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24 Forum Logopädie
Heft 4 (31) Juli 2017
24-31
THEORIE UND PRAXIS
Wiebke Scharff Rethfeldt
ZUSAMMENFASSUNG. Die veränderten Migrationsbewegungen und die damit verbundene kulturelle
und linguistische Vielfalt der in Deutschland lebenden Bevölkerung stellt nicht zuletzt die logopädische
Versorgung vor neue Fragestellungen. Der Beitrag berichtet über die Ergebnisse des Projekts MeKi-SES
mit dem Ziel einer ersten Bestandsaufnahme der gegenwärtigen logopädischen Versorgungssituation
von mehrsprachigen Kindern mit/ohne Migrationshintergrund (MH) nach erfolgter Verordnung bei
Verdacht auf eine Sprachentwicklungsstörung (SES). Dazu befragt wurden 30 logopädische Praxen in
der Stadt Bremen, die sich durch eine sozialräumliche Polarisierung auszeichnet. Die Praxen wurden
einem von vier Bremer Ortsteilen zugeordnet, die sich an dem Anteil an minderjährigen Menschen
mit MH und SGB II-Hilfe-EmpfängerInnen orientieren. Gleichzeitig wurden Rahmenbedingungen von
logopädischen Praxen in Bremen sowie Informationen zu den tätigen TherapeutInnen erhoben. Die
Daten wurden deskriptiv und mit SPSS ausgewertet. Die Ergebnisse zur ambulanten Inanspruchnahme-
population weisen darauf hin, dass Indikationsschlüssel und logopädische Diagnose nicht zwingend
übereinstimmen und dass für mehrsprachige Kinder im Vergleich zu deutsch-einsprachigen Kindern ein
höheres Risiko besteht, durch die logopädische Versorgungslücke zu fallen. Auch weisen die Ergebnisse
auf einen zukünftigen TherapeutInnenmangel in Bremen hin. Die Pilotstudie leistet einen ersten Beitrag
für weitere Studien zur Beantwortung der zunehmend diskutierten Fragen der Qualitätssicherung an
der differenzialdiagnostischen Schnittstelle zwischen Förder- und Therapiebedarf.
Schlüsselwörter: Logopädische Versorgung – mehrsprachige Kinder – Fehldiagnosen – Diversity – sozioökonomischer Status
Prof. Dr. phil. Wiebke Scharff
Rethfeldt ist Logopädin. Sie
leitet den Fachbereich Logopädie
des Studiengangs Angewandte
Therapiewissenschaften an der
Fakultät Gesellschaftswissen-
schaften der Hochschule Bremen,
in dem sie u.a. die Schwerpunkte
Diversität und Klinische Urteilsbildung vermittelt. In
2015 wurde sie ins Multilingual-Multicultural Affairs
Committee der International Association of Logopedics
and Phoniatrics (IALP) berufen.
Hintergrund
Zunahme von Menschen mit
Migrationshintergrund
In Deutschland zählt die Migration zu den
häufigsten Ursachen für Mehrsprachigkeit.
Im Jahr 2015 hatten 17,1 Mio. Menschen in
Deutschland einen Migrationshintergrund
(MH) (Statistisches Bundesamt 2017b). Ins-
gesamt ist die Immigration nach Deutsch-
land seit 2006 steigend, sodass das Einwan-
derungsland inzwischen die zweitgrößte
Wachstumsrate an internationalen Migran-
ten verzeichnet (United Nations 2016). Wäh-
rend in den vergangenen Jahrzehnten die
Zuwanderung nach Deutschland von der eu-
ropäischen Binnenmobilität bestimmt wur-
de, kamen in 2015 die meisten Zuwanderer
aus Syrien und Rumänien.
Mittelfristig wird sich der Anteil von Men-
schen mit Migrationshintergrund an der
deutschen Bevölkerung weiter erhöhen und
dementsprechend die Bedarfe und veränder-
ten Anforderungen an die gesundheitliche
– einschließlich logopädische – Versorgung.
In der Folge ist auch der Anteil von mehr-
sprachigen Kindern an der in Deutschland
lebenden Bevölkerung in den letzten Jahren
angestiegen und nimmt weiter zu. Analog
ist unter Berücksichtigung internationaler
Prävalenzraten von einer entsprechenden
Zunahme an von einer Sprachentwicklungs-
störung (SES) betroffenen Kindern an der
Gesamtgruppe logopädischer PatientInnen
auszugehen.
Internationalen Prävalenzraten zufolge mani-
festiert sich bei etwa 7 % aller Kinder bereits
in den ersten vier Lebensjahren eine behand-
lungsbedürftige primäre SES (d.h. ohne Zu-
sammenhang mit Komorbiditäten) (Tomblin
et al. 1997). Übertragen auf Deutschland
bedeutet dies, dass rund 173.600 Kinder mit
MH im engeren Sinne im Alter von 0 bis 10
Jahren von einer SES betroffen sind (eigene
Berechnung auf Grundlage des MZ 2015, vgl.
Statistisches Bundesamt 2016, 36).
Mehrsprachigkeit als differenzial-
diagnostische Herausforderung
Die veränderten Migrationsbewegungen und
die damit verbundene kulturelle und linguisti-
sche Vielfalt der in Deutschland lebenden Be-
völkerung stellt nicht zuletzt die logopädische
Versorgung vor neue Fragestellungen; insbe-
sondere angesichts der vulnerablen Gruppe,
zu der Menschen mit MH zählen (RKI 2012).
Mehrsprachige Kinder mit Sprachauffälligkei-
ten werden in verschiedenen Bereichen des
Gesundheits- , Sozial- und Bildungssystems
vorgestellt, die sich jedoch in ihrem Verständ-
nis und ihrer Organisationsstruktur sowie
damit auch in ihrem Umgang mit Sprachauf-
fälligkeiten bei Kindern unterscheiden; z.B.
Kindertageseinrichtungen, ambulante Pädia-
trie und Logopädie.
So kann es vorkommen, dass die als sprach-
auffällig und somit von der deutschsprachi-
gen monolingualen Norm als sprachlich ab-
weichend geltenden Kinder auch gleichzeitig
von mehreren unterschiedlichen Fachleuten
betreut werden, d.h. Sprachförderung in
einer Kindertageseinrichtung und logopädi-
sche Therapie in einem ambulanten Setting
erhalten.
Häufig wird dabei jedoch nicht zwischen ei-
nem Förder- und einem Therapiebedarf un-
terschieden, obgleich zahlreiche Studien be-
legen, dass von einer in Art und Ausmaß sehr
unterschiedlich auftretenden Sprachentwick-
lungsstörung betroffene Kinder eine indivi-
dualisierte logopädische Therapie benötigen.
Denn diese Kinder können aufgrund der mit
ihr verbundenen Sprachverarbeitungsdefizite
nicht vom Angebot einer (vorschulischen)
Das MeKi-SES-Projekt zur Versorgung einer ambulanten Inanspruchnahmepopulation in Bremen
Logopädische Versorgungssituation
mehrsprachiger Kinder mit
Sprachentwicklungsstörung
25
Sprachförderung profitieren (Ellis Weismer et
al. 2005 Bishop 2000). Folglich sollte jedes
(mehrsprachige) sprachauffällige Kind logo-
pädisch untersucht und eine SES entweder
ausgeschlossen oder frühestmöglich identi-
fiziert werden, um entsprechende adäquate
Maßnahmen einzuleiten.
Therapeutisch ergeben sich insbesondere bei
mehrsprachigen Kindern für die verordnen-
de ÄrztIn sowie die behandelnde LogopädIn
– nicht nur aufgrund der häufig festzustel-
lenden Sprachbarriere – zahlreiche differen-
zialdiagnostische Herausforderungen. Dies
gilt v.a. bei Verdacht auf eine primäre SES in
Anbetracht fehlender Komorbiditäten, die
aufgrund des Risikos einer Überdiagnose im
Zusammenhang mit mangelnden Deutsch-
kenntnissen oder einer Unterdiagnose unter
Verweis auf scheinbare Besonderheiten einer
mehrsprachigen Entwicklung mit besonde-
ren differenzialdiagnostischen Herausforde-
rungen verbunden ist. Insofern erscheinen
mehrsprachige Kinder von dem Risiko einer
Fehlversorgung besonders betroffen (Scharff
Rethfeldt 2013).
Rückgang sprachtherapeutischer
Verordnungen
Obgleich der Anteil an insbesondere jünge-
ren Menschen mit Migrationserfahrung im
Vergleich zur durchschnittlichen AOK-Versi-
chertenkohorte seit 2014 gestiegen ist (Hons
2015), ist die Patientenrate der Sprachthera-
pie in besonderem Maße in Anspruch neh-
menden Kinder leicht zurückgegangen (AOK
2015). Dabei weisen die Verordnungsraten
deutliche regionale Unterschiede hinsichtlich
der Inanspruchnahme sprachtherapeutischer
Leistungen auf und deuten somit auf entspre-
chende Versorgungstrends hin.
Während im Jahr 2015 der Bundesdurch-
schnitt der Patientenrate bei Kindern bis 14
Jahre bei Kassenärztlichen Vereinigungen bei
12 % lag, war der Anteil der regionalen Inan-
spruchnahme durch die Versicherten im Land
Bremen mit einem Anteil von nur 10 % deut-
lich darunter zu verzeichnen (AOK 2015, 33).
Dabei stellt die Diagnose F80 Umschriebene
Entwicklungsstörungen des Sprechens und
der Sprache bei Kindern bis 14 Jahre, die am
häufigsten gestellte Diagnose dar (ebd.).
Auch fällt auf, dass Kinder mit MH im Ver-
gleich zu Kindern ohne MH signifikant we-
niger einen Kinderarzt in Anspruch nehmen,
wobei diese Asymmetrie vor allem in der
unteren und mittleren Sozialschicht deut-
lich wird (Kamtsiuris et al. 2007). Zahlreiche
Studien belegen, dass die Bevölkerung mit
MH ein höheres Armutsrisiko besitzt (Sta-
tistisches Bundesamt 2017a). Der Zusam-
menhang zwischen finanzieller Armut und
gesundheitlicher Lage sowie Teilhabeein-
schränkungen wurde ebenfalls in mehreren
Studien nachgewiesen (RKI 2012).
Daneben legen Untersuchungen zum Zu-
gang zur Gesundheitsversorgung sowie zum
Präventionsverhalten nahe, dass familiäre
sprachliche Verständigungsschwierigkeiten
aufgrund von unzureichenden Sprachkennt-
nissen bei Kindern bereits im Alter von sechs
Jahren vorliegende gesundheitliche Beein-
trächtigungen im Sinne einer kumulativen
gesundheitlichen und sozialen Benachteili-
gung sogar noch verstärken können. Über-
dies können neben migrationsspezifischen
Erfahrungen ein kulturell bedingtes unter-
schiedliches Nutzungsverhalten durch Rol-
lenverständnis sowie Krankheitsverständnis
auf die Inanspruchnahme der Gesundheits-
und damit logopädischen Versorgung wirken
(Scharff Rethfeldt 2013).
Fragestellung und Zielsetzung
Ausgehend von wiederholt diskutierten mi-
grationsspezifischen Zugangsbarrieren zum
Gesundheitssystem, die mit Unter-, Über-
oder auch Fehlversorgungen einhergehen
können, sowie in Anbetracht der mit kulturell
und linguistisch diversen Kindern verbunde-
nen differenzialdiagnostischen Herausforde-
rungen, wurde das Pilotprojekt Mehrsprachi-
ge Kinder mit Sprachentwicklungsstörung
(MeKi-SES, Laufzeit 2016-17) initiiert.
Da eine logopädische Versorgung deren
ärztliche Verordnung und somit zuerst den
gesicherten Zugang zur medizinischen Ver-
sorgung voraussetzt stellt sich die Frage, ob
und inwieweit für mehrsprachige Kinder mit/
ohne MH ein höheres Risiko einer mangeln-
den logopädischen Versorgung besteht.
Als Grundlage zur Beantwortung dieser Fra-
ge sowie als Voraussetzung einer ggf. not-
wendigen Qualitätssicherung fehlen bislang
jedoch entsprechende epidemiologische
Studien für die Bundesrepublik Deutschland
sowie eine sorgfältige und kontinuierliche
Erfassung und medizinische Dokumentation
von Inzidenzen und Prävalenzen logopädi-
scher Störungsbilder bei mehrsprachigen
Personen mit MH, die insbesondere im am-
bulanten Sektor versorgt werden.
Auch fehlen Versorgungsdaten zur Inan-
spruchnahme logopädischer Versorgung von
mehrsprachigen Kindern mit/ohne MH im
ambulanten Setting, zu den ambulant tätigen
TherapeutInnen sowie zu den Bedingungen
einer logopädischen Diagnostik mit dem Ziel,
Fehldiagnosen zu vermeiden und die betref-
fenden mehrsprachigen Kinder den für sie ad-
äquaten Maßnahmen, d.h. entweder Sprach-
förderung oder Sprachtherapie, zuzuführen.
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26 Forum Logopädie
Heft 4 (31) Juli 2017
24-31
THEORIE UND PRAXIS
Insofern sind pädagogische von im ambulan-
ten Setting klinisch-therapeutischen diagnos-
tischen Zielsetzungen zu differenzieren.
Ziel des MeKi-SES Projektes war daher eine
erste Bestandsaufnahme der gegenwärtigen
ambulanten logopädischen Versorgungssitu-
ation von mehrsprachigen Kindern mit/ohne
MH nach erfolgter Verordnung bei Verdacht
auf eine vorliegende SES vorzunehmen, um
im Sinne einer Pilotstudie erste Hinweise für
weitere Studien als Beitrag zur Beantwortung
der zunehmend diskutierten Fragen der Qua-
litätssicherung geben zu können. Aufgrund
der in bislang vorliegenden Studien nicht ein-
deutig und einheitlich verwendeten Termi-
nologie von Menschen mit MH stand in der
vorliegenden Untersuchung der Aspekt der
Mehrsprachigkeit der logopädisch zu versor-
genden Kinder im Vordergrund.
Die Feldarbeiten wurden in der Stadt Bremen
durchgeführt. Im bundesweiten Vergleich ist
der Anteil von Menschen mit MH an der Be-
völkerung mit 29,4 % in Bremen am höchs-
ten (Statistisches Bundesamt 2017a, 42). Für
Bremen ist zudem eine starke sozialräumliche
Polarisierung der Armut (inkl. Kinderarmut in
Haushalten mit SGB II-Bezug) zu konstatie-
ren, deren Verteilung sich nach Stadt- bzw.
Ortsteilen differenzieren lässt. So ist davon
auszugehen, dass diese sozialräumlich mög-
liche Differenzierung anhand der Faktoren
Migrationshintergrund und Armut auch ent-
scheidende Variablen der Inanspruchnahme
berücksichtigen lässt.
Methode
Im Rahmen der auf die Stadt Bremen an-
gelegten explorativen Querschnittsstudie
nahmen VertreterInnen aus insgesamt 39
telefonisch rekrutierten kassenärztlich zu-
gelassenen logopädischen Praxen an einer
schriftlichen Befragung teil. Voraussetzung
zur Teilnahme war, dass mindestens eine
LogopädIn, SprachheilpädagogIn, klinische-
LinguistIn oder Atem-, Sprech- und Stimm-
lehrerIn der betreffenden Praxis tätig ist. Das
Angebot einer logopädischen Behandlung
von mehrsprachigen Patienten wurde nicht
vorausgesetzt. Standorte außerhalb Bremens
sowie in Bremerhaven führten zum Aus-
schluss von der Studie.
Als Instrument der Befragung diente ein ein-
heitlicher Fragebogen, der nach seiner Pilo-
tierung an fünf ausgewählten Praxen über-
arbeitet und nach Rücksprache per Post oder
per E-Mail an die rekrutierten logopädischen
Praxen versandt wurde. Vor der Versendung
der Fragebögen wurden die teilnehmenden
Praxen telefonisch kontaktiert und einge-
hend über den Gegenstand und den Inhalt
der Pilotstudie informiert. Die methodische
Form der schriftlichen Befragung über einen
Zeitraum von zehn Wochen wurde gewählt,
um den Teilnehmenden eine unter eingehen-
der Berücksichtigung praxisbezogener Daten
zum Patientenkollektiv ausführliche und so-
mit zeitintensive Beantwortung mit einer fi-
nanziellen Kompensation zu erlauben.
Die eigentliche Befragung und somit Daten-
erhebung erfolgte zwischen Juli und Septem-
ber 2016. Nach Rücklauf von 37 Fragebögen
konnten insgesamt 30 Fragebögen quanti-
tativ deskriptiv sowie mit SPSS ausgewertet
werden. Zudem wurden die teilnehmenden
Praxen anhand ihrer spezifischen geogra-
fischen Lage jeweils einem von vier Bremer
Ortsteilgruppen zugeordnet, sozialräumlich
orientierend an den Mittelwerten des Anteils
von minderjährigen Menschen mit MH sowie
EmpfängerInnen von Transferleistungen (Sta-
tistisches Landesamt Bremen 2016).
Ergebnisse
Soziodemografie
Es wurden die Daten aus 30 logopädischen
Praxen ausgewertet, in denen insgesamt 72
TherapeutInnen tätig sind. Statistisch sind
demnach 2,4 (SD = 1,2) TherapeutInnen pro
Praxis tätig. In einem Drittel der befragten
niedergelassenen Praxen ist dabei nur eine
Person tätig. Die TherapeutInnen sind im
Durchschnitt 47 (SD = 7,7) Jahre alt, wobei
den Altersklassen ab 46-50 Jahren etwa zwei
Drittel der LogopädInnen zuzuordnen sind.
Die Berufserfahrung beträgt im Mittel 17
(SD = 7,3) Jahre. Rund die Hälfte der befrag-
ten Praxen besteht länger als 15 Jahre, keine
der befragten wurde in den letzten drei Jah-
ren gegründet.
Die logopädischen Leistungen werden in
47 % der Fälle ausschließlich in deutscher
Sprache angeboten. Weitere der Befragten
geben an, dass sie Englisch (44 %) einsetzen,
wenn eine Diagnostik bzw. Therapie nicht
auf Deutsch möglich ist. In drei Praxen wird
(zudem) Spanisch, in jeweils einer der 30 be-
fragten Praxen wird Russisch, Türkisch oder
Polnisch gesprochen. Zwei Drittel der Befrag-
ten haben bereits eine Fortbildung zum The-
ma Mehrsprachigkeit besucht.
Sozialräumliche Lage
An der Untersuchung haben sich logopä-
dische Praxen aus sozialräumlich sehr un-
terschiedlichen Stadtgebieten beteiligt (vgl.
Abb. 1). Während der Anteil der Migrati-
onsbevölkerung an den Personen unter 18
Jahren (nach Definition des Statistischen
Landesamtes Bremen 2016) im stadtweiten
Mittel bei 53 % liegt, beträgt der Mittelwert
der mehrsprachigen Kinder mit MH in den
konsultierten Praxen 49 % und kann damit
als vergleichbar bezeichnet werden.
Auch sind die Praxen Gebieten zuzuordnen, in
denen der Anteil der Kinder unter 15 Jahren
in Haushalten mit Leistungsbezug nach dem
SGB II mit durchschnittlich 24 % im Vergleich
zum stadtweiten Mittelwert von 29 % ledig-
lich etwas niedriger liegt (Abb. 2). In Anleh-
nung an die sozialräumliche Segregation in
der Stadt Bremen wurden die logopädischen
Praxen entlang des Anteils der Bevölkerung
unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund
(Bev MH U18) und des Anteils von Kindern
unter 15 Jahren, die Leistungen nach SGB II
(SGB II U15) erhalten, gruppiert (Statistisches
Landesamt Bremen 2016) (Tab. 1).
Patientenkollektiv
Der Anteil mehrsprachiger Patienten mit Mi-
grationshintergrund liegt im Vergleich zum
einsprachig deutschen Patientenkollektiv in
den beiden Jahren 2015 und 2016 unverän-
dert bei einem durchschnittlichen Anteil von
26 bis 50 %. Der Anteil der mehrsprachigen
Kinder in den befragten Praxen korrespon-
diert bis auf wenige Ausnahmen mit dem
Anteil in dem betreffenden Ortsteil. Mehr-
sprachige Kinder werden im Alter von 4,6
Jahren, und damit im Durchschnitt rund ein
viertel Jahr später als einsprachig deutsche
Kinder, vorgestellt. Im zweiten Quartal 2016
waren im Durchschnitt 17 (SD = 18,1) mehr-
sprachige Kinder mit SES pro logopädischer
Praxis in Behandlung.
Bezogen auf das Patientenkollektiv nach
Ortsteilgruppe zeigt sich ein mittlerer Zusam-
menhang (Cramer V = 0,38). So ist der Anteil
mehrsprachiger Kinder in solchen Praxen, die
der Ortsteilgruppe A zuzuordnen sind, deut-
lich höher als in jenen der Ortsteilgruppe B.
Die relativen Anteile von Mädchen und Jun-
Tab. 1: Gruppierung der logopädischen Praxen nach Ortsteilgruppe
Ortsteilgruppe
A B C D
Vergleich zum
stadtweiten
Durchschnitt
> Bev MH U18
und
> SGB II U15
< Bev MH U18
und
< SGB II U15
> Bev MH U18
und
< SGB II U15
< Bev MH U18
und
> SGB II U15
Anzahl der Praxen 916 3 2
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Forum Logopädie Heft 4 (31) Juli 2017
24-31
gen unterscheiden sich signifikant (p = 0,02).
Der Anteil der mehrsprachigen Jungen ist mit
durchschnittlich 12 gegenüber 7 mehrspra-
chigen Mädchen pro Praxis nahezu doppelt
so hoch.
Zum Befragungszeitpunkt befanden sich in 28
von 30 Praxen mehrsprachige Kinder in logo-
pädischer Behandlung; zwölf Monate zuvor
waren in 27 von 30 Praxen mehrsprachige
Kinder vorstellig. Zwei Praxen sind ausschließ-
lich auf die Behandlung erwachsener Patien-
ten spezialisiert. Somit lässt sich konstatieren,
dass alle befragten Praxen, die kindliche Pati-
enten annehmen, auch mehrsprachige Kinder
behandeln. Im Hinblick auf den kindzentrier-
ten Behandlungsschwerpunkt fließen daher
ausschließlich Daten von 28 Praxen in die wei-
tere Analyse ein.
Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen
überweisen die mehrsprachigen kindlichen
Patienten. Alle der befragten logopädischen
Praxen gaben an, Verordnungen von Pädia-
terInnen zu erhalten. Auch geben insgesamt
79 % der Befragten an, dass die mehrspra-
chigen Kindern über Hals-Nasen-Ohren-
ÄrztInnen und KieferorthopädInnen vorstel-
lig werden, 60 % gaben PhoniaterInnen an.
Die Hälfte der Befragten gab zudem an, dass
mehrsprachige Kinder logopädische Verord-
nungen von ZahnmedizinerInnen erhalten,
während lediglich ein Viertel der befragten
logopädischen Praxen mehrsprachige Kinder
über von AllgemeinmedizinerInnen ausge-
stellten Verordnungen sehen.
Logopädische Indikation und Diagnostik
Die befragten Praxen gaben an, dass mehr-
sprachige Kinder in 93 % der Fälle mit dem
Indikationsschlüssel SP1 (Störungen der Spra-
che vor Abschluss der Sprachentwicklung)
vorstellig werden. Die Hälfte der Befragten
gab (zudem) den Indikationsschlüssel SP3
(Störungen der Artikulation – Dyslalie) an.
Als weiteren Indikationsschlüssel benannten
40 % der Praxen RE1 (Störungen des Rede-
flusses – Stottern).
Bei Verdacht auf eine vorliegende SES bei
mehrsprachigen Kindern setzen die Befrag-
ten im Rahmen der logopädischen Diagno-
sestellung mehrere sowie unterschiedliche
Methoden ein. So erfolgt in 96 % der Fälle
eine Beobachtung der Spontansprache und
des Kommunikationsverhaltens, 93 % nutzen
die Anamneseerhebung im freien Gespräch,
36 % werden von Dolmetschern und/oder
Sprachmittlern unterstützt, 19 % verwen-
den Fragebögen. Im Rahmen der Befund-
erhebung setzen 71 % informelle Verfahren
und 61 % standardisierte deutschsprachige
Verfahren ein. Auch fremdanamnestische
Einschätzungen (50 %) und Berichte von Vor-
Anteilder
Migra-onsbevölkerung
andenPersonenunter
18Jahren(%)
StadtBremen:53,3%
AnteilderSGBII
Leistungsberech-gten
anderBevölkerung
unter15Jahren(%)
StadtBremen:29%
Abb. 1: Verteilung der an der Studie teilnehmenden logopädischen Praxen in den Bremer Ortsteilen
nach Verteilung der Bevölkerung unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund.
Abb. 2: Verteilung der an der Studie teilnehmenden logopädischen Praxen in den Bremer Ortsteilen
nach Verteilung der Kinderarmut.
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THEORIE UND PRAXIS
behandlerInnen (29 %) werden im Zuge der
logopädischen Urteilsbildung berücksichtigt.
Logopädische Intervention
Im Zusammenhang mit mehrsprachigen Kin-
dern, die zwar mit der ärztlichen Indikation
einer SES vorgestellt wurden, jedoch logo-
pädisch nicht darauf explizit behandelt wur-
den, berichten 57 % der Befragten, entgegen
der ärztlichen Diagnose einer eingehenden
logopädischen Diagnostik folgend einen
Sprachförderbedarf (z.B. aufgrund mangeln-
der Deutschkenntnisse) und keine SES fest-
gestellt zu haben. Als weiteren Grund, nicht
gezielt auf die ärztliche Indikation einer SES
zu behandeln, gaben 61 % der Befragten
andere, vordergründig zu behandelnde Stö-
rungen an.
Weiter gaben 29 % als Grund an, dass eine
Elternberatung bzw. ein Elterntraining im
Vordergrund der logopädischen Intervention
stand. Nur 7 % gaben an, ungeachtet der lo-
gopädischen Diagnose stets gemäß der ärzt-
lichen Indikation zu behandeln. Auch lässt
sich ein schwacher Zusammenhang (Cramers
V = 0,20) zwischen der Anzahl der in einer
Praxis tätigen TherapeutInnen und der kri-
tischen Prüfung einer ärztlichen Indikation
feststellen.
Die Feststellung eines Sprachförderbedarfs
entgegen der ärztlichen Indikation einer
SES wird insbesondere in den beiden in der
Ortsteilgruppe D niedergelassenen logo-
pädischen Praxen vermehrt angeführt, d.h.
Ortsteile, in denen der Anteil der Bevölke-
rung mit Migrationshintergrund unter dem
stadtweiten Durchschnitt liegt, derjenigen,
die SGB II-Leistungen beziehen, jedoch da-
rüber (Zusammenhang Sprachförderbedarf
und Kinderarmut).
TherapeutInnen
Nach ihrer Einschätzung der Rahmenbedin-
gungen zur logopädischen Versorgung von
mehrsprachigen Kindern mit MH und SES
befragt, erachtet rund die Hälfte (53 %) der
Befragten die Anzahl der ausgestellten Ver-
ordnungen als ausreichend. Die Majorität
(60 %) der Befragten bewertet das Risiko
der Bildungsbenachteiligung dieser Kinder
zudem als sehr hoch. Dass mehrsprachige
Kinder mit MH und SES in gesellschaftlichen
Problemlagen leben sowie dem Risiko einer
Stigmatisierung ausgesetzt sind, schätzen
47 % der Befragten als ebenfalls sehr hoch,
30 % als hoch ein.
Insgesamt 40 % der Befragten sehen zu-
friedenstellende Therapiemöglichkeiten für
mehrsprachige Kinder mit MH und SES als
unzureichend gegeben, während 33 % von
wenigen, hingegen 13 % von sehr zufrieden-
stellenden Therapiemöglichkeiten ausgehen.
Insgesamt bewerten 83 % der Befragten die
zur Verfügung stehenden Informationen zur
Aufklärung und Beratung von Bezugsperso-
nen von mehrsprachigen Kindern mit MH und
SES zur Unterstützung der sprachtherapeuti-
schen Arbeit mit wenig bis mittelmäßig.
Die Majorität (60 %) der Befragten hat eine
Fortbildung im Fachbereich Mehrsprachig-
keit besucht. Es besteht ein mittlerer Zu-
sammenhang (Cramers V = 0,25) zwischen
der Teilnahme an einer Fortbildung und der
Höhe der Anzahl der vorstelligen mehrspra-
chigen Kinder, sowie dem Anteil der Bevöl-
kerung unter 18 Jahren mit MH (Ortsteil A
und C).
Diskussion
Für die hier vorgelegten Untersuchungser-
gebnisse können weder Vergleichsstudien
noch Patientendaten aus der Versorgung
anhand von Registerdatenbanken heran-
gezogen werden. Es ist davon auszugehen,
dass die 30 logopädische Praxen umfassende
Stichprobe rund die Hälfte aller in Bremen
aktiven ambulanten Praxen repräsentiert.
Denn im Zuge der Recherche war aufgefal-
len, dass in einigen der bspw. im aktuellen
Branchentelefonbuch aufgelisteten Praxen
nicht mehr praktiziert wird. Die Majorität der
befragten Praxen ist etabliert, keine wurde in
den letzten Jahren gegründet, und zwei Drit-
tel des Personals älter als 47 Jahre, sodass da-
von auszugehen ist, dass dieses ab ca. 2025
nicht mehr zur Versorgung der Bremer Bevöl-
kerung beitragen kann.
Eine mögliche Erklärung für die mehrheit-
lich älteren LogopädInnen könnte die in den
1990er Jahren von der Bundesanstalt für Ar-
beit initiierte und als Umschulung finanzier-
te Ausbildung an der einzigen und privaten
Schule für Logopädie in Bremen sein. Der
hiermit verbundene spätere Berufseinstieg
und die um ca. zehn Jahre verkürzte logo-
pädische Tätigkeit könnten sodann die ver-
gleichsweise niedrige Berufserfahrung von
17 Jahren erklären.
In Anbetracht der vor rund zehn Jahren ein-
gestellten unterstützenden Ausbildungsfi-
nanzierung und insbesondere der persona-
len Struktur in den befragten Praxen ist ein
Fachkräfteengpass mit Auswirkungen auf
die logopädische Versorgung allgemein und
folglich mit Bezug auf mehrsprachige Kinder
mit MH anzunehmen.
Weiter ist davon auszugehen, dass die be-
fragten Praxen den Sozialraum Bremen gut
abbilden, obgleich die Hälfte der Praxen in
Ortsteilen liegen, in denen sowohl der Anteil
an Leistungen nach SGB II beziehenden Kin-
dern unter 15 Jahren als auch der Anteil der
Bevölkerung unter 18 Jahren mit MH über-
durchschnittlich hoch ist. Das Geschlech-
terverhältnis der in den Praxen vorstelligen
mehrsprachigen Kinder mit SES entspricht
internationalen Prävalenzstudien (Tomblin et
al. 1997). Insgesamt ist der Anteil an mehr-
sprachigen Kindern mit MH in den Praxen
hoch. So wächst jedes 4. bis 2. Kind mehr-
sprachig auf und wird im Vergleich zu mono-
lingualen Gleichaltrigen später bei Verdacht
auf SES vorgestellt. Zur Erklärung können
mehrere Gründe in Betracht kommen.
Der in großen Referenzstudien festgestellte
Einfluss der Faktoren MH und Armut auf das
Präventionsverhalten und Inanspruchnahme
eines Kinderarztes legen die Vermutung ei-
nes verspäteten bzw. erschwerten Zugangs
und damit einer ärztlichen logopädischen
Verordnung nahe. Andererseits kann eine
trotz frühzeitigem Zugang zum Mediziner
später erfolgende Verordnung als Ausdruck
einer Unterdiagnose nicht ausgeschlossen
werden. Weiter kann der mit dem Mehr-
sprachgebrauch assoziierte protektive Faktor
erklären, weshalb mehrsprachige im Ver-
gleich zu einsprachigen von einer SES betrof-
fenen Kindern später auffällig werden.
So wird diskutiert, dass die mit der Mehrspra-
chigkeit verbundenen besseren exekutiven
Funktionen (u.a. Arbeitsgedächtnisleistungen)
die bei einer vorliegenden SES betroffenen
Sprachverarbeitungsleistungen im Vergleich
zu monolingual sprachgesunden Kindern län-
ger kompensieren können (Schweizer et al.
2012). Solche besseren Leistungen lassen sich
sowohl bei ausgewogener als auch unausge-
wogener Mehrsprachigkeit feststellen, sodass
die Exposition von mehr als einer Sprache als
ausreichend gilt (Hsieh 2015).
Zur Exploration möglicher und ggf. weiterer
Ursachen bedarf es daher neben einer Erfas-
sung von Inzidenzraten insbesondere einer
gezielten Erhebung von prozess- und diag-
nosebezogenen Daten bei den logopädische
Leistungen verordnenden MedizinerInnen.
Diese bilden mit PädiaterInnen, HNO, Kie-
ferorthopädInnen, PhoniaterInnen, Zahnärz-
tInnen sowie AllgemeinmedizinerInnen ein
breites fachliches Spektrum ab und geben
zugleich darüber Auskunft, welche Fachärz-
tInnen sich mit Entscheidungen über die lo-
gopädische Verordnung bei mehrsprachigen
Kindern mit Verdacht auf SES konfrontiert se-
hen und mit welchen ggf. im Zuge einer ver-
besserten Versorgung dieser Population aus
logopädischer Sicht zu kooperieren ist.
Auf die insbesondere mit Blick auf die ad-
äquate Versorgung von mehrsprachigen Kin-
dern bestehende Notwendigkeit einer engen
Zusammenarbeit zwischen LogopädInnen
29
Forum Logopädie Heft 4 (31) Juli 2017
24-31
und MedizinerInnen zeigt sich, dass lediglich
ein geringer Anteil der befragten Therapeu-
tInnen gemäß ärztlicher, ungeachtet einer lo-
gopädischen Diagnose behandeln und mehr
als die Hälfte der TherapeutInnen trotz ärzt-
licher Indikation einer SES in einigen Fällen
einen Sprachförderbedarf diagnostizieren.
Dies deutet zum einen auf eine medizinische
Überdiagnose und/oder zum anderen auf
ein ärztliches Vertrauen in die logopädische
Diagnostik als differenzialdiagnostische Ent-
scheidung über Förder- oder Therapiebedarf
hin. Letzteres wird durch die vorgelegten Er-
gebnisse zum diagnostischen Vorgehen eher
bekräftigt. Insgesamt ist also eine frühzeiti-
ge, konsequente differenzialdiagnostische
logopädische Abklärung dringend zu emp-
fehlen.
Die im Rahmen der logopädischen Diagnos-
tik eingesetzte Methodenvielfalt entspricht
den internationalen Empfehlungen bei vor-
liegender Mehrsprachigkeit und Verdacht auf
SES (Jordaan et al. 2016, Scharff Rethfeldt
im Druck). Die Ergebnisse zeigen und bestä-
tigen die Herausforderungen, in Anbetracht
der sprachlichen und kulturellen Barrieren
neben dem entsprechenden Fach- und Me-
thodenwissen mit dem Ziel einer validen kli-
nischen Urteilsbildung verbunden sind.
Deutlich wird, dass das sprachliche Angebot
in den Praxen nicht den Herkunftssprachen
der in den letzten Jahren primär Zugewan-
derten aus u.a. Syrien und Rumänien ent-
spricht. Demnach ist von einer Sprachbarrie-
re auszugehen, die die adäquate Versorgung
und logopädische Therapie, die eben über
das Medium Sprache praktiziert wird, er-
schwert. Zugleich wird deutlich, dass die mit
dem zielgerechten Einsatz unterschiedlicher
Methoden verbundene umfassende Sprach-
entwicklungsdiagnostik einen entsprechend
hohen Mindestzeitaufwand von – anhand
der angegebenen Methoden – geschätzten
drei bis fünf Einheiten voraussetzt.
Lediglich der vermehrte Einsatz standardisier-
ter deutschsprachiger und somit für einspra-
chige Kinder konzipierter Verfahren ist stark
kritikwürdig. Aufgrund der ihnen zugrunde-
liegenden monolingualen und monokultu-
rellen Bezugsnormen besteht internationaler
Konsens darüber, dass ihre Anwendung bei
kulturell und linguistisch diversen Kindern
ungeeignet ist (Blumenthal et al. 2015, Jor-
daan et al. 2016). Ihre theoretische und
modellgeleitete Entwicklung und die damit
verbundene Testkonstruktion und Auswahl
der Stichproben entsprechen einer anderen
– homogenen – Referenzgruppe. Ihre An-
wendung bei mehrsprachigen Kindern führt
somit nicht nur aufgrund von Konstrukt-, Me-
thoden- und Item-Bias zu einer Verfälschung
der Ergebnisse, sondern trägt sogar zu Fehldi-
agnosen bei (Scharff Rethfeldt 2016, Caesar
& Kohler 2007, Martin 2009, Stow & Dodd
2003). Dies gilt auch für Verfahren, die eine
heterogene Sprachgruppe als eine Stichprobe
zusammenfassen (Laing & Kamhi 2003).
Dass rund 60 % der befragten TherapeutIn-
nen standardisierte deutschsprachige Verfah-
ren bei mehrsprachigen Kindern einsetzen,
wäre nur in solchen Fällen zu relativieren, in
denen ihr Einsatz lediglich bei jenen Kindern
erfolgt, bei denen zuvor eine SES ausge-
schlossen werden konnte. Nur in eben diesen
(ebenfalls von 60 % der Befragten benann-
ten) Fällen, kann der Einsatz eines Verfahrens
sinnvoll sein, dass auf der Grundlage sprach-
entwicklungstheoretischen Wissens über
deutschsprachige Kinder konzipiert wurde.
Ziel einer Untersuchung ist sodann nicht
mehr die logopädische Diagnostik, sondern
die Feststellung von Art und Umfang eines
vorliegenden Sprachförderbedarfs bei man-
gelnden Deutschkenntnissen in Orientierung
an der monolingualen Norm als Richtwert
u.a. für die Einstufung in den deutschspra-
chigen monolingualen Schulunterricht.
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30 Forum Logopädie
Heft 4 (31) Juli 2017
24-31
THEORIE UND PRAXIS
SUMMARY. Provision of speech and language therapy services to multilingual and migrant
children in bremen – results from the MeKi-SES Project
More than ever y third child in Germany has a migrant background. In parts of the city of Bremen, this
figure is even higher. The availability of data on the access and provision of speech pathology services
is still inadequate in Germany. This accounts even more for multilingual children. Speech, language and
communication needs are particularly common amongst children including multilingual and migrant children.
However, health-monitoring programs report that migrants like children from socioeconomically disadvan-
taged families differ in many health-related aspects from the majority population in Germany, i.e. that they
are more likely to experience barriers in health care. This study was designed as a first, regional examination
of speech pathology services for multilingual and/or migrant children with suspected language impairment
(LI) in the city of Bremen. Information was obtained from speech language therapists (SLT) representing 30
practices in different districts across Bremen, a city affected by socio-spatial polarization, and practices were
clustered according to the proportion of minor migrants and minor welfare recipients. The survey addressed
i.e. consultation number and proportion of multilingual children, age of child by time of referral, physician vs.
SLT diagnosis, used assessment materials, intervention goals, information of practicing SLT. Findings show
that multilingual children experience later referral compared to monolingual German speaking children, partly
nonconformities regarding initial and SLT diagnosis. Results also indicate a future shortage of SLTs in Bremen.
The study highlights obstacles and the need for increased multiprofessional awareness and professional
knowledge to help multilingual children with LI access needed services earlier.
KEY WORDS: Speech L anguage Therapy – ser vice provision – multilingual children – misdiagnosis – diversity
– socio economic status
AOK (2015).
Heilmittelbericht 2016.
Berlin: Wissen-
schaftliches Institut der AOK ( WIdO)
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Blumenthal, M., Scharf f Rethfeldt, W., Salameh, E.K.,
Muller, C., Vandewalle, E. & Grech, H. (2015).
LITERATUR
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass
TherapeutInnen bei einem mit der Indikati-
on SP1 vorgestellten mehrsprachigen Kind
häufig feststellen, dass es sich eben nicht
um eine pathologische Auffälligkeit mit
Therapieindikation (nach SGB V § 92), son-
dern vielmehr um einen Sprachförderbedarf
(gemäß SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe §§
22-26) handelt. Bemerkenswert ist überdies,
dass dies häufiger in Ortsteilen mit erhöhter
Kinderarmut der Fall ist.
Ein Zusammenhang zwischen kindlichen
Sprachleistungen und sozioökonomischem
Status konnte bereits in mehreren Studien
bestätigt werden (Roy & Chiat 2013, Hoff
2006, Bradley & Cor wyn 2002). Folglich füh-
ren die hier Befragten in zahlreichen Fällen
anstelle einer Therapie eine Elternberatung
bzw. ein Elterntraining durch. Eine mögli-
che Motivation seitens der TherapeutInnen,
statt einer vorliegenden Therapieindikation
Sprachförderung unterstützende Maßnah-
men zu ergreifen, lässt sich ebenfalls aus den
Ergebnissen ableiten. So sieht ein Großteil
der Befragten ein hohes Risiko für eine Be-
nachteiligung und Stigmatisierung der mehr-
sprachigen Kinder mit MH.
Konklusion
Trotz des Pilotcharakters und des regiona-
len Bezugs der vorliegenden Untersuchung
lässt sich konstatieren, dass von medizini-
scher Seite zugewiesene Indikationsschlüssel
und logopädische Diagnose nicht zwingend
übereinstimmen. Dies ist u.a. für die Inter-
pretation von Daten der AOK-Heilmittel-
berichte und der BARMER GEK Heil- und
Hilfsmittelreporte sowie für den Aufbau von
Datenbanken relevant, die logopädische Dia-
gnosen wie Patientendaten in medizinischen
Registern systematisch erfassen, wie z.B. das
logopädische Register LoRe (Bartels et al.
2016).
Überdies legen die Ergebnisse nahe, dass für
mehrsprachige Kinder mit/ohne MH im Ver-
gleich zu deutsch einsprachigen Kindern ein
erhöhtes Risiko besteht, durch die logopädi-
sche Versorgungslücke zu fallen. So werden
mehrsprachige Kinder nicht nur später in
logopädischen Praxen vorstellig, für sie be-
steht auch ein größeres Risiko einer Fehldia-
gnose. So bedarf es frühzeitig einer inhaltlich
sowie zeitlich umfassenden logopädischen
Differenzialdiagnose, um Fehldiagnosen bei
mehrsprachigen Kindern mit MH zu ver-
meiden. Die logopädische Qualifikation im
Fachbereich Mehrsprachigkeit ist hierzu un-
bedingt erforderlich.
Weiter deutet das überdurchschnittlich hohe
Alter der niedergelassenen LogopädInnen
auf einen zukünftigen TherapeutInnenen-
mangel in Bremen hin. Daher ist eine ent-
sprechende Anpassung der Ausbildungscur-
ricula sowie eine vermehrte Ausbildung von
LogopädInnen zur Sicherstellung der logopä-
dischen Versorgung in Bremen dringend zu
empfehlen.
Die einbezogenen Praxen bilden die logo-
pädische Versorgung von mehrsprachigen
Kindern in Bremen gut ab. Dennoch sind die
Daten auf Behandlungsprävalenzen begrenzt
und es wären neben allgemeinen Daten zu
Inzidenzen und Prävalenzen von SES bei ein-
und mehrsprachigen Kindern mit und ohne
Migrationshintergrund insbesondere spe-
zifische qualitative und quantitative Daten
zu Therapieangeboten und -verläufen wün-
schenswert.
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(ST/ESA/
SER.A/375).
Danksagung
Das Projekt MeKi-SES wurde aus FuE-Mitteln der
Hochschule Bremen im Forschungscluster Lebensqua-
lität gefördert. Im Rahmen des wissenschaftlichen
Projektstudiums haben die Absolventinnen des
Bachelorstudiengangs Angewandte Therapiewissen-
schaften Logopädie an der Hochschule Bremen, Janin
Wertenbruch, Hanna Holl, Ines Bergel, Julia Menkens-
Siemers und Iris Pieper, wesentlich zur Datenerhebung
beigetragen.
DOI dieses Beitrags (www.doi.org)
10. 24 43 /sk v-s -2017-5 302017040 4
Autorin
Prof. Dr. Wiebke Scharff Rethfeldt
Hochschule Bremen
Fakultät 3 – Gesellschaftswissenschaften
Angewandte Therapiewissenschaften – Logopädie
Neustadtswall 30
28199 Bremen
w.scharff.rethfeldt@hs-bremen.de
Die perfekte THErapieORGanisation
SOVDWAER GmbH
Franckstraße 5
71636 Ludwigsburg
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