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Originalien
Schmerz
DOI 10.1007/s00482-017-0233-y
© Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Published
by Springer Medizin VerlagGmbH - all rights
reser ved 2017
M. Mücke1,2,3 ·H.Schulze
1·L.Radbruch
1,4 ·M.Marinova
5·H.Cuhls
1·
D. Kravchenko1,6 ·R.Conrad
6·R.Rolke
7
1Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland
2Institut für Hausarztmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland
3Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSEB), Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland
4Zentrum für Pall iativmediz in, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg, Bonn,
Deutschland
5Radiologische Klinik, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschl and
6Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn,
Bonn, Deutschland
7Klinik für Palliativmedizin, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, De utschland
Neuromodulation mittels
Matrixstimulation
Ein Therapieansatz für akute Schmerzen?
Akuter Schmerz hat im Gegensatz zum
chronischen Schmerz eine Signal- und
Warnfunktion . Vor dem Hint ergru n d
dieser Funktion kann sich das Aure-
ten von intensivem Schmerz während
oder nach medizinischenInterventionen
nachteilig auf das Befinden des Patien-
ten und den Heilungsverlauf auswirken.
In der Behandlung akuter Schmerzen
haben sich psychologische, medikamen-
töse und operative Behandlungsstrate-
gien etabliert. Die genannten Verfahren
zeichnen sich durch unterschiedliche
Vor- und Na c hteile aus, ins b es onde re
die medikamentösen und operativen
Interventionen sind nicht selten mit be-
trächtlichen Nebenwirkungen verbun-
den. Eine bislang vergleichsweise selten
genutzte Behandlungsstrategie bei aku-
ten Schmerzen ist die Neurostimulation
beispielsweise mittels der transkutanen
elektrischen Nervenstimulation (TENS).
Dieses Verfahren kann eine wirksa-
me Schmerzlinderung bieten, indem
aufgrund der applizierten elektrischen
Ströme alle Arten von in und unterhalb
der Haut liegenden Nervenfasern stimu-
liert werden, diedie Reizüberleitung von
Neuronen im Hinterhorn des Rücken-
marks (Wide-dynamic-range[WDR]-
Neurone) modifizieren [3]. Dieses Ver-
M. Mücke und H. Schulzeteilen sich die Erst- und
R. Conrad und R. Rolke die Letztautorensc haft.
fahren schöpaber nicht alle Mög-
lichkeiten der Schmerzlinderung durch
Neurostimulation aus. Neuere Verfah-
ren, wie z. B. die kutane Neurostimu-
lation mittels Matrixelektrode, reizen
durch Fokussierung der Stromdichte
in der Epidermis vor allem nozizep-
tive Nervenendigungen von Aδ- und
C-Fasern. Bei niederfrequenter elek-
trischer Matrixstimulation (4 Hz) soll
so in den genannten WDR-Neuronen
der Lernmechanismus einer synapti-
schen Langzeitdepression (LTD) ausge-
löst werden [1,4]. Dieser Mechanismus
konnte erstmals durch L evy und Steward
experimentell im Bereich von Hippo-
campusneuronen nachgewiesen werden
[6,20]. In der Folge konnte gezeigt wer-
den, dass eine nachhaltige Modulation
der Reizübertragung als Ausdruck der
Abb. 1 8Konzentrische Ma trixelektrode mit Stimulation seinheit
synaptischen Plastizität nahezu für alle
Synapsen gilt [2]undgrundlegendfür
das Verständnis von zellulären und mo-
lekularen Mechanismen des Lernens ist
[8,14]. Um den Mechanismus der Lang-
zeitdepression auszulösen, muss eine
Mindestanzahl von Fasern mittels nie-
derfrequenter elektrischer Impulse im
Frequenzbereich von 1 bis 10 Hz stimu-
liert werden [5,12,13,17,18]. In voran-
gegangenen Untersuchungen konnte die
Wirksamkeit der Neurostimulation mit-
tels Matrixelektrode zur Erhöhung der
mechanischen Schmerzschwelle nach-
gewiesen werden [10]. Hier konnte die
oberflächliche Hautsensibilität schmerz-
freier gesunder Probanden gegenüber
nichtinvasiven, spitzen mechanischen
Reizen unmittelbar reduziert werden.
Darüber hinaus zeigte die Intervention
Der Schmerz
Originalien
Abb. 2 8Schematische Darstellung: Verteilung der Stromdichte und Stromlinienverläufe der Matrixelektrode. Die Matrix-
elektrode (Anode [1]undzentraleKathode[2]) bes itzen in einer Tiefe von 1 mm eine Stromdichte von 20 mA/c m2.Diemaxi-
male Eindringtiefe kannbei diesem Elektrodenmodell mit 5,5mm beschrieben werden.Damit wird eine maximale Stimula-
tion von Aδ- und C-Fasern möglich. aStromdichteverteilung unter der Matrixelektrode. bBetrachtung der Stromdichte- und
Stromlinienverteilung zwischen Anode und Kathode. cQuerschnittder Stromlinien von Kathode zu Anode. dLängsschnitt
der Matrixelekt rode.(E igene Simulation, Teilbild a.Modifiziertnach[10])
keine relevanten Nebenwirkungen und
wurde gut akzeptiert. Bislang stehen
Untersuchungen zur prophylaktischen
und therapeutischen Wirksamkeit die-
ser Intervention bei interventionellen
Prozeduren wie einer Penetration der
Haut noch aus. Vor diesem Hintergrund
untersucht die vorliegende Studie den
Einfluss der Matrixstimulation auf das
Erleben des Akutschmerzes bei einer
Punktion zur Blutabnahme. Dieser Ein-
griffstellt für viele Patienten aus Angst
vor dem Einstichschmerz eine nicht
unerhebliche psychische Belastung dar.
Bei 30 gesunden Probanden wurde die
Schmerzintensität in den beiden Experi-
mentalbedingungen Matrixstimulation
während und direkt vor Punktion mit
der Kontrollbedingung ohne Stimulation
verglichen (.Ta b. 1).
Die Fragestellung unserer vorliegen-
den Studie zielt auf den Vergleich der
Stimulationszeitpunkte und möchte kon-
kret klären, ob
4eine niederfrequente 4 Hz-Matrixsti-
mulation während der Punktion den
Einstichschmerz reduziert und
4dieser Effekt auch durch eine prä-
emptive Matrixstimulation erreicht
werden kann, die der Punktion
unmittelbar vorausgeht.
Methodik
Die prospektive und randomisierte
Cross-over-Studie wurde an gesunden
Probanden in Bonn durchgeführt. Das
Studienprotokoll wurde von der Ethik-
kommission der medizinischen Fakultät
der Universität Bonn für ethisch un-
bedenklich erklärt. Die Versuchsdurch-
führung orientierte sich an den GCP-
Richtlinien sowie der Erklärung von
Helsinki.
Probandenkollektiv
Dreißig Probanden (21 weiblich, Durch-
schnittsalter 35,4 ± 14,7 Jahre) nahmen
an der Studie teil.
Ein- und Ausschlusskriterien
Die Einschlusskriterien umfassten die
Voll j ä h r i g k e i t sowie die info r m i e r t e ,
schriliche Einwilligung der Probanden.
Kontraindikationen gegen die Anwen-
Der Schmerz
dung von Elektrodenstimulation wie
offene Haut- und Weichteilverletzun-
gen im Untersuchungsareal, systemische
Erkrankungen, insbesondere neurolo-
gische, Schwangerscha/Stillzeit, Hä-
mophilie, Herzrhythmusstörungen oder
Herzschrittmacher sowie implantierte
elektronische Geräte galten als Aus-
schlusskriterien ebenso wie Vorerfah-
rung mit elektrischen Stimulationsme-
thoden und ein Abhängigkeitsverhältnis
zum Prüfer.
Material
Matrixelektrode und Stimulation
Die Stimulation erfolgte lokal mit einer
speziell für die Ellenbeuge gestalteten
Matrixelektrode. Die Elektrode erzeugt
ein dreidimensionales, multizentrisches
elektrisches Feld. Die punktuelle Kon-
taktierung der Haut wird durch die
Beschichtung mit kleinen spitzen Pins
(.Abb. 1)gewährleistet.Somitwirdeine
punktuell höhere Stromdichte in den
oberflächlichen Hautschichten erreicht,
die die nozizeptiven, freien Nervenendi-
gungen enthalten [10,15]. Die einzelnen
Kontaktstellen befinden sich jeweils im
Abstand von 4 mm. Die Kontaktober-
fläche wird aus fünf Reihen und fünf
Spalten sowie einer kreisrunden Ableit-
elektrode gebildet. So ergibt sich eine
7cm
2große Matrix-Haut-Kontaktfläche.
Durch Verwendung dieser pinförmigen
Kontaktpunkte mit geringem Durch-
messer (0,5 mm) können unter jedem
Pin hohe elektrische Feldstärken erreicht
werden (.Abb. 2). Das Matrixarray fun-
giert als Kathode und wird von einer
flachen Elektrode umgeben, die die
Anode darstellt.
Die Elektrode wurde mit einem Reiz-
stromgenerator (Digitimer Constant
Current Stimulator DS7A, Digitimer
Ltd., Hertfordshire, Großbritannien)
verbunden. Um eine frequenzspezifi-
sche Stimulation zu generieren, wur-
de der Reizstromgenerator mit einem
Funktionsgenerator (TYP FG 250 D, H-
Tro nic G mbH, Hirs chau , D e utschlan d )
verbunden.
Stimulationsparadigmen
Unter Berücksichtigung aktueller Stu-
dienergebnisse [10]bezüglichderEf-
Zusammenfassung · Abstract
Schmerz DOI 10.1007/s00482-017-0233-y
©DeutscheSchmerzgesellschafte.V.PublishedbySpringerMedizinVerlagGmbH-allrights
reser ved 2017
M. Mücke · H. Schulze · L. Radbruch · M. Marinova · H. Cuhls · D. Kravchenko · R. Conrad ·
R. Rolke
Neuromodulation mittels Matrixstimulation. Ein Therapieansatz
für akute Schmerzen?
Zusammenfassung
Hintergrund. Bislang fehlen Studien,
die den Einfluss einer Neuromodulation
mittels Matrixelektrode zur Therapie von
akuten Schmerzen evaluieren. In einer
prospektiven und randomisierten Cross-
over-Studie untersuchten wi r anhand von
30 gesunden Probanden die Wirksamkeit
einer 4 Hz-Matrixstimulationzur Reduktion
des Ein stichschmerzes bei Venenpunktion.
Methodik. Wir verglichen zwei unter-
schiedliche Neurostimulationsbedingungen:
Experimentalbedingung 1 (EB1): Venen-
punktion während Matrixstimulation,
2,5 min Stimulationsdauer, 600 Stimuli;
Experimentalbedingung 2 (EB2): 5 min Stimu-
lationsdauer, anschließende Venenpunktion,
1200 Stimuli. Verglichen wurde eine weitere
Kontrollbedingung ohne Stimulation.
Ergebnisse. EB2 zeigte eine 77 %ige
Schmerzreduktion des Einstichschmerzes
bei Venenpunktion gegenüber der Kontroll-
bedingung ohne Stimulation (p= 0,001;
Effektstärke [ES] d = 1,45). EB2 erzielte
auch im Vergleich zu EB1 einen signifikant
größeren Effekt (p=0,001;ESd=1,33).EB1
unterschied sich nicht signifikant von der
Kontrollbedingung ohne Stimula tion. Der
Venenstatus wurde anhand der Sichtbarkeit
der Gefäße eingeschä tzt und unterschied sich
zwischen den Bedingungen nicht signifikant.
Schlussfolgerung. Die Studie konnte
erstmals zeigen, dass eine präemptive
Matrixstimulation wirksam zur Reduktion von
Akutschmerz sein kann. Aus neurophysiolo-
gischer Sicht scheint die Stimulationsdauer
für die Wirksamkeit ein entscheidender
Faktor zu sein. Die Matrixstimulation ist
eine nebenwirkungsarme Intervention,
deren Evaluation in größeren kontrollierten
Studien zukünftig eine Erweiterung der
schmerztherapeutischen Optionen bei
Akutschmerz bieten könnte.
Schlüsselwörter
Matrixstimulation · Akuter Schmerz ·
Langzeithemmung (LTD) · Neuromodulation
Neuromodulation using matrix stimulation. A treatment for acute
pain?
Abstract
Background. There is currently a lack of
studies that evaluate the effects of matrix
electrode neuromodulation on acute pain. In
this prospective and randomized cross-over
study, we investigated the efficacy of 4 Hz-
matrix stimulation on venipuncture-induced
pain in 30 healthy subjects.
Methods. We com pared two conditions
of neurostimulation: in EC1 (experimental
condition 1), we performed venipuncture
during stimulation, with 2.5 min of prestimu-
lation with 600 stimuli; in EC2 (experimental
condition 2), the length of stimulationwas
5 min, at 1200 stimuli, with subsequent
venipuncture. A group with no stimulation
was used as control condition.
Results. The EC2 group did not only show
a77%reductioninpuncturepainwhen
compared to the control group (p< 0.001;
effect size [ES] d = 1.45), but also had
asignificanteffect compared with EC1 (p<
0.001; ES d = 1.33). EC1, on the other hand,
did not demonstrate a significant difference
to the control group. The status of the veins
was evaluated based on visibility and did not
differ sign ificantly between th e conditions.
Conclusion. The results of this study showed
for the first time that pre-emptive matrix
stimulation could be an effective way to
reduce acute pain. The duration of stimulation
seems to play a key role in the effectiveness
of the neurophysiological mechanism of
action. Matrix stimulation is a therapeutic
intervention with very few side effects,
which could, in the future, expand our pain-
management options for the treatment of
acute pain.
Keywords
Matrix stimulation · Acute pain · Long-term
depression (LTD) · Neuromodulation
Der Schmerz
Originalien
Abb. 3 8Kontrollbedingung un d Experimentalbedin gungen (von links nach rechts)ohneStimulati-
on, während Stimulat ion, nach Stimulation
Abb. 4 9Matrix-
stimulation vor/
während Venen-
punktion. Darstel-
lung des Stimulati-
onseffekts zwischen
der Kontroll- und
den Experimen-
talbedingungen.
***p= 0,001. NRS
Numerische R a-
ting-Skala; n.s. nicht
signifikant
fektivität verschiedener Stimulationsfre-
quenzen wurde die Matrixstimulation
mit einer Frequenz von 4 Hz und einer
Impulslänge von 200 µs durchgeführt.
In Experimentalbedingung 1 (während
Stimulation) betrug die Stimulations-
zeit bis zur Punktion 2,5 min (= 600
Stimuli), in Experimentalbedingung 2
(nach Stimulation) 5 min (= 1200 Sti-
muli). Die Stimulationsintensität wurde
so gewählt, dass die Schmerzschwelle
für diese elektrische Reizung gerade
überschritten wurde, wobei eine leicht
stechend-schmerzhae Wahrnehmung
empfunden werden sollte. Sie betrug
im Durchschnitt für die Experimen-
talbedingung 1 (während Stimulation)
3,80 ± 2,21 mA vs. 3,70 ± 2,11mA für
Experimentalbedingung 2.
Studienablauf
In einer Basisuntersuchung (Kontrollbe-
dingung) wurde das subkutane Venen-
system der Probanden an beiden Armen
klinisch untersucht und die Händig-
keit dokumentiert. In der Armbeuge
wurde anhand der Sichtbarkeit [19]
die bestmögliche Testvene ausgewählt.
Anschließend wurde in allen Fällen
von derselben medizinischen Fachkra
eine Probenblutabnahme durchgeführt
und der Schwierigkeit entsprechend auf
einer 5-stufigen Bewertungsskala von
sehr schwierig bis sehr leicht einge-
stu(.Tab. 1).
Von allen Pro b a n d e n w u r d e n i n
randomisierter Reihenfolge (Closed-
envelope-Verfahren) drei Experimen-
talbedingungen durchlaufen (.Abb. 3).
Den Probanden wurde erklärt, dass
das experimentelle Design die Aus-
wirkungen der Matrixstimulation auf
die Blutabnahme untersucht. Das Sym-
ptom Schmerz wurde bei der Aufklä-
rung nicht explizit thematisiert. Die
Probanden waren nicht über die mög-
liche Wirkungsweise der Stimulation
aufgeklärt. Die Punktionen wechselten
zwischen den Armbeugen nach ran-
domisierter Zuordnung der Startseite.
Die Blutentnahmen fanden dabei jeweils
abwechselnd an der linken und rech-
ten Testvene statt, wobei die Startseite
zufällig gewählt wurde. Die Testungen
erfolgten mit einem Mindestabstand von
7Tagen.DieBlutabnahmefolgteinjeder
Experimentalbedingung einem standar-
disierten Ablauf. Nach Venenstauung
oberhalb der Ellenbeuge wurde die Test-
vene mittels Inspektion und Palpation
aufgesucht. In der Kontrollbedingung
(ohne Stimulation) wurde nach Desin-
fektion d ie Vene mit de r Safety-Multi fly®-
Kanüle punktiert. In den Experimental-
bedingungen 1 (während Stimulation)
sowie 2 (nach Stimulation) wurde die
Matrixelektrode über der desinifizierten
Punktionsstelle fixiert und die Stimu-
lation durchgeführt. In Experimental-
bedingung 1 (während Stimulation)
wurde die Venenpunktion exakt nach
der Häle einer 5-minütigen Stimula-
tion durchgeführt (Venenstauung nach
1,5 min Stimulation). In Experimental-
bedingung 2 (nach Stimulation) wurde
die Punktion direkt im Anschluss an die
5-minütige Stimulation vorgenommen.
Mithilfe der numerischen Schmerzskala
von 0 bis 100 (0 = kein Schmerz bis
100 = stärkster vorstellbarer Schmerz)
wurde unmittelbar nach der Punktion
eine Einschätzung der Intensität des
interventionell hervorgerufenen akuten
Einstichschmerzes vorgenommen.
Statistik
DiestatistischeAuswertungder Schmerz-
ratings (NRS 0–100) erfolgtemittels SPSS
Version 22. Über die abhäng i g e Va r i -
able „Schmerzintensität“ wurde eine
Varian z a n a l y s e (ANOVA ) m i t M e s s w i e -
derholung mit den drei Bedingungen
„Kontrolle“, „während-Stimulation“ und
„nach-Stimulation“ gerechnet. Zur Be-
urteilung eines Gender-Effekts wurden
die Interaktionen der ANOVA heran-
gezogen. Zwischen den einzelnen Be-
Der Schmerz
Tab. 1 Bewertungder Sichtbarkeit derVenenvorderPunktion: Venenstatus0–4 nach Selby etal.
[19]
Patient (Nr.) Kontroll-
bedingung-
Venenstatus
Experimental-
bedingung 1
Venenstatus
Experimental-
bedingung 2
Venenstatus
1 4 4 4
2 3 2 2
3 2 1 1
4 2 2 2
5 2 2 2
6 3 3 3
7 4 4 4
8 4 4 4
9 4 4 2
10 1 1 1
11 2 3 3
12 4 4 4
13 0 0 0
14 4 4 4
15 2 3 3
16 3 2 2
17 1 1 1
18 3 3 2
19 4 4 4
20 3 3 3
21 3 3 3
22 4 4 4
23 3 2 2
24 2 2 1
25 2 2 2
26 3 4 4
27 2 2 2
28 4 4 4
29 4 4 4
30 4 4 4
MW ± SD 2,87 ± 1,09 2,83 ± 1,16 2,7 ± 1,19
Sehr schwierig (4), schwierig (3), mittel (2), leicht (1), sehr leicht (0)
dingungen wurden zur Darstellung von
Kontrasten Post-hoc-Tests berechnet.
Das Signifikanzniveau lag bei p<0,05.
Ergebnisse
DerVergleichderSchmerzintensitätüber
die drei Experimentalbedingungen hin-
weg mittels Varianzanalyse mit Mess-
wiederholung zeigte einen signifikanten
Effekt. Im Einzelnen war die Intensität
des Akutschmerzes in der Experimen-
talbedingung nach Stimulation signifi-
kant niedriger als in der Kontrollbedin-
gung ohne Stimulation, es zeigte sich eine
großeEffektstärkevon d =1,45.In der Ex-
perimentalbedingung1 (währendStimu-
lation) zeigte sich im Vergleich zur Kon-
trollbedingung kein signifikanter Unter-
schied. Auch zwischen den beiden Ex-
perimentalbedingungen zeigte sich eine
signifikante Differenz mit einer großen
Effektstärke von d = 1,33. .Abb. 4stellt
denEffektder Matrixstimulationgrafisch
dar.
Da unsere Experimentalgruppe signi-
fikant mehr Frauen als Männer aufwies,
verglichen wir die Ergebnisse in den bei-
den Geschlechtergruppen. Es zeigte sich
bei nicht signifikant unterschiedlichen
Ausgangswerten bezüglich de r Schmerz-
intensitätkein signifikanter Interaktions-
effektGruppe ×Experimentalbedingung.
Diskussion
In der vorliegenden Studie wurde erst-
mals die Verträglichkeit und Wirksam-
keit einer peripheren Neurostimulation
mittels Matrixelektrode bei interven-
tionellem Akutschmerz durch Venen-
punktion in der Ellenbeuge überprü.
Dabei diente eine Venenpunktion ohne
Stimulation als Kontrollbedingung im
Vergleich mit einer „ präe mptiven“ [7]
vorausgehenden Reizung sowie einer
Matrixstimulation parallel zur Pene-
tration der Haut und Venenwand. In
der Methodik der Studie wurde dem
Einflussfaktor unterschiedlicher Venen-
bedingungen Rechnung getragen. Durch
die randomisierte Permutationder Expe-
rimentalbedingungen wurde eine best-
mögliche Vergleichbarkeit sichergestellt.
Wirksamkeit der Matrixstimulation
gegen Einstichschmerz bei
Venenpunktion
Es zeigte sich, dass eine Matrixstimulati-
on von 5-minütiger Dauer direkt vor der
Punktion(Experimentalbedingung2)im
Vergleich zur Kont r ollbedingung z u e i -
ner Schmerzreduktion mit großer Ef-
fektstärke führt. Die Experimentalbedin-
gung 1, bei der während fortdauernder
Matrixstimulationpunktiert wurde,zeig-
te keinen signifikanten Effekt. In dieser
Bedingung ging der Punktion eine 2,5-
minütige Stimulationsphase voraus. Dies
bedeutet, dass im Vergleich zu Experi-
mentalbedingung 2 auch nur 50 % der
Stromimpulse in dieser Zeit appliziert
wurden.Aus dem gewähltenVersuchsde-
sign lässt sich nicht eindeutig beantwor-
ten, welcher Faktor für die unterschied-
liche Wirksamkeit der Intervention ver-
antwortlich ist: (1) Die kürzere Stimulati-
onszeit (2,5 vs. 5 min) und die damit ver-
bundene reduzierte Anzahl von Stimuli
(600 vs. 1200 Reize) oder (2) der Zeit-
punkt der Punktion (während vs. nach
Stimulation). Wir gehen davon aus, dass
für den signifikanten Effekt der Matrix-
Der Schmerz
Originalien
stimulation auf den Punktionsschmerz
die erhöhte Reizanzahl wesentlich ver-
antwortlich ist, die zu einer Inhibition der
Fortleitung von Schmerzimpulsen führ-
te. Wahrscheinlich ist die Gesamtdau-
er der Applikation von Bedeutung, um
eine „neuroplastische Sättigung“ zu er-
reichen. Dies bedeutet, dass neben Reiz-
frequenz und -amplitude auch die Ap-
plikationsdauer ausreichend effektiv sein
muss, um bei anhaltendem peripherem
Input das Antwortverhalten am ehesten
zentraler nozizeptiver Projektionsneuro-
ne zu reduzieren.
Im Vergleich zur Kontrollbedingung
erzielte die präemptive Matrixstimu-
lation eine Reduktion des Punktions-
schmerzes um 77 %. Als Ursache für
die Schmerzlinderung bei Punktion
kann eine Verschiebung der mechani-
schen Schmerzschwelle für spitze Reize
angenommen werden (Nadelreizhypo-
algesie) im Sinne von lokal auf die Haut
begrenzten, spinal vermittelten homo-
topen Effekten der niederfrequenten
Stimulation. Bereits in einer Vorun-
tersuchung [10]konnteanhandder
quantitativen sensorischen Testung [11]
gezeigt werden, dass die Matrixstimula-
tion bei gesunden Probanden zu einer
Veränderung des somatosensorischen
Profils führt. Aus physiologischer Sicht
führt die niederfrequente Reizung von
Aδ- und C-Fasern zu raschen neu-
roplastischen Veränderungen an der
Schaltstelle vom ersten zum zweiten no-
zizeptiven Neuron im Hinterhorn des
Rückenmarks. Wahrscheinlich wird dort
die glutamatvermittelte Aktivierung von
Wide -dyn amic- range -Neuro nen (WD R-
Neuronen) in den tieferen Schichten des
Hinterhorns reduziert [16]. Die Übertra-
gung von Nervenimpulsen vom ersten
auf das zweite Projektionsneuron führt
zu einer kurzfristigen Erhöhung der
intrazellulären Kalziumkonzentration
und in der Folge auch durch Verän-
derung des Phosphorylierungszustands
von verschiedenen Glutamatrezeptoren
dieser Neurone zu einer Desensibili-
sierung und damit verminderten Im-
pulsweiterleitung [4]. Diese zentralen
neuroplastischen Veränderungen sind
vereinbar mit dem Lernprozess einer
synaptischen Langzeitdepression (LTD;
[1]). Die aktuelle Studie weist darauf
hin, dass diese neuroplastischen Verän-
derungen nicht nur bei Patienten mit
bereits bestehenden Dauerschmerzen zu
einer Schmerzlinderungführen, sondern
auch rasch bei schmerzfreien gesunden
Probanden ausgelöst werden können, im
Sinn einer präemptiven Analgesie [9].
Limitationen
Hinsichtlich des Versuchsaufbaus ist an-
zumerken, dass in der Kontrollbedin-
gung die Matrixelektrode nicht ohne Sti-
mulati on zur Anwen dung kam. E s ist vor-
stellbar, dass allein die Applikation (Auf-
legen der Elektrode auf die Haut) der
spitzen Elektroden einen Effekt auf die
Schmerzempfindung hat. Möglicherwei-
se könnte durch diese Maßnahme eine
bessere Verblindung der Probanden er-
reicht werden, auch wenn die kutane
Neurostimulation nicht unbemerkt blei-
ben würde.
Sicherheit der verwendeten
Matrixstimulation
Die Probanden zeigten keine wesentli-
chen Nebenwirkungen der Intervention.
Im Anschluss an die Intervention zeig-
ten sich vereinzelt flüchtige Rötungen im
Stimulationsareal, die nach ca. 15 min
verschwanden. Die Matrixstimulation
wurde von allen Probanden trotz des
leicht stechenden Stimulationsschmer-
zes gut toleriert. Die Schmerzintensität
durch die Matrixstimulation lag auch
nach repetitiven Stimuli gleichbleibend
knapp über der Schmerzschwelle.
Fazit für die Praxis
Wir konnten in der vorliegenden Un-
tersuchung erstmals zeigen, dass
die Matrixstimulation auch bei inva-
siv-interventionell hervorgerufenen
Akutschmerzen wirksam und sicher
angewendet werden kann. Die Stu-
dienergebnisse weisen darauf hin, dass
diese nichtinvasive Stimulationsme-
thode für einen Einsatz in Arztpraxen
oder Kliniken geeignet sein könnte, um
bei Patienten den Punktionsschmerz
deutlich zu reduzieren. Zukünftige
kontrollierte Studien sollten weite-
re Anwendungsmöglichkeiten der
Matrixstimulation zur Linderung des
Akutschmerzes prüfen.
Korrespondenzadresse
Dr. M. Mücke
Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum
Bonn
Bonn, Deutschland
martin.muecke@ukb.uni-bonn.de
Danksagung. Wir danken allen Probanden, die sich
freundlicherweise für diese Studie zur Verfügung
gestellt haben.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. M. Mücke, H. Schulze, L. Rad-
bruch, M. Marinova, H. Cuhls, D. Kravchenko, R. Conrad
und R. Rolkegeben an, dass kein Interessenkonflikt
besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen amMenschen
wurden mit Zustimmungder z uständigenEthik-Kom-
mission, im Einklang mit nationalem Re cht sowie
gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der
aktuellen, überarbeiteten Fassung)durchgeführt. Von
allen beteiligten Probandenliegt eine Einverständnis-
erklärung vor.
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Der Schmerz