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Foto: Kostas Maros
Interview
Global Care Chain –
was müssen wir uns darunter
vorstellen?
Übersetzt bedeutet dies globale
Betreuungskette. Ich gebe Ihnen
ein typisches Beispiel aus der
Schweiz: Die Angehörigen einer
alleinstehenden, an Demenz
erkrankten Frau rekrutieren über
eine Vermittlungsagentur eine
24h-Betreuerin aus Polen,
die sich um deren Haushalt und
Betreuung kümmert. Die Frau
aus Polen hat selber pege-
bedürftige Eltern, die wiederum
von einer Hausarbeiterin aus der
Ukraine gepegt werden. Der
Lohn, den die Frauen für ihre
Arbeit erhalten, nimmt entlang
der Kette ab und spiegelt die
globalen Lohnungleichheiten.
Wird die Care-Arbeit immer
unter Frauen verschoben?
Tatsächlich wird Care-Arbeit oft
unter Frauen weitergegeben,
bei uns wie in armen Ländern.
Es kommt also nicht zu einer
Neuverteilung der Arbeit zwi-
schen Männern und Frauen,
sondern zu einer Verlagerung
der Care-Arbeit auf den Markt,
auf dem häug Migrantinnen
zu prekären Bedingungen ange-
stellt sind. Wir verschieben
also unseren eigenen Pegenot-
stand in ärmere Länder. Kommt
hinzu, dass Care-Arbeit da-
durch immer mehr abgewertet
wird – obwohl genau das Gegen-
teil dringend nötig wäre. Denn
die Fürsorgearbeit ist elementar
für unsere Lebensqualität.
«Wir verschieben
unseren Pflegenotstand»
Reiche Länder wie die Schweiz lagern Care-Arbeit zunehmend an
billige, ausländische Arbeitskräfte aus. Die Soziologin Sarah Schilliger
hat das Phänomen der Global Care Chains untersucht.
Was sind die wichtigsten
Auslöser für diese Entwicklung?
Zum einen die grosse Nachfrage
nach umfassender und be-
zahlbarer Pege. Das Pegesys-
tem wird bei uns zunehmend
rationalisiert, während die Zahl
der Pegebedürftigen steigt.
Gleichzeitig ist Gratispege
durch meist weibliche Angehö-
rige immer weniger selbstver-
ständlich, weil die Erwerbsquote
von Frauen in den letzten
zwanzig Jahren stark angestie-
gen ist. Zum anderen migrieren
zunehmend auch Frauen,
um die Existenz ihrer Familien
im Herkunftsland zu sichern.
Auf den Philippinen etwa wird
der Export von Care-Arbeit-
erinnen staatlich gefördert, weil
man sich davon Geldrück-
üsse verspricht. Erleichtert
wird das Ganze durch die
wachsende Migrationsinfra-
struktur. Dank neuen Kommuni-
kationsmitteln, schnellen und
billigen Transportmöglichkeiten
und trans-national agierenden
Vermittlungsunternehmen kann
man heute per Mausklick eine
Hausangestellte bestellen, die in-
nerhalb von 72 Stunden vor
der Türe steht – mit Rücknahme-
garantie.
Gibt es Zahlen dazu, wie
viele Care-Arbeiterinnen in
der Schweiz arbeiten?
Leider gibt es keine aussage-
kräftige Statistik, da viele
Frauen behördlich nicht gemel-
det sind. In der 24-Stunden-
Betreuung, die vor allem die
Pege älterer Menschen
umfasst, sind bei uns häug
Osteuropäerinnen tätig.
Hier kam es in den letzten
Jahren zu einem enormen Zu-
wachs, was die rund 70 in
der Schweiz tätigen Vermitt-
lungsagenturen bezeugen.
Weiter sind laut Schätzungen
40 000 Sans-Papiers, viele
aus Lateinamerika oder Südost-
europa, in der Haushaltsarbeit
oder Kinderbetreuung engagiert.
Welche Lösungen sehen Sie?
Es braucht dringend mehr
Arbeitsrechte für Hausarbeite-
rinnen in der Schweiz. Der
Haushalt ist noch immer nicht
dem Arbeitsgesetz unterstellt.
Mittel- und langfristig können
wir das Problem jedoch nur
gesamtgesellschaftlich angehen.
Die öffentlichen Care-Dienste
müssten massiv ausgebaut
werden. Darüber hinaus müssen
wir das Verhältnis von Care-
und Erwerbsarbeit grundsätzlich
überdenken. Wir leben in
einer brutal erwerbszentrierten
Arbeitsgesellschaft. Doch
Zufriedenheit lässt sich nicht
alleine an der Arbeit und
dem Einkommensstandard
messen. Sie ist mindestens
so abhängig von der Zeit, die
wir für uns und unsere Mit-
menschen zur Verfügung haben.
— Interview: Pascale Schnyder
Lesen Sie das ausführliche
Interview auf:
www.sehen-und-handeln.ch/
perspektiven
«Heute kann man eine Hausangestellte per Mausklick bestellen»: Die Soziologin
Sarah Schilliger hat für ihre Doktorarbeit die Situation der Care-Migrantinnen in
der Schweiz untersucht.