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Hans Rudi Fischer
Ein Bild –ohne Betrachter –hielt uns
gefangen. Wittgensteins ambivalenter
Abschied vomRealismus
Abstract: Often Wittgenstein compares his style of workingwith thatofapainter
and he takes thinking (and speaking) as analog to drawing. The concept of a
drawingiscentral to his thinkingand is developed in the Tractatus. Explaining
how apicture (or asentence) depicts reality is the paradigmcasewith which
Wittgenstein wants to clarify how reality can be depicted at all. Depictionina
literal as well as in alinguistic sense is understood explicitlyasaprocess of con-
struction in the Tractatus,the sentence is a “projection method”.
The method of representing visual objects in apicture in arealistic, this is,
perspectival, waywas developed in the 15th century on the basis of geometrical
and optical laws. Albertis theory of pictures, consistingofthe velum as projec-
tion technique, is analog to the picture theory of the Tractatus. Making use of
Albertis theoretical work and of some picturesIwant to show that (1) the Trac-
tatus makes use of the logic of the method of using perspectivity,(2) thatthe
Tractatus shall be read as being constructivistic in spirit,and (3) how Wittgen-
stein’sown, ambivalent relation to the logic of the Tractatus looks like.
His ambivalencewith respect to the binary logic he brilliantlyexposed in the
Tractatus remains to be the creative sourceofhis laterphilosophywhich is better
understood as being constructivist in spirit.But: the decision between realism
and constructivism is not to be determined rationally, it remains ambivalent
until the last passages of On Certainty.
Keywords: Wittgenstein, picture-theory,Tractatus, contemplating subject,con-
structivism
1Ein Bild –vomBild –hielt unsgefangen.
Ein Rückblick
Wittgenstein vergleicht im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen seine
Bemerkungen mit Landschaftsskizzen, „die auflangen und verwickelten Fahrten
entstandensind. […]mit allen Mängeln einesschwachen Zeichners behaftet […]
daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben.“Diese Formulierung ist
aufschlussreich, weil sie sowohl den Zeichner als auch den Betrachter des Bildes
DOI 10.1515/9783110524055-013
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einführt.Relativhäufig vergleicht er das Denken mit dem Zeichnen vonBildern
und seine Arbeitsweisemit der eines Malers, der Zusammenhänge nachzeichnen
will. Das Bild (bzw.die Metapher)wird dabei zum Medium zwischen Maler und
Betrachter und ist der Schlüssel zu Wittgensteins Sprachdenken.
Die Maleranalogie führt zur –erkenntnistheoretisch entscheidenden –Frage,
wie ein Maler Wirklichkeit so ins Bild setzen kann, dass es dem Betrachter als
(wahres) Bild vonder Wirklichkeit erscheint bzw.esmit ihr „übereinstimmt“.Im
Tractatus Logico-Philosophicus wird Erkennen als Abbilden verstanden. Die Frage,
wie es möglich ist,dass ein Bild uns etwas über das Abgebildete, die Wirklichkeit,
sagen kann, ist analog zur Frage, wie ein Satz etwas überdie Wirklichkeit aussagen
kann. Diese Fragen wollte Wittgenstein mit der Abbildtheorie im Tractatus be-
antworten, wobei er Begriffe darstellender Geometrie nutzt,umzuklären, wie ein
Bild (das heißt „Satz“)Wirklichkeit abzubilden vermag.Abbildungimbildlichen
wie sprachlichen Sinne wird dabei explizit zum Konstruktionsprozess,der Satz zur
„Projektionsmethode“des Denkens.Wenn Wittgenstein in dekonstruktiverWeise
vomBild spricht,das nach „exakten Projektionsregeln“mit der Wirklichkeit zu
vergleichen sei(PG §123), dann führtdas zur Bildtheorie Leon Battista Albertis
(1436) und der Funktion des Ve lums als Technik, das Bild nach der Wirklichkeit zu
malen.Wittgenstein verwendet in seiner frühen Bildtheorie –so meine These –das
realistische Erkenntnismodell der Renaissance, nach dem der Betrachter durch
das Bild aufdie Welt blicken kann. Damit wird das Bild (wie der Satz) ambivalent,
denn es liegt aufder Grenze zwischen Sprache und Wirklichkeit,esist Realität und
Fiktion zugleich. Ichmöchte zeigen, dass im Tractatus die Projektionstechnik der
Perspektivtheorie in Gestalt der logischen Form auftaucht,der jedes Bild (jeder
Satz) genügenmuss, um etwas überWirklichkeit aussagen können.
Wittgensteins Rückblick aufseine „Irrtümer“im Tractatus offenbaren die
Perspektivtheorie als Schlüssel zur Abbildtheorie. Worin liegt seineKritik?Be-
trachten wir,wie er einenseiner „Denkfehler“im Tractatus zitierend markiert:
„Log. Phil. Abh. (4.5): ‚Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und
so.‘–Das ist so ein Satzvon jener Art,die man sich unzähligeMale wiederholt.
Man glaubt wiederund wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form
entlang,durch die wirsie betrachten.“(PU §114)
Der Abbildungsprozess (der „Natur“)besteht darin, der Form nachzufahren,
durch die der Betrachter/Maler (per spicere) das abzubildende Objekt betrachtet.
In dieser Formulierungklingt die Perspektive als symbolische Form der Abbildung
an. Die Etymologie des Verbs nachfahren führt in die „Nähe vonetwas“(hier der
Form), verwandt mitnachahmen (mhd. amen), was zu „ausmessen“,„visieren“
und „nachmachen“führt,das im 16.Jahrhundert „nachmessen“bzw. dem „Maß
des Vorbilds entsprechend nachgestalten“bedeutete(Kluge 1989).Wenn wir vi-
sieren etymologisch verfolgen(vis, altfranz. Gesicht,videre (visum),visus (visage),
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i.e. Blick, Anblick, ins Auge fassen), kommen wir zu Terminider Geometrie, die zu
Zeiten Albrecht Dürers mit „Messkunst“übersetzt wurde. Wiemuss eine Form
beschaffensein, durch die man der Natur nachfahren,diese nachmessen oder
„dem Maß des Vor-Bilds“(!) nachgestalten kann?Aneinem Holzschnitt Dürers
möchte ich illustrieren, wie sich Wittgensteins Bemerkung verstehen lässt.
Das Beispiel zeigt dasGlastafelverfahren, wobei der Zeichner aufeiner
durchsichtigen Fläche(Glastafel), der Form des Vorbilds nachfahren kann. Der
Augenpunkt ist fixiert.
Im folgenden Paragraphen (PU §115) nennt Wittgenstein –wieder metapho-
risch –die eigene,vom „Vorurteil der Kristallreinheit“(PU §108) eindeutiger Logik
geprägteBild- bzw.Satzauffassung im Tractatus als Grundseines Irrtums: „Ein
Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht,denn es lag in unserer
Abb. 1: Albrecht Dürer,Der Zeichner des sitzendenMannes, Holzschnitt, 1525, aus: Under-
weysung der Messung.
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Sprache,und sie schienesuns nur unerbittlich zu wiederholen.“(PU §115,Her-
vorhebung hinzugefügt)
Ist die Sprache ein Gefängnis,wie Wittgenstein einmal fragt?Jaund Nein.
Ambivalenz –und diese auszuschließen –ist die GrundtönunginWittgensteins
Denken, auch was erkenntnistheoretische Positionen betrifft –und das zeigt sich
schon im Tractatus,der gemeinhin realistisch interpretiert wird (vgl. Fischer/
Lüscher 2014 und Lüscher/Fischer2014).
Doch schon im Tractatus erleidet der Versuch, die Welt (mit sprachlichen
Mitteln) aus einem rationalen, logischen Guss zu begreifen, Schiffbruch; es ist ein
Schiffbruch mit Wittgenstein als Zuschauer.Die Wirklichkeit des Realismus war
dort bereits vonkonstruktivistischen Ideen kolonisiert.Denn der Tractatrealismus
enthält nicht nur den Keim der Selbsttranszendenz, sondern auch die Leiter,um
den Dualismus vonRealismus und Konstruktivismus zu transzendieren. Der
Schlüssel zu diesem Überstiegliegt im Mystischen, im Unbegrifflichen, im Zeigen
dessen, was nichtgesagt werden kann, im Ich, das aufder Grenze situiert wird.
Bevorich konstruktivistische Aspekteder Abbildtheorie herausarbeite,
möchte ich als historisches Vorbilddie Perspektivtheorie der Renaissance skiz-
zieren.
2Das geöffneteFenster –zurLogik
der „Costruzione Legittima“¹
Die Methode,sichtbare DingeimBild so darzustellen, dass sie als vomBetrach-
terblickwinkelabhängigesBild erscheinen, wurde im 15.Jahrhundert auf
Grundlagegeometrischer und optischer Gesetze erfunden. AufExperimente des
Architekten Brunelleschi zurückgreifend definierte Alberti in seinem Buch Über
die Malkunst (Alberti 2002)das Bild als senkrechte Schnittfläche durch die Seh-
strahlpyramide, deren Spitze im Auge des Betrachters liegt.Was aufder Schnitt-
fläche (dem Bild) erscheint,wird als lineare Projektion der realenGegenstände
vonder Basisfläche aufgefasst.Stelltman sich das Bild (Schnittfläche) aus
durchsichtigem Glasvor (siehe Abbildung1), wird klar,wie es dem Maler möglich
Der Begriff „Construzionelegittima“tauchte im 17.Jahrhundert für Albertis Methode auf. Ich
kannhier nicht aufWittgensteins Spätphilosophie eingehen, auch dort finden sich viele Belegefür
seine perspektivistische Grundposition. Ein Beispiel, wo er Begriffe darstellender Geometrie auf
Sprache überträgt, möge genügen: „Ein Satz ist sozusagenein Schnitt durch eine Hypothese in
einem bestimmten Ort.“(PB 286, Hervorebunghinzugefügt)
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ist, „die Formen gesehener Gegenstände“(Alberti 2002,83f)auf dem Bild dar-
zustellen.
Aufdieser Grundlageformuliert Alberti die Metapher vomBild als offenste-
hendemFenster (finestraaperta), dessen Logik, wie ich zeigen möchte, im Tra-
ctatus wiederkehrt.Wie definiert Alberti die Voraussetzungen, die eine „gesetz-
mäßige“Perspektivkonstruktion ermöglicht?
Als Erstes zeichne ich aufder zu bemalendenFläche ein rechtwinkligesViereck von beliebiger
Größe;von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster,durch das ich betrachte,
was hier gemalt werden soll; darauf lege ich nach Belieben fest,von welcher Größe ich die
Menschen in meinem Gemälde haben möchte; […]Dann bringeich innerhalb dieses
Rechtecks, wo es mir richtig scheint,einen Punkt an, der den Ort einnimmt, aufwelchen der
Zentrahlstrahl trifft,und den ich deshalb ‚Zentralpunkt‘nenne. (Alberti 2002,93, Hervor-
hebunghinzugefügt)
Alberti lässt keinenZweifel an seinem point of view:Der Maßstab der Messung ist
1. „nach Belieben“,2.vor der Messung festzulegenund 3. ist auch der Fluchtpunkt
willkürlich vorzugeben, er korrespondiert mit dem Augenpunktdes Betrachters
und repräsentiert ihn (Welsch 2004).
In der Bildmetapher steckt ein realistisches Erkenntnismodell: Das gemalte
Bild öffnet dem Betrachter den direkten Blick nach draußen, in die Wirklichkeit.
Das Bild sehen, heißt aufdie Wirklichkeit blicken, weil im Bild (dergedachten
Schnittfläche) die realen, dreidimensionalen Gegenstände „dahinter“projiziert
sind.
Damit schafft Alberti die Grundlagefür die Erfindungder Technik, die die
perspektivische Konstruktion ermöglicht: das Velum. Mit dem Velum (lat.Segel)²,
einem hauchdünnen, durchsichtigen Tuch, vereint Alberti die Vorstellungenvom
Bild als Schnitt durch die Sehpyramide und als durchsichtiges Fenster. „Dieses
Velum stelle ich zwischen das Augeund den gesehenenGegenstand und zwar so,
dass die Sehpyramidedas lose Gewebe des Tuches durchdringt.“(Alberti 2002,
115)³Wittgensteins Metapher der Brille führt ebenfalls ein Drittes ein, das der
Funktion des Velums analog ist: „Die Idee sitzt gleichsam als Brille aufunserer
Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie.“(PU §103) BeiAlbertis Velum
bilden dickereFäden ein Fadengitter ausQuadraten, durch das die Gegenstände
projiziert erscheinen.
Vgl. zum Velum (Alberti 2002,115f).Und den instruktivenKommentar der Herausgeber Oskar
Bätschmann und Sandra Gianfreda in (Alberti 2002,16ff).
Bätschmann und Gianfreda schreiben, laut Filarete habe Brunelleschi die zentralperspektivi-
sche Konstruktion bei der Analyse eines Spiegelbildes entdeckt (Alberti 2002,13).
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Das Velum hat eine Janusfunktion, die vaszilliert: 1. als gedachter Schnitt
durch die Sehpyramide, als geöffnetes Fensterist es optische Projektions- und
Messebene (der Gegenstände „draußen“in der Wirklichkeit) und 2. ist es –mit
Fadengitter/netzund/oder diaphaner Fläche –die materialisierte Zeichenfläche,
die die perspektivische Konstruktion der Anschauung (als vermessene Form) er-
möglicht.
Mit dem fixierten Auge des Betrachters ist das Velum Projektionsmethode,um
die „natürliche“Anschauunginden zweidimensionalen Bildraumzutranspo-
nieren. Die Welt wird so zum Bild, das sich nach geometrischen Gesetzen kon-
struieren lässt.⁴
Im Bild erscheint die Wirklichkeit,wie sie sich der Anschauung des Malers
darstellt, sein Augenpunkt ist Maßstab und Konstruktionszentrum des Bildes. Die
Gegenstände und ihre Beziehungen im Bild korrespondieren seinem Blick. Da
dieser Blick mit geometrischen Gesetzen beschrieben werden kann, glaubte man
die Form der Darstellung gefunden zu haben, in der Gegenstände „natürlich“
gesehen und dargestellt werden mussten.
Ein Blick aufRodlers Darstellung dieser Konstruktionsmethode (1531) zeigt,
warum diese Abbildungsmethode den Nimbusvon „realistisch“,mithin von
„objektiv“im Sinne vonbeobachterunabhängigerhalten konnte. Der Maler kann
die Messpunkte der zu malenden Gegenstände vomFadengitter (Velum ist Fenster)
aufein analog quadriertes Blatt übertragen, aber die Fixierung des Augenpunktes
(point of view) und damitder Beobachter sind getilgt.Damit wird diese Form der
Abbildung –ohne Betrachter –zur vermeintlich „objektiven“Norm der Abbildung
verabsolutiert.Betrachter und Zeichner sind im geschlossenen Raum eins. Wir
haben einen durchsichtigen Realismus.
Zusammenfassend lassen sich die folgendenPrinzipien des Renaissance-
realismus beschreiben:
1. Die Bildfläche wird als durchsichtigverstanden, aufs Bild blicken heißt,
die dargestellte Realität „dahinter“erblicken. Das Bild wird ambivalent (Büttner
2003)⁵,esist faktische Basis der Sehpyramide des Betrachters,zugleich „zeigt“es
in seiner Vorstellungauf den abgebildetenGegenstand als gedachteBasis der
Ichvernachlässige,dass das Sehen aufein Auge und einen ausdehnungslosen Punkt reduziert
wird, dass die Retina konkavund nicht eben ist,auf der ein Bild sich „einschreibt“etc.Alberti
greift aufEuklids geometrische und optische Gesetze zurück.
Für Büttner wirdinAlbertisFensteridee das Ambivalente des neuzeitlichen Bildes anschaulich,
weil „das mit der Schnittebene erzeugte Bild zugleich faktisch und fiktivist.“(Büttner 2003,25)
Das kommtimTractatus zum Ausdruck, indem das Bild (der Satz) eine Tatsache bezeichnet und
zugleich selbst Tatsache ist.
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Abb. 2: Hieronymus Rodler,Ein schön nützlich Büchlein der Kunst des Messens (Simmern1531).
In Rodlers Versuch, Dürers Unterweisung der Messkunst allgemeinverständlich darzustellen,
fehlt die notwendigeFixierung des Augenpunktes. Perspektive undAbstände der abzubildenden
Objekte zueinander wären so nicht stabil, es könnte nicht zu einer korrekten Abbildung kom-
men. Bei der Begründungder „wissenschaftlichen“Perspektive wirdder Beobachter zunächst
auf Euklids „ausdehnungslosen“Punkt reduziert, bevor er seine Schwundstufeerreichte.
Wittgenstein rückt ihn –mit allen Ambivalenzen –wieder in den Blickpunkt, positioniert ihn
nicht „draußen“,sondern zwischen Drinnen und Draußen: auf der Grenze (Tractatus 5.64ff.).
Wobei das Draußen unsagbar wird.
Wittgensteins ambivalenter Abschied vomRealismus 173
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Sehpyramide. So vaszilliert das Bild zwischenRealität und Fiktion bzw.Illusion,
der Betrachter schaut aufdas Bild vor sich und blickt zugleich in die (virtuelle)
Realität dahinter.
2. VomBlickwinkel des Augesreferieren Bildpunkte aufGegenstandspunkte
(der abgebildeten Wirklichkeit),das führt zu einer Isomorphie zwischenBild und
Abgebildetem.
3. Der Augenpunkt (i. e. der Beobachter)ist das Konstruktionszentrum des
Bildes; er spiegeltsich als Fluchtpunkt im Bild und bestimmt die Perspektive.Der
Augenpunkt ist willkürlich festzulegen und nicht theoretisch (rational), allenfalls
pragmatisch zu legitimieren (wie Anamorphosen zeigen).
3Die Bildtheorieund der Abschied
vomRealismus
Bereits im Vorwort des Tractatus werden die philosophisch zentralen Begriffe
genannt: Sprache,Welt und Grenze. Das Buch soll dem Denken eine Grenze ziehen
„oder vielmehr –nicht dem Denken, sondern dem Ausdruckder Gedanken: Denn
um dem Denken eine Grenze zu ziehenmüssten wir beide Seiten dieserGrenzen
denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt).
Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können […]“.Grenze (lat.
finis,verwandt mit fenestra,Fenster)ist ein geometrischer Begriff und spieltinder
„Messkunst“der Perspektivtheorie eine große Rolle. Im Tractatus tauchtder
Begriff an vielzitierten Stellen auf, wenn es heißt,dass die Grenzen der Sprache die
Grenzen meiner Welt bedeuten;für meine Zweckewichtigersind die Passagen, in
denen Wittgenstein das Subjekt,das Augeoder das Ichauf der Grenze verortet.
Betrachten wir diese Positionierung.
Die Quintessenz des Vorwortes: alle erkenntnistheoretischen oder seman-
tischen Fragen –wie die der Korrespondenz vonSprache und Wirklichkeit,der
Bedeutung unsererWörter etc. –nur innerhalb eines sprachlichen Raumes gedacht
werden können, der durch eine Ja/Nein-Logik geprägt ist,die keinen Raum für
Vieldeutigkeit oder Ambivalenz zulässt.Schon dort schließt Wittgenstein die
Möglichkeit eines Blickes vonder anderen Seite, von „draußen“,einen „god’seye
view“kategorisch aus. Dies ist eine entscheidende Grundlegung mit weitrei-
chenden Konsequenzen.
Die ersten Sätzelassen die ontologische Verrückungerkennen, die die kon-
struktivistische Position seiner Spätphilosophie ausarbeitenwird. Die ontolo-
gische Frage, was ist die Welt ist,wirdperspektivisch zur Sprache gewendet. Der
Realismusgeht –wie es das Wort nahelegt –vonres,von Dingen aus. Nicht so
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Wittgenstein: „Die Welt ist alles,was der Fall ist.Die Welt ist die Gesamtheit der
Tatsachen, nicht der Dinge.“(T 1) „Wasder Fall ist,die Tatsache, ist das Bestehen
vonSachverhalten.“(T 1.1) Sachverhaltehaben eine Struktur,die in prädikativen
Sätzen (Urteilen)formuliert werden können, die wahr oder falsch sein können.
Die Unterscheidung zwischen Dingen und Tatsachen belegt,dass Wittgen-
steins Blick vonAnfang an durch eine sprachliche bzw.sprachlogische Perspek-
tive aufdie Welt gerichtet ist.⁶Ihn interessiert nicht,was an sich „existiert“,was
abstrakt „Ding“genannt wird, um eine beobachterunabhängigeAußenweltvor-
auszusetzen, sondern Tatsachen. Das ist wörtlich zu lesen: Tat-Sachen, Herge-
stelltes,Gemachtes (lat. factum,vofacere). Mit diesem Tatsachenbegriff spricht
Wittgenstein zwar über die Welt,legt den Fokus aber auf Zusammenhänge,auf
Relationen zwischen den Gegenständen, die in Sachverhalten auftreten können:⁷
Mit dem Strukturgedanken (lat.struere, hiervonabzuleiten construere,zusam-
menbauen) bereitet er seineSatztheorie vor, in der sich Namen (Worte) aufGe-
genstände beziehen, aber nur im Satzzusammenhang Bedeutung haben. So lässt
sich zwischen der Bedeutung vonNamen (sie referierenauf Gegenstände) und
dem Sinn vonSätzen unterscheiden. Wörter haben Bedeutung,wenn sie auf
„Gegenstände“verweisen, Sätzehaben Sinn, wenn sie wahr oder falsch sein
können. Sätze sollen so vonder logischen Struktur her Sachverhalten entspre-
chen. Der Zusammenhang zwischenSprache und Welt wird begreifbar,indem der
Welt eine Struktur (Tatsachen, nicht Dinge) unterlegt wird, die für die Struktur
sprachlicherLogik schon vorbereitet ist.Die Logik wird dabei als Art „kognitiver
Landkarte“verstanden, die die Strukturen des Territoriums (Welt) draußen –
mittels Isomorphie –im Denken spiegelt: Die Logik wird zum „Spiegelbild der
Welt“(T 6.13).⁸
Wittgenstein verlegt die sprachliche Logik in den Augenpunkt;Sprache wird
zum Medium (Grenze/Velum),das eine bereits logisch formierte Durchsicht aufdie
Welt ermöglicht.⁹Diebei Alberti willkürliche Bestimmung des Augenpunktes und
des Blickwinkels ist damit in nur einen möglichen point of view überführt,der
„Meine ganze Aufgabebesteht darin, das Wesen des Satzes zu erklären. Das heißt, das Wesen
aller Tatsachen anzugeben, derenBild der Satz ist. Das Wesen alles Seins angeben. (Und hier
bedeutet Sein nicht existieren –dann wäre es unsinnig.“(Wittgenstein 2001,Tagebuch 22.1.1915).
Wittgenstein formuliertdas vonihm Vorausgesetzte so: „Die Welt hat eine festeStruktur.“
(Wittgenstein 2001,Tagebuch 17.6.1915)
Auch diese Metapher ist mit der Renaissancetheorie assoziiert,wie Albertis rhetorische Frage
zeigt: „Wieanders könnte man die Malerei beschreiben als dadurch,daß dem Original ein Spiegel
vorgehalten wird[…]?“(vgl. Abrams 1978,49)
In der Spätphilosophiewiederholtsich dieses Bild, wenn Wittgenstein Ontologie als Schatten
der Grammatik bzw. Logik begreift.Die Struktur der Wirklichkeit ist dann Ergebnis der Projektion
in die Wirklicheit.
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notwendigist.Diese Logik sitzt wie eine Brille aufder Nase, und wo auch immer
wir hinsehen, wir sehen durch sie. Es ist analog zum Sehen. Wirsehen perspek-
tivisch, sehen aber nicht,dass wir perspektivisch sehen. Daher kann es auch keine
Metaposition geben, vonder auswir aufbeide Seiten der Grenze blicken können.
Zwei Prämissen werden hier schon klar: Der Beobachter hat weder direkten Zugang
zur „Realität“,nocheinen außerweltlichen Blickwinkel, vondem ausereine
Übereinstimmung vonSprache und Wirklichkeit erkennen könnte.
Kommen wir zum Bild, das den frühen Wittgenstein „gefangen hielt“.„Bild“
ist im Tractatus –und später –Metapher für Sprache schlechthin. Bilder sind
immer Bilder von etwas, vonJemandem für Jemanden; dem entsprechend wird das
aktive Subjekt eingeführt,das Bilder(ebenso wie Sätze) erzeugt, bildet bzw.
konstruiert.Ich zitiere einigeSätze ausdem Tractatus,umAnalogien und kon-
struktivistische Facetten aufzuzeigen:
2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen.
2.11 Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von
Sachverhaltenvor.
2.12 Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.
4.01 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.
4.021Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit,sowie wir sie uns denken.
2.141Das Bild ist eine Tatsache.
Abb. 3: Yes –No, 2003, Grauguss(28 x41x30cm) Markus Raetz. ©Markus Raetz, Bern.
Drei Fotosderselben Skulptur.Raetz visualisiert die zwangsläufige Ambivalenzerfahrung eines
Denkens, das sich im dichotomen Ja/Nein-Raum bewegenmöchte. Das warWittgensteins
Projekt einer idealen, ein-eindeutigen Sprache im Tractatus. Die vermeintliche Eindeutigkeit der
Skulpturverändert sichmit der Perspektive, der Zeit und dem Standort des Betrachters. Ab-
hängig vomBlickwinkelwirdaus Yes, über viele, sprachlich nicht einzuordnende und damit
nicht erkennbareZwischenstufen der Gegenpol: No. Dasgilt aber nurfür ein Bewusstsein, das
durch das „Velum der Sprache“den Gegenstand schon als sprachliches Zeichen sehen kann.
Dassund wieAmbivalentes aus der Tractatlogikausgeschlossen werden muss, zeigt sich ins-
besondereanden „intentionalen“Sätzen (wie Aglaubt, dassp), die er als nicht-wahrheitsfähig
ausschließt. Diese Sätze, deren „Gegenstände“nicht im sichtbaren Raum sind (wie Gefühle,
Haltungen, Schmerzen), stehen im Zentrum der philosophischen Psychologie des Spätwerkes
undsie offenbaren eine noch viel größereAbhängigkeit vomBeobachter.
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2.201Das Bild bildet die Wirklichkeit ab.
2.15 Daß sich die Elementedes Bildes in bestimmter Art und Weise zueinanderverhalten,
stellt vor,daß sich die Sachen so zueinanderverhalten.
Hier fungiert das vomZeichner konstruierte Bild als Fenster,das die Vorstellung (!)
des Sachverhaltes im „logischen Raum“„draußen“ermöglicht.Wittgenstein ver-
wendet auch perspektivtheoretische Begriffe: „Das Bild stelltsein Objekt von
außerhalb dar (sein Standpunkt ist seine Form der Darstellung), darum stellt das
Bild sein Objekt richtig oder falsch dar.“(T 2.173) Die oben diagnostizierteAm-
bivalenz des Bildes als Fenster zur Realität zeigt sich auch hier: Das Bild stellt
Sachlagen vor(fiktiv),zugleich ist es selbstTatsache (T 2.141).
Mit dem „Standpunkt“(= Augenpunkt perspektivischer Konstruktion) als
Form der Darstellung sind wir in der PerspektivtheorieAlbertis und weil das Bild
(der Satz) seinObjekt von außerhalb (!) darstellt, ist nicht entscheidbar, ob es
richtig oder falsch ist.Darausfolgt das erkenntnistheoretische Problem: „Um zu
erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist,müssen wiresmit der Wirklichkeit
vergleichen.Aus dem Bild allein ist nichtzuerkennen, ob es wahr oder falsch ist .“
(T 2.223) Wieist dieser Vergleich möglich?
Die Bildtheorie folgert,dass wir keinen direkten Zugangzur Wirklichkeit
haben. Das Bild (der Satz) vermittelt zwischen der Welt füruns,nämlich dem, was
für uns der Fall ist,und der postuliertenRealität der Welt.Die perspektivische
Konstruktion erzeugteinen internen Realismus und zeigt die Ambivalenz, in die
wir geraten, weilwir prinzipiell nur Bild mit Bild vergleichen können und die Welt
nur voneinem „außerhalb“darstellen können, das ein „innerhalb“ist.
Fluddillustriertdiese Vorstellunganhanddes perspektivischen Abbildungs-
systems.
Wenn wir fragen, worin die abbildende BeziehungzwischenSprache (Bild/
Satz) und Welt besteht,sokönnen wirnur sagen, im Blick des Beobachters (dem
Subjekt,dem Ich), den Wittgenstein immer wieder verschwindenund auftauchen
lässt.Auf die Passagen, wo das Auge –der Beobachter –oder das philosophische
Ichwieder thematischwerden, kommeich zurück.
Wenn Wittgenstein (T 4.023) schreibt,dass der Satz mithilfe eineslogischen
Gerüstes eine (!) Welt konstruiert,dann ist bemerkenswert,dass nur von einer und
nicht von der Welt die Rede ist.Im„logischen Gerüst“lässt sich Albertis Velum
sehen. Eine damit verwandteMetapher ist die des Netzes, wie sie T6.341 einführt.
Das Gedankenexperimentgeht voneinerweißen Fläche (die eine Leinwand
evoziert) mit unregelmäßig daraufverteilten schwarzen Flecken als zu beschrei-
bender Wirklichkeit aus.Wird ein feines quadratisches Netzdarauf projiziert,dann
lässt sich vonjedem Quadrat sagen, ob es schwarz oder weiß ist.Sokönntedie
Fläche –die Wirklichkeit –vollständig beschrieben werden.
Wittgensteins ambivalenter Abschied vom Realismus 177
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Das Netz fungiert dabei als Projektionsmethode oder Form der Darstellung und
als solches ist es beliebig. Hier haben wir die Struktur des Velums vorAugen: „Den
verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung.
Die Mechanik bestimmt eine Form der Weltbeschreibung.“(T 6.341, vgl. Fischer
1999) Die Metapher vomNetz verdeutlicht,dass das, was gefischt (abgebildet),was
beschrieben, wasabgebildet werden kann, davonabhängt,wie das Netz, das
Beschreibungs- bzw.Referenzsystem (Koordinatensystem) aufgebaut bzw.struk-
turiert ist. „Sätze des Netzes“öffnen den geschlossenen, logischen Horizont der
Tractatus-Philosophie und weisen den Wegzum Ve rständnis der Logik und
Abb. 4: Robert Fludd (1618): Utriusque cosmi mairois salicetetminorismetaphysica,S.308.
Perspektivkonstruktion dargestellt als Systemaus Motiv, Velum (Tabula, Bildschirm); auf Stilus
fixiertem Augen(‐punkt) (oculus) undBlatt (carta)mit Netzstruktur des Velums, auf dem das
Objekt schon „abgepaust“ist.
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Grammatik der Umgangssprache. In den „Sätzen des Netzes“ist eine Brücke zu
erkennen, die ausdem Glauben, die aristotelische Logik sei die Zentralperspektive
unseres Denkens,inRichtung Multiperspektivität (Multiplizität der Sprachspiel-
methode) und Pluralität vonLogiken weist.
Die beste Illustration vonWittgensteins Tractatuslogik scheint mir Dürers
Perspektivapparat zu sein. Dürer versucht (Dürer 1525) sieht in „Kunst der Mes-
sung“die Legitimation aller guten Malerei und legt Wert aufdie Vermittlung
perspektivischer Projektionen und deren Berechenbarkeit.InDerZeichner der
Laute wird der Perspektivapparat als System gezeigt,das analog zu Wittgensteins
„logischemApparat“erklärt,wie sich ein perspektivischesBild konstruieren lässt.
Damit möchte ichdie Abbildungslogik und Projektionsmethode des Tractatus
illustrieren.
Das „logische Gerüst“,mit dem ein Satz (Bild) „eine Welt konstruiert“
(T 4.023), lässt sich hier gutvisualisieren. Andere Formulierungen verweisen
ebenfalls aufden begrifflichen und metaphorischen Kontext der Perspektivtheorie
(T 2.1ff.): Das Bild ist wie ein Maßstab …angelegt,die äußersten Punkte berühren
den zu messenden Gegenstand, die Zuordnungen sind Fühler,mit denen das Bild die
Wirklichkeit berührt; Namengleichen Punkten, Sätze Pfeilen; der Satzist wie ein
Pfeil, er stehtinprojektiver Beziehung zurWelt u.v.a.
Die Abbildungsmöglichkeitenzeigen sich an den Variablen, die sich für den
Konstruktionsprozess verändern ließen: dem Augenpunkt, dem Rahmenund der
geometrischen Relationen zwischen Augenpunkt und Ve lum/Rahmen. Das führte
u.a. zu Abbildungen, die nicht erkennen lassen, was abgebildet wird (wie An-
amorphosen oder unten bei Markus Raetz „Yes –No“dargestellt). Dürers Blick
durchsFensterindie Malerwerkstatt zeigt: Das „Auge“(der Augenpunkt) ist im
selben Bildraumwie das entstehende Bild der Laute und die Laute. Diese Vor-
stellungführtinjenes Dilemma, das Wittgenstein dazu bringt,den Beobachter auf
der Grenze und nicht „draußen“zu verorten. Der Augenpunkt wird zum blinden
Fleck der Beobachtung, er kann sich selbs tnicht sehen, was Wittgenstein in seiner
Augenanalogie verdeutlicht:
5.6331 Das Gesichtsfeld hat nämlich nicht etwa eine solche Form:
Wenn wir die Drinnen-Draußen-Dichotomie einführen, wird deutlich, dass das
Fenster geschlossen werden muss,damit wir hinausschauen können. Ausdem
Wittgensteinsambivalenter Abschied vomRealismus 179
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Blickwinkel des Malers –rechts vordem Rahmen –wird das Fenster geöffnet,um
„hinaus“zu schauen, dann wieder geschlossen, um den Punkt zu berechnen und
einzutragen. Ist das Bild fertig,erblickt der Maler durch das „geschlossene
Fenster“(= Bild), das Alberti geöffnetes Fenster nannte, hinaus aufdie Wirk-
lichkeit im Bild. Klar ist,obBild der Laute oder „wirkliche“Laute, beides sind
Abb. 5: Albrecht Dürer (1525): Der Zeichner der Laute(aus Underweysung der Messung).
Der in die Wand geschlagene Nagel markiertden Augenpunkt, der Faden (mit Blei beschwert)
symbolisiert den „Sehstrahl“.Die weiße Fläche illustriert die ambivalenteFunktiondes Schnitts
durch die Sehpyramide: Als zu bemalende Tafel(oder Leinwand) ist sie optische Messfläche
zumEintragen der Messpunkte;sie lässt sich wieein Fenster in einem Holzrahmen öffnen und
schließen. Im Rahmen sind zwei waagrecht undzwei senkrecht verschiebbare Stäbe ange-
bracht. Der Geselle führt den Faden mit dem Stift durch den Rahmen und zeigtauf die fürdie
Form der Lauteimperspektivischen Bild relevanten Punkte. Der Ort, an dem der Faden (Seh-
strahl) den Rahmen durchdringt, fixiert der Zeichner durch verschieben der Stäbe als Kreu-
zungspunkt; der Faden wird zurückgezogen, um das Fenster (i.e. die Tafel) in den Rahmen zu
drehen und den Punkt auf der Zeichenfläche einzutragen. Dieser Prozess wirdwiederholt, bis
ein perspektivische Form der Lauteentstanden ist. Bild und Abgebildetes erhalten (im Augedes
Betrachters) so die gleiche Form. Abbilden lässt sichsoals Metalepsisverstehen.
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Schnitte durch dieselbeSehpyramide des Betrachters/Malers im Bild. Wittgenstein
bemerkt,dass sein durchsichtiger Realismus nicht durchzuhalten ist.¹⁰
4Was istdrinnen, wasist draußen? –
DasAuftauchen des Betrachters
Das vergessene Subjekt(für uns hier: der Beobachter)taucht in unterschiedlichem
Gewande dannmit allen Ambivalenzen aufund der Abschied vom „reinen Rea-
lismus“wird explizit.
Die Rolle des Subjektes wird an der Augenanalogie deutlich.Das Auge, das mit
dem metaphysischen Ich („ausdehnungsloser“Punkt)gleichzusetzen ist,ist
Grenzpunkt (T 5.6331) des Wahrnehmungsfeldes und nicht im Bereich des Erfahr-
oder Beschreibbaren, daher lehnt Wittgenstein die Rede voneinem denkenden Ich
im empirischen Sinne ab.
Die Relation des Auges zu seinem Wahrnehmungsfeld lässt sich nicht aus-
drücken, sie ist intern. Warum?
Weil wir dazu einen point of view (eine Metaposition) außerhalb bräuchten,
den es nicht geben kann. DieGrenze ist nur in der Sprache zu ziehen …Dürers
Fenster in die Malerwerkstatt (Abb. 5) zeigt die BeziehungzwischenBildpunkten
und Referenzpunkten aufder Laute als –perspektivlogisch –korrektes,aber
dennoch bildinternes Verhältnis. Ausder Perspektive des „Augenpunktes“als
Konstruktionszentrum wären fertiges Bild und „wirkliche“Laute nur zwei ver-
schiedene Schnitte durch dieselbejanusköpfige Sehpyramide: zwei faktische und
fiktive Bilder im Bild. Wo bleibt die beobachterunabhängige Realität?
Wenn gefragt wird, wo in der Welt ein „metaphysisches Subjekt“(meta phy-
sica,hinter der Natur)zumerken sei, greift er aufdie Augenanalogie zurück: „Aber
das Auge siehst du wirklich nicht.Und nichts am Gesichtsfeld lässt darauf
schließen, dass es voneinem Auge gesehen wird.“Der Beobachter ist aufdem
Augenpunkt,der sich selbst nichtsieht,verschwunden. Daher –so Wittgenstein –
gehört das Subjekt nicht zur Welt,esist eine (!) Grenze der Welt (T 5.632).
Dann führtWittgenstein die Kontingenz ein, für die es in der Ja/Nein-Logik
keinen Platz gibt. Kein Teil unserer Erfahrung sei apriori, weil „Alles, was wir
sehen, […]alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnteauch anders
sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge apriori.“(T 5.634, Hervorhebung hinzuge-
Beispielsweise: „Die Grenze der Sprache zeigtsich in der Unmöglichkeit,die Tatsache zu
beschreiben, die einem Satz entspricht […], ohne eben den Satz zu wiederholen.(Wirhabeneshier
mit der kantischen Lösungdes Problems zu tun).“(VB 27)
Wittgensteinsambivalenter Abschied vomRealismus 181
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fügt) Wassoviel heißt,dass diese Ordnungdurch eine sprachliche Logik in die
Welt gebracht werden muss,die der Tractatus entwickeln sollte. Im Folgesatz wird
eingeschränkt: „Hier sieht man, dass der Solipsismus, streng durchgeführt,mit
dem reinen Realismus zusammenfällt.“(T 5.64)
Der reine Realismus, der Glaube,die Welt öffnete sich unseren Augeninihrer
wahren Gestalt,führt zum –erkenntnistheoretischen –Solipsismus: Ichkann die
Welt nur erkennen, was und wie sie für mich ist.Was bleibt? „Das Ich des So-
lipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die
ihm koordinierte Realität.“(T 5.64) Hier dreht sich Wittgenstein im dualistischen
Kreise seiner Voraussetzungen. Er legt die erkenntistheoretische Basis (den Ur-
sprung) aller Beschreibung vonRealität aufeine Grenze, die nicht hinter sich
schauen kann, den Augenpunkt des Beobachters.Grenzen erzeugen ein Diesseits
und ein Jenseits. Das Fenster hinaus in die Welt scheint wiedergeschlossenzu
Abb. 6: Markus Raetz, Zeichnung (1970): Meine unsereSprache. Füllfeder undTinte. ©Markus
Raetz, Bern.
Die ambivalenten Grenzen meiner Welt. Wasist innen, wasist außen? Markus Raetz setzt
sprachliche Ambivalenzen ins Bild: Ein hermeneutischer Zirkel? Meine Sprache ist unsere
Sprache? Oder ist unsereSprache meine Sprache? Wo istder Eingang ins Verstehen? Versteht
ein jeder den anderen nurinseiner Sprache? Babel scheint allgegenwärtig. „Daß die Welt meine
Welt ist,das zeigtsich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die alleinich verstehe)
die Grenzen meiner Welt bedeuten.“(T.5.62, LudwigWittgenstein)
182 Hans RudiFischer
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werden. Wenn er schreibt: „es bleibt die ihm koordinierte Realität“,dann fragt
sich, wer diese Realität (die keine Ordnung aprori hat) dem Ichdes Solipsismus
koordiniert hat?Und was wird ausdiesem Ich, dasindie Philosophie dadurch
eintritt,dass die „Welt meine Welt ist“?Man merktWittgensteins Ringen, das
notwendige Pendant seiner Projektionsmethode –die bewusstseinsunabhängige,
„reale“Welt draußen –retten zu müssen, gleichwohl zu wissen, dass das nur ein
Gedanke desselben Ichs drinnen ist.Jetzt wird deutlich, dass nicht der Satz,
sondern wir mithilfedes Satzes (einer Sprache) „eine Welt konstruieren“.
Im Folgesatz bestimmter, dass das philosophische Ich nicht der Mensch, nicht
der menschliche Körper oder die Seele ist, „sondern das metaphysische Subjekt,
die Grenze –nichtein Teil der Welt.“(T 5.641) Mit dieser Verortungdes philoso-
phischen Ichs aufdie Grenze (der Augenpunktder Perspektivtheorie) ist der Be-
obachteraus der Welt verschwunden.
Das, was wir voraussetzen müssen, um eine Welt zu konstruieren, ist in der
konstruierten Welt nicht zu haben. Bekanntlich mündet das im Mystischen,
worüber wir schweigenmüssen. Dennocherhebt sich die Fragenach dem
Grenzort,der wieein Fenster zwischenzwei Räumen liegt,von denen nur einer
gedacht werden kann.
Die Gretchenfragebleibt: Bin ich in der Welt oder die Welt in mir?
Die Frageführt –ob realistisch oder konstruktivistisch beantwortet –in un-
auflösbareParadoxien, weil das,was je nach Ausgangspunkt vorausgesetzt wird,
in der Beschreibung nichteingeholt werden kann. Denkt sich das philosophische
IchWittgensteins nicht als Teil der Welt,dann ist die Welt in mir,inmeinem
Bewusstsein (Ich bin meine Welt). Denkt sich das philosophische Ich¹¹ –entge-
genWittgensteins Annahme –als Teil der Welt (Ich bin in der Welt), so ist diese
Vorstellung, dass ich in der Welt bin, außerhalb dieser Welt u.s.w. Diese Ent-
scheidungist vorher zu treffen und als solche rational unentscheidbar; sie ist
Quelle vonWittgensteins Ambivalenzen gegenüber Realismusund Metaphysik,
alias Ontologie.¹²
Abschließend möchte ich an zwei Beispielen zeigen, dass der Abschied vom
Realismus, im Tractatus begonnen, bis in die letzten Passagen seines Werkes
ambivalent bleibt.
Die Unterscheidungen Wittgensteins in empirisches/metaphysisches Ich/Subjekt sind Ver-
suche, die Ambivalenz zu bewältigen; sie führenallerdingszuweiterenAmbivalenzen. Denn als
empirisches Ichdenkeich mich als philosophisches Ich,das sich nicht als Teil der Welt denkt,und
das empirische als Teil der Welt usw.
Auswegeaus den Sackgassen dualistischen Philosophierens scheinen nur Ansätzezubieten,
wie sie Josef Mitterer(Mitterer 1992, 2001) in seiner non-dualistischen Philosophie unternimmt.
Wittgensteins ambivalenter Abschied vomRealismus 183
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Ein Beispiel für Wittgensteins Ambivalenz, die sich in einem Sowohl-als-auch
bei einer ontologischen Frageausdrückt,möchte ich erwähnen:
Wirhabenein System der Farben wie ein System der Zahlen. Liegen die Systemeinunserer
Natur oder in der Natur der Dinge?Wie soll man’ssagen? Nicht in der Natur der Zahl oder
Farben. Hat denn dieses System etwas Willkürliches? Ja und nein. Es ist mit Willkürlichem
verwandt und mit Nichtwillkürlichem. Ja aber hat denn die Natur hier garnichts mitzureden?!
Doch –nur macht sie sich aufandereWeise hörbar.(PG Nr.355–357,Hervorhebunghin-
zugefügt,ausführlich in Fischer 1991 und 1999)
Die Unterscheidungen, die Diskurs erst ermöglichen, sind nicht durch Bezugauf
„Gegebenes“oder Ontologie (Natur,Realitätoder wie wir das nennen) zu recht-
fertigen, weil wir diese immer apriori –vordem Messen –in Anspruchnehmen
müssen. Am Ende des begründetenGlaubens, den wir Wissen nennen, steht der
unbegründbare Glaube, der „Spaten biegt sich zurück,sohandle icheben“(wie es
in den Philosophischen Untersuchungen heißt,PU§217).
Die Festlegung jedes Maßstabes muss der Messung vorausgehen und der
Maßstab selbst ist nicht wahr/falsch, sondern nur mehr oder minder nützlich für
unsere Zwecke. Richtige(i. e. sinnvolle) und falsche Spielzüge (im Perspektivap-
parat: Punkte, die aufPunkte referieren) gibtdes erst innerhalb dieses Rahmens. Es
gibt alsoeinenlogischen Unterschied zwischen der Wahrheit im Spiel und der
Wahrheit des Spiels (bzw.der Theorie). Und vonder Wahrheit des Spiels im Sinne
eines externen Realismus hatte sich schon der Tractatus verabschiedet,denn die
dazu nötigeMetaposition ist nicht zu denken.
Wenn Wittgenstein schließlich sagt: „Alles Wesentlicheist,dass die Zeichen
sich […]amSchluss doch aufdie unmittelbare Erfahrung beziehen und nicht auf
ein Mittelglied (ein Ding an sich)“(PB §282)wird offensichtlich, dass ich meine
Wirklichkeit nur aufmeine unmittelbare Erfahrungaufbauen kann. Nichts anderes
hat der große PsychologeErnst vonGlasersfeld mit seinem „radikalen“Kon-
struktivismus gemeint (siehe vonGlasersfeld 1997).
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