheitslogik bearbeitet, die Existenzbedrohung suggeriert und sich in der Folge institutioneller
und rechtlicher Grenzen zu entledigen sucht.
94
Die zuletzt zitierte Aussage wurde bereits 2007
getroffen zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Asylanträge in Deutschland noch bei 30.000 (!) und
EU-weit knapp über 200.000 lag.
95
Diese permanente Existenzbedrohung, die Sicherheitslogik und
der Drang nach Suspendierung des Rechts
96
sind keine neuen Phänomene, die erst seit dem Sommer
der Flucht 2015 begonnen haben, sondern die Fortsetzung einer dauerhaften Praxis.
97
III. Die,Säule,der,Demokratie,
Auch hinsichtlich des Erfordernisses der Demokratie, das unter anderem in Art. 2, 9 ff. EUV verankert
ist,
98
sind Suspendierungseffekte erkennbar. Im Gegensatz zu der im Bereich der Menschenrechte
festgestellten praktischen Form der Suspendierung handelt es sich hier jedoch um eine solche der
strukturellen Art.
93
U. Volkamnn, Der Flüchtling vor den Toren der Gemeinschaft, KJ 2016, S. 180 (193).
94
A. Fischer-Lescano/T. Tohidipur, Die europäische Grenzschutzagentur Frontex, Asylmagazin Beilage 2007,
S. 19 (19 m.w.N.). Zu den gegenwärtigen Verhältnissen siehe Marx (Fn. 88) S. 154 f.
95
Vgl. BAMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Juni 2016, S. 7:
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juni-
2016.pdf?__blob=publicationFile; Eurostat: Asylum applications in the EU-28 Member States, 2004-2014:
http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/File:Asylum_applications_%28non-
EU%29_in_the_EU-28_Member_States,_2004%E2%80%9314_%28%C2%B9%29_%28thousands%29_YB15_III-
de.png.
96
Zur Zusammenfassung des Diskurses A. Engelmann, Von Norwegen, KJ 2016, S. 233. Wenn nicht für die
Suspendierung, so zumindest für die Relativierung des Rechts plädieren beispielsweise O. Depenheuer,
Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschlichen Universalismus, in: ders./Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der
Flüchtlingskrise, 2016, S. 18; D. Murswiek, Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, ebenda, S. 123;
J. Isensee, Menschenwürde: Rettungsinsel in der Flüchtlingsflut, ebenda, S. 231.
97
Vgl. S. Salomon, Diskurse im und über das Recht: http://www.juwiss.de/28-2016/; M. Mona, Recht auf
Immigration, Basel 2007, S. 5 ff. Aus diesem Grund dürfte der Plausibilisierungsversuch von Volkmann (Fn. 93),
S. 186 ff., 192 f., kaum überzeugen, soweit er auf die Überforderung der Gesellschaft, des Rechts und der
Rechtsphilosophen aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen und damit verbundenen „Herausforderungen“
abstellt. Die vorgetragenen Argumente und Bedenken sind weder neu, noch stehen sie primär mit dem
Sommer der Flucht 2015 in Zusammenhang. Kritisch dazu auch A. Wallrabenstein, „Ich sehe was, was du nicht
siehst“. Wahrnehmungsunterschiede in der Flüchtlingsdebatte, KJ 2016, S. 407.
98
Vgl. Hilf/Schorkopf (Fn. 4, 58. EL 2016), Art. 2 Rn. 8.
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14
1. Demokratie&als&Grundwert&
Wenngleich auch die einzelnen Mitgliedsstaaten jeweils demokratische Rechtsordnungen aufweisen,
ist der auf dem europäischen Primärrecht beruhende Demokratiebegriff ein selbständiger, der in
relativer Abhängigkeit von den mitgliedsstaatlichen Ausprägungen zu ermitteln ist.
99
Zur
Konkretisierung des in Art. 2 EUV programmhaft deklarierten Wertes können die „Bestimmungen
über die demokratischen Grundsätze“ aus den Art. 9 ff. EUV herangezogen werden.
100
Bedenkt man,
dass die konkrete Ausgestaltung der Demokratie durch die am System beteiligten Subjekte selbst
vollzogen wird und von sozialen, kulturellen und ökonomischen Umständen abhängt,
101
so kann die
in den Art. 9 ff. EUV enthaltene Ausgestaltung als Ausdruck eines den Gehalt des Wertes tragenden
und an den realen Gegebenheiten ausgerichteten gesellschaftlichen Konsenses gesehen werden.
102
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Als Herrschaft des Volkes bedeutet Demokratie, dass die Staatsgewalt vom Volk als Souverän selbst
ausgeht.
103
Aus dieser Idealvorstellung wird die „Identität von Herrscher und Beherrschtem“
gefolgert.
104
Da das real bestehende Volk teilweise eigene wirtschaftliche Vorteile anstrebt und in
seiner Unzulänglichkeit hinter dem noch von Rousseau fokussierten Idealbild des „demos“
105
zurückbleibt, besteht hier eine Diskrepanz zwischen dem Ideal und der praktischen Ausformung.
Zudem umfasst die Bevölkerung eines Staates in der heutigen globalisierten Welt weit mehr
Menschen als nur das Staatsvolk selbst.
106
Der Umstand, dass das tatsächliche Staatsvolk das Ideal
nicht erreichen kann, führt dazu, dass am Ende zumindest aus Sicht der unterlegenen Minderheit
eine Unterwerfung unter einen fremden Willen vorliegt.
107
Wie die vor kurzem in den USA und Großbritannien getroffenen Mehrheitsentscheidungen zeigen,
können potentielle ökonomische Vorteile bei der Entscheidungsfindung eine große Rolle spielen und
ergebnisprägend sein.
108
Um zu verhindern, dass die bestehenden Grundwerte in Anbetracht eines
potentiell in Aussicht stehenden Wohlstands suspendiert werden, müssen sich demokratische
99
Zu der Lehre vom Verfassungsverbund E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als
Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 393 Rn. 26; für eine vorwiegend rechtsvergleichende Betrachtung B. W.
Wegener, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 19 Rn. 17.
100
Vgl. M. Haag, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 20), Art. 9 Rn. 1.
101
Vgl. dazu N. Petersen, Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende?, 2010, S. 3 m.w.N.
102
Vgl. A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 713 f.
103
Vgl. F. E. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 20 Rn. 23.
104
C. Schmitt, Verfassungslehre, 1993, S. 234.
105
Siehe dazu J.-J. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1977, S. 43 u. 122 ff.
106
Vertiefend zu den sich im Bereich der politischen Partizipation ergebenden Fragen A. Schulte, Politische
Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft: Auf dem Weg zu mehr Demokratie?, ZAR 2015, S. 381 (382).
107
Vgl. J. Fröbel, System der socialen Politik, Zweiter Theil, Mannheim 1847, S. 97.
108
Vgl. H. Müller, Kapitalismus in der Krise: Stresstest für die Demokratie, Spiegel Online 19.02.2017:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/kapitalismus-in-der-krise-der-stresstest-fuer-die-demokratie-
a-1134356.html.
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15
Entscheidungen stets innerhalb der bestehenden Werteordnung bewegen.
109
Der Begriff der
Werteordnung zeigt, dass die einzelnen Werte nicht nur für sich alleine stehen können, sondern dass
es sich um ein Wertesystem handelt, dessen Schlüssigkeit durch eine Abwägung von Werten mit- und
untereinander bedingt ist.
110
Auch demokratische Entscheidungen haben Menschenrechte und
Solidarität zwingend zu achten. Zudem darf sich der Wert der Demokratie nicht in der Herrschaft der
Mehrheit erschöpfen, sondern muss durch einen wirksamen Minderheitenschutz gerechte
Einflussmöglichkeiten für alle am System Beteiligten vorsehen.
111
Der in der Türkei angedachte
Parlamentsentscheid über die Einführung der Todesstrafe
112
verstößt beispielsweise gegen Art. 1 des
13. Zusatzprotokolls zur EMRK. Diese Entscheidung unterfällt daher nicht dem aus der europäischen
Werteordnung heraus zu interpretierenden Demokratiebegriff und ist nicht von dem diesen
bildenden Grundkonsens getragen.
113
7" >'83A+!1*'7'1C1*,$(,-!<%-(31D'()*,'+-E)'(1*F*A!1*3(%F!A13+-$()-#1!7*<*1C1%,!+!(1-
Durch das demokratische System selbst werden nicht nur einzelne staatliche Maßnahmen legitimiert
und an das Volk rückgekoppelt. Eine gelebte Demokratie ist auch als identitätsstiftender Faktor zu
sehen.
114
Sie führt dazu, dass ein Grundkonsens über das staatliche Handeln besteht und sich der
Einzelne im Bild des staatlichen Gefüges wiederfindet.
115
Erzeugt die Demokratiebetätigung eine
solche gemeinsame Identität, so können kooperative demokratische Modelle über eine bloße
Identitätsbildung hinausgehen und dauerhafte Stabilität vermitteln.
116
Wäre eine derartige, Stabilität
generierende demokratische Rechtsordnung nicht Ausdruck grundlegender gemeinsamer
Wertevorstellungen, so hätten Einwohner einer wirtschaftlich stärkeren Region mit dauerhaftem
Ressourcenüberschuss kein Interesse daran, sich dem Mehrheitswillen zu unterwerfen.
Entscheidungen würden immer zu Lasten der Akteure mit begrenzter Wirtschaftsmacht ausfallen.
117
Für den Zusammenhalt innerhalb des „demos“ sind gemeinsame, von der einzelnen
mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung unabhängige, unveräußerliche Werte daher unerlässlich.
109
Vgl. C. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 2 EUV Rn. 5.
110
Vgl. dazu I. Maus, Menschenrechte, Demokratie und Frieden, 2015, S. 12.
111
Siehe dazu BVerfGE 2, 1 (12 f.); BVerfGE 5, 85 (198 f.); BVerfGE 123, 267 (343).
112
Spiegel Online, Erdogan lässt Parlament über Todesstrafe abstimmen, 29.10.2016:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-laesst-parlament-ueber-todesstrafe-abstimmen-a-
1118858.html.
113
Vgl. Peters (Fn. 102), S. 713 f.
114
Potacs (Fn. 10), S. 165 m.w.N.; Calliess (Fn. 109), Art. 2 EUV Rn. 4 m.w.N.; Calliess (Fn. 2), S. 1039; zur
Demokratie als Identitätselement W. G. Vizthum, Die Identität Europas, EUR 2002, S. 1, (S. 3); kritisch zur
Voraussetzung von Identität für demokratische Systeme F. Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der
Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008, S. 116 ff.
115
Peters (Fn. 102), S. 713 f.
116
Vgl. H.-J. Urban, Stabilitätsgewinn durch Demokratieverzicht?, Europas Weg in den Autoritarismus, in:
Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.), Demokratie oder Kapitalismus, 2013, S. 251 (260); H.
Naßmacher, Mehr Europa weniger Demokratie?, 2013, S. 2.
117
Vgl. dazu die Darstellung zur Griechenlandkrise bei D. N. Triantafyllou, Die asymmetrische Demokratie,
EUR 2014, S. 458 (464 ff.).
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16
2. Demokratie&in&der&Europäischen&Union!
Es liegt in dem Charakter des supranationalen Rechtsgebildes, dass auf der über den einzelnen
Mitgliedern liegenden Entscheidungsebene Problemstellungen auftreten, die in einzelnen
Mitgliedsstaaten bereits Gegenstand politischer Entscheidungen waren. Die Ergebnisse von
Mehrheitsentscheidungen können auf den unterschiedlichen Ebenen divergieren. Seine
Rechtfertigung findet dieser Umstand in der demokratischen Kompetenzübertragung auf die
supranationale Ebene.
118
Anforderungen an die Legitimation des Herrschaftsträgers stehen in
direktem Zusammenhang mit den ihm eingeräumten Befugnissen.
119
Das BVerfG sieht es daher als
folgerichtig an, dass der Fortentwicklung eines einheitlichen Demokratieverständnisses
und -begriffes in Europa durch die Verfassungsidentitäten der Mitgliedsstaaten Grenzen gesetzt
sind.
120
Dies führt dazu, dass die Anforderungen an die demokratische Rückkoppelung europäischer
Entscheidungen in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich beurteilt werden.
121
Als Beispiel lassen sich
die je nach Mitgliedsstaat unterschiedlichen Anforderungen an die Legitimation der
Griechenlandhilfen oder des Eurorettungsschirms nennen.
122
Die Frage, ob angesichts der auf die mitgliedsstaatlichen Völker und die Unionsbürger verweisenden
„dualen Legitimationsstruktur“ mehrere Legitimationssubjekte anzunehmen sind, wird uneinheitlich
beantwortet.
123
Für die Annahme der Bürger*innen als alleiniges Legitimationssubjekt spricht, dass
andernfalls auch den Nationalstaaten selbst eine mit der Stellung des Unionsbürgers
gleichzusetzende Stellung als Souverän zukommen würde.
124
Handelt ein Nationalstaat, so findet sich
in diesen Handlungen nur der Wille der Mehrheit wieder, die die aktuelle Volksvertretung gewählt
hat.
125
Demnach würde der Souverän durch jede nationale Wahl eine neue Zusammensetzung
finden. Neuere Legitimitätsmodelle versuchen derartige Defizite mittels einer Legitimitätsstiftung
durch Deliberation der politischen Öffentlichkeit zu überwinden.
126
Angesichts der teilweise als
118
M. Herdegen, Europarecht, 17. Aufl. 2015, § 10 Rn. 19 f.
119
M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 4, 55. EL 2015), Art. 10 EUV Rn. 13.
120
BVerfGE 89, 155 (174); so auch Triantafyllou (Fn. 117), S. 459.
121
Vgl. Hesse (Fn. 25), Rn. 705 f.
122
Vgl. Triantafyllou (Fn. 117), S. 460.
123
Stellvertretend für die Annahme des Bürgers als alleiniges Legitimationssubjekt Peters (Fn. 102), S. 504; in
diesem Sinne auch H. Çelik, Europäisches Mehrebenen-Legislativsystem, 2016, S. 246; stellvertretend für die
Gegenansicht Ruffert (Fn. 1), Art. 9 EUV Rn. 25.
124
So J. Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, S. 72; A. v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: v. Bogdandy/Bast
(Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 64.
125
Gegen eine nur von Mehrheiten ausgehende Souveränität bereits Rousseau (Fn. 104), S. 28; ff.; ebenfalls für
die Unteilbarkeit der Souveränität C. Schneider, Menschenrechte und Übertragung der Souveränität auf die
Europäische Union: Folgen für die Definition und Entwickelung der Menschenrechte, in:
Haller/Günther/Neumann (Hrsg.), Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa, 2011, S. 203 (204).
126
J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, in: Hamlin/Pettit (Hrsg.), The Good Polity, 1989, S. 17 ff.;
J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 349 ff. und 399 ff.
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17
„mangelnd“ bezeichnenden europäischen Öffentlichkeit konnten sich diese auf Unionsebene bis dato
aber nicht durchsetzen.
127
Die dargestellte Problematik ist das Ergebnis des europäischen Integrationsprozesses. Ausgehend
von der ursprünglichen Wirtschaftsgemeinschaft, die spätestens mit dem Vertrag von Maastricht
nachhaltig durch gemeinsame Grundwerte ergänzt wurde,
128
war eine konsequente demokratische
Legitimation herrschaftlichen Handelns auf supranationaler Ebene in den Anfangszeiten der EU nicht
durchsetzbar.
129
Die Frage nach dem noch in der Zukunft liegenden Abschluss dieses
Integrationsprozesses ist Anknüpfungspunkt für die Diskussion um ein potentielles
„Demokratiedefizit“ in den Strukturen der EU.
130
Im Rahmen der herausgebildeten dualen
Legitimationsstrukturen
131
stellt das Europäische Parlament das direkte Repräsentationsorgan dar.
132
Durch die Festlegung von exakten mitgliedsstaatlichen Mandatsanzahlen, denen eine an der
Staatengröße orientierte fallende Relation zugrunde liegt, wirken individuelle Wählerstimmen
unterschiedlich. Dies kann zu einem grundlegenden Repräsentationsdefizit führen.
133
In der
Gesetzgebung tritt neben das Europäische Parlament das weitere Legislativorgan des gemäß
Art. 16 Abs. 2 EUV aus Ministern der Mitgliedsstaaten bestehenden Rats der Europäischen Union.
Bereits der oftmals verwendete Begriff des „Ministerrates“ ist Ausdruck der nur indirekten
demokratischen Legitimation.
134
Eine ebenfalls indirekte Legitimationskette findet sich hinsichtlich
des Europäischen Rates, dessen Mitglieder gemäß Art. 15 Abs. 2 EUV aus den Staats- und
Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und den Präsidenten von Europäischem Rat und Kommission
bestehen.
135
Diese Legitimationsstrukturen werden von mehreren Stimmen als ausreichende
demokratische Rückkoppelung gesehen
136
, was für das politische Tagesgeschäft der Union zutreffen
mag. In Krisenzeiten stößt dieser Mechanismus jedoch an seine Grenzen. Unabhängig von der Frage
nach der Anzahl der bestehenden Legitimationssubjekte führt die Kombination von direkter und
indirekter Legitimation in Krisenzeiten zu einer immer wieder zu Tage tretenden überproportionalen
127
S. John, Demokratie in Europa Demokratie oder Illusion, in: Doering et al. (Hrsg.), Demokratie in Europa,
2013, S. 189 (209).
128
C. D. Classen/M. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, 5. Aufl.,
München 2011, § 17 Rn. 7 f.
129
Ausführlich zum europäischen Integrationsprozess R. Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, § 2 Rn. 12 ff.
130
Stellvertretend für die Annahme eines Demokratiedefizites Ruffert (Fn. 1), Art. 9 Rn. 4 u. 9a ff.; dagegen J.
Bergmann, in: ders. (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 5. Aufl. 2015, S. 222.
131
v. Bogdandy (Fn. 124), S. 65.
132
Herdegen (Fn. 117), § 7 Rn. 75.
133
Art. 14 Abs. 2 S. 3 EUV; siehe auch M. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 128), § 5 Rn. 25;
eingehend zur Kritik an diesem Prinzip P. M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 14
Rn. 64 ff.; für die Rechtmäßigkeit U. Everling, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen
Verfassungsgerichte EUR 2010, S. 91 (97).
134
John (Fn. 127), S. 198.
135
Streinz (Fn. 129), Rn. 287.
136
Bergmann (Fn. 130), S. 219 ff.; vgl. auch BVerfGE 89, 155 (184).
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18
Entscheidungsmacht der Exekutivspitzen der Mitgliedsstaaten.
137
Sie ist Ausgangspunkt eines an die
Output-Legitimation anknüpfenden Selbstverständnisses, das sich in dem politischen Vorgehen im
Rahmen der europäischen Krisen manifestiert
138
und Katalysator des beobachteten
Suspendierungsprozesses ist.
Aufgrund dieses Übergewichts der Exekutivmaßnahmen wurde teilweise auf das Phänomen der
„asymmetrischen Demokratie“ abgestellt, nach dem demokratische Mitwirkungsrechte im Verhältnis
der Union zu ihren Mitgliedsstaaten asymmetrisch verteilt sind.
139
Der Beschluss über das
Memorandum für das Darlehen an Griechenland war eine Entscheidung auf supranationaler Ebene.
Anhänger der Theorie der asymmetrischen Demokratie forderten daher zur hinreichenden
Demokratisierung die Einholung der Zustimmung des griechischen Parlamentes.
140
Dieser
supranationale Entscheidungen nachträglich aufhebende nationale Parlamentsbeschluss
141
hätte den
europäischen Integrationsprozess aber in Teilen wieder zurückgenommen und die verschiedenen
Stränge des dualen Legitimationsmodells verwischt.
142
Eine das System stabilisierende Lösung ist
dem entgegen in einer Optimierung des Entscheidungsprozesses auf supranationaler Ebene durch
weitergehende gesetzliche Konkretisierungen des Demokratieprinzips sowie der Einbindung des
Europäischen Parlamentes in Eilentscheidungen und nicht in einzelstaatlichen Lösungsansätzen zu
suchen.
3. Die&Suspendierung&der&Demokratie&in&Krisenzeiten&
In Krisenzeiten können sich Grundwerte bewähren. Werden sie beachtet und durchgesetzt, so bietet
die Krise eine Chance der Selbstvergewisserung und inhaltlichen Stärkung eines auf Grundwerten
aufbauenden Rechtssystems.
143
Andernfalls ist eine durch schleichende Erosion in Gang gesetzte
systematische Suspendierung jedoch unausweichlich.
!" ;'0<'()'-G',*1*8!1*3(-'H'A$1*I'+-J(1%/0'*)$(,'(-
Die gegenwärtigen Krisen zeichnen sich durch die fortwährende mangelhafte demokratische
Legitimation von Entscheidungen der Exekutivspitzen und eine damit einhergehende strukturelle
Suspendierung des Grundwerts der Demokratie aus.
144
Allheilmittel soll eine Output-Legitimation
sein, deren tatsächlicher Output ungewiss bleibt.
137
Eine teilweise Verbesserung der Zustände annehmend Nettesheim (Fn. 133), § 15 Rn. 44.
138
Vgl. Ruffert (Fn. 1), Art. 9 Rn. 9b.
139
Triantafyllou (Fn. 117), S. 462 ff.; Ruffert (Fn. 1), Art. 9 Rn. 9d m.w.N.
140
Triantafyllou (Fn. 117), S. 462 ff.
141
Triantafyllou (Fn. 117), S. 462 ff.
142
Zu weiteren Argumenten Ruffert (Fn. 1), Art. 9 Rn. 9d.
143
Vgl. Calliess (Fn. 2), S. 1040; vgl. auch P. Kirchhof, Stabilität von Recht und Geldwert in der Europäischen
Union, NJW 2013, S. 1 (4).
144
So auch Habermas (Fn. 124), S. 49 ff.; speziell zur Finanzkrise Ruffert (Fn. 1), Art. 9 Rn. 9b.
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19
Im Rahmen der Diskussion der europäischen Finanzkrise werden von Rodi drei auf die Wirtschafts-
und Währungsunion bezogene Systemdefizite hervorgehoben. Darunter fallen die Grundstruktur der
Wirtschafts- und Währungsunion, nach der für die Währungspolitik die Union nach
Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV bezüglich der am Euro beteiligten Staaten ausschließlich zuständig ist, aber
die Wirtschaftspolitik nach Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV der Koordination sämtlicher
Mitgliedsstaaten unterliegt. Hinzu kommt die Säumnis, eine gemeinsame Währung und zugleich eine
„transnationale Demokratie“ zu schaffen. Zudem wird der Ausschluss einer „Solidar- und
Haftungsgemeinschaft“ aufgezeigt, der dem angestrebten einheitlichen Währungssystem diametral
entgegensteht.
145
Im Rahmen der Krise traten diese strukturellen Defizite zu Tage. Die Folge war eine
Umgehung des bestehenden Systems durch auf „Krisenreaktionsmechanismen“ verlagerte
Entscheidungen.
146
Hieraus resultierte die Stärkung des Europäischen Rates, der Kommission und der
Europäischen Zentralbank (EZB). Der dabei verfolgte „output-orientierte Politikansatz“ führte zu
einem überwiegenden „intergouvernmentalen Handeln“, einem Übergewicht der Exekutive und
einer vorherrschenden Stellung der EZB.
147
Die „Sollbruchstellen“ in der Ordnung der Wirtschafts-
und Währungsunion wurden zur Umgehung des Systems genutzt. Dieser ausbrechenden Politik- und
Rechtsgestaltung muss durch eine Rückkehr zur demokratisch legitimierten Rechtsordnung
entgegengetreten werden.
148
Die bereits in der Finanzkrise vollzogene Stärkung des Europäischen Rates wurde im Rahmen der
sogenannten Flüchtlingskrise durch die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei vom
18.03.2016 noch weiter vorangetrieben. Die Entscheidung über den Abschluss der Vereinbarung
wurde trotz ihrer Wesentlichkeit von keinem Parlament des Mehrebenensystems bestätigt und
kann auch nicht auf den Anstoß der Bürger hin zur Überprüfung gestellt werden.
149
Zudem wurde die
Verfahrensvorschrift des Art. 218 AEUV nicht eingehalten.
150
Ein derartiges Übergewicht output-
legitimierter Entscheidungen mündet in einer demokratiefernen Fremdbestimmung.
151
Dabei liegt
das größte Ausmaß der Gefahr in den unabsehbaren Folgen der Entscheidung für die Realisierung der
übrigen Grundwerte. Unabhängig davon, ob eine derartige Asylpolitik mehrheitsfähig gewesen wäre,
145
M. Rodi, Machtverschiebungen im Rahmen der Europäischen Union im Rahmen der Finanzkrise und Fragen
der demokratischen Legitimation, JZ 2015, S. 737 (737 f.).
146
Ruffert (Fn. 1), Art. 9 EUV Rn. 9b.
147
Rodi (Fn. 145), S. 738 ff.
148
Kirchhof (Fn. 143), S. 3; zu einer Lösung über eine „Fortentwicklung der dualen demokratischen
Legitimation“ Rodi (Fn. 145), S. 743 f.
149
M. Gatti, The EU-Turkey Statement: A Treaty That Violates Democracy (Part 1 of 2):
http://www.ejiltalk.org/the-eu-turkey-statement-a-treaty-that-violates-democracy-part-1-of-2/; zur
abweichenden Auffassung des EuG, das ein zwischenstaatliches Übereinkommen zwischen der Türkei und den
einzelnen Mitgliedsstaaten annimmt, oben II. 2. b).
150
Ausführlich R. Hofmann/A. Schmidt, Die Erklärung EU-Türkei vom 18.03.2016 aus rechtlicher Perspektive,
NVwZ-Extra 2016, S. 1 (S. 5 f.). Betrachtet man das Abkommen freilich als ein zwischenstaatliches, nicht als
einen Rechtsakt der Union, ist dies konsequent. Vgl. dazu II. 2. b).
151
John (Fn. 127), S. 195.
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20
hätte diese Einzelentscheidung demokratisch legitimiert erfolgen müssen.
152
Die Einhaltung der vom
rechtlichen Gesamtsystem vorgegebenen Strukturen stellt sicher, dass sich alle das System
begründenden und vom Grundkonsens getragenen Werte im Ergebnis wiederfinden. Zumindest bei
derartwesentlichenEntscheidungen kann eine reine Output-Legitimation, die das Wertekonstrukt
der Union verkennt, nicht ausreichen.
153
Andernfalls stünde das gesamte System zur Disposition der
exekutiven Akteure. Insgesamt wird dies in der noch unzulänglichen Positivierung des
Demokratieprinzips und der dargestellten Übergehung desselben Prinzips deutlich. Würde das
Parlament bei medienwirksamen Krisenentscheidungen einbezogen, so würde dieser
demokratisierende Aspekt auch in die Deliberation in der politischen Öffentlichkeit eingehen und
auch nach diesem Ansatz eine größere, legitimitätsstiftende Wirkung entfalten.
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Der Minderheitenschutz ist ein zentraler Aspekt demokratischer Staatsgebilde
154
und hängt eng mit
der stabilisierenden Funktion einer Demokratie zusammen. Eine zahlenmäßig unterlegene
Gruppierung wird sich einem größeren Gesamtsystem nur dauerhaft unterwerfen, wenn ihre eigenen
Interessen berücksichtigt werden können. Eine minderheitliche Auffassung muss daher stets die
Möglichkeit haben, zur Mehrheitsmeinung zu werden.
155
Die auf Unionsebene praktisch gelebte Demokratie gewährleistet jedoch keinen nachhaltigen
Minderheitenschutz. Im Rahmen der Griechenlandkrise hätte Griechenland zu keinem Zeitpunkt die
Möglichkeit gehabt, die mehrheitliche Meinung zu stellen oder seine nationalen Interessen
durchzusetzen.
156
Es hat sich dennoch dem Druck der ökonomisch stärkeren Mitgliedsstaaten gefügt,
obwohl nicht absehbar ist, dass seiner Stimme innerhalb zukünftiger Entscheidungen Gewicht
zukommen wird. Entscheidungsmotor war hier primär ein wirtschaftlicher.
157
Die tatsächlichen
Umverteilungsfolgen waren im Zeitpunkt der durch die Finanzkrise bedingten Entscheidungen noch
nicht absehbar.
158
Will sich die Union selbst als Wertegemeinschaft begreifen und aus sich heraus
innerhalb jeglicher Krise Bestand haben, ist es unerlässlich, dass sich die Unterordnung der jeweiligen
Minderheit unter die mehrheitliche Meinung aus einem Grundkonsens über gemeinsame Werte
ergibt und von diesen geleitet wird.
159
Eine Wirtschaftsgemeinschaft, die nur deklaratorisch Werte
aufstellt, kann dies nicht leisten. Ein nachhaltiger Minderheitenschutz muss im Einzelfall bedeuten,
152
Vgl. Calliess (Fn. 2), S. 1040.
153
Zur Verbindung zwischen der Legitimation der EU und der Bekräftigung ihrer Werte Nettesheim (Fn. 133), §
15 Rn. 43 f.
154
Dazu R. Zippelius, Der Weg der Demokratie ein Lernprozeß, NJW 1998, S. 1528 (1529).
155
So auch BVerfGE 5, 85 (198 f.); BVerfGE 69, 315 (347); aktuell dazu BVerfG, Urt. v. 03.05.2016 2 BvE 4/14
, juris Rn. 86.
156
Triantafyllou (Fn. 117), S. 464.
157
Vgl. Triantafyllou (Fn. 117), S. 464 ff.
158
Rodi (Fn. 145), S. 737 f.
159
Vgl. Calliess (Fn. 2), S. 1040.
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21
dass in Anbetracht der Grundwerteinsbesondere des Diskriminierungsverbotes gerechte und
nicht wirtschaftlich optimale Entscheidungen getroffen werden.
Bei dauerhafter Suspendierung der Rechte von Minderheiten ist eine Identifizierung der Minderheit
mit dem Gesamtsystem und nicht zuletzt die Stabilität und damit das System selbst gefährdet.
Entgegnet werden kann diesem Missstand nur durch nachhaltigen politischen Dialog, Austausch und
die Stärkung der Rechtsposition der Minderheit. Dies muss nicht zugleich bedeuten, dass sich die
minderheitliche Auffassung im Ergebnis tatsächlich durchsetzt. Eine Suspendierung der Rechte der
Minderheit führt jedoch auf lange Sicht zum Schwanken der Grundfesten des gesamten Systems.
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)'83A+!1*')'F*6*17')*(,1'+-5+*%'(-
Durch die dargestellten exekutiven Alleingänge wird die supranationale Rechtsordnung im konkreten
Fall ausgesetzt und erodiert.
160
Die Rückbesinnung hin zum Nationalstaat und die durch den Brexit
bedingte teilweise Aufhebung der supranationalen Rechtsordnung sind eine logische Folge dieser
Entwicklung. Auch wenn die faktischen Situationen das Eingreifen eines Hoheitsträgers als zwingend
erforderlich ansehen lassen, kann dies nicht zur Aufhebung des durch die Werte umrissenen
Grundsystems führen. Die aufgezeigte Entwicklung erscheint widersinnig, wenn man bedenkt, dass
derartige Alleingänge der Exekutivspitze innerhalb der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen selbst
verfassungswidrig wären. Ein Beispiel hierfür ist die Ordnung des deutschen Grundgesetzes, in dem
eine bewusste Beschränkung der Machtausübung durch die Exekutive vorgesehen ist.
161
Sind
Exekutiventscheidungen nicht von der demokratischen Basis gedeckt, bzw. an diese rückgekoppelt,
wird der Wert der Demokratie gar suspendiert, so führt dies zwangsläufig zu einem
Auseinanderdriften des Systems. Auch in Krisenfällen müssen daher demokratisch hinreichend
legitimierte, handlungsfähige Organe zuständig sein. An einer intensiven Inanspruchnahme des
Europäischen Parlaments und einer Stärkung seiner Rechtsposition, insbesondere im Hinblick auf
kurzfristige Entscheidungen, führt hier kein Weg vorbei.
162
4. Die&Notwendigkeit&der&Positivierung&und&Praktizierung&des&
demokratischen&Grundkonsenses&
Es konnten strukturelle, im unzureichenden Ausbau des demokratischen Systems der europäischen
Union liegende Faktoren identifiziert werden, welche die vorliegende strukturelle Suspendierung
bedingen. Hinzu kommen auch faktische Gegebenheiten, wie Wirtschaftskrisen, die eine an
160
C. Franzius, Demokratisierung der Europäischen Union, EUR 2013, S. 655 (662 f.); vgl. auch Kirchhof
(Fn. 143), S. 3.
161
B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 77. EL Juli 2016, Art. 20 Rn. 1 f. u. 29 ff.
162
J. v. Achenbach, Demokratische Gesetzgebung in der Europäischen Union, 2014, S. 66 ff., 462 f. u. 464 f.;
ebenfalls dahingehend W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1), Art. 14 Rn. 50; vgl. ergänzend noch vor Ratifizierung
des Vertrags von Lissabon E. Rumler-Korinek, Kann die europäische Union demokratisch ausgestaltet werden?,
EUR 2003, S. 327 (341 f.); a.A. Greszieck (Fn. 161), Art. 20 II. Rn. 311.
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Sachzwängen orientierte Entscheidung attraktiver machen. Der Suspendierungseffekt wird nicht
zuletzt durch die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die ein nationalstaatliches
Verständnis in den Vordergrund rücken, weiter gestärkt.
Die Kritik am Aussagegehalt des Wertes der Demokratie darf in Anbetracht dessen nicht bei der
Erkenntnis stehen bleiben, dass „[die] Unverzichtbarkeit der Norm (…) die Autopoiesis des Systems“
ist.
163
Durch eine gelebte Demokratie wird eine neue gemeinsame Identität geschaffen, in der sich
einzelne Beteiligte wiederfinden und sie deshalb erhalten und mittragen. In den ständig
wiederkehrenden demokratischen Entscheidungsprozessen findet der bestehende Grundkonsens
seine fortlaufende Bestätigung und Verfestigung. Die Durchsetzung von Demokratie ist die
Praktizierung dieses Grundkonsenses. Der Wert der Demokratie hat nur dauerhaft Bestand, wenn er
durch ein Rechtssystem konkretisiert wird, das derartige Formen von „exekutiven
Notstandsentscheidungen“ ausschließt und insgesamt eine demokratische Rückkoppelung an den
Souverän gewährleistet.
164
Die Krisen der Europäischen Union sind als Chancen zur Beseitigung dieser
Diskrepanzen zu sehen.
165
IV. Die,Säule,der,Solidarität,
„Ohne Bereitschaft zu Solidarität kann ein auf Demokratie und Recht gegründetes Gemeinwesen
nicht bestehen“
166
, schrieb Roland Bieber 2002. Schon der Schuman-Plan von 1950 sprach von einer
„solidarité de fait“, mittels derer ein geeintes Europa Wirklichkeit werden könne. Blickt man heute in
die Verträge, so ist der Begriff der Solidarität allgegenwärtig
167
, er findet sich in der Präambel, in
Art. 2, Art. 3 Abs. 3, Abs. 5, Art. 21 Abs. 1, Art. 24 Abs. 2, Abs. 3 und Art. 42 Abs. 7 EUV, in Art. 80,
Art. 122 Abs. 1, Art. 143 und Art. 222 AEUV sowie in Titel IV GRCh. Schon die bloße Idee einer
„friedlichen Kooperation zwischen europäischen Staaten“ scheint geradezu die Umsetzung der
Solidaritätsidee zu sein.
168
Gleichzeitig aber ist die Solidarität in Europa schwach wie seit langem
nicht mehr.
169
Die Krisen offenbaren Uneinigkeiten über den Solidaritätsbegriff und deuten auf eine
prinzipielle Suspendierung der Solidarität hin. Wo bleibt die Solidarität in der Krise?
163
So Luhmann (Fn. 24), S. 23.
164
Vgl. zu sog. bloßen „Verfassungsstörungen“ Hesse (Fn. 25), Rn. 722.
165
Häberle (Fn. 18), S. 422.
166
R. Bieber, Solidarität als Verfassungsprinzip der Europäischen Union, in: v. Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.),
Solidarität und Europäische Integration, Kolloqium zum 65. Geburtstag von Manfred Zuleeg, 2002, S. 41 (42).
167
R. Bieber, Gegenseitige Verantwortung Grundlage des Verfassungsprinzips der Solidarität in der
Europäischen Union, in: Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität, 2013, S. 67 (69); I.
Pernice, Solidarität in Europa Eine Ortsbestimmung im Verhältnis zwischen Bürger, Staat und Europäischer
Union, in: Calliess, ebenda, S. 25; J.-P. Jacqué in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 20), Art. 2 EUV Rn. 8.
168
M. Knodt/A. Tews, Einleitung: Solidarität im europäischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Solidarität in
der EU, 2014, S. 7.
169
P. Faigle/F. Leggeri, „Europa hat die Pflicht, zu helfen“: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-
03/frontex-chef-fabrice-leggeri-tuerkei-deal-fluechtlingspolitik-angela-merkel/komplettansicht; Häberle
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1. Solidarität&als&Grundwert&
Solidarität gilt als eng verknüpft mit dem Entstehen und der Funktionsweise menschlicher
Gemeinschaften
170
, als moderner Ausgangspunkt ihres Siegeszuges gilt aber die Französische
Revolution mit ihrer Betonung der „fraternité“.
171
Kernaussage des Konzepts ist, dass zwischenmenschliche Abhängigkeit ihren Preis fordert: Sie setzt
voraus, auch Regeln zu befolgen, die den eigenen Vorstellungen widersprechen, und Zielen
zuzustimmen, die sich mit den eigenen nicht decken. Solidarität ist also die Hinnahme von Nachteilen
oder der Verzicht auf Vorteile zugunsten anderer in wechselseitiger Verantwortung.
172
Augenfällig ist
die begriffliche Nähe dieser Solidaritätsdefinition zum Mehrheitsgedanken der Demokratie.
Solidarität bedeutet, auch Entscheidungen zu akzeptieren, die einem selbst keinen Vorteil bringen.
Durch Demokratie also lässt sich Solidarität „lernen“. Zugleich besteht Solidarität auch außerhalb
demokratischer Systeme und über diese hinaus. Abzugrenzen ist Solidarität von bloßer Sympathie
oder Mildtätigkeit, sie impliziert eine gewisse öffentliche Unterstützung, wenngleich nicht schon
begriffsimmanent einen Rechtsanspruch.
173
Sie ist damit auch Ausfluss der rechtlichen Anerkennung
des Anderen und der menschlichen Würde.
174
Häufig wird die Möglichkeit tatsächlicher Solidarität von Identität und Abgrenzung abhängig
gemacht. Sie könne nur innerhalb einer zusammengehörenden Gruppe bestehen
175
, strebe zwar
nicht nach Ausgrenzung, wohl aber nach Abgrenzung.
176
Andererseits impliziert Solidarität auch die
Überwindung von Grenzen, weil sie selbst zur Anerkennung des Anderen führt.
177
Wir können
Solidarität gegenüber „Fremden“ nicht völlig ignorieren, ohne uns in einen Selbstwiderspruch zu
begeben.
178
Einer ethnisch-nationalen Identität, die in ihrer Homogenität ohnehin fiktional ist, bedarf
(Fn. 18), S. 417; C. Jakob, Die fehlende Solidarität: http://taz.de/Essay-Europa-und-die-
Fluechtenden/!5286771/.
170
P. Hilpold, Solidarität als Rechtsprinzip, JöR 55 (2007), S. 195; M. Kotzur/K. Schmalenbach, Solidarity Among
Nations, AVR 52 (2014), S. 68 (70 f.); K.-P. Sommermann, Some Reflections on the Concept of Solidarity and its
Transformation into a Legal Principle, AVR 52 (2014), S. 10 (11 f.).
171
O. Depenheuer, „Nicht alle Menschen werden Brüder“ Unterscheidung als praktische Bedingung von
Solidarität, in: Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit, 1998, S. 41; M. Ross, Solidarity - A New Constitutional
Paradigm for the EU?, in: Borgmann-Prebil/Ross (Hrsg.), Promoting Solidarity in the European Union, New
York 2010, S. 23.
172
Bieber (Fn. 167), S. 67 u. 74; C. Calliess, Das europäische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro:
http://whi-berlin.eu/tl_files/FCE/Rede_Calliess.pdf, S. 11; S. Kirste et al., Introduction to the Special Issue
„Transnational Solidarity An Interdisciplinary Approach”, AVR 52 (2014), S. 1 (2 f.); A. Sangiovanni, Solidarity
in the European Union, OJLS 33 (2013), S. 213 (222); C. Tomuschat, Solidarität in Europa, in: FS Pescatore, 1987,
S. 729 (733).
173
Ross (Fn. 171), S. 29.
174
C. Gould, Transnational Solidarities, JSP 38 (2007), S. 148 (152 ff.).
175
Calliess (Fn. 172), S. 12; Hilpold (Fn. 170), S. 196; Ross (Fn. 171), S. 26 ff.
176
Calliess (Fn. 2), S. 1039 f.; Depenheuer (Fn. 171), S. 51.
177
R. Bieber, Solidarität und Loyalität durch Recht, 1997, S. 16 f.; C. Calliess, Subsidiaritäts- und
Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999, S. 188.
178
R. Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, 2012, S. 465.
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24
es jedenfalls nicht.
179
Dass Solidarität nur innerhalb des Staatenverbundes existieren soll, passt nicht
in eine Welt, die von der Entgrenzung staatlicher Handlungsräume geprägt ist.
180
Normativ also
bedarf sie keiner Abgrenzung, deskriptiv aber wird sie stärker mit zunehmender Nähe.
181
Solidarität kann als Wert par excellence angesehen werden: Einerseits wird mit ihr eine stark
symbolische Grundüberzeugung postuliert, andererseits ist diese Grundüberzeugung so abstrakt und
generalisiert
182
, dass sich die Frage stellt, ob sie denn tatsächlich etwas zur Konfliktbewältigung
leisten kann.
2. Solidarität&im&supranationalen&Kontext&
Solidarität ist ein zentrales Schlagwort der EU.
183
Die zunehmende Verwendung dieses Begriffes bis
hin zur schieren Inflation im Lissabon-Vertrag kann als Versuch interpretiert werden, die
ursprünglich vor allem wirtschaftliche Integration nachträglich mit Werten zu „unterfüttern“.
184
Nach wie vor aber wird die Solidarität nicht als Gründungsprinzip der Union benannt; vielmehr
spricht Art. 2 EUV davon, dass die Werte der Union allen Gesellschaften gemein seien, die sich durch
Solidarität auszeichnen eine Formulierung, die nur als kryptisch bezeichnet werden kann.
185
Daraus
könnte auf eine Hierarchie zwischen den „echten“ Werten des Art. 2 S. 1 EUV „Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
Menschenrechte“ und den Merkmalen des Art. 2 S. 2 EUV „Pluralismus, Nichtdiskriminierung,
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern“ geschlossen
werden. In der Tat gehen zahlreiche Stimmen davon aus, nur Art. 2 S. 1 EUV enthalte tatsächlich
Werte der EU.
186
Dennoch wird die Solidarität überwiegend als Verfassungsprinzip wenn auch z.T. unter Vermeidung
des Begriffes „Wert“ der Union anerkannt.
187
Unabhängig vom Wortlaut des Art. 2 S. 2 EUV folgt
ihre Wertqualität nicht nur als allgemeiner ethischer Wert, sondern auch als europarechtlicher
179
J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität; in: ders., Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1992,
S. 632 (654 ff.).
180
S. J. Scholz, Solidarity as a Human Right, AVR 52 (2014), S. 49 (66).
181
R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1991, S. 307, 316 f.
182
Bieber (Fn. 166), S. 42; Y. Borgmann-Prebil/M. Ross, Promoting European Solidarity - Between Rhetoric and
Reality?, in: dies. (Fn. 171), S. 1.
183
Statt vieler Bieber (Fn. 167), S. 68; C. Calliess, „In Vielfalt geeint“ Wie viel Solidarität? Wie viel nationale
Identität, in: ders. (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität, 2013, S. 5 (20); M. Hilf/F. Schorkopf
(Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 45; Hilpold (Fn. 170), S. 1207; J.-C. Masclet, Préface, in: Boutayeb (Hrsg.), La Solidarité
dans l’Union Européenne, Paris 2011, S. 1; J. Petersen, European Territorial Governance, 2016, S. 262 f.;
Sangiovanni (Fn. 172), S. 213; Sommermann (Fn. 170), S. 20 f.
184
Boutayeb, La solidarité: un principe immanent au droit de l’Union européenne, in: dies. (Fn. 183), S. 7;
Calliess (Fn. 2), S. 1034 f., 1039.
185
So auch v. Bogdandy (Fn. 124), S. 69; Calliess (Fn. 2), S. 1038.
186
So etwa Calliess (Fn. 109), Art. 2 EUV Rn. 30; Hilf/Schorkopf (Fn. 4), Art. 2 EUV Rn. 43. Relevanz hat dies etwa
für Art. 7 EUV, der dann Sanktionen nur für Verstöße gegen Art. 2 S. 1 EUV ermöglichen würde.
187
Jacqué (Fn. 167), Art. 2 EUV Rn. 10. GA Kokott, Schlussantrag v. 26.10.2012 – C-370/12 (Pringle) spricht von
einem „Strukturprinzip“ (Rn. 136, 142 f.).
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Wert schon aus der zentralen Bedeutung, die sie für die Entstehung
188
und den Zweck der Union
hat: So sieht Calliess sie als „herausgehobene[n] Leitwert“ der Union, stützt dies aber nicht auf
Art. 2 S. 2 EUV, sondern darauf, dass sie „seit jeher das Fundament der EU“ ist.
189
Solidarität ist zugleich ein Ziel der Union und Prinzip ihrer Handlungen.
190
Als Zielmarke ist sie primär
Auslegungskriterium anderer Bestimmungen, als Handlungsmaxime soll sie eigene Pflichten
begründen
191
, die freilich nur selten tatsächliche Durchsetzungskraft erlangten
192
oder über banale
Schlussfolgerungen hinausgehen.
193
So dient das Solidaritätsprinzip beinahe ausschließlich als
akzessorischer Maßstab zur Auslegung expliziterer unionsrechtlicher Pflichten.
194
Die Berufung
darauf erfolgt oftmals formelhaft, um ein Ergebnis untermauern, was Luhmanns These, Werte
würden zur bloß retrospektiven Legitimierung getroffener Entscheidungen herangezogen
195
, stützt.
Konkretisiert man die oben beschriebenen Grundsätze für die Union, so bedeutet Solidarität ein
Erbringen von Opfern für die Einbindung in die Gemeinschaft. Zwar wird kein völliger Altruismus
gefordert, wohl aber der Verzicht auf die vollständige Befriedigung eigener Interessen.
196
Die
Mitgliedschaft, so Calliess unter Berufung auf den EuGH
197
, ist mit Vorteilen, aber auch mit
korrespondierenden Lasten verbunden.
198
Unklar ist freilich, wie weit diese Zurückstellung eigener Interessen reichen soll.
199
Jedenfalls eine
Politik, „die sich als autonom geriert und ihre Externalitäten in Bezug auf andere Mitgliedsstaaten
nicht in Betracht zieht“, soll unzulässig sein.
200
Stattdessen ist der Beitritt zur Union ein Bekenntnis
zum gemeinsamen Problemlösen.
201
Wird von europäischer Solidarität gesprochen, so meint dies zumeist die Solidarität zwischen den
Mitgliedsstaaten.
202
Doch die Präambel des EUV spricht von Solidarität zwischen Völkern, jene der
GRCh deutet gar Solidarität zwischen Individuen an. Gleichwohl wird oftmals angenommen, sie
könne vorerst nur auf „mittlerer Ebene“, d.h. zwischen den Staaten, bestehen.
203
Andere dagegen
188
So ausdrücklich Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 EUV.
189
Calliess (Fn. 2), S. 1038. Die Solidarität bezeichnen auch explizit als Wert M. Klamert, Solidarität als
Rechtsprinzip der Europäischen Union, in: Knodt/Tews (Fn. 168), S. 25; M. Rossi, in: Calliess/Ruffert (Fn. 1),
Art. 80 AEUV Rn. 2; Sangiovanni (Fn. 172), S. 213.
190
Jacqué (Fn. 167), Art. 2 EUV Rn. 9 f.
191
Bieber (Fn. 167), S. 77.
192
Calliess (Fn. 172), S. 17 f.; ders. (Fn. 2), S. 1042; Klamert (Fn. 189), S. 27.
193
P. Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen, 2006, S. 68.
194
Klamert (Fn. 189), S. 30; Kotzur/Schmalenbach (Fn. 170), S. 72 ff.; Tomuschat (Fn. 172), S. 740.
195
Luhmann (Fn. 24), S. 20 ff.
196
Tomuschat (Fn. 172), S. 734.
197
EuGH, Kommission/Italien, Urt. v. 07.02.1973 - 39/72, Rn. 24.
198
Calliess (Fn. 172), S. 16.
199
So auch M. Lais, Das Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2007, S. 167 ff., 345.
200
Pernice (Fn. 167), S. 43.
201
Bieber (Fn. 167), S. 80; Calliess (Fn. 172), S. 17.
202
Calliess (Fn. 172), S. 17.
203
Tomuschat (Fn. 172), S. 756.
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26
gehen durchaus von einer zwischenmenschlichen europäischen Solidarität aus.
204
Ob individuelle
Solidarität auf europäischer Ebene überhaupt möglich ist, ist stark umstritten. Eine kollektive,
staatsähnliche Identität wird zumeist nicht verlangt
205
; mehrere Stimmen sehen vielmehr durch die
Unionsbürgerschaft, eine gemeinsame Geschichte und andere Faktoren bereits ein gewisses Maß an
Zugehörigkeit gegeben.
206
Andere dagegen warnen, eine bloße Unterstellung individueller Solidarität
durch das Europarecht könne nicht funktionieren.
207
Gelänge ein Konzept europäischer Solidarität, so würde dies das verbreitete Exklusivitätsverständnis,
Solidarität sei zwingend mit Identität verbunden, relativieren.
208
Wichtiger sind dafür die Herstellung
vergleichbarer Lebensverhältnisse und der Erfolg bei der grenzüberschreitenden Problemlösung.
209
Homogenität dagegen ist keine Solidaritätsvoraussetzung, sondern eine Chimäre.
3. Die&Solidarität&in&der&Krise&als&Solidaritätskrise&
Für eine prinzipielle Suspendierung der Solidarität spricht, dass sie in Krisenzeiten nicht gelebt und
umgesetzt wird. Dieses Ergebnis ist befremdlich, sind doch die steigenden Flüchtlingszahlen ein
Paradebeispiel für die Notwendigkeit europäischer Solidarität: eine Situation, zu deren Lösung ein
gemeinsames Vorgehen notwendig ist. Die Einsicht, dass gerade in der Asylpolitik Solidarität
erforderlich ist, schlägt sich daher in den Verträgen deutlich nieder: Gemäß Art. 78 Abs. 1 S. 1 AEUV
entwickelt die Union „eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und
vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt,
ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung
gewährleistet werden soll“. Über den ohnehin nach Art. 2 S. 2 EUV maßgeblichen Wert der
Solidarität hinaus betont Art. 80 S. 1 AEUV r dieses Politikfeld in besonderem Maße die
Notwendigkeit einer solidarischen Zusammenarbeit „und der gerechten Aufteilung der
Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht“.
Art. 80 S. 2 AEUV verpflichtet die Union explizit, diesem Grundsatz in Rechtsakten Rechnung zu
204
Jacqué (Fn. 167), Art. 2 EUV Rn. 15; Hilpold (Fn. 1), S. 375 f. nennt überdies die Solidarität zwischen
Generationen.
205
M. Zuleeg, What Holds Nations Together?, Am.J.Comp.L. 1997, S. 505.
206
J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen - Studien zur politischen Theorie, 1996, S. 135; Pernice (Fn. 167),
S. 56; vgl. auch BVerfGE 89, 155 (184): Ausdruck „existenzieller Gemeinsamkeit“.
207
U. Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 557; D. Thym, EU-Freizügigkeit als rechtliche
Konstruktion nicht als soziale Imagination: http://verfassungsblog.de/eu-freizuegigkeit-als-rechtliche-
konstruktion-nicht-als-soziale-imagination/; vgl. auch W. Lamping, Mission Impossible? Limits and Perils of
Institutionalizing Post-National Social Policy, in: Borgmann-Prebil/Ross (Fn. 171), S. 46 (65 ff.).
208
Bieber (Fn. 166), S. 48; U. Bielefeld, Europa Vergesellschaftung jenseits des Nationalstaates, APuZ 14-15
(2016), S. 40 (42).
209
Bieber (Fn. 177), S. 28 f.; Habermas (Fn. 124), S. 81 f.
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27
tragen. Diese zusätzliche Betonung wurzelt in der Erkenntnis, dass „Gleichgewicht und
Zusammenhalt“ der Union in hohem Maße hiervon abhängen.
210
In krassem Gegensatz zu diesen Vorgaben steht das System, nach welchem die Union die
Zuständigkeiten für das Asylverfahren tatsächlich verteilt. Mit dem Dubliner Übereinkommen wurde
der Grundsatz installiert, dass sofern kein vorrangiges Anknüpfungsmoment vorliegt
211
die
Verantwortlichkeit den Unionsstaat trifft, in welchem der Betroffene erstmals das Unionsgebiet
betritt.
212
Diese außerordentlich ungleiche Lastenverteilung, die Staaten stark überwiegend an den
Außengrenzen der Union in die Pflicht nimmt
213
2010 betraten etwa 90 % (!) der Geflüchteten ohne
Einreisetitel das Unionsgebiet erstmals in Griechenland
214
, wurde 2003 in das Sekundärrecht
überführt.
215
Wie der Beschluss des Dublin-Systems angesichts dieser asymmetrischen Konsequenzen seinerzeit
möglich war, ist nicht abschließend geklärt. Offenbar wurde den benachteiligten Staaten ein besserer
Grenzschutz versprochen
216
, ferner wurde ein „Fonds zur finanziellen und logistischen
Unterstützung“ auf Ebene des Europarates in Aussicht gestellt.
217
Über einzelne bilaterale
Finanzhilfen hinaus blieb es jedoch bei Lippenbekenntnissen. Statt einer „gerechten Aufteilung der
Verantwortlichkeiten“ wurden diese Staaten mit ihren Lasten alleingelassen
218
ein Ergebnis, das
Art. 80 AEUV gerade verhindern sollte.
Auch steigende Flüchtlingszahlen bewogen die Union nicht dazu, Art. 80 AEUV Rechnung zu tragen.
Stattdessen schwindet die Bereitschaft zur Solidarität in der so bezeichneten Krise noch weiter.
219
Mit der Forderung nach mehr zwischenstaatlicher Solidarität wechseln sich stets die gerade
210
S. Progin-Theuerkauf, in: v .d. Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 20), Art. 80 AEUV Rn. 3 f.; D. Thym, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 4, 57. EL 2015), Art. 80 AEUV Rn. 4.
211
Ein solches folgt gem. Art. 4, 5 Dubliner Übereinkommen (DÜ) aus einer bestehenden Aufenthaltserlaubnis
oder bereits in der EU ansässigen Familienangehörigen, vgl. heute deutlich ausführlicher Art. 8-12 VO
604/2013 (Dublin III).
212
Art. 6 DÜ, vgl. heute Art. 13-15 Dublin-III-VO.
213
K. Hailbronner/D. Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer
Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 (759); R. Weinzierl, Deutsche und europäische Grundrechte im Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ZAR 2010, S. 260 (261).
214
EuGH, N.S. u.a., Urt. v. 21.12.2011 – C-411/10, Rn. 88.
215
VO 343/2003 (Dublin II). Das Dubliner Übereinkommen („Dublin I”) war ein völkerrechtlicher Vertrag. Zum
zeitlichen Überblick Weinzierl (Fn. 213), S. 264.
216
J. P. Aus, Logics of Decision-making on Community Asylum Policy:
http://www.sv.uio.no/arena/english/research/publications/arena-working-papers/2001-
2010/2006/wp06_03.pdf, S. 32; R. Weinzierl, Flüchtlinge: Schutz und Abwehr in der erweiterten EU
Funktionsweise, Folgen und Perspektiven der europäischen Integration, 2005, S. 152.
217
BT-Drs. 12/8342, S. 2 f.; F. Trauner, Asylum policy: the EU’s ‘crises’ and the looming policy regime failure, JEI
38 (2016), S. 311 (317 f.).
218
J. Bast, Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht, in: Knodt/Tews (Fn. 168), S. 143 (149 f.);
M. Bell, Irregular Migrants: Beyond the Limits of Solidarity?, in: Borgmann-Prebil/Ross (Fn. 171), S. 151 (165);
Häberle (Fn. 18), S. 412.
219
FRA (Fn. 18), S. 19; Kirste et al. (Fn. 172), S. 1.
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28
ausgelasteten Staaten ab, anderen wird eine „Selbstbedienungsmentalität“ vorgeworfen.
220
Die
belasteten Grenzstaaten reagieren mit einer Abwärtsspirale humanitärer Standards, die Geflüchtete
dazu bewegt, weiter westwärts zu ziehen Unterbietungswettbewerb statt Solidarität.
221
Der
Versuch, einen europäischen Ausgleich zu schaffen, ist bislang fehlgeschlagen. Stattdessen werden
mit Grenzschließungen Schritte unternommen, die auf eine stärkere Autonomie der einzelstaatlichen
Politiken setzen. Einzelne Äußerungen noch der jüngeren Vergangenheit wurden hier längst von der
Gegenwart überholt:
„Wir beobachten derzeit eine […] Krise der ‚gemeinsamen‘ Asylpolitik. […] Doch statt einer
Lösung, die dem vertraglichen Solidaritätsgebot entsprechen würde, z.B. eine Aufteilung der
Asylsuchenden auf alle Mitgliedsstaaten, wurde amtlich vorgeschlagen,
innergemeinschaftliche Grenzkontrollen zeitweilig wieder einzuführen.“
222
Die vorläufige inzwischen aber auch bedrohte Lösung der Union stellt schließlich das EU-Türkei-
Abkommen dar. Nach vergeblichen Versuchen, eine Lösung im Sinne zwischenstaatlicher Solidarität
zu finden, einigte man sich so darauf, die zwischenmenschliche Solidarität gegenüber Geflüchteten
aufzugeben.
Die sogenannte Flüchtlingskrise erweist sich als hard case für die EU, zu dessen Lösung Werte, die
gerade für die Lösung solcher Schwierigkeiten gedacht sind, ausgesetzt werden. Zwischenstaatliche
Solidarität erweist sich dort als Farce
223
, individuelle Solidarität als exklusiv.
Dies zeigt sich auch innerhalb der Union: Nicht nur Geflüchteten wird in Krisenzeiten die Solidarität
verweigert, sondern allgemein denjenigen, die „nicht dazugehören“, wie an den Debatten über
Sozialleistungen an Personen, die von der Freizügigkeit Gebrauch machen, sichtbar wird.
224
Der EuGH
sah darin zunächst eine Ausprägung zwischenmenschlicher Solidarität.
225
Er verband hierzu das
Konzept der Unionsbürgerschaft unter viel Aufsehen mit dem Solidaritätsprinzip und „füllte“
220
M.-L. Basilien-Gainche, La politique européenne d’immigration et d’asile en question: la valeur de solidarité
soumise à l’argument de réalité, in: Boutayeb (Fn. 183), S. 245 ff.; Häberle (Fn. 18), S. 415; Jakob (Fn. 169).
221
Trauner (Fn. 217), S. 313 ff. Auch der EuGH spricht von „systemischen Unzulänglichkeiten“ des europäischen
Asylverfahrens, EuGH, N.S. u.a., Urt. v. 21.12.2011 C-411/10, Rn. 89. Vgl. auch die Tatsachenfeststellungen in
EGMR, M.S.S., Urt. v. 21.01.2011 30696/09, Rn. 159 ff. und UNHCR, The Dublin II Regulation:
http://www.unhcr.org/protection/migration/50aa583b9/10-point-plan-action-chapter-8annex-89-dublin-ii-
regulation-unhcr-discussion.html, S. 13 ff.
222
Bieber (Fn. 167), S. 80 f.
223
So auch Häberle (Fn. 18), S. 417.
224
A. Farahat, Solidarität und Inklusion Umstrittene Dimensionen der Unionsbürgerschaft, DÖV 2016, S. 45
(55); A. Wallrabenstein, Wie Florin zwischen die Stühle rutschte - Die Unionsbürgerschaft und das
menschenwürdige Existenzminimum, JZ 2016, S. 109 (120).
225
EuGH, Grzelczyk, Urt. v. 20.09.2001 – C-184/99, Rn 44. Dazu auch ausführlich Farahat (Fn. 224), S. 53;
S. Giubboni, A Certain Degree of Solidarity? Free Movement of Persons and Access to Social Protection in the
Case Law of the European Court of Justice, in: Borgmann-Prebil/Ross (Fn. 171), S. 166.
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dieses so materiell „auf“.
226
Nachdem zunehmend Diskussionen über einen als „Sozialmissbrauch“
geschmähten Gebrauch der Freizügigkeit laut wurden
227
reagierte der Gerichtshof mit einer
Relativierung dieses Solidaritätsverständnisses
228
und erwähnt den Begriff schließlich überhaupt
nicht mehr.
229
Wallrabenstein sieht in dieser Entwicklung die Unterscheidung zwischen zwei Klassen
von Unionsbürgern: den wirtschaftlich aktiven „Marktbürgern“ und solchen, die „wirtschaftlich
inaktiv“ sind und so nicht Teil der Identität sein sollen, auf deren Grundlage Solidarität geleistet
wird.
230
Auch hier zeigt sich, dass die Betonung eines europäischen Solidaritätsprinzips nur so weit
reicht, bis es in Krisenzeiten tatsächlich zum Tragen kommen soll.
Die Uneinigkeit über den Solidaritätsbegriff setzt sich bezüglich des in einer mangelnden
Durchsetzung der Solidarität fort. Als Hauptfaktor lässt sich hierfür das unterschiedliche
mitgliedsstaatliche Begriffsverständnis identifizieren. Nicht jedes Staatssystem und jeder
Mitgliedsstaat ist nach einem sozialstaatlichen Konzept aufgebaut, sodass bereits unterschiedliche
Interpretationsperspektiven vorliegen.
231
Die prinzipielle Suspendierung des Wertes ist somit
Ausdruck eines schon gar nicht vorhandenen Konsenses über den Wert der Solidarität selbst.
4. Die&reziproke&Proportionalität&von&Solidaritäts-Normierung&und&
Einhaltung&
Tomuschats einstige Aussage, bislang habe die Union noch keine echte Nagelprobe zu ihrer
Solidarität bestehen müssen
232
, trifft nicht mehr zu. Vielmehr zeigt sich, dass Solidarität, die gerade
für Krisenzeiten gedacht ist, in diesen suspendiert wird. Die Bereiche, in denen das Europarecht
dieses Prinzip besonders stark, geradezu mantrahaft betont, sind in Wahrheit zugleich die Bereiche,
in denen die Solidarität am schwächsten ist.
233
Die Krise liefert mit ihrer Semantik selbst die
Begründung für die Aussetzung der Werte, die zu ihrer Vermeidung und Bekämpfung vorgesehen
sind.
226
Haltern (Fn. 207), S. 495. Vgl. zum Konnex von Freizügigkeit und Solidarität auch S. Barbou des Places,
Solidarité et mobilité des personnes en droit de l’Union européenne. Des affinités sélectives?, in: Boutayeb
(Fn. 183), S. 221 ff.; Sangiovanni (Fn. 172), S. 237 ff.
227
Exemplarisch Bundesregierung, Freizügigkeit ja, Sozialmissbrauch nein:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/08/2014-08-27-freizuegigkeitsgesetz.html; A.
Meiritz, Seehofers Zuwanderungsdebatte: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/csu-chef-horst-seehofer-
und-die-zuwanderungsdebatte-a-941886.html.
228
EuGH, Brey, Urt. v. 19.09.2013 - C-140/12, Rn. 72.
229
EuGH, Dano, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 und Alimanovic, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14.
230
Wallrabenstein (Fn. 224), S. 120.
231
Ausführlich zu Besonderheiten der Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit Grzeszick (Fn. 161), Art. 20 VIII
Rn. 1 ff.
232
Tomuschat (Fn. 172), S. 756.
233
Jacqué (Fn. 167), Art. 2 EUV Rn. 8.
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V. Fazit,
Demokratie, Menschenrechte, Solidarität nach Art. 2 EUV sollen dies die rechtsverbindlichen
Grundwerte sein, auf denen die Europäische Union gebaut ist. Gerade zur Lösung von hard cases, so
könnte man meinen, muss ihnen eine herausragende Bedeutung zukommen. Damit korrespondiert
die Betonung einzelner Werte dort, wo die Verträge ihnen eine besondere Problemlösungsfähigkeit
zuerkennen.
In der Realität werden demokratische Strukturen und Verfahren in der Krise durch einen von
einzelnen nationalen Regierungsoberhäuptern geprägten Exekutivföderalismus verdrängt, der auf
eine reine Output-Legitimation setzt und Minderheiten keine Stimme gibt. Menschenrechte werden
einer Sicherheitslogik untergeordnet, im Rahmen welcher Geflüchtete als Gefahr für die eigene
Existenz wahrgenommen werden. Um Menschenrechte als Wert aufrechterhalten zu können und
gleichzeitig offensichtliche Verletzungen dieser Rechte hinzunehmen, werden Menschengruppen
exkludiert und als außerhalb des Rechtssystems stehend behandelt. Und Solidarität, eine Grundidee
der europäischen Kooperation, ist gerade dort, wo sie besonders notwendig ist, am Wenigsten
wahrzunehmen. Ihre Irrelevanz ist geradezu zum Gemeinplatz geworden; stattdessen erfolgt, sobald
eigene Interessen berührt werden, eine Rückbesinnung auf Abschottungstendenzen. Von einer
„bloßen“ Verletzung dieser Werte zu sprechen, beschreibt diese Realität nur unzureichend: Sie
werden nicht einmal in eine Abwägung eingestellt, sondern von vornherein suspendiert. Wird die
Krise zum Dauerzustand, so gilt dies auch für die Suspendierung der Grundwerte.
Was dagegen getan werden kann, hängt davon ab, ob man dieses Ergebnis angesichts der Natur von
Werten für zwingend hält. Geht man davon aus, Werte dienten im Einzelfall nur zur retrospektiven
Begründung anderweitig getroffener Entscheidungen, so ist die beklagenswerte Lage der
europäischen Grundwerte nur ein praktisches Anschauungsbeispiel. Hält man das Wertekonzept
trotz seiner Schwächen aber für ein grundsätzliches Fundament von Gesellschaften, so müssen die
europäischen Grundwerte angesichts ihres momentanen Versagens auf allen Ebenen neu gedacht
werden. Zunächst ist eine Verständigung über den Inhalt dieser Werte vonnöten. Ohne einen
Grundkonsens über ihren materiellen Gehalt können sie von vornherein nur ein Schein-Dasein
fristen. Auch die Positivierung der Werte muss überdacht werden. Dass Werte zur bloß
nachträglichen Projektionsfläche werden, kann durch die Schaffung konkreterer, über bereits
umgesetzte Änderungen wie beispielsweise den Parlamentsvorbehalt in Außenbeziehungen nach
Art. 218 Abs. 5 AEUV hinausgehender Normen schon auf primärrechtlicher Ebene verhindert
werden. Schließlich müssen Veränderungen auch im Bereich der Durchsetzung erfolgen. Die
europäischen Grundwerte zu achten, muss ein lohnenswertes, sie zu suspendieren, ein kostspieliges
Abenteuer werden. Die Beachtung des Rechts im Gesamten darf nicht im Einzelfall davon abhängig
gemacht werden, ob sie Vor- oder Nachteile erbringt. Erforderlich ist daher, Rechtsverstöße und die
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Suspendierung des Rechts zu skandalisieren, um ausreichenden externen Druck zu generieren. So
kann einerseits ermöglicht werden, dass das politische System die normativen Vorgaben des Rechts
berücksichtigt. Zum anderen kann sich das Rechtssystem von der Suspendierungssemantik der Politik
befreien und seine Autonomie wiedererlangen, um letztendlich dem Recht zu seiner Verwirklichung
zu verhelfen.
Article
Providing a comprehensive review of the recent developments in migration and refugee law proves to be an impossible undertaking – one reason being the vast diversity of this area of law, which includes asylum, work or family migration, the other being the mix of actors in the multi-level system. The events of 2015, which are more likely to be referred to as “refugee protection crises” rather than a “refugee crisis”, undoubtedly mark a turning point. They have not only revealed the shortcomings of the Common EU Asylum System, but have triggered a broad societal debate on immigration as such. The focus of the following report will be on refugee law. First, the supra-national aspects of this increasingly Europeanized area of law shall be determined. Furthermore, the recent and various changes in national law shall be analyzed, ranging from the acceleration of asylum procedures, the efforts to limit and control migration up to the establishment of socio-economic incentive structures in order to avoid “bogus” asylum procedures. Finally, the article provides an overview of the perspectives of European and national migration and refugee law.
Article
Full-text available
The process of European integration was guided, from the outset, by the insight that the Community could develop as a sustainable framework for peace and well-being of the European peoples only by creating a de facto solidarity. A look into the French traditions of social and political theory helps to understand the conceptual background of the European Union, in particular the transformation of the analytical sociological concept of solidarity into a normative, legal feature. The article further examines to which extent the solidarity principle is laid down in the primary law of the European Union, distinguishing aggregated solidarity (solidarity between the Member States) and social solidarity. In step with the development of integration and interdependence of the Member States, the correspondent duties of solidarity have to be made plausible to the Union citizens and, given the complexity of co-ordination of mutual assistance in a multi-level-system, be transformed into suitable legal obligations.
Chapter
Le traité de Lisbonne instaure un nouvel équilibre institutionnel qui, notamment dans les domaines de l'immigration et de l'asile, accroît les pouvoirs du Parlement européen et les compétences de la Cour de justice. Institutions qui pourraient s'affirmer en se référant au principe de solidarité, en se rapportant à des exigences juridiques. L'un à la faveur du dépôt d'amendements, l'autre à la faveur du rendu de ses arrêts. Toutefois, une prudence s'impose. Il serait bien hasardeux d'omettre que les dispositions du traité de Lisbonne permettent à l'approche intergouvernementale de s'imposer à l'ambition supranationale, quitte à prévenir l'avènement d'une réelle solidarité entre les Etats membres sur les questions, d'asile et d'immigration. Et il serait pour le moins aventureux de négliger que les objectifs du pacte européen pour l'immigration et l'asile laissent les priorités sécuritaires des Etats l'emporter sur le respect de droits fondamentaux des migrants, au dépens d'une expérience de solidarité avec les plus vulnérables. Les beaux principes affichés semblent dès lors s'effriter : le projet commun est mis à mal par les replis nationaux ; les droits de tous sont mis mal par les peurs de certains. La solidarité entre Etats, la solidarité entre individus paraissent donc au moins pour l'heure être sacrifiées sur l'autel du repli et de la fermeture, sous couvert d'une constante référence à des contraintes de réalité qui relèvent plus du discours que des faits.
Article
Ob Unionsbürger von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen werden können, gehört zu den umstrittensten Fragen des Sozialrechts. Dabei ist nicht nur das Zusammenspiel von Unionsrecht und deutschem Recht anspruchsvoll. Es geht auch letztlich um nicht weniger als das Selbstverständnis der Unionsbürgergesellschaft. Der Beitrag erläutert die komplexe Rechtslage anhand der EuGH-Entscheidung in der Rs. Dano und nimmt kritisch zu den darin angelegten und in der Folgerechtsprechung aufgegriffenen Exklusionstendenzen Stellung.
Chapter
This chapter's aim is to embrace and harness a number of interdisciplinary insights to model the creation, expression, and sustainability of solidarity as a virtuous circle. This model is then used to explain solidarity's pervasiveness and constitutional significance in EU law by reference to both existing usages (primarily developed in the case law of the Court of Justice) and the changes introduced by the Lisbon Treaty 2007. It is argued that solidarity possesses considerable potential as a transformative concept in developing a commitment to social justice as part of a revitalised and cosmopolitan EU. As a concept, it holds significant power alongside, in relation to or in competition with, other key discourses currently being adopted to analyze the evolving structures and character of the EU. Manifestations of the notion are already embedded in the acquis of EU law and, moreover, the Lisbon Treaty confirms the centrality of solidarity in the EU's future constitutional arrangements.
Article
Political theorists aiming to articulate normative standards for the EU have almost entirely focused on whether or not the EU suffers from a ‘democratic deficit'. Almost nothing has been written, by contrast, on one of the central values underpinning European integration since at least the European Coal and Steel Community (ECSC), namely solidarity. What kinds of principles, policies, and ideals should an affirmation of solidarity commit us to? Put another way: what norms of socioeconomic justice ought to apply to the EU? This is not an empirical or narrowly legal question. We are not trying to gauge the degree of attachment there currently is in the EU by, for example, citing the latest Eurobarometer poll. We are also not attempting to state the implicit rationale followed by the Court of Justice in its recent ‘solidarity’ jurisprudence, let alone trying to fix what the Commission might mean by it. In this article, I ask the more fundamental question underlying both the legal and the empirical questions: What principles of social solidarity ought to apply between states and citizens of the emerging European polity? This question has rarely been asked or answered by political theorists in an EU context, so we are entering largely uncharted territory. The article develops a tripartite model of EU solidarity in Section 2, and then applies it to the case of free movement of persons in Section 3.
Article
Im Rahmen der europäischen Finanzkrise ist das Recht dem Faktum Euro gelegentlich auch praeter oder contra legem gefolgt. Dies hat zu einer nachhaltigen Vertrauenskrise der Rechtsunion und der Rechtsstaatlichkeit geführt. Zunehmend wird deutlich, dass dabei auch die demokratischen Legitimationsgrundlagen des Projektes Europa erodieren. Der folgende Beitrag zeigt institutionelle Fehlentwicklungen zu Lasten des Demokratieprinzips auf und gibt einen (wenig optimistischen) Ausblick auf Abhilfemöglichkeiten.
Article
After exploring the relationship between solidarity and human rights, I argue that, when considering civic solidarity, the right to solidarity as a human right may be understood as the negative right not to be hindered by social vulnerabilities in the exercise of citizen rights. I define social vulnerabilities as those vulnerabilities that result from structures of society. As a negative right, the right to solidarity shifts attention away from what is necessary for basic flourishing and toward what social structures hinder full participation in other civic or political obligations and rights. The analysis of a human right to solidarity provides a useful framework for understanding the crisis in solidarity in the European Union and helps to elucidate the obligations of other regional and global solidarity relations.