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Zweite Moderne erklären,
Wandel erwarten
Die soziologische Erklärung
der Zweistufigkeit der Moderne
und ihre Konsequenzen
Hanno Scholtz
1
Zusammenfassung: Die Gegenwart weist beunruhigende Parallelen zu den
1930er Jahren auf. Ist das Zufall? Oder lassen sich tatsächlich parallele
Modernisierungskrisen in der Einführung der „Zweiten Moderne“ (Beck) ähnlich
wie in derjenigen der ersten Moderne beschreiben? Und wohin führen diese?
Zur Beantwortung dieser Fragen präsentiert der Text ein analytisches Modell der
Zweistufigkeit der Moderne und validiert es an aus dem Modell vorhersagbaren
Entwicklungen. Der entscheidende Test des Modells steht allerdings noch aus.
Denn wichtige Vorhersagen des Modells beziehen sich nicht auf gegenwärtige
oder vergangene Zeitpunkte, sondern auf die Zukunft: Um dem zunehmenden
Mismatch individualisierter sozialer Beziehungen mit den gruppenbasierten
Institutionen aus der Zeit der Industriegesellschaft zu begegnen, lässt das
Modell institutionellen Wandel hin zu individualisierter und dennoch akteurs-
unterstützter Verantwortlichkeit erwarten, die einige bisherige Tabus bricht.
1
Wedecide.ch, Zeppelin University, University of Zürich, University of Fribourg (CH). hanno.scholtz@wede-
cide.ch. I thank Boris Périsset and Christof Täschler for helping me with the two figures, and Martin Rav-
allion, Enrico Tenaglia, André Golliez, Simone Hupfer and the two already named for general helpful dis-
cussions.
1 Kill your darlings
Matthias Erzberger, Maria Sandmayer, Anton
Wojciedowski, Ignatz Kwittek, Josef Nowak, Karl
Gareis, Walther Rathenau.
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Mehmet
Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides,
Michèle Kiesewetter, Walter Lübcke.
Die (hier massiv gekürzte) Liste von Opfern rech-
ter Gewalt in neuerer Zeit (Jansen et al. 2018) und
in der Weimarer Republik (Hofmann 2000; Sauer
2006) gehört zu den Gegenständen, deren ver-
gleichende Betrachtung Protest hervorruft. Wis-
senschaft ist kein emotionsfreier Raum, und
Vergleich kann mit Gleichsetzung gleichgesetzt
werden – so wie die vergleichende Völkermord-
forschung zunächst im Ruch stand, die Singula-
rität des Holocaust zu leugnen. Aber auch wenn
für den Zeitraum zwischen 1949 und 1989 mit ei-
ner gewissen Dunkelziffer zu rechnen ist, ist ge-
rade das Nebeneinanderstehen von Entwicklun-
gen der Gewaltbereitschaft vor (und ja noch viel
mehr nach) 1933 einerseits und seit 1989 ande-
rerseits eine Herausforderung gerade für den
Vergleich – so wie eben auch die vergleichende
Völkermordforschung Strukturähnlichkeiten
aufzeigen und daraus Lehren ziehen konnte, die
über die Lehren aus der alleinigen Beschäfti-
gung mit dem Holocaust hinausgehen. Insofern
impliziert es keine „Gleichsetzung“ von Alexan-
der Gauland oder Hermann Strache mit Adolf
Hitler oder von Wladimir Putin mit Josef Stalin,
wenn man bestehende Parallelen der histori-
schen Dynamiken von Gegenwart und 1930er
Jahren betrachtet und zu verstehen versucht. Es
wäre ja schön, wenn die gegenwärtigen Dynami-
ken der Gewalt ohne institutionelle Veränderun-
gen allein aufgrund der Mobilisierung positiver
Werthaltungen wieder in sich zusammenfallen
würden. Aber es steht der Soziologie gut an,
nicht allein auf eine solche Hoffnung zu setzen,
sondern sich daneben auch um die Kraft der ra-
tionalen Analyse zu bemühen.
Die Soziologie ist in dieser Hinsicht einerseits
gut ausgestattet. Andererseits steht sie sich
aber auch selbst im Weg. Sie ist gut ausgestat-
tet, weil sie den Begriff der zweiten Moderne ja
schon seit drei Jahrzehnten verwendet (Beck
1986) – also implizit auch auf den Gedanken von
zwei Schüben institutioneller Modernisierung
und also auch von zwei Modernisierungskrisen
durchaus vorbereitet ist. Aber sie steht sich
auch selbst im Weg mit eingeübten Arbeitstei-
lungen und Selbstverständlichkeiten, die der Si-
cherung abgegrenzter Gärtchen dienen, aber sie
angesichts der gegenwärtigen gesellschaftli-
chen Krise hilflos der notwendigen Analysefä-
higkeit beraubt. In einer Situation der Krise kom-
men Lösungen davon, liebgewordene Routinen
auch einmal verlassen zu können, „out of the
box“ denken zu können, wie das heute heißt. Das
kann Probleme mit sich bringen, weil Routinen
ja ihre Berechtigungen haben. Aber es kann auch
zu neuen Lösungen führen. Im Zweifel ist es bes-
ser, alte Götzen sterben als weiter Menschen.
In diesem Sinne will ich im folgenden einmal die
liebgewordene Routine über Bord werfen, dass
die historisch-soziologische Analyse grosser ge-
sellschaftlicher Veränderungen und individual-
methologische Erklärung nichts miteinander zu
tun haben dürfen. Von beiden Seiten sind reich-
lich Routinen gegen eine solche Verbindung eta-
bliert; von Seiten der historischen Soziologie
aus etwa die Interpretationsbedürftigkeit histo-
rischer Zusammenhänge und von der analyti-
schen Seite her Mertons Middle-Range-Anforde-
rung. (Merton [1942] 1966) Während Mertons For-
derung eine Beschränkung ist, die man vor dem
seinerzeitigen Hintergrund der Parsonsschen
Grosstheorie historisch verstehen und professi-
onspolitisch sinnvoll finden kann, die aber als
absolut gesetztes Denkverbot für eine soziale
Wissenschaft gleichwohl nichts anderes als
eine Peinlichkeit ist, bleibt die Interpretations-
bedürftigkeit historischer Situationen selbst-
verständlich gegeben und mag am Ende der
Analyse gerne wieder aufgenommen werden –
für die Konstruktion eines analytischen Modells,
das zum Verständnis und zur Bewältigung der
gegenwärtigen Krise hilfreich sein mag, erlaube
ich mir sie gleichwohl in die Kategorie jener As-
pekte zu packen, von denen man zunächst ein-
mal abstrahieren kann.
Scholtz: Zweite Moderne erklären 3
2 Parallelen
Die Wahl des 45. US-Präsidenten hat eine Reihe
von Vergleichen zwischen der Gegenwart und
den 1930er Jahren ausgelöst (siehe z.B.
Applebaum 2016; Formisano 2016; Arnold 2017;
Rosenbaum 2017). Aber damit ist nur etwas stär-
ker an die Oberfläche gekommen, was schon zu-
vor zu spüren war: Auch bei der Migrationswelle
der letzten Jahre wird mitunter auf die Migration
um 1900 verwiesen; vor dem „War on Terror“ in
Afghanistan 2001 wurde schon der erste Welt-
krieg 1914 durch einen Terroranschlag ausgelöst
(Gelvin 2008; Jensen 2009); auch bei den Wirt-
schaftskrisen um 2008 herum wurde vielfach
der Vergleich zu 1929 herangezogen (Reinhart
and Rogoff 2009); und beim Anstieg der sozialen
Ungleichheit zumindest in Bezug auf die am
Markt verdienten Einkommen darf man durch-
aus an die „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts
denken. In toto: Wir nehmen eine Parallele von
problematischen Aspekten von Modernisie-
rungsprozessen wahr.
Der vorliegende Text nimmt diese Parallelen
zum Anlass, zu fragen, ob wir es von 1914 bis 1949
und aktuell seit 2001 mit zwei vergleichbaren
Modernisierungskrisen zu tun haben könnten.
Das ist, 33 Jahre nach der Publikation der Risiko-
gesellschaft, auch eine implizite Auseinanderset-
zung mit Ulrich Beck und seiner These, dass
„[i]m Zuge verselbständigter Modernisierung
die Industriegesellschaft genau so überrollt
[wird] wie die industriegesellschaftliche Moder-
nisierung ständische und feudale Gesell-
schaftsformen auf- und [ablöste]“ (Beck 1986).
Ohne hier Beck-Exegese betreiben zu wollen: Wo
eine Gesellschaftsform „überrollt“ und „abge-
löst“ wird, da kann man Krisen erwarten. Aber
woher kommen Überrollen und Ablösen? Und
was können wir aus der Analyse dieser Prozesse
lernen? In vollem Bewusstsein der Tatsache,
dass die genauere Darstellung der oben genann-
ten Parallelen einen eigenen Text geben würde,
dessen Ergebnis nicht als selbstverständlich
angenommen werden kann: Einmal gegeben,
man kann doch von solchen Parallelen spre-
chen, wie können wir sie erklären?
Es geht also um erklärende Soziologie, die Be-
antwortung einer Warum-Frage mithilfe eines
analytischen Modells soziologischer Mechanis-
men im Sinne der soziologischen Erklärung: Des
Aneinanderhängens kausaler Prozesse, die Si-
tuationen auf einer oberhalb von Akteuren ange-
siedelten Ebene durch ihre situativen Effekte
und entsprechende Handlungskonsequenzen
auf der Akteursebene zu Erklärung sozialer Fol-
gen auf der oberen Ebene verwenden
(Lindenberg and Wippler 1978; Coleman 1986;
1990; Little 1990; Esser 1999-2001; Hedström
2005). Jenseits der Argumentationen über Ri-
siko und Reflexivität, die richtig sein mögen und
trotzdem möglicherweise die relevanten Zusam-
menhänge eher verstellen als aufklären, lässt
sich Beck so gewissermassen „vom Kopf auf die
Füsse zu stellen“, wie Karl Marx das mit seinem
Vorgänger Hegel unternommen hat (Engels 1975,
S. 292).
Hierauf bauen zwei Anschlussfragestellungen
auf. Die eine ist: Wenn es eine Erklärung gibt, fin-
det diese Erklärung über die Existenz der Paral-
lelen hinaus empirische Unterstützung? Analy-
tische Modelle erlauben die Ableitung von Erwar-
tungen an die Realität, und soweit sich diese Er-
wartungen auf Realitäten beziehen, über die In-
formationen vorliegen, können sie an diesen ge-
testet werden.
Die zweite Anschlussfragestellung ist: Wenn es
eine Erklärung gibt und sie empirische Unter-
stützung findet, was können wir dann aus der
Erklärung lernen? Für den sozial und politisch
interessierten Zeitgenossen ist diese letztere
Fragestellung die eigentlich spannende. In Ge-
sprächen über Parallelen zwischen der Gegen-
wart und den 1930er Jahren stellt sich immer ein
gewisses Schaudern ein, weil diese bei ihrem er-
sten Auftreten ja in die Katastrophe von Faschis-
mus, Krieg und Völkermord führten. Aber für So-
ziologen sollte ein solches Schaudern gerade
nicht Grund zum Wegschauen sein, sondern zum
genaueren Hinschauen: Auch wenn wenige Zeit-
genossen das 1940 zu hoffen gewagt hätten, ka-
men jenseits von 1945 die Jahre 1949 und 1950
und eine Zeit, als die Industriegesellschaft auf
einmal funktionierte, stabil war und Wohlstand
sowohl absolut als auch in erstaunlich ausgegli-
chenem Masse produzierte. Analytische Modelle
erlauben die Ableitung von Erwartungen an die
Realität, und diese Erwartungen können sich
auch auf zukünftige Realitäten beziehen und
Aussagen über die Zukunft machen. Wenn wir
verstehen, was 1950 anders war als 1930, können
wir vielleicht verstehen, was 2040 anders sein
Scholtz: Zweite Moderne erklären 4
sollte als heute, um aus der Spirale eskalieren-
der sozialer Probleme herauszukommen, die wir
heute erleben.
Diese Fragen strukturieren den weiteren Gang
der Untersuchung. Abschnitt 3 beschreibt ein
Modell, das die Zweistufigkeit der Moderne und
die oben genannten Parallelen zu erklären er-
laubt. Abschnitt 4 leitet aus diesem Modell ei-
nige Hypothesen her und testet sie an der empi-
rischen Realität. Abschnitt 5 untersucht, was
sich aus dem Modell an Vorhersagen und ggf.
Empfehlungen sozialen und politischen Han-
delns für die Zukunft ableiten lässt. Abschnitt 6
fasst zusammen.
3 Erste und zweite
Moderne: Eine
soziologische Erklärung
Das Schema der soziologischen Erklärung er-
klärt Phänomene auf einer Ebene oberhalb von
Akteuren durch Situationen und entsprechende
Reaktionen auf der Ebene der Akteure (Coleman
1986; 1990; Esser 1999-2001). Meist ist die obere
Ebene die gesellschaftliche Makroebene, meist
sind Akteure Individuen – aber nicht immer; die
Mesoebene der Organisationen, die sowohl eine
überindividuelle Ebene darstellen als auch
selbst Akteure sein können, kompliziert das
Ganze ein wenig und wird auch bei diesem spe-
ziellen Modell eine wichtige Rolle spielen. Sozio-
logische Erklärungen sind Spezialfälle analyti-
scher Modelle, das heisst als Modelle greifen sie
einige Aspekte aus der Realität heraus und las-
sen andere abstrahierend beiseite (Abell 1971;
Frigg and Hartmann 2009), als analytische Me-
chanismen hängen sie Kausalzusammenhänge
aneinander (Little 1990).
Um dieses spezifische Modell zu konstruieren,
sind vier Schritte nötig: Zunächst gilt es, die ab-
hängige Variable zu spezifizieren. Als zweites ist
zu entscheiden, welche externen Faktoren als
unbewegte Beweger von aussen auftreten und
zu Veränderungen führen. Der dritte und wich-
tigste Schritt ist, die Mechanismen zu erklären,
die auftreten und zu der spezifischen Form der
Phänomene führen, die wir beobachten. Viertens
wird es darum gehen, herzuleiten, wieso die
sechs genannten Parallelen aus diesem Modell
erklärbar sind – auch wenn dieser Schritt, wie
gesagt, skizzenhaft bleiben muss, um für die
Fragen der darüber hinausgehenden Evidenz
und der praktischen Schlussfolgerungen noch
Platz zu lassen.
3.1 Das abhängige Konzept:
Institutionen
Für die Konzeptualisierung der abhängigen Va-
riable greife ich auf Émile Durkheim zurück, der
Soziologie als „Wissenschaft von den Institutio-
nen“ (Durkheim [1895] 1973) definierte. Die Indu-
striegesellschaft definierte ein Set von Institu-
tionen, vor ihr war ein anderes Set von Institutio-
nen gültig, und derzeit bildet sich ein neues Set
von Institutionen heraus.
Institutionen sind analytisch charakterisiert
durch die drei Eigenschaften dass sie erstens
von Menschen gemacht sind, also durch kontin-
gentes soziales Handeln entstehen, dass sie
zweitens menschliche Interaktion durch Regeln,
also normative Einstufung von Handlungswei-
sen, verändern, und dass sie drittens mehr oder
weniger stabil sind und so koordiniertes Han-
deln ermöglichen (Lewis 1969; North 1990;
Hindriks and Guala 2015). Sie können definiert
werden als Zusammenfassung von Elementen,
die Menschen neu in ihre Interaktionsstruktur
eingeführt haben, zusammen mit den dadurch
entstehenden Erwartungsgleichgewichten.
In Situationen unter Unsicherheit ermöglichen
Institutionen Akteuren, richtige Entscheidungen
zu treffen, also solche, die individuell optimal
sind unter der Maßgabe, anderen nicht zu scha-
den. Individuen müssen dazu in eine geeignete
soziale Struktur gebracht und mit den geeigne-
ten Anreizen versehen werden.
Dieses einfache Verständnis von Institutionen
erlaubt bereits einige Ableitungen, die für die ge-
genwärtige Situation hilfreich sind: Da Verände-
rungen von Institutionen einen Wechsel zwi-
schen Erwartungsgleichgewichten impliziert,
haben sie ein Beharrungsvermögen und ihr
Wandel ist diskontinuierlich. Da jedes neue
Gleichgewicht immer eines von (mindestens
zwei) mehreren möglichen ist und Erwartungs-
sicherheit hergestellt werden muss, ist Kommu-
nikation nötig. Da Gleichgewichte Koordinati-
onsprobleme lösen, das jeweils neue Gleichge-
wicht vorab nicht vollständig bekannt ist und
die Beteiligten vorab nicht genau wissen, wie die
Lösung des Koordinationsproblems in der Zu-
Scholtz: Zweite Moderne erklären 5
kunft genau aussehen wird, impliziert institu-
tioneller Wandel Ängste. Unter Unsicherheit ist
vorab nicht bekannt, welches Set von neuen In-
teraktionselementen mit dem zugehörigen
Gleichgewicht das für die Zukunft am besten ge-
eignete ist. Möglicherweise ist nicht einmal klar,
ob es überhaupt ein neues solches Set gibt, das
ein besseres Resultat ermöglicht als die beste-
hende Institution, selbst wenn deren Leistungs-
fähigkeit abnimmt. Deshalb impliziert institu-
tioneller Wandel Krisen.
3.2 Der externe Antrieb: Wachstum
Der erste Schritt der Erklärung, Essers „Logik der
Situation“, bezieht sich auf das, was Weber in
seiner berühmten Definition als „deutendes Ver-
stehen“ beschreibt, und wird daher oft auf qua-
litativer Empirie abgestützt. Aber dafür, grund-
sätzliche Dynamiken eines über zweieinhalb
Jahrhunderte gehenden Prozesses zu verstehen,
geht es nicht um zusätzliche Information, son-
dern umgekehrt darum, in einem Abstraktions-
prozess die oder sogar den richtigen Entwick-
lungsprozess auszuwählen. Was sind die we-
sentlichen Aspekte von Lebensrealität, die sich
im Verlauf der Moderne verändert haben?
Die zentrale Heuristik zum Verstehen von Situa-
tionslogiken ist das Tripel von Ressourcen, Er-
wartungen, und Motivationen, oder in einer an-
deren Abfolge von Wünschen, Überzeugungen,
und Möglichkeiten (desires, beliefs, opportuni-
ties, Hedström 2005). Motivationen oder Wün-
sche stehen dabei als Antrieb von Wandel weni-
ger weniger im Zentrum: Zwar ist neben kulturell
bedingt persistenten Unterschieden ihre Verän-
derung über die Zeit ebenfalls belegt, aber dies
ist kein autonomer Wandel, sondern resultiert
endogen aus steigendem Wohlstand, mithin zu-
nehmenden Verfügbarkeit von Ressourcen
(Inglehart and Baker 2000).
Die anderen beiden hingegen unterliegen auto-
nomem Wandel. Die Entwicklung der Wissen-
schaften liefert seit dem 15. Jahrhundert Infor-
mationen, die präzisieren, welche Erwartungen
an die Welt gestellt werden können, und seit der
industriellen Revolution im späten 18. Jahrhun-
dert steigen, von England sich über Europa und
später die Welt ausbreitend, die Pro-Kopf-Ein-
kommen, also die verfügbaren Ressourcen. Zu-
sammen führen sie zu einer erhöhten Komplexi-
tät individueller Interaktionssituationen: Mehr
verfügbare Ressourcen bedeuten mehr Hand-
lungsoptionen. Da dies jeweils auch für Interak-
tionspartner gilt, steigt der Informationsbedarf.
Und da Ressourcen sich in Informationen trans-
formieren lassen, entspricht diesem steigenden
Informationsbedarf auch ein steigendes Infor-
mationsangebot.
Diese steigende Komplexität führt zu zwei Me-
chanismen der Moderne (im Sinne der Forde-
rung von Aakvaag 2013), genauer spezifischen
diskontinuierlichen Veränderungen in der
Struktur menschlicher Interaktion. Die erste die-
ser beiden Veränderungen ist der Wandel von
Tradition zu Rationalität (Weber 1922): In einer
armen Welt mit wenig Ressourcen und Informa-
tionen hält man an einmal gefundenen Lösun-
gen fest. Wenn man für einen beliebigen sozia-
len Prozess einmal die Koordination hinbekom-
men hat, steht die damit gefundene Herstellung
sozialer Ordnung im Vordergrund, einfach weil
es zu aufwendig wäre, etwas anderes auszupro-
bieren. In einer reichen Welt mit ausreichend
Ressourcen und Informationen hingegen ist es
möglich, Neues auszuprobieren und gegebenen-
falls die Kosten eines Wandels zu tragen, und
Tradition ist allenfalls noch ein Argument unter
vielen, nicht mehr das allumfassende Gefängnis
ohne Ausweg, das sie vorher war (Lerner [1958]
1965).
Einen zweiter Mechanismus des Wandels hat
zuerst Jürgen Habermas beschrieben (Haber-
mas 1992). Auch wenn er ihn in ein normatives
Konzept fasst, ist es doch wesentlich ein empiri-
sches, nämlich der Wandel von Autorität zu De-
liberation: Wenn in einer armen Welt mit wenig
Ressourcen und Informationen einmal Ent-
scheidungen zu treffen sind, die durch die Ge-
winnung von Informationen verbessert werden
können, dann ist es sinnvoll, wenn derjenige Ak-
teur die Informationen einholt und dann auch
gleich die Entscheidungen trifft, der bereits die
meisten Ressourcen und Informationen besitzt,
d.h. im Allgemeinen derjenige mit dem höchsten
sozialen Status. In einer reichen Welt mit ausrei-
chend Ressourcen und Informationen hingegen
ist es sinnvoller, wenn alle Akteure Informatio-
nen einholen und in die Entscheidungsfindung
einspeisen. Dieser Mechanismus unterliegt der
in der Vergangenheit höheren kommunikativen
Bedeutung sozialen Status‘, die mit der Schaf-
fung armer, aber komplexerer Sozialsysteme zur
Schaffung von Luxusgesetzen, aber mit steigen-
dem Wohlstand wieder zu ihrer Abschaffung
Scholtz: Zweite Moderne erklären 6
führte (Hunt 1996), und allgemeiner zur Notwen-
digkeit von Distinktion (Bourdieu 1979), die in
letzter Zeit ja ihre Form ändert (Peterson and
Kern 1996). Beiden verwandt ist derjenige des
Überganges von Kontinuität zu Wettbewerb, in
dem Information innerhalb von Interaktionen
durch Information im Vergleich von Interakti-
onspartnern ersetzt wird.
Diese beiden ersten Schritte zusammen bilden
eine einfache Theorie der Diskontinuität der Mo-
derne. Sie zeigen aber noch dasselbe verein-
fachte Verständnis von Modernisierung als ein-
zigem Schritt, der allen Gesellschaften gleicher-
massen offensteht, wie die naiven Modernisie-
rungstheorie der 1950er (Lerner [1958] 1965), die
den Ruf jedweder Theorie der Modernisierung so
nachhaltig beschädigt hat (Knöbl 2003), unge-
achtet der Tatsache, dass Modernisierung das
Leben von Milliarden Menschen radikal verän-
dert.
3.3 Organisationen als
intervenierendes Konzept
Es ist also notwendig, zu verstehen, warum die
Moderne nicht die Form eines einfachen Schrit-
tes angenommen hat. Die Antwort auf diese
Frage liegt in der Struktur menschlicher Interak-
tion.
Nicht alle Individuen auf der Erde interagieren
direkt miteinander. Es gibt Gruppen, die interne
Institutionen ausgeprägt haben, welche der
Gruppe erlauben, als einheitlicher Akteur nach
aussen aufzutreten: Organisationen (Arrow
1964). Individuen interagieren in Haushalten, Fir-
men, Bildungseinrichtungen oder Parteien, und
intern ausgeprägte Institutionen erlauben ihnen
gemeinsames Leben und Reproduktion, als ein-
heitliche Akteure an Märkten und im Bildungs-
system aufzutreten oder auf politische Ent-
scheidungen Einfluss zu nehmen. Organisatio-
nen bilden also eine mittlere Ebene in der Struk-
tur menschlicher Interaktion.
Trotz dieser allgemeinen Definition ist die Exi-
stenz von Organisationen nicht etwas ahistori-
sches. Organisationen existieren heutzutage
überall, aber sie haben nicht überall und zu jeder
Zeit die gleiche Bedeutung. In ihrer Entstehung,
so eine hier verwendete Hilfshypothese (Scholtz
2018c), sind sie spezifisch europäisch, ja sogar
noch genauer spezifisch christlich.
Als das Römische Reich zusammenbrach, hin-
terließ es Europa als einen Kontinent, der durch
die Römerstrassen für Informationsströme
durchlässig geworden, aber immer noch zu ge-
birgig für dauerhafte zentrale Beherrschung war.
Von den Kirchenvätern her gewann das westli-
che Christentum seine Gestalt und seine Bedeu-
tung daraus, dass es für solch ein Europa die
Differenzierung und Koexistenz unterschiedli-
cher Ebenen erlaubte, ja förderte. Es setzte die
jüdische Idee der Trennung von weltlicher und
geistlicher Autorität in einer Form um, die unter-
schiedliche staatliche Autoritäten unter einem
gemeinsamen geistlichen Dach zuließ; es
stärkte mit der Unauflöslichkeit der Ehe die
Kernfamilie gegen widerstreitende Interessen
der weiteren Verwandtschaft; die Struktur der
Dreieinigkeit erlaubte, unterschiedliche Rollen-
erwartungen verschiedener Ebenen in unter-
schiedlichen Vorstellungen transzendentaler
Gegenüber aufzufangen: Alles zusammen ein
Training darin, innerhalb von Individuen die An-
sprüche aus Interaktionen innerhalb von Orga-
nisationen und Interaktionen über Organisa-
tionsgrenzen hinweg auszugleichen. Das Chri-
stentum konditionierte Menschen dazu, sich zu
„partitionieren“, also so in Gruppen aufzuteilen,
dass im Normalfall jedes Individuum genau ei-
ner Gruppe angehörte. Indem sie Konkurrenz för-
derte und befriedete, spielte diese kulturelle Ein-
übung in das Zulassen autonomer Organisatio-
nen unter gemeinsam akzeptierten institutio-
nellen Dächern bereits eine grosse Rolle in der
Initiierung des modernen Wachstumsprozes-
ses.
Prinzipiell unabhängig von der kulturellen Prä-
gung, aber eben doch besonders bedeutsam in
Europa und seinen entsprechend geprägten
ehemaligen Kolonien, hat die Existenz von Orga-
nisationen zwei bedeutsame Konsequenzen für
die Implementierung der Mechanismen der Mo-
derne. Interaktionen und die sie strukturieren-
den Institutionen existieren auf zwei Ebenen,
und das wirkt sich sowohl auf den Prozess der
Modernisierung selbst als auch auf seine insti-
tutionelle Regulation aus. Aus einer einfachen
Diskontinuität wird eine vierfache:
Durch die Existenz von Organisationen im Pro-
zess der Modernisierung kommt es zu zwei
Übergängen der Moderne, nämlich einer indu-
striegesellschaftlichen ersten Moderne und ei-
ner postindustriellen Zweiten Moderne, weil Ra-
Scholtz: Zweite Moderne erklären 7
tionalität, Deliberation und Wettbewerb zu-
nächst nur ausserhalb von Organisationen ein-
geführt werden, also in der Interaktion zwischen
ihnen oder auch da, wo Individuen Organisatio-
nen begründen, und erst später nach einer Inte-
rimsphase von Stabilität auch innerhalb von Or-
ganisationen.
Die zwei Übergänge unterscheiden mithin drei
Phasen in der sozialen Entwicklung der westli-
chen Nationen: Am Anfang eine vormoderne,
vollständig durch Tradition, Autorität und Konti-
nuität geprägte, am Ende eine in der beide Ebe-
nen durch die modernen Prinzipien von Rationa-
lität, Deliberation und Wettbewerb geprägt sein
werden. Der Begriff der Industriegesellschaft be-
schreibt in dieser Sicht jene mittlere Phase, in
der Organisationen sich bereits in einem moder-
nen Umfeld bewegten, aber die individuellen In-
teraktionen innerhalb der Organisationen noch
weitgehend von Tradition und Autorität geprägt
waren.
Durch die Existenz von Organisationen in der in-
stitutionellen Regulation des Modernisierungs-
prozesses hat jeder dieser beiden Schritte der
Moderne zwei Phasen, nämlich eine erste Phase,
in der die Institutionen innerhalb von Organisa-
tionen umgestellt werden, und eine zweite, in der
auf der Makroebene der Gesamtgesellschaft
neue Institutionen etabliert werden. Klarer wäre
es hier von institutionellen Selbstverständlich-
keiten zu sprechen, um gegen den Alltags-
sprachgebrauch deutlich zu machen, dass es
hier nicht nur um Rechtssetzung geht, sondern
um langfristige Erwartungsgleichgewichte: Die
Weimarer Republik „institutionalisierte“ zwar
Demokratie in Deutschland, aber die allseitige
Einsicht, dass Politik in einer westlichen Indu-
striegesellschaft statt Führern notwendiger-
weise demokratische Institutionen braucht,
setzte sich erst nach dem bekannten Churchill-
Zitat von 1947 durch.
Tabelle 1 fasst die sich ergebenden vier Wellen
institutioneller Innovation zusammen. Das fol-
gende Kapitel untersucht, was die Zellen dieser
Tabelle konkret füllt.
3.4 Die Parallelen erklären
Zunächst aber noch einmal zurück zu den Paral-
lelen. Fünf Parallelen (Populismus, Migration,
Terrorismus, Krisen und soziale Ungleichheit)
wurden oben als Motivation verwendet, eine
mögliche Zweistufigkeit der Moderne zu unter-
suchen. Sind sie nun mit dem gefundenen Mo-
dell auch zu erklären? Gehen wir in umgekehrter
Reihenfolge vor:
Die beiden Wellen ansteigender sozialer Ungleich-
heit lassen sich in der Perspektive des präsen-
tierten Modells den beiden Übergangsphasen
zuordnen, in denen jeweils Organisationen be-
reits nach einer neuen Logik funktionieren oder
zu funktionieren beginnen, während aus Grün-
den institutioneller Beharrlichkeit die Verbin-
dungen und Feedback-Mechanismen auf der ge-
sellschaftlichen Makro-Ebene noch in der alten
Logik verharren. Konkret heisst das für den er-
sten Übergang: Was beobachtet wurde als erster
Kuznets-Zyklus von steigender und später wie-
der fallender Ungleichheit (Kuznets 1955), war
tatsächlich, in Becks Worten, ein Prozess von
Entkopplung und Reintegration. In der ersten
Stufe der Entkopplung verloren in der Phase in-
stitutioneller Veränderungen innerhalb von Or-
ganisationen Verbindungen und Rückkopplun-
gen der vormodernen Zeit ihre Leistungsfähig-
Tabelle 1: Vier Wellen institutioneller Innovation (allgemein)
Ebene der
regulierenden Institutionen
Ebene der
zugrundeliegenden Interaktionen
Erste Transition: Modernisierung
auf Makroebene; Interaktionen in
Organisationen bleiben traditionell
Zweite Transition: Vollständige Eta-
blierung moderner Interaktionen,
auch innerhalb von Organisationen
Kontinuierliche Phase: Etablierung
neuer Organisationsformen; Span-
nung mit Makroinstitutionen führt
zu Modernisierungskrise
1. Welle institutioneller Innovation:
Meso-institutionelle Innovatio-
nen der ersten Transition
2. Welle institutioneller Innovation:
Meso-institutionelle Innovatio-
nen der zweiten Transition
Lösung der Modernisierungskrise:
Etablierung neuer Institutionen
auf der gesellschaftlichen Makro-
ebene
3. Welle institutioneller Innovation:
Makro-institutionelle Innovatio-
nen der ersten Transition
4. Welle institutioneller Innovation:
Makro-institutionelle Innovatio-
nen der zweiten Transition
Scholtz: Zweite Moderne erklären 8
keiten, weil sie der neuen Logik der Marktgesell-
schaften nicht mehr entsprachen, so zum Bei-
spiel in der Aufhebung des Zunftzwanges (in
Deutschland 1810 bis 1869) oder der abnehmen-
den Bedeutung elterlicher Autorität (Bulla 2009).
Damit, die neue Freiheit der Berufswahl mit ei-
nem entsprechenden Erwerb passender Ausbil-
dung auch nutzen zu können, waren viele Men-
schen überfordert. In der zweiten Stufe der Rein-
tegration wurden neue Verbindungen und Rück-
kopplungsmechanismen geschaffen in der
Form gruppenbasierter Organisationen die dif-
ferenzierte Qualifikationen vermittelten und dif-
ferenzierte Verhandlungsunterstützung anbo-
ten. Die letzten Dekaden ansteigender Ungleich-
heit können nun wiederum gesehen werden als
die Phase, in der die industriegesellschaftlichen
Verbindungen und Rückkopplungen ihre
Leistunsfähigkeit verloren haben, während Or-
ganisationen sich längst an die neuen Bedin-
gungen globalen Wettbewerbs und individuali-
sierter Rekrutierungspraktiken angepasst ha-
ben (Snower 1999).
Das Wiederauftreten von Wirtschaftskrisen nach
einer vierzigjährigen Pause lässt sich direkt
hierauf aufbauend erklären – das alte Marx’sche
und vom Keynesianismus weiterverfolgte Argu-
ment, dass in Zeiten hoher Ungleichheit der An-
teil des stabilisierenden allgemeinen Konsums
am Sozialprodukt zurückgeht, wäre der Einstieg
in eine Diskussion, die zu vertiefen der verfüg-
bare Raum verbietet.
Terrorismus und Migration haben einerseits etwas
mit Ungleichheit zu tun, aber sie setzen direkt
an dem krisenhaften Verlust an Leistungsfähig-
keit der etablierten Institutionen an – Terroris-
mus als anarchistisches Projekt in dem Gefühl,
etwas zertrümmern zu können, was schon aus
sich heraus im Zerfallen ist, und Migration aus
dem Gefühl, in einer zerfallenden Welt anderswo
Sicherheit und Glückschancen suchen zu müs-
sen.
Und die Wiederkehr des Populismus baut auf Un-
gleichheit und einem Festhaltenwollen am Be-
währten auf – es waren ja nicht die Arbeitslosen,
die Hitler gewählt haben (Falter 1995), und sind
auch jetzt wieder weniger diejenigen, die ganz
unten sind, als eher diejenigen, die noch etwas
zu verlieren befürchten und sich an alten Kon-
zepten von Gruppenpartitionierung und Autori-
tät festhalten, offen sind für unseriöse Verspre-
chungen.
Jeder dieser fünf Zusammenhänge verlangt
nach eigener, ausführlicher Diskussion, aber
auch in der gegebenen Kürze sollten sie die ge-
stellte Frage positiv beantworten können: Ja, in
der Tat, die Möglichkeit, die fünf das Modell mo-
tivierenden Parallelen auch aus ihm zu erklären,
besteht.
4 Empirische Evidenz
4.1 Allgemeine Überlegungen und
Hypothesen
Analytische Modelle werden validiert durch Evi-
denz, die zeigt, dass – einmal abgesehen von
dem Zweifel, der sich aus unerklärten Aspekten
ergibt – die aus dem Modell abgeleiteten Zusam-
menhänge in der empirischen Realität beobach-
tet werden können. Hierzu leitet man Hypothe-
sen aus dem Modell ab, die in der Gegenüber-
stellung mit Beobachtungen aus der empiri-
schen Realität überprüft werden können, ganz
wesentlich durch Tests anhand statistischer
Daten. In diesem speziellen Fall, in dem das Mo-
dell Entwicklungsdynamiken ganzer Gesell-
schaften im Verlauf von zwei Jahrhunderten be-
schreibt, ist es nicht möglich, auf einem einzel-
nen Datensatz einen quantitativen Test des Mo-
dells aufzubauen. Es ist aber durchaus möglich,
Vorhersagen abzuleiten, die der historischen
verfügbaren Empirie gegenübergestellt werden
und an ihr scheitern (Popper [1935/1959] 2004)
können.
Das Modell sagt im Verlauf wirtschaftlichen
Wachstums vier Wellen instutioneller Innova-
tion voraus. Wir nehmen einmal an, dass die
letzte dieser vier Wellen noch aussteht. Die Tat-
sache, dass das Modell vollständige Gesell-
schaften abdeckt, erlaubt zusätzlich die An-
nahme, dass die bisherigen drei Wellen institu-
tioneller Innovation nicht unbemerkt geblieben
sind, sondern bereits beobachtet und beschrie-
ben wurden von Spezialisten der jeweiligen Teil-
aspekte derjenigen Gesellschaften, in denen
diese Innovationen sich ereigneten.
Es lassen sich folgende vier Hypothesen ablei-
ten:
(H1) In der ersten Welle institutioneller Innova-
tion (dem ersten, innerhalb von Organisa-
tionen innovativen Teil des ersten Über-
gangs) entstehen Organisationen, die eine
Scholtz: Zweite Moderne erklären 9
intern noch sehr vormoderne Struktur mit
der Betonung von Tradition und hierarchi-
schen Autoritätsbeziehungen aufweisen,
sich aber bereits in Interaktionsprozessen
befinden, die durch Rationalität, Delibera-
tion und Wettbewerb gekennzeichnet sind.
(H2) Insofern, als diese Organisationen negative
Externalitäten besitzen, erwarten wir eine
erste soziale Krise, die sich daraus ergibt,
dass weder vormoderne makro-soziale In-
stitutionen noch die Erfahrungen der inner-
organisatorischen Innovationen angemes-
sene Rückkopplungen für das soziale Han-
deln dieser halbwegs modernen Organisa-
tionen und der Individuen in ihnen bzw. im
Austausch mit ihnen bieten.
(H3) In der zweiten Welle institutioneller Innova-
tion erwarten wir die Entstehung makro-so-
zialer Institutionen, die angemessene
Rückmeldungen verantwortlicher Verbind-
lichkeit für die halbwegs modernen Organi-
sationen bieten, die während der ersten
soialen Krise noch fehlten.
(H4) In der der dritten Welle institutioneller In-
novation erwarten wir das Auftreten von Or-
ganisationsformen, die nicht nur innerhalb
moderner, d.h. rationaler, deliberativer und
kompetitiver Interaktionen auf der Makro-
ebene agieren, sondern dieselben Struktur-
merkmale auch auf ihre inneren Interaktio-
nen anwenden.
Ohne Beachtung weiterer Einflüsse ist zu erwar-
ten, dass diese Phänomene in allen gesellschaft-
lichen Subsystemen gleichermassen auftreten.
4.2 Institutionelle Innovationen in
Haushalten und intimen
Beziehungen
Die institutionelle Innovation, die Hypothese 1
im Bereich von Haushalten und intimen Bezie-
hungen entspricht, ist die „moderne“ Familie,
wie sie in der historischen Soziologie der Famili-
enbeziehungen beschrieben wird (Shorter 1975),
die von Anfängen bereits im späten 18. und frü-
hen 19. Jahrhundert sich bis in die zwanziger
Jahre des 20. Jahrhunderts in den westlichen Ge-
sellschaften verbreitete. Sie wurde geformt
durch äussere bereits moderne Umstände, war
aber in ihrer internen Struktur noch sehr tradi-
tionell. Der sichtbarste Aspekt der modernen in-
stitutionellen Übereinkünfte im Umfeld der
„modernen“ Familie ist die veränderte Art, in der
sie entstand: Die Periode der Romantik erhielt
ihren Namen davon, dass Ehepartner nicht län-
ger durch die Familien ausgesucht wurden. Die
beteiligten jungen Menschen, insbesondere die
jungen Frauen, erkämpften sich das Recht,
selbst zu bestimmen, mit wem sie ihr Leben tei-
len wollten. Aber nach der Hochzeit waren die
Rollenzuordnungen, einschliesslich der festge-
schriebenen Autorität der Ehemänner über ihre
Frauen, in einem sehr ähnlichen Maße festge-
schrieben wie zuvor. Und die traditionelle Vor-
stellung von Ehe in Bezug auf Form und Umfang
von Intimität, einschliesslich ihrer lebenslangen
Form, ihrer Beschränkung auf heterosexuelle
Formen des Zusammenlebens, und die Akzep-
tanz von sexueller Intimität allein innerhalb der
Ehe, blieb aufrecht erhalten. H1 wird insofern
durch die „moderne“ Familie erfüllt, die intern
noch so arg traditionell war.
Die Hypothesen 2 und 3 scheinen für Haushalts-
bildung und Intimität nicht anwendbar zu sein -
trotz des bestehenden Diskurses über Moral und
seine Annahme, dass individuelles Verhalten
sich durch Vorbildwirkung auf Dritte auswirkt,
sind aus unserer (möglicherweise unvollstän-
dige) Perspektive in diesem Bereich keine sub-
stantiellen Probleme zu verzeichnen, die erst im
zweiten Teil der ersten Welle gelöst worden wä-
ren. Andere Perspektiven zukünftiger Forschung
werden dies möglicherweise noch korrigieren,
zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint dieser Be-
reich durch die Abwesenheit substantieller ne-
gativer Externalitäten gekennzeichnet zu sein.
Die institutionelle Innovation schliesslich, die
Hypothese 4 entspricht, ist die Entwicklung der
Akzeptanz von Diversität in der Bildung von inti-
men Beziehungen und Haushalten seit den
1960er Jahren. Die Dekaden seither wurden ge-
prägt durch eine langsame, aber kontinuierliche
Ersetzung des traditionellen als des einzig ak-
zeptablen Verständnisses von Familie durch ein
vertragsorientiertes Verständnis von Intimität,
für das der freie Willen und das langfristige
Wohlergehen der Beteiligten im Zentrum stehen
und ersterer in zweiteres durch rationale und de-
liberative Aushandlungsprozesse umgesetzt
wird. (Aufgrund der Tatsache, dass der Aufwand
des Ausbalancierens von Beziehungspartnern
stark mit deren Zahl ansteigt, ist die Rolle des
wettbewerblichen Elements innerhalb intimer
Beziehungen sehr begrenzt geblieben.) Die Ak-
Scholtz: Zweite Moderne erklären 10
zeptanz von Kohabitation, Scheidung, gleichge-
schlechtlichen Partnerschaften und unklaren
Grenzen zwischen den Geschlechtern sind alles
Teile dieser vollständigen Modernisierung inti-
mer Beziehungen.
Während diese Entwicklungen in Lehrbüchern
der Familiensoziologie durchgängig dargestellt
werden, lassen sich zwei Aspekte aus dem Mo-
dell ableiten, die nicht von der Systematik der
Familiensoziologie erfasst werden, aber auch in
diesem Zusammenhang gehören: Erstens ge-
hört auch die Einsicht, dass die Organisation Fa-
milie nicht unbedingt in der Lage ist, das Wohl-
ergehen ihrer Mitglieder zu garantieren, zu solch
einer Entwicklung eines modernen Verhältnis-
ses zur Familie als Organisation. Und sie fällt in
dieselbe Zeit: Die Entdeckung von Missbrauch,
Vernachlässigung und familiärer Gewalt als For-
schungsthema in Medizin, Psychologie und So-
ziologie startet in den 1960er Jahren (Kempe et
al. 1962; siehe hierzu auch Straus 1992; Olafson,
Corwin and Summit 1993). Zum anderen verän-
dert sich auch der Umgang mit der endgültigen
und unfreiwilligen Beendigung von Beziehungen
am Ende der Industriegesellschaft ähnlich radi-
kal wie an ihrem Beginn: Die Industriegesell-
schaft nahm Organisationen als zentralen Be-
zugspunkt und definierte das Individuum zen-
tral durch die Rollenerwartungen innerhalb von
Organisationen. Aber gruppenbezogene Verhal-
tenserwartungen enden zwangsweise mit dem
Tod. Dadurch konnte die Industriegesellschaft
deutlich schlechter mit dem Tod umgehen als
die traditionelle Gesellschaft vorher und als es
sich gegenwärtig wieder entwickelt. (Walter
1994; Jakoby and Thönnes 2017)
4.3 Institutionelle Innovationen in
Bildung und Wirtschaft
Bildung und Wirtschaft sind zwei unterschiedli-
che Bereiche sozialen Handelns und entspre-
chender Institutionen, und es gibt gute Argu-
mente, sie getrennt zu behandeln. Empirisch
war Bildung im ersten Übergang stärker mit Po-
litik als mit Wirtschaft verbunden (siehe etwa
Soysal and Strang 1989). Aber unter der Perspek-
tive von Ressourcen ist es sinnvoll, beide zu ver-
binden, weil Bildung wesentliche Qualifikatio-
nen hervorbringt, die nachher in der Arbeitswelt
in Ressourcen transformiert werden.
Im ersten Übergang entstanden entsprechend
zu H1 und beginnend etwa Mitte des 19. Jahrhun-
derts die ‚moderne‘ bürokratische Unterneh-
mung und die obligatorische Volksschule. Bei
der ‚modernen‘ Unternehmung (Chandler 1977)
ist das Adjektiv wie bei der ‚modernen‘ Familie
wiederum zunächst in Parenthese gesetzt, weil
die Charakteristiken der starken bürokratischen
Hierarchisierung mit relativ starren Positions-
zuordnungen aus heutiger Perspektive schon
wieder Kennzeichen einer vergangenen Ära sind.
Auch die obligatorische Volksschule, deren Kar-
riere zeitgleich ablief (Flora et al. 1983; Ramirez
and Boli 1987; Benavot and Riddle 1988), war in-
tern hierarchisch und durch Zwang und sinn-
freie Routinen gekennzeichnet. Aber sie berei-
tete junge Menschen auf ein Leben vor in einer
makro-sozialen Ordnung, die wirtschaftlich mo-
dern, nämlich rational und deliberativ geworden
und durch Wettbewerb und Wahlfreiheit ge-
kennzeichnet war, und die bürokratische Unter-
nehmung operierte in dieser Ordnung, an Märk-
ten und im Wettbewerb. Junge Menschen waren
frei, sich für den Eintritt in eine der entstehen-
den grossen Organsationen zu entscheiden, und
einige von ihnen erklommen Karriereleitern und
bekamen Entscheidungsbefugnisse, die für vor-
herige Generationen unvorstellbar gewesen wä-
ren. Allgemein brachte die industriegesell-
schaftliche Ordnung neue Entscheidungen und
entsprechende Verbindlichkeiten mit sich, aber
die meisten dieser Entscheidungen geschahen
ausserhalb der Organisationen, nämlich beim
Eintritt, abgesehen von den wenigen und sozial
exklusiven Fällen, wo Entscheidungen nicht
durch Regeln vorbestimmt waren.
Intern blieben sowohl die bürokratische Organi-
sation als auch die Volksschule weitgehend vor-
modern. Schulen waren angehängt an staatliche
Bürokratien, die nicht Initiative, sondern Diszi-
plin verlangten. Nicht umsonst ist Max Webers
Theorie, auf die das Konzept der bürokratischen
Unternehmung aufbaut, nicht im Kontext seiner
Wirtschaftssoziologie entwickelt, sondern in
seiner Typologie der Herrschaftsformen (Weber
[1922] 1985), mit verschiedenen Listen von Orga-
nisationseigenschaften, die dann erst in den
1950er Jahren als konstitutiv für Firmen der ent-
wickelten Industriegesellschaft erkannt wurden
(Friedrich 1952; Merton et al. 1952; Hall 1963). Ihre
Charakteristiken der Regelerfüllung und hierar-
chischer Autorität, durch die erstere sicherge-
Scholtz: Zweite Moderne erklären 11
stellt wurden, unterstreichen beide die Überein-
stimmung der bürokratischen Organisation mit
H1.
Aber diese Art neuer Organisationen erzeugten
negative Externalitäten, die in den 1930er Jahren
in eine soziale Krise führten. Im Anfang der Ent-
stehung bürokratischer Organisationen hatte
die Verbindung traditionalistischer Erwartun-
gen an paternalistische Fürsorgeund einer libe-
ralen Ideologie freier Märkte und der aus ihr er-
wachsende Verzicht auf Regulierung Produktivi-
tät freigesetzt. Aber im weiteren Verlauf führte
dieser Verzicht dazu, dass der kompetitive Cha-
rakter der Wirtschaft zunehmend unterminiert
wurde und engen Oligopolen oder sogar Mono-
polen Platz machte. Ein angemessenes Feed-
back auf die destruktiven Wirkungen dieser oli-
gopolistischen Marktstruktur fehlte, insbeson-
dere dort, wo die wirtschaftlich Mächtigen auch
publizistische Macht und damit Einfluss auf die
öffentliche Meinung gewannen.
Auch das traditionelle Verständnis von Schule
trug zu dieser Krise bei: Die Qualifikationen, die
die Volksschule brachte, waren undifferenziert
und praktisch identisch für alle. Dadurch waren
die Arbeiter grundsätzlich produktiv, aber ein-
fach austauschbar und ohne die Verhandlungs-
macht, die aus differenzierten Qualifikationen
erwächst.
Dazu trug auch ein letztlich traditionalistisches
Selbstverständnis der Gewerkschaften bei: Statt
um Verhandlungsmacht zur Aushandlung bes-
serer Arbeitsbedingungen besorgt zu sein, hat-
ten sie zu einem grossen Teil noch die Revolu-
tion vor Augen, das heisst sie wollten einfach in
einer traditionell hierarchisch strukturierten
Gesellschaft die Spitzenposition einnehmen
(Lees 1982; Lipold and Isaac 2009). Die resultie-
rende hohe soziale Ungleichheit schuf wirt-
schaftliche Krisenanfälligkeit, da ein grosser
Teil des Sozialproduktes von ökonomischen Er-
wartungen abhängig volatil eingesetzt wurde
und ein geringerer Teil in den stabileren Massen-
konsum ging.
2
Aus der Perspektive der neuen Wirtschaftssozio-
logie könnte man argumentieren, dass die Aus-
einandersetzungen, die die Unternehmen in der
Zwischenkriegszeit erschütterten, darauf hin-
weisen, dass die Organisationsrationalität be-
reits nach dem Krieg nur eine konstruierte war.
Aber wiederum fehlte ein adäquates Feedback
für diese destruktiven Folgen der unwirksamen
Wettbewerbsgesetzgebung, undifferenzierten
Bildung und ungeeigneten Gewerkschaftsstra-
tegie. Alle drei können insofern als mit H2 kor-
respondierend festgehalten werden.
Diese Probleme wurden in der zweiten Welle in-
stitutioneller Innovation korrigiert, in den USA,
Grossbritannien und der Schweiz ab den späten
1930er Jahren und im restlichen Westeuropa
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit
dem Aufstieg der Sekundarschulbildung (Flora
et al. 1983; Goldin 1998; Rangazas 2002) begann
die Differenzierung von Qualifikationen, Gewerk-
schaften fanden sich in eine nicht-revolutionäre
Rolle in Verhandlungsprozessen und wurden zu
akzeptierten Sozialpartnern, und wirksame
Wettbewerbsgesetze wurden etabliert. Alle drei
Entwicklungen trugen zu einem institutionellen
Rahmen der Verantwortlichkeit für die langfri-
stigen Konsequenzen organisationellen Han-
delns, wie es in H3 erwartet wurde.
Die Industriegesellschaft hatte Firmen als uni-
täre Akteure etablieren können durch die Unfä-
higkeit der einzelnen Arbeitnehmer, dem „stäh-
lernen Gehäuse“ der instrumentellen Rationali-
tät auf der Ebene der Organisation zu entkom-
men. Ihnen fehlten schlicht die Ressourcen und
Informationen, dem eisernen Käfig zu entkom-
men. Das änderte sich erst mit der langen
Wachstumsphase der Nachkriegszeit.
Ab den späten 1970er Jahren beschrieb die neue
Organisationssoziologie (Meyer and Rowan 1977)
Webers Stählernes Gehäuse als einen konstru-
ierten Mythos. In der historischen Perspektive
des hier entwickelten Modells war dies aber
nicht die unerwartete Entdeckung einer verbor-
genen Tatsache, die es zuvor geschafft hatte,
verborgen zu bleiben. Es war vielmehr die zeit-
nahe Beschreibung einer neuen sozialen Tatsa-
che.
2
Seit dieser Zeit verlieren andererseits die
vollständigen Zuordnungen von Individuen zu
Gruppen, die Arbeitnehmer auf Firmen und auf
Berufe festgelegt hatten (und vice versa), ihre
Das gilt aber nur auf der Ebene der Gruppenbe-
ziehungen: Die Arbeitnehmer und ihre Gewerk-
schaften akzeptierten ab 1949 (im wesentlichen),
die etablierte Ordnung als soziale Gruppe nicht
mehr infrage zu stellen. Als Individuen hatten die
Arbeitnehmer in dieser Zeit keine Möglichkeit,
der organisationellen Rationalität zu entkom-
men. (Ich danke Boris Holzer für diesen Hinweis.)
Scholtz: Zweite Moderne erklären 12
Selbstverständlichkeit. Die kommunikativen
Notwendigkeiten der „neuen“, notwendiger-
weise kommunikativen Unternehmung und die
neue „Grenzenlosigkeit“ von Karrieren und „Ba-
stelbiographien“ sind insofern Aspekte der in-
tern modernisierten Unternehmensstrukturen,
die wir aus H4 erwarten. Die Individualisierung
von Karriereverläufen bedeutet dabei durchaus
nicht, dass alle Arbeitnehmer auf einmal zu un-
ternehmerorientierten „Arbeitskraft-Betrieben“
(Voß and Pongratz 1998) würden. Es gibt genug
rationale Gründe, dass Arbeitnehmer weiterhin
stark betriebsspezifisches Humankapital akku-
mulieren und Betriebe das gerade bei hochqua-
lifizierten Arbeitnehmern weiterhin honorieren
(sehr prononciert in dieser Hinsicht Fürstenberg
2000; Kotthoff and Wagner 2008). Aber die allge-
meine Inklusionsfähigkeit eines auf Lebenszeit-
stellen ausgerichteten Systems hat doch sehr
gelitten. (siehe z.B. Schmidt 2011)
4.4 Institutionelle Innovationen in
der Politik
Für öffentliche, das heisst politische Entschei-
dungen hatte das europäische Konzept der Zu-
ordnung von Individuen zu Gruppen unter ge-
meinsamen institutionellen Dächern schon vor
Beginn des eigentlichen sozialen Modernisie-
rungsprozesses seit der industriellen Revolu-
tion ein spezifisches institutionelles System ge-
schaffen, nämlich dasjenige der Territorialstaa-
ten. Dieses System macht es notwendig, für den
Bereich der Politik die staatliche und die über-
staatliche Ebene zu unterscheiden. Die ersten
drei Hypothesen müssen für diese drei Ebenen
getrennt untersucht werden, während H4 als Teil
des Endes der partitionierenden Zuordnung von
Individuen zu Gruppen ebenenübergreifend zu
diskutieren ist.
Auf der oberen, für Europa durch den Territorial-
staat definierten Ebene ist die Organisations-
form mit intern hierarchischer Struktur inner-
3
Die USA und Frankreich, die die intellektuelle
Entwicklung des Nationalstaatskonzeptes über-
haupt erst anstiessen, können als revolutionäre
Sonderfälle hier nicht vertieft diskutiert werden.
In beiden Fällen setzte sich das modern national-
staatliche Selbstverständnis aber auch erst in
den 1830er Jahren durch, in Frankreich nach der
Juli-Revolution und dem Ende der Restaurations-
zeit, in den USA mit der Bedeutungszunahme der
bundesstaatlichen Ebene gegenüber dem
halb eines modernen, d.h. kompetitiven institu-
tionellen Rahmens, die aus H1 zu erwarten ist,
der Nationalstaat. Nach dem Impuls des Endes
der Gleichsetzung von Staatsverständnis und
absolutistischer Hierarchie, den die Revolutio-
nen in den USA und Frankreich gesetzt hatten,
wurde er ab 1820 als neue Normalität der politi-
schen Organisation eingeführt.
3
Von Lateiname-
rika aus breitete sich das Nationalstaatskon-
zept aus, bis es in den 1870er Jahren den west-
lich geprägten Kern des Weltsystems und in den
1970ern die gesamte Welt prägte (Wimmer and
Feinstein 2010).
Aber die alten Makroinstitutionen diplomati-
scher Netzwerke und begrenzter Kriegsführung,
die im traditionellen Setting Rückmeldungen
zur Leistungsfähigkeit der einzelnen Akteure ge-
liefert hatten, waren nicht länger in der Lage, die
neue Dynamik nationaler und nationalistischer
Aufwallungen aufzufangen, und das trug in
Übereinstimmung mit H2 zu der langen Krise
von 1914 bis 1945 bei.
Erst die Vereinten Nationen mit ihrer Balance
zwischen der formalen Gleichberechtigung von
Organisationen in Generalversammlung und
vielen Unterorganisationen und der Berücksich-
tigung militärischer Stärke im Sicherheitsrat
und ökonomischer Stärke in den Bretton-
Woods-Organisationen etablierten wieder ein
stabiles internationales System, das (trotz wie-
derholter Wirkungslosigkeit im militärischen
Bereich) durch die ganze Periode stabiler 1:1-Zu-
ordnungen von Individuen zu Gruppen hindurch
seine innere Struktur beibehielt.
Auf der unteren Ebene innerhalb der staatlichen
Organisation entstand im 19. Jahrhundert in
Übereinstimmung mit H1 ebenfalls eine neue Or-
ganisationsform: Elitegruppen und soziale Be-
wegungen verschmolzen in Massenparteien.
Ihre Mischung aus extern moderner Orientie-
rung am politischen Wettbewerb um Wähler-
Selbstverständnis als Bund von Einzelstaaten,
der zwischen 1776 und 1830 dem Zusammen-
schluss der spätmittelalterlichen Eidgenossen-
schaft oder auch der Europäischen Gemein-
schaft der 1950er Jahre noch näher war als dem
nationalstaatlichen Selbstverständnis nach
Ende des Bürgerkrieges.
Scholtz: Zweite Moderne erklären 13
stimmen und interner Geltung des „eisernen Ge-
setzes der Oligarchie“ (Michels [1925] 2002)
exemplifiziert die Kombination aus intern vor-
moderner Struktur und extern wettbewerblicher
Interaktion, die H1 erwartet.
Aber die Bemühung um Wählerstimmen impli-
zierte nicht für jede Partei die Akzeptanz des
kontinuierlichen Feedbacks durch die Messung
der Unterstützung der Bevölkerung in demokra-
tischen Zählprozessen. Ein wichtiger Teil sozia-
len Krise des ersten Überganges, den H2 erwar-
tet, waren zwei soziale Bewegungen und ihre
entsprechenden Parteien, die in der Krise auf un-
vollkommen moderne Konzeptionen setzten. Für
beide war der Misserfolg in Wahlen nicht eine
akzeptables Rückmeldung, die aus suboptima-
ler Leistung für die Wähler resultierte, sondern
ein Ergebnis „kultureller westlicher Dekadenz“
oder „kapitalistischer Verblendung“, was die
beiden gemeinsame Ablehnung dauerhaften de-
mokratischen Wettbewerbs rechtfertigte.
Während die kommunistische Kombination aus
moderner Ideologie und traditioneller Praxis
sich längere Zeit halten konnte und erst nach ei-
nigen Dekaden durch interne Ineffizienz zusam-
menbrach, verschwand die faschistische Kom-
bination aus traditioneller Ideologie und moder-
ner Praxis deutlich schneller weitgehend von der
Bildfläche. Sie machte Platz einer allgemeinen
Akzeptanz von Demokratie als angemessener
Form des Feedbacks für Parteien als verantwort-
liche Organisationen, die sich im zweiten Teil
des ersten Übergangs der Moderne durchsetzte,
wie es H3 erwartet. Churchills Beschreibung der
Demokratie als „schlechtester Regierungsform
mit Ausnahme aller anderen“ bezog 1947 ihre
Prominenz daher, dass Demokratie noch wenige
Jahre zuvor als kulturelle Eigenheit der Angels-
achsen (und Schweizer) gegolten hatte und nun
zum allseitigen Erstaunen auf einmal allgemein
als einzig passende politische Organisation-
form für Industriegesellschaften akzeptiert war.
Aber das vergleichbare Diktum der Erwartung ei-
nes „Endes der Geschichte” (Fukuyama 1992)
nach dem Ende des Kommunismus war vorerst
so viel kurzlebiger, da das Ende des Kommunis-
mus in sich selbst ein Teil der dritten Welle in-
stitutioneller Innovation (des ersten Teils des
zweiten Überganges) war, der Organisationen
durchlässig machte und intern modernisierte.
In diesem ersten Teil des zweiten Übergangs ver-
loren die europäischen 1:1 Zuordnungen von In-
dividuen zu Organisationen ihr früheres Mono-
pol in mehrfacher Hinsicht. In der praktischen
Politik verlor die industrielle Zuordnung von Auf-
gaben zu institutionellen Ebenen (meist der des
Nationalstaates) ihren Primat, sie wurde sowohl
durch die wachsende Bedeutung supra-nationa-
ler Koordination von oben als auch durch die
Nachfrage nach subnationaler Legitimation von
unten in Frage gestellt.
Normativ verlor die unhinterfragte Identifika-
tion mit der eigenen nationalstaatlichen Organi-
sation ihre Selbstverständlichkeit. Schon 1961
hatten die Eichmann-Prozesse Grenzen der Legi-
timation individuellen Handelns durch organi-
sationelle Einbindung deutlich gemacht. Aber
mit dem Jahr 1968 begann die Tatsache, dass
Nationalstaaten als Akteure Fehler machen und
die Verantwortung für diese Fehler übernehmen
müssen, breit zum Thema zu werden. Mit den
USA und dem zeitgenössischen Vietnam-Desa-
ster und mit Deutschland und der einsetzenden
Einsicht gesamtgesellschaftlicher Verantwor-
tung für die in der NS-Zeit begangenen Verbre-
chen begann das mit zwei Gesellschaften, die
ein höchstes Entwicklungsniveau und eine
höchste Sichtbarkeit von national zu verantwor-
tendem Fehlverhalten teilten, aber es breitete
sich in den folgenden Dekaden international
aus, so dass die Norm der Einsicht in historische
Schuld von Nationalstaaten unter den entwik-
kelten Gesellschaften inzwischen schon als all-
gemein durchgesetzt gelten kann (Schefczyk
2012).
Auf der Ebene individueller Akteure hingegen
war die sichtbarste Entwicklung der Aufstieg ei-
nes neuen Typs von Organisationen, die sich die
Vertretung aller Arten spezialisierter Interessen
zur Aufgabe machten. Ihr Spektrum ist breit: Es
umfasst die Vertretung spezialisierter altruisti-
scher Motive in Tierschutz und Menschenrech-
ten genauso wie egoistische Motive, die sich aus
Betroffenheiten durch Infrastrukturprojekte
oder berufliche Interessenlagen speisen können.
Aber auch die letzteren haben nicht mehr wie die
Organisationen sozialer Bewegungen des 19.
Jahrhunderts, die zu Parteien geworden waren,
die Zielsetzung, das Individuum von seiner sozi-
alstrukturellen (im Fall der Arbeiterparteien)
oder einer normativen Position (im Falle der
Scholtz: Zweite Moderne erklären 14
meisten konservativen Parteien) mit seiner gan-
zen Person zu erfassen, sondern beschränken
sich auf die Vertretung ihrer spezifischen In-
teressen (Frantz and Martens 2006).
Die besten Daten liegen hier für die USA vor. Ab-
bildung 1 zeigt Entwicklungen in der absoluten
Anzahl von Lobbyorganisationen, basierend auf
der Encyclopedia of Associations, die zwischen 1970
und 2005 alle fünf Jahre erschien und inzwi-
schen kodiert unter www.policyagendas.org zur
Verfügung steht (Bevan et al. 2013). Sie gruppiert
NGOs in 42 Bereichen, von Wirtschaft bis zu Hob-
bies, die Liste umfasst politische Gruppen und
soziales Engagement (32), Bürgerrechtler (2),
Gewerkschaften und Migrantenverbände (5), so-
wie solche Gruppen und Verbände, die auf Bun-
desebene politischen Einfluss ausüben (20), wie
die National Academy of Sciences oder die bei-
den nationalen Parteien, und diejenigen, die dies
auf staatlicher und lokaler Ebene tun (24). Die
Abbildung zeigt die kumulierte Anzahl der Orga-
nisationen nach Gründungsjahr, mit separaten
Linien für jede der acht Ausgaben, die jeweils
durch einen Punkt für das dem Druck vorange-
hende Jahr gekennzeichnet sind. Zum Vergleich
wurde auch die Gruppe „aller anderen“ Organi-
sationen einbezogen.
4
Mehrebenenpolitik, das Bewusstsein für natio-
nale Verantwortlichkeit, und der Aufstieg der
4
Das heisst nicht, dass nur die Organisationen
der fünf untersuchten Kategorien politisch rele-
vant wären. Die Beschränkung ist pragmatisch –
spezialisierten Nichtregierungsorganisationen
sind insofern alles institutionelle Innovationen
auf der Ebene von Organisationen, die den Er-
wartungen von H4 entsprechen – aber, wie schon
in den vorangegangenen Feldern, noch nicht auf
der Makro-Ebene verbunden worden sind. Das
steht noch aus.
5 Vorhersagen und
Politikempfehlungen
Wie wir gesehen haben, fällt der Bereich der inti-
men Beziehungen aus den zweiten Teilen der
beiden Transitionen heraus. Damit beschränkt
sich das, was für die Zukunft erwartet und nor-
mativ gefordert und unterstützt werden kann,
auf zwei Bereiche. Einmal den Bereich individu-
eller Entscheidungen im strategischen Manage-
ment eigener Qualifikationen und der Aushand-
lung angemessener Entlohnungen, der im er-
sten Übergang differenzierte Berufsausbildung
und akzeptierte, nichtrevolutionäre Gewerk-
schaften hervorbrachte, zum anderen den Be-
reich politischer Entscheidungen, in dem das
UN-System und die allgemeine Akzeptanz der re-
präsentativen Demokratie die Industriegesell-
schaft stabilisierten. Wie sieht das nun für den
gegenwärtigen Übergang aus?
Aus Gründen des unterschiedlichen Standes der
Diskussion legt der folgende Abschnitt einen
grösseren Fokus auf die zu erwartenden Ent-
wicklungen im politischen Bereich. Hierfür ist
die Diskussion schon etwas weiter fortgeschrit-
ten (Scholtz 2017a; b; 2018a; b). Überlegungen
zur Ableitung von Institutionen des Qualifikati-
onsmanagements werden gleichwohl ange-
schlossen.
5.1 Politik: Vorüberlegungen
Für öffentliche und damit politische Entschei-
dungen hatte das europäische Konzept der par-
titionierenden Gruppenzuordnung in der Phase
der Industriegesellschaft die Parteiendemokra-
tie und das UN-System geschaffen. Aber weder
Parteien noch Nationalstaaten können länger
als die einzigen allgemein akzeptierten Vertreter
die Grafik wäre komplexer geworden, und das
Bild ist ungefähr gleich.
Abbildung 1: Lobbyorganisationen in den USA
1925-2004 (1961-2005; Bevan et al. 2013)
Scholtz: Zweite Moderne erklären 15
von Individuen gelten. Es braucht also neue Ak-
teure, die die Verantwortung für politische Ent-
scheidungen tragen. Nachdem ein halbes Jahr-
hundert der Individualisierung (Beck 1983; 1986)
seit 1968 und die Entdeckung des Vorteils grup-
penübergreifender sozialer Beziehungen
(Granovetter 1973; Burt 1992) die Relevanz parti-
tionierender Gruppenzugehörigkeiten massiv
beschränkt haben, bleibt hierfür nur noch das
Individuum übrig: Es sind die Bürger, die die
letztendliche Verantwortung tragen.
Im Prinzip war dies bereits in der industriege-
sellschaftlichen Politik bewusst, in der der Wett-
bewerb der Parteiorganisationen durch die indi-
viduellen Wahlentscheidung abgeschlossen
wurde. Die Gründungsväter der industriegesell-
schaftlichen Demokratie hielten fest, dass die
„höchste Autorität beim Volk liegt, wie sie auch
immer abgeleitet wird“
5
beziehungsweise „Alle
Macht geht vom Volke aus” (GG Art. 1:2), aber die
konkrete Form der „Ableitung“, in der das „Aus-
gehen“ in spezifische Entscheidungen umge-
setzt wurde, ruhte auf den partitionierenden Zu-
ordnungen von Individuen zu Gruppen (Parteien,
Wahlkreisen, oft auch beidem), die derzeit ihre
Überzeugungskraft verlieren. Trotz einiger ent-
gegenlaufenden Tendenzen, die auf steigender
Ungleichheit oder neuen, scheinbar umfassen-
den Fragen basieren, zeigt das gegenwärtige po-
litische Leben eine klare Tendenz der partitionie-
renden Zuordnungen von Individuen zu Grup-
pen. Dabei sind neue Akteure und neue Entschei-
dungsstrukturen bereits entstanden, aber noch
nicht in einer Verantwortlichkeit schaffenden
Struktur zusammengeführt.
Die nötigen institutionellen Veränderungen set-
zen alle an der einzelnen politischen Entschei-
dung an (Easton 1965), wobei Personen- und Sa-
chentscheidungen strukturell weitgehend ana-
log behandelt werden können. Die notwendigen
Charakteristiken können als Meta-Entschei-
dungsfreiheit, flexible Vertrauensspeicherung
und Akteursoffenheit abgeleitet und beschrie-
ben werden.
5.2 Meta-Entscheidungsfreiheit
Parallel zu der gruppenbasierten Verantwort-
lichkeit, die mit der allgemeinen Akzeptanz der
5
„the ultimate authority, wherever the derivative
may be found, resides in the people alone”
((Madison [1788] 2012), p. 65)
Demokratie und dem UN-System in den späten
1940er Jahren etabliert wurde, kann dement-
sprechend in den nächsten zwei Dekaden die
Etablierung geeigneter Institutionen für die indi-
vidualisierte Verantwortlichkeit erwartet und
muss sinnvollerweise gefordert werden. In der
Form gelegentlicher Referenden breitet sich in-
dividualisierte Verantwortlichkeit bereits aus,
findet aber aus guten Gründen Kritik: Solange
direktdemokratische Entscheidungen nur zufäl-
lig verstreut auftauchen in einer Welt, in der an-
sonsten Politiker an der Spitze zitternder Partei-
und Staatsstrukturen alles entscheiden, dienen
sie eher der Entladung unverantwortlichen Pro-
testes als der Übernahme eigener Verantwor-
tung. (Dyck 2009; 2010) Institutionalisierte di-
rekte Demokratie hingegen, und zwar umso
mehr je mehr sie dem Ideal allgemeiner indivi-
dueller Verantwortlichkeit entspricht, nährt die
verantwortliche Entscheidfindung der Bürger.
(Frey 1994; Matsusaka 1995; 2005)
Natürlich muss die Institutionalisierung einer
allgemeinen Verantwortlichkeit der Bürger die
Probleme begrenzter Verarbeitungskapazität,
unterschiedlicher Intensitäten von Interessen
und der Verbindung bzw. Verbindbarkeit von Sa-
chentscheidungen angehen. Bürger bilden Mei-
nungen nur über Untermengen der tatsächlich
anstehenden Entscheidungen und müssen Auf-
wand für die Bildung und das Kundtun von Mei-
nungen betreiben, nicht jede Entscheidung ist
für jeden gleich wichtig, und wenn eine Minder-
heit mehrfach überstimmt wurde, wird es Zeit
sich zum Erhalt des sozialen Friedens um Aus-
gleich zu bemühen („Tyrannei der Mehrheit“).
Reine Basisdemokratie ist aus diesen Gründen
nicht stabil, es braucht die Möglichkeit, politi-
schen Akteuren zu vertrauen. Aber die herkömli-
che entscheidungsbezogene Partitionierung po-
litischer Individuen in solche, die mitentschei-
den dürfen, und solche, die gezwungen sind,
sich repräsentieren zu lassen, kann aus diesem
Argument nicht abgeleitet werden. Viel mehr
muss er für jede einzelne Entscheidung möglich
sein, auf der Meta-Ebene zu entscheiden, ob
man sich entscheiden oder sich vertreten lassen
möchte.
Scholtz: Zweite Moderne erklären 16
5.3 Flexible Vertrauensspeicherung
Eine individualisierte Verbindung zwischen
Wählern, den verschiedenen zu treffenden Ent-
scheidungen und den gleich noch zu behandeln-
den Akteuren scheitert bisher an der institutio-
nalisierten Trennung zwischen Wähler und
Wahl, den man mit dem englischen Wort „vote
detachment“ fassen kann: Man wirft den Wahl-
zettel in die Urne und zieht die Hand zurück, und
unterbricht damit die Verbindung zu der Ent-
scheidung, die man da kundgetan hat.
In anderen Bereichen hat die Kreativität des so-
zialen Lebens das Problem individueller Zuord-
nung in den letzten Dekaden durch elektroni-
sche Speicherung gelöst. Hier ist das noch nicht
der Fall. Ähnlich wie im obigen Fall, wo normative
Probleme der Einführung von Anspruchsrechten
im Wege stehen, sind es hier Tabus aus Angst
vor der Verletzung des Wahlgeheimnisses. In der
Tat, trotz aller Fortschritte der Verschlüsse-
lungstechnologien könnte es sein, dass eine
Verletzung des Wahlgeheimnisses nicht mit ab-
soluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
Aber das Geheimnis der Stimmabgabe kann
wahrscheinlich in einem Maß sichergestellt wer-
den, das ausreichend ist, die Freiheit der indivi-
duellen Entscheidung aufrecht zu erhalten.
Eine elektronische Speicherung von Vertrauens-
zuordnungen erlaubt es, Entscheidungen über
das Vertrauen in optionsbewertende Akteure
und über die konkrete Bewertung von bei Ent-
scheidungen mögliche Optionen kontinuierlich
dann in ein Zählsystem einzuspeisen, wenn sie
gebildet werden. Sie erlaubt eine flexible Form
direkter Demokratie als zentrale Form politi-
scher Entscheidungsfindung, in der Bürger für
alle Entscheidungen, für die sie eine Meinung
gebildet haben, diese direkt abgegeben können,
sich aber bei allen Entscheidungen, für die das
nicht der Fall ist, durch Akteure, denen sie ver-
trauen, vertreten lassen können. Sie erleichtert
zudem die Bildung von Vertrauen und von Mei-
nungen über die Bewertung von Entschei-
dungsoptionen. Ersteres kann in alle an einem
solchen elektronischen System der Vertrauens-
speicherung beteiligten Akteuren gesetzt wer-
den, die es (wie oben besprochen) ja schon in
grosser Zahl gibt. Zweitere können auf eine
transparent nachvollziehbare Aggregation der
Vorschläge der vertrauten Akteure aufbauen und
müssen diese nur noch überprüfen, bestätigen
oder gegebenenfalls anpassen. Vertrauensspei-
cherung bietet auch die Möglichkeit, Verbindun-
gen zwischen Entscheidungen herzustellen und
so die Argumente von Präferenzintensität und
Minderheitenschutz, die bisher gegen direktde-
mokratische Verfahren ins Feld geführt werden,
aufzunehmen.
Die Feinabstimmung der Auszählung ist dann
noch ein eigenes Thema für sich, das hier nicht
diskutiert werden kann: Wie bereits in der indu-
striegesellschaftlichen Demokratie ist es mög-
lich und wahrscheinlich notwendig, zentripetale
Mechanismen zur Stabilisierung einzubauen.
5.4 Akteursoffenheit
Die Probleme mangelnder politischer Informa-
tion und Meinungsbildung konnten im System
partitionierender Repräsentation durch Partei-
endemokratie und nationale Vertretung durch
gruppenbasierte Vertretung gelöst werden, so-
lange partitionierende Zuordnungen zur politi-
schen Grossgruppe und zur Nation noch allein
die politische Identität bestimmten. Aber das
funktioniert nicht mehr, und zwar nicht, weil
sich Politiker heute weniger bemühen würden,
sondern weil eine individualisierte Wählerschaft
so widersprüchliche Signale aussendet statt der
relativ einheitlichen in früheren Jahren.
Politische Akteure, die diese Lücke füllen kön-
nen, gibt es schon. Abbildung 1 zeigte, wie sehr
im Bereich politischer Organisationen die große
Erfolgsgeschichte seit 1968 die nichtstaatlichen
Lobbyorganisationen oder NGOs sind. Lobbyor-
ganisationen beschränken sich auf einzelne
Themenbereiche und können daher viel kohä-
rentere und vertrauenswürdigere Positionen be-
ziehen. Während die heutige Krise der Parteien
sich vorbereitete, läuft sich hier schon der Nach-
folger warm.
Aber die Konventionalität der herkömmlichen
Rollenaufteilung in der Politik ist so stark, dass
niemand, auch sie selbst nicht, derzeit daran
denkt, sie als verantwortliche Akteure in den po-
litischen Prozess einzubeziehen.
Natürlich können NGOs nur in die politische Ent-
scheidungsfindung eingebunden werden, wenn
der Bürger die Möglichkeit hat, sein Vertrauen,
das als Stimme in Zählvorgänge eingeht, auf
viele Akteure zu verteilen. Diese können dann
Optionen zu für ihr Profil relevanten Entschei-
dungen bewerten und diese Bewertungen den
Scholtz: Zweite Moderne erklären 17
ihnen vertrauenden Bürgern zur Verfügung stel-
len. Diese haben dann die Möglichkeit, sich ent-
weder durch die Summe ihrer vertrauten Ak-
teure repräsentieren zu lassen oder diese als
Grundlage einer direktdemokratischen eigenen
Entscheidungsfindung zu nutzen.
Ein neues institutionelles System muss also alle
Arten von (die Spielregeln achtenden) politi-
schen Akteuren zulassen und insofern „akteur-
soffen“ sein im Gegensatz zur Beschränkung in-
dustriegesellschaftlich-partitionierender Re-
präsentation auf Parteien.
Akteursoffenheit ermöglicht es, jeweils kultur-
spezifisch unterschiedliche Vertrauensbezie-
hungen zu integrieren: Mit ihrer partitionieren-
den Zuordnung von Individuen zu Gruppen war
die repräsentative Demokratie der Industriege-
sellschaft ein eurozentrisches Konzept, aber die
Demokratie an sich und speziell in einer akteur-
soffen auf auf jeweils kulturspezifischen Ver-
trauensbeziehungen basierenden Form wird es
nicht mehr sein.
Weil die Sphäre dieser politisch interessierten,
aber aufgrund ihrer Spezialisierung bisher nicht
verantwortlich eingebundenen Organisationen
als Zivilgesellschaft bezeichnet wird und sie und
die durch Meta-Entscheidungsfreiheit ermäch-
tigten Bürger (cives) die zentralen Träger eines
solchen institutionellen Systems sind, ist es
sinnvoll, hier von einer Zivildemokratie zu spre-
chen.
5.5 Private Entscheidungen:
Unterstützung und
Anspruchsrechte
Für private Entscheidungen zur individuellen
Entwicklung hatte das europäische Konzept par-
titionierender Zuordnung zu lebenslangen Be-
rufsgruppen den Lebensverlauf in zwei vonein-
ander klar getrennte Abschnitte unterteilt, die
Bildungsphase in der eine berufsspezifische
Menge an Kenntnissen und Fähigkeiten erwor-
ben wurde, und die Arbeitsphase, in der diese
angewandt und in Einkommen und Reproduk-
tion transformiert wurden. Auf der industriege-
sellschaftlichen mittleren Ebene der sozialen
Verfügbarkeit von Ressourcen und Informatio-
nen war die Flexibilität dieses Arrangements
ausreichend sowohl für Anpassungen über die
Zeit als auch für die Zusammenstellung von
Qualifikationen in Arbeitsprozessen. Es schloss
Ausbildungsgänge ein, die differenzierte Qualifi-
kationen vermittelten, und Gewerkschaften, die
für die Qualifikationsgruppen die Löhne aushan-
delten. Die beiden stabilisierten einander gegen-
seitig: Ausbildungsinstitutionen schufen die
spezifischen Sets knapper Qualifikationen, für
die die Gewerkschaften verhandeln konnten,
und gruppenbasierte Verhandlungen schufen
den sozialen Wert differenzierter Qualifikatio-
nen, der es auch für Teenager lohnend machte,
die nötigen Ausbildungsprozesse durchzuste-
hen. Abgesehen von der Frage der Wahl des ent-
sprechenden gruppenbezogenen Karriereweges
und seiner Passung zu individuellen Neigungen
und Talenten lagen Anreize für angemessene
Entscheidungen im wesentlichen auf der Ebene
der Berufsgruppe: Wenn Gewerkschaften erfolg-
reich für ihre Mitglieder verhandelt hatten, pro-
fitierten sie in der Form von Mitgliedschaft, Res-
sourcen und Motivation. Auch Schulen profitier-
ten davon, wenn die Wege, auf die sie vorbereite-
ten, den Nimbus des Erfolges hatten, auch wenn
sie hauptsächlich eher damit beschäftigt waren,
ihre Schüler ohne disziplinäre Probleme bis zur
Abschlussfeier zu bringen. Aber das blieb grup-
penbezogen – Gewerkschaften, die an der indivi-
duellen Karriereentwicklung ihrer Mitglieder
(womöglich über den Rahmen der eigenen Ver-
tretungskompetenz hinaus) interessiert waren,
blieben ebenso die Ausnahme wie Lehrer, die
sich über die Abschlussfeier hinaus für ihre
Schüler verantwortlich fühlten.
Dabei sind im Verlauf der dritten Welle institu-
tioneller Innovation die Qualifikationsprofile
komplexer geworden. Es gibt keine institutio-
nelle Struktur, die Unterstützungen für die
neuen individualisierten Verantwortlichkeiten
bereithalten würde. Es gibt insbesondere keiner-
lei geeignete Anreize für Akteure, die bereit und
in der Lage wären, Individuen bei den geeigneten
Entscheidungen zu unterstützen. Und diese Ab-
wesenheit einer institutionellen Struktur, die
angemessen auf die neuen Erfordernisse eines
effizienten individuellen Qualifikationsmanage-
ments jenseits der Erstausbildung reagieren
würde, ist zentral für die gegenwärtige Ungleich-
heitsproblematik. (Snower, 1999)
Parallel zu der gruppenbasierten Verantwort-
lichkeit, die sich in der allgemeinen Akzeptanz
von Differenzierung in Ausbildung und Lohnaus-
handlung zeigte und sich in den 1940er Jahren
ausbreitete, können wir gegenwärtig erwarten,
Scholtz: Zweite Moderne erklären 18
in einigen organisationellen Innovationen be-
reits feststellen, und normativ fordern, dass die
nächsten beiden Dekaden Institutionen für indi-
vidualisierte Verantwortlichkeit hervorbringen
werden. Es muss und wird ein institutioneller
Rahmen entstehen, in dem Akteure über die
ganzen unübersichtlicher gewordenen Lebens-
läufe hinweg mit Individuen die Erfolge teilen
und die Misserfolge tragen. Auf der Makroebene
ist eine solche geteilte Verantwortlichkeit mit
dem Wohlfahrtsstaat bereits gegeben: Der
Wohlfahrtsstaat teilt die Erfolge seiner Bürger,
indem sie Steuern zahlen, und trägt ihre Misser-
folge mit in der Form von Unterstützungslei-
stungen, oder im schlimmsten Fall in der Unter-
stützung für ihre Opfer und die Kosten des Ju-
stizvollzuges. In der gegenwärtigen, industriell
geprägten Form ist dies allerdings ein bürokra-
tisches Regime, in dem die kleinen Lichtblitzer
der Akteursoffenheit schnell wieder in die öf-
fentliche Verantwortung renationalisiert wer-
den: Einige Gemeinden oder Regionen zahlen Ak-
teure, die Karriereberatung anbieten. Aber nie-
mand teilt sich wirklich in die Verantwortlich-
keit: Es ist für unterstützende Akteure gerade
ein Zeichen von Professionalität, mit dem Ende
der Zusammenarbeit auch Kontakt und Bezie-
hung zu den unterstützten Individuen zu been-
den, im besten Fall „langsam und behutsam“
abzuschliessen (Eckert et al., 2007, direktes Zi-
tat S. 190). Trotz den Bemühungen, sich Alumni
warmzuhalten (und so ein Stück weit an ihren
Erfolgen zu partizipieren), gilt das noch mehr für
die Schule, die in der Hauptsache verantwortlich
dafür ist, Individuen auf einen guten Pfad ins Le-
ben zu bringen.
Die Kreativität in westlichen Gesellschaften hat
bereits Ansätze entstehen lassen, diese Pro-
bleme zu lösen. Individuen erfahren Unterstüt-
zung in Unterstützungsnetzwerken oder Mento-
ring-Beziehungen (dem modernen Nachfolger
der Patenschaft), und beides durchaus erfolg-
reich (Eby et al., 2008; Higgins et al., 2010; Mur-
phy & Kram, 2010; DuBois et al., 2011; Terjesen &
Sullivan, 2011). Aber sie sind begrenzt in Umfang,
Dauer und Belastbarkeit. Viele Menschen haben
gar nicht die Chance auf unterstützende Bezie-
hungen, wo sie entstehen, dauern solche Bezie-
hungen trotz der positiven Wirkung von Bezie-
hungsdauer im Allgemeinen nicht sehr lange
(Grossman & Rhodes, 2002; Tonidandel et al.,
2007), und Menschen, die in Leben und Arbeit
aus dem Tritt kommen, verlieren oft unterstüt-
zende Netzwerke bis zu dem Punkt, wo dann ge-
gebenenfalls wieder soziale Arbeit greift. Mit un-
ternehmensfinanzierten Mentoring- und Karri-
ereunterstützungsprogrammen einerseits und
der sozialen Arbeit andererseits gibt es formale
Unterstützungsprozesse am oberen und unte-
ren Rand des sozialen Spektrums. In der Mitte
fehlen sie.
Tatsächlich ist die Unübersichtlichkeit der Kar-
riereentwicklungen in den entwickelten Gesell-
schaften inzwischen soweit fortgeschritten,
dass es Zeit ist, formale Institutionen zu schaf-
fen, die durchgängig extrinsische Anreize für Ak-
teure setzen, Individuen durch ihren Entwick-
lungspfad zu begleiten. Die effiziente Form hier-
für ist die Schaffung von Eigentumsrechten
(Coase, 1960). Eigentumsrechte sind historisch
für die Unterstützung von Individuen tabuisiert,
aus durchaus guten Gründen, weil sie historisch
mit der Ausübung von Zwang in der Form von
Leibeigenschaft und Sklaverei verbunden sind
und solche Formen von Zwang in direktem Wi-
derspruch zu den Werten und funktionalen An-
forderungen moderner Gesellschaften stehen:
Das Individuum trägt für sich selbst die Verant-
wortung und muss die Freiheit haben, diese
auch auszuüben. Trotz der Auswirkungen indivi-
duellen Verhaltens auf die Gesellschaft muss
also alle Zusammenarbeit zwischen unterstütz-
ten Individuen und unterstützenden Akteuren
jederzeit auf Freiwilligkeit beruhen. Die unter-
stützenden Akteure können aber sehr wohl auf
das Individuum bezogene Anspruchsrechte ge-
genüber der Gemeinschaft erwerben, die wie-
derum im Rahmen des Gesellschaftsvertrages
das Recht besitzt, das Individuum in die Pflicht
zu nehmen.
Unter der Vorbedingung der individuellen Frei-
heit wird die Definition angemessener An-
spruchsrechte zu einem zentralen Punkt in den
zu erwartenden (und zu fordernden) institutio-
nellen Innovationen für die Entscheidungen be-
züglich der individuellen Produktivität, da sie
der Logik der Verantwortung entsprechen. Diese
Anspruchsrechte bestehen in Bezug auf Teile der
Saldo des Einzelnen gegenüber dem Wohlfahrts-
staat: Akteure, die solche Rechte besitzen, wer-
den die Erfolge ihrer Klienten teilen, indem sie
einen Teil der durch sie gezahlten Steuern erhal-
ten, und ihre Misserfolge tragen, indem sie einen
Scholtz: Zweite Moderne erklären 19
Teil aufzuwendender Sozialleistungen überneh-
men und im schlimmsten Fall Opfer entschädi-
gen und den Justizvollzug mitbezahlen. Das Ziel,
das Einkommen aus dieser Investition zu maxi-
mieren, wird als Anreiz dienen, unterstützende
Beziehungen herzustellen und aufrecht zu erhal-
ten, insbesondere in Zeiten individueller Krise
zur Seite zu stehen, und jede Hilfe bereitzustel-
len, die extrinsisch motivierte Akteure sinnvoll
geben können.
Der Forschungsbedarf in Bezug auf eine kon-
krete Ausprägung solcher Institutionen ist groß,
aber da es jeweils um individuell verantwortli-
che Unterstützung geht, kann dieser Begriff in
Analogie zu dem der Zivildemokratie als Be-
zeichnung für die zu erwartenden institutionel-
len Entwicklungen genommen werden. Beide
Konzepte fügen sich damit in die Ausfüllung von
Tabelle 1 mit den konkreten empirischen Aus-
prägungen institutioneller Innovation wie in Ta-
belle 2 angegeben ein.
6 Schluss
Die vorliegende Untersuchung hat Parallelen
zwischen der Gegenwart und der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zum Anlass genommen,
ein erklärendes Modell der ersten und zweiten
Moderne zu beschreiben. Wachstum und Wis-
senszuwachs erzeugen Komplexität und führen
zur Einführung von Rationalität und Delibera-
tion, dies aber im ersten Übergang der Moderne
bis 1949 nur ausserhalb von Organisationen, d.h.
zwischen ihnen oder dort, wo sie gerade gebildet
werden. Erst später, sichtbar seit 1968, läuft der
Übergang zu einer „Zweiten Moderne“, in der Ra-
tionalität und Deliberation auch innerhalb von
Organisationen selbstverständlich werden. Pro-
blematische Parallelen wie der Anstieg von Un-
gleichheit, Krisenanfälligkeit, politisch legiti-
mierter Gewalt oder populistischen Wahlerfol-
gen lassen sich in das Modell einordnen, und ein
grosser Teil sozialer Dynamiken in so unter-
schiedlichen Felder wie Intimität, Bildung, Wirt-
schaft und Politik stützt Hypothesen, die sich
aus ihm ableiten lassen.
Modelle ermöglichen Vorhersagen, und das gilt
auch hier: Es ist ableitbar, dass es in den näch-
sten Jahren noch zu institutionellen Verände-
rungen kommen wird, welche die individuelle
Verantwortlichkeit und ihre notwendige, aber
auf Freiheitlichkeit beruhende Unterstützung
durch entsprechend ausgerichtete Akteure kla-
rer machen. Die elektronische Speicherung von
politischem Vertrauen, die Meta-Entschei-
dungsfreiheit und Akteursoffenheit ermöglicht,
steht hierbei im Zentrum zu erwartender und
normativ auch zu fordernder institutioneller
Entwicklungen.
In beiden Übergängen haben die sichtbaren Ge-
waltausbrüche 1914 und 2001 deutlich gemacht,
dass sich die Welt verändert – in der Perspektive
des beschriebenen Modells gesprochen: dass
Organisationen nicht mehr so waren wie zuvor,
und dass die makro-soziale Welt in diesem Wan-
del folgen muss. Im ersten Übergang brauchte
es eine lange Generation von 35 Jahren vom Be-
ginn der Kampfhandlungen 1914 bis zur Etablie-
rung der industriellen Institutionen 1949. Das
war die Zeit, die es brauchte, um die Generation
der in der „guten alten Zeit“ vor 1914 im Ver-
trauen auf Tradition und Autorität Aufgewachse-
nen durch jene zu ersetzen, die verstanden hat-
ten, dass Rationalität und Deliberation auf der
Tabelle 2: Vier Wellen institutioneller Innovation (konkret)
Ebene der
regulierenden Institutionen
Ebene der
zugrundeliegenden Interaktionen
Erste Transition
Zweite Transition
Neue Organisationsformen
ca. 1820 bis 1920:
Romantische Liebe; Parteien,
Nationalstaaten; bürokratische
Unternehmen, Schulpflicht
seit ca. 1968: Diverse Intimität;
Boundarylessness, Tertiärbildung;
Mehrebenenpolitik, historische Ver-
antwortung, Lobbyorganisationen
Neue Makro-Institutionen
ca. 1940 bis 1950:
Akzeptanz repräsentativer
Demokratie, UN-System; Gewerk-
schaften, Sekundarbildung
bisher noch ausstehend:
Zivildemokratie, verantwortliche
Unterstützung
Scholtz: Zweite Moderne erklären 20
Makro-Ebene neue Institutionen brauchten. Zwi-
schen diesen beiden Daten eskalierten soziale
Probleme und Gewalt.
Es ist relativ wahrscheinlich, dass im gegenwär-
tigen zweiten Übergang die Eskalation von Pro-
blemen und Gewalt gleichermassen fortschrei-
ten wird, solange die industriegesellschaftli-
chen Institutionen nicht überdacht werden. Teil-
weise geschieht das schon, aber eher in einer
Art, die näher an etablierten Routinen und dafür
weiter entfernt von Nachhaltigkeit liegt, ver-
gleichbar zu Faschismus und Kommunismus
im ersten Übergang. Aber zunehmend werden
auch diesmal die Generationen, die in der miefi-
gen industriellen Geborgenheit klarer Gruppen-
zuordnungen aufgewachsen sind, durch Jün-
gere ersetzt, für die es quasi selbstverständlich
ist, dass die Industriegesellschaft vorbei ist, und
die dennoch Verantwortlichkeit und Unterstüt-
zung bei öffentlichen Entscheidungen erwarten.
Bis dahin sollte individualisierte Verantwortlich-
keit durch Vertrauensspeicherung etabliert sein.
Freilich ist noch eine Menge zu tun, einerseits an
Forschung, um den Rahmen und seine Bedin-
gungen weiter zu klären, und andererseits in ei-
nem langen politischen Prozess, in dem die De-
tails ausgehandelt werden. Bisher ist der gegen-
wärtige Übergang noch nicht so blutig wie sein
Vorgänger, trotz des hohen Blutzolls, den Bürger-
kriege, Migration, Terrorismus und rechte Ge-
walt fordern. Dafür allerdings sind die neuen In-
stitutionen in sich komplexer und damit bedürf-
tiger einer präzisen Analyse als diejenigen, die
sich in den 1940er Jahren durchsetzten. In dem
Bemühen, die weitere Zahl der Opfer des Über-
ganges möglichst gering zu halten, sollte die
Wissenschaft, und in ihr auch die Soziologie,
sich bemühen, eine aktive Rolle zu spielen.
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Inhalt
1 Kill your darlings
2 Parallelen
3 Erste und zweite Moderne: Eine
soziologische Erklärung
3.1 Das abhängige Konzept: Institutionen
3.2 Der externe Antrieb: Wachstum
3.3 Organisationen als intervenierendes
Konzept
3.4 Die Parallelen erklären
4 Empirische Evidenz
4.1 Allgemeine Überlegungen und
Hypothesen
4.2 Institutionelle Innovationen in
Haushalten und intimen Beziehungen
4.3 Institutionelle Innovationen in Bildung
und Wirtschaft
4.4 Institutionelle Innovationen in der
Politik
5 Vorhersagen und Politikempfehlungen
5.1 Meta-Entscheidungsfreiheit
5.2 Flexible Vertrauensspeicherung
5.3 Akteursoffenheit
6 Schluss
Referenzen