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Inhalt
Vorwort.................................................................................................... 7
Einleitung: Zur transmedialen Logik der Figur..................................... 11
I. Morphologie der Figur
Rainer Leschke
Die Figur als mediale Form
Überlegungen zur Funktion der Figur in den Medien...........................29
II. Bühne
Petra Maria Meyer
Figur, Figuration, Transfiguration
Figurenkonzepte im Theater.................................................................. 53
Christiane Berger
Figurenkonzepte im Tanz......................................................................73
III. Schrift – Text – Ton
Nicolas Pethes
Helden, Hunde, Eigenschaften
Figurenkonzepte in der literarischen Narration.....................................87
Iris Hermann
Formen der Figur in der Lyrik
Lyrisches Ich und lyrisches Du............................................................ 109
Christoph Jacke
Figurenkonzepte in der Popmusik.......................................................133
Christian Imminger
Der Zeitungsleser ist auch nur eine Figur
Zum Figurenkonzept der Presse ..........................................................155
IV. Bild
Norbert M. Schmitz
Die soziale Attraktivität des medialen Wandels der Figur
zwischen Kunst- und Filmgeschichte ..................................................175
Jörn Glasenapp
Figurenkonzepte in der Fotografie ......................................................215
Jens Meinrenken
Figurenkonzepte im Comic .................................................................229
6
V. Audiovisuelle und interaktive Medien
Henriette Heidbrink
Formen der Filmfigur .......................................................................... 249
Gerd Hallenberger
Figurenkonzepte im Fernsehen............................................................275
Jens Eder
Figuren in der Werbung....................................................................... 295
Lisa Gotto
Figurenkonzepte im Videoclip ............................................................ 325
Jürgen Sorg
Figurenkonzepte im Computerspiel.....................................................341
VI. Semiotik der Figur
Jochen Venus
Die Formen der Figur und die Semiotik des Subjekts.........................375
Autorinnen und Autoren......................................................................407
Index .................................................................................................... 413
7
Vorwort
Die Figuren der Medienlandschaft haben sich gegenwärtig zu einem
Gegenstand entwickelt, der die Forschung in bemerkenswerter Weise
stimuliert. So erfuhr gerade auch die internationale Erforschung me-
dialer Figuren in den letzten Jahren zunehmend an Beachtung.1 Seit
den 1990er-Jahren ist zudem ein medienübergreifender Anstieg an
Monografien zum Thema Figur zu verzeichnen;2 zugleich ist die Fi-
gur als elementare Einheit zum festen Bestandteil narrativer Kom-
pendien avanciert.3
Im Zug der aktuellen Entwicklungen im Mediensystem scheinen
die dazugehörigen Figuren ihre Attraktivität für die Wissenschaft
keinesfalls eingebüßt zu haben, obwohl das Feld der Figurenfor-
schung bereits unter zahlreichen Blickwinkeln bearbeitet wurde. So
wurden in den ganz frühen Ansätze von der Antike bis ins 19. Jahr-
hundert vorherrschend normative Anweisungen formuliert, anhand
derer sich rhetorische und rezeptive Effekte der Figurendarstellung
erzielen lassen sollten.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sorgten zunehmend systematische
Forschungsvorhaben für mittlerweile fest etablierte Unterscheidun-
gen, Kategorien und Typologien. Und auch die Diskussion, die seit
der Mitte des 20. Jahrhunderts das Feld der Figurenforschung maß-
geblich in Form von zwei Fragestellungen bereitet hat, ist abge-
schlossen: Zum einen wurde darum gerungen, ob Figuren eher als
menschenähnliche Wesen oder als ästhetische Strukturen beobachtet
1 Zeitgleich zu diesem Band erscheint der internationale Sammelband Characters in Fic-
tional Worlds (hrsg. v. Jens Eder, Fotis Jannidis u. Ralf Schneider, 2010).
2 U.a.: Postmodern Characters (Aleid Fokkema, 1991); Menschendarstellung (Thomas
Koch, 1991); Figurendarstellung im Roman (Göran Nieragden, 1995); Engaging Charac-
ters (Murray Smith, 1995); The Phantom of the Cinema (Loyd Michaels, 1998); Grundriß
zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption (Ralf Schneider, 2000); Figur und Person
(Fotis Jannidis, 2004); Fictional Minds (Alan Palmer, 2004); Character development and
storytelling for games (Lee Sheldon, 2004); What ist the Avatar (Rune Klevjer, 2006);
Offene Welten ohne Helden (Margrit Tröhler, 2007); Die Figur im Film (Jens Eder, 2008).
3 Vgl. Uri Margolins Beitrag in The Cambridge Companion to Narrative (hrsg. v. David
Herman, 2007) und Fotis Jannidis Beitrag in Handbook of Narratology (hrsg. v. Peter
Hühn, John Pier, Wolf Schmid u. Jörg Schönert, 2009).
Vorwort
8
werden sollten. Zum anderen wurde debattiert, ob Figuren eher durch
ihren Anthropomorphismus oder ihre Aktionen – d.h. durch ihre po-
tenzielle Relevanz für den Plot – in der Forschung Geltung erlangen
sollten.
Heute herrscht weitestgehend Einvernehmen darüber, dass die
medienspezifischen Darstellungsweisen dazu führen, dass die Zu-
schauer via Rezeption eine Vorstellung von einer Figur entwickeln –
und diese kann, sie muss aber nicht unbedingt menschenähnlich sein.
Auch wenn die dominante Referenz vieler Ansätze die Menschen-
ähnlichkeit bleibt, verliert dieser Vergleichshorizont an Relevanz,
weil sich vor allem die bemerkenswerte Flexibilität und Multifunk-
tionalität von Figuren in den Vordergrund der Beobachtung drängt.
Im Zeitalter der Inter- und Transdisziplinärität werden Figuren in
einem zunehmend transversal verknüpften Mediensystem demzufolge
zumeist als multiple Phänomene beschrieben, die auf einer zeichen-
haften Verfasstheit im medialen Material basieren und – in Abhän-
gigkeit zur Eindeutigkeit und Deutlichkeit der medialen Vorlage – für
mehr oder weniger abweichende Vorstellungen beim Publikum sor-
gen.
Zahlreiche aktuelle Ansätze orientieren sich am narratologischen
Paradigma und hantieren medienübergreifend mit vergleichsweise
hoch aggregierten narratologischen Basiseinheiten. Weiterhin finden
sich aktuelle Figurentheorien in (sozial-)psychologische, kommuni-
kations- oder rezeptionstheoretische Konzeptionen eingebettet und
begreifen Figuren als kommunikative oder rezeptive Effekte. Eine
zentrale Herausforderung der Figurenforschung besteht derzeit folg-
lich darin, die interdisziplinären Ansätze miteinander zu kombinieren,
ohne dass es aufgrund ihrer unterschiedlichen paradigmatischen Pro-
venienz zu konzeptionellen Friktionen kommt.
Hier wird demgegenüber der Versuch unternommen, die Figur
nicht als Objekt sondern als Effekt zu begreifen, der sich anhand von
Beschreibungen von Figurenkonzepten in unterschiedlichen Medien
und Medienangeboten beobachten lässt. Dabei zeigt sich die Figur
allerdings nicht als klare Linie oder gar eindeutige Struktur, sondern
vielmehr als ein Spektrum an begrenzten Variationen, die über mehr
Ähnlichkeiten verfügen als Differenzen.
Die aktuelle Herausforderung, der sich dieser Band stellt, besteht
demzufolge darin, Figurenkonzepte als intermediales Sediment zu
erarbeiten. Die Voraussetzungen dafür bestehen einerseits im
transmedialen Vorkommen von Figuren und andererseits in ihrer
Vorwort
9
Medienspezifik. Durch die kontrastive Beobachtung von gängigen
Figurenkonzepten in unterschiedlichen Medien und Medienangeboten
– so das Kalkül der Herausgeber – setzen sich die Formen der Figur
als wiederholt wahrgenommene Strukturen gleichsam zwischen den
Medien ab.
Siegen, im Oktober 2010 Henriette Heidbrink und Rainer Leschke
10
11
Einleitung: Zur transmedialen Logik der Figur
Dass Figuren in den Medien vorkommen ist ebenso bekannt, wie es
zumeist leichthändig übersehen wird. Medien ohne Figuren und ohne
figuratives Potential – wie etwa das Telefon und die CD – sind ent-
sprechend selten, und zumeist handelt es sich um Medien, die sich
weitgehend auf die Übermittlung und Speicherung von Informationen
beschränken und keine eigenen kulturellen Formen hervorgebracht,
sondern vor allem beschleunigt und archiviert haben. Diese sich vor-
nehmlich durch ihre Transparenz1 auszeichnenden Medien verhalten
sich in Bezug auf die Figuration eher zurückhaltend. Aber die mei-
sten Medien üben sich keineswegs in derartiger Bescheidenheit, son-
dern sie erheben – z.T. durchaus mit Vehemenz – Anspruch darauf,
kulturell zu intervenieren.
Sobald das geschieht, treten immer auch Figuren auf den Plan: So
kennen nicht nur Filme, Theater, Literatur und Texte Figuren, son-
dern eben auch die Malerei, die Lyrik, die Fotografie, das Fernsehen,
der Rundfunk, die Computerspiele und die Hypertexte. Figuren be-
völkern zudem sämtliche der von Hybridformen zwischen diesen
unterschiedlichen Medien gebildeten Nischen. Insofern hätte man mit
den allgegenwärtigen Figuren quasi eine Art Geld der Medien gefun-
den, also jene universale Tauschinstanz, die alle gleich macht oder
alles grau werden lässt. Nur sind, vielleicht damit gerade das nicht
geschieht und die Welt nicht in Grauwerten versinkt, Figur und Figur
ebenso zweifelsfrei in all diesen Medien nicht dasselbe.
1 Die Transparenz der Medien rekurriert auf Heiders Medienbegriff aus den 1920er-Jahren,
der insbesondere durch die prominenten Zwischenträger Niklas Luhmann und Sybille
Krämer am Leben erhalten worden ist. Heider geht davon aus, dass Medien optimaler
Weise Informationen störungsfrei transportieren sollten und daher möglichst wenig Eigen-
sinn aufweisen sollten. McLuhan kaprizierte sich demgegenüber auf die formbildende
Leistung der Medien: Das Medium ist nur so lange die Botschaft, solange es Formen und
mit diesen Bedeutung generiert. Diese antagonistischen Medienkonzepte verfügen glei-
chermaßen über einen empirischen Grund und d.h., sie sind beide nicht von der Hand zu
weisen, sie betonen allerdings jeweils nur eine Dimension von Medialität. Insofern sind
beide, Transparenz und Gestaltbildung, Qualitäten von Medien und die Einzelmedien
bewegen sich in dem von diesen beiden Extrema gebildeten Spektrum. Dabei lassen sich
zwischen der Affinität von Medien zum Konzept von Figur und der formbildenden Lei-
stung von Medien Bezüge herstellen: Formbildung ist in diesem Sinne die mediale Voraus-
setzung der Figuration.
Rainer Leschke
12
Zu funktionieren scheint diese enorme intermediale Beweglichkeit
der Figur über ein spezifisches Verhältnis von Differenz und Ähn-
lichkeit: All die verschiedenen Figurenkonzepte der unterschiedlichen
Medien haben partielle Gemeinsamkeiten und unterscheiden sich
gleichzeitig auf der anderen Seite kaum minder deutlich. Dabei fällt
es trotz der vorhandenen Gemeinsamkeiten relativ schwer, so etwas
wie einen Kern von Eigenschaften oder Merkmalen zu isolieren, der
für alle Figurenkonzepte gleichermaßen Geltung besäße. Derartig
prekäre Verhältnisse von Ähnlichkeit und Differenz sind vergleichs-
weise selten theoretisch modelliert worden.
So könnte etwa Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit
dazu herangezogen werden, dieses ambivalente Verhältnis von Diffe-
renz und Ähnlichkeit zu formulieren. Allerdings bliebe es selbst dann
immer noch bei einer relativ diffusen Metapher, also einem Sprach-
spiel, das selbst eben wesentlich Sprachspiel ist. Ausgedrückt würde
damit nämlich vor allem jene Indifferenz, auf deren Aufhebung der
vorliegende Band abzielt. Die Abwesenheit eines einfachen theoreti-
schen Konzeptes für das, was mit der Figur bei den Medienwechseln,
denen sie ausgesetzt ist, geschieht, verweist auf zweierlei: Einmal auf
die genaue Analyse der verschiedenen Modi von dem, was in den
Medien als Figur fungieren kann und zum anderen auf die konzeptio-
nelle Arbeit an dem, was im Medientransfer mit solchen Konzepten
wie denen der Figur grundsätzlich geschieht. Es geht mithin um eine
Bestimmung der Wechselkurse, die zwischen den einzelnen Figuren-
konzepten anzusetzen sind und die die Ökonomie der Figur im Medi-
ensystem regulieren. Das aber bedeutet vor allem, dass nicht bei dif-
fusen Aussagen stehen geblieben werden kann, sondern dass den
Bezügen zwischen den einzelnen Figurenkonzepten differenziert
nachgegangen werden muss: Die Autorinnen und Autoren dieses
Bandes gehen davon aus, dass es bei dem, was Figuren in den diver-
sen Einzelmedien repräsentieren, und dem, was zwischen den Medien
als Ähnlichkeiten entsteht, um mehr als einen zufälligen, d.h. um
einen systematischen Zusammenhang handelt: Folglich besteht das
Projekt dieses Bandes darin, die Funktionen und die Ästhetik dieser
komplexen Interferenzen und Überschneidungen zu rekonstruieren.
Konzeptionell werden Figuren dabei als mediale Formen begriffen,
die durch das Mediensystem migrieren. Mediale Formen stellen Ein-
heiten dar, die systematisch über das einzelne Medienangebot hi-
nausweisen. Sie werden folglich als Größen begriffen, die die Me-
dienangebote eines Mediums generell oder wenigstens einen definier-
Einleitung
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ten umfänglichen Teil davon betreffen. So sind mediale Formen in
die Formästhetik des jeweiligen Mediums eingelassen. Sie sind Ein-
heiten, die diese Formästhetik auf eine bestimmte Weise organisieren
und damit systematisch komplexere Strukturen aufweisen als die
formästhetischen Eigenschaften des Mediums. Zugleich sind mediale
Formen stets mehr als Zeichen.2 Es handelt sich bei ihnen zwar um
relativ große Einheiten, dennoch verfügen sie im Gegensatz zu Wer-
ken über eine vergleichsweise geringe Eigenspezifik. Mediale For-
men sind mitten in dem Kontinuum von Werk und Zeichen positio-
niert und zugleich sind sie kleiner als die jeweiligen Einzelmedien
und Werke, in denen sie sich bewegen. Daher können mediale For-
men in einem emphatischen Sinne und d.h. notwendig als Kategorien
mittlerer Größe verstanden werden, die damit genauso gut universale
Differenzen entstehen lassen wie sie Vermittlung ermöglichen.
Mediale Formen sind damit als universale Kontrastfolie für den
Aufbau von Bedeutungen entscheidend. Dennoch handelt es sich bei
ihnen genauso gut um medienübergreifende Kategorien. So gehört
die Transferierbarkeit ganz offenkundig zu den Struktureigenschaften
medialer Formen. Mediale Formen generieren so eine eigene Ord-
nung, die quer zu den Ordnungsstrukturen von Medium, Werk und
Zeichen steht. Dieses zweite Ordnungsmodell erlaubt nicht nur den
Transfer von medialen Formen wie der Figur, sondern verhilft zur
Konstitution von Bedeutung durch die Verschiebung von Interferen-
zen und Differenzen. Mediale Formen beteiligen sich also am kultu-
rellen Spiel der Bedeutungskonstruktion in einem durchaus ausge-
zeichneten Maße.
Die Figur steht in diesem Konzert medialer Formen keineswegs
allein, sondern es handelt sich um ein vielgestaltiges Panoptikum an
Formen, das von so unterschiedlichen Repräsentationen wie Drama-
turgien und ihren ausdifferenzierten Teilen, Genres, Formaten, bis hin
zu an spezifische Medien gebundenen Einzelformen3 reicht. Figuren
als mediale Formen, sind also Konstruktionen in den Medien. Es sind
Konstruktionen von selbständigen Einheiten, die den medialen Funk-
tionsprozess über ihre Formleistungen unterstützen und abfedern.
Figuren zeichnen sich darüber hinaus noch dadurch aus, dass sie als
Formen instantan sicht- und erfassbar sind: Figuren sind nicht wie
etwa Dramaturgien nur in – streng genommen eigentlich erst nach –
2 Vgl. dazu den Beitrag von Jochen Venus in diesem Band.
3 Wie etwa Bullet Time, Splitscreen im Film, die Cutsceen oder das Tutorial im Computer-
spiel etc.
Rainer Leschke
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ihrem Vollzug wahrnehmbar, sondern sofort und spontan. Und es ist
diese spontane und zugleich vollständige Erfassbarkeit, die sie nicht
nur als Form bemerkbar macht, sondern die sie so geeignet für den
Transfer erscheinen lässt. Wenn mediale Formen sich so gut als Ver-
bindungsglieder zwischen den Medien eignen, dann gilt das für eine
so vorzüglich sichtbare Form wie die der Figur, die noch dazu in
nahezu allen relevanten Medien vorkommt, in noch weitaus größerem
Maße.
Figuren sind als mediale Formen zugleich immer auch Träger
kultureller Bedeutungen, ja zumeist ganzer Bedeutungscluster, so
dass man in kulturellen Interaktionen kaum jemals ernstlich ohne sie
auskommen wird. Hinzu kommt ihre strukturelle Sichtbarkeit als
Handlungsträger, die sich quasi in ihrer medialen Omnipräsenz nur
verlängert. Figurenkonzepte weisen damit so etwas wie historische
und kulturelle Signifikanz auf und nicht nur das: Ihre jeweils medien-
gebundenen Erscheinungsformen demonstrieren zugleich so etwas
wie mediale Signifikanz. Figuren sind daher gleichzeitig ein exzel-
lentes Objekt, um jene Bewegungen und Dynamiken zwischen den
Medien, die mit der zunehmenden Komplexität von Mediensystemen
immer mehr an Relevanz gewinnen, zu analysieren.
Die Sichtbar- und Bedeutsamkeit von Figuren und ihre vielfach
4
anthropomorphe Gestalt versorgen Figuren, sobald sie Menschen
oder menschähnliche Wesen repräsentieren, mit einem Überschuss an
Natürlichkeit. Dieser sorgt zunächst einmal dafür, dass die Allgegen-
wart von Figuren nicht als besonders befremdlich empfunden wird:
Menschen halten sich und ihre Repräsentationen nun einmal für das
Natürlichste der Welt. Ihre narrative und mediale Funktionalität rückt
dabei aus dem Blick. Denn qua ihrer Funktionalität dienen Figuren
zuallererst als Handlungsträger und sie sind daher für jede noch so
einfache Handlungsrepräsentation erforderlich. Aber allein schon der
Verweis auf die Figur-Grund-Relation der Gestaltpsychologie, an der
an sich nichts Handelndes dran ist, verdeutlicht, dass offenbar die
Funktionalität der Handlung allein nicht genügt, den Status von Figu-
ren hinreichend zu bestimmen. So ist an der Figur als Gestalt nicht
zwangsläufig auch etwas Menschliches oder Anthropomorphes, viel-
mehr reicht für diesen Bezug das aus, was sie mit den Figuren der
Geometrie gemein hat, dass es nämlich um begrenzte Flächen oder
Formen geht. Nun sind zweifellos auch Subjekte und menschliche
4 Dass dieses keineswegs immer der Fall sein muss, wird an Spielfiguren deutlich, die
Spielstände markieren und dieses in sehr unterschiedlicher Gestalt tun können.
Einleitung
15
Wesen begrenzt, nur genügt wiederum das allein weder für die Figur
als Handlungsträger noch für die Bestimmung von Figur als Gestalt
oder geometrische Erscheinung und eine Verpflichtung auf anthro-
pomorphe Zusammenhänge wäre in jedem Fall eher störend. Den-
noch ist die Entität der Figur in jedem Fall bedeutsam, bildet sie doch
zumindest eine der Voraussetzungen ihrer Migration durch das Medi-
ensystem, denn der Transfer von Modellen und Konzepten ist zumin-
dest an deren Einheit gebunden. Es handelt sich mithin bei dieser
relativ unschuldig daher kommenden medialen Form der Figur um
ein komplexes System der Übertragung von Bedeutung und Ordnung
innerhalb des Medien- und Kunstsystems, die auf durchaus eigene
Weise dem System eine im Nachhinein als natürlich erscheinende
Stabilität verleiht. Dass die Komplexität dieser Ordnung nur durch
eine multiperspektivische Näherung überhaupt zu erfassen ist, dem
wird versucht, durch die unterschiedlichen medialen Perspektiven,
die dieser Band vereinigt und in einen systematischen Zusammen-
hang integriert, Rechnung zu tragen.
Petra Maria Meyer schlägt auf dem wohl ältesten und zugleich
prominentesten medialen Feld der Figur, dem Theater, den Bogen
von der Gestalt zur Figuration und Transfiguration. Die Figur betritt
die kulturelle Bühne in Gestalt einer Art prästabilisierter Einheit,
nämlich der von »Rolle und leiblicher Erscheinung des Schauspie-
lers« (53), die zu einem heimlichen regulativen Prinzip von dem wer-
den sollte, was auch gegenwärtig immer noch unter Medienfigur
verstanden wird. So hat dieses Verhältnis von dem Körper des Schau-
spielers und der Handlungsrolle zweifellos eine prägende Kraft ent-
wickelt. Zugleich weist die Figur im Theater eine ungeheure Band-
breite an Formen auf, die bis zu den Transfigurationen des »Klang-,
Bilder- und Bewegungstheater[s]« (54) reicht. Das lässt allein schon
auf dem Feld des Theaters deutlich werden, dass es sich beim Kon-
zept der Figur, selbst wenn man sie nur in einem einzelnen Medium
reflektiert, immer schon um ein dynamisches Konzept handelt.
Ausgehend von einem Modell des Natürlichen und Ganzheitlichen
der Figur im Theater des 18. Jahrhunderts, also orientiert an der Re-
präsentation der Idee des bürgerlichen Subjekts, zeichnet Meyer die
quasi analog zum Schicksal dieses Subjektmodells verlaufende Dy-
namik des Figurenkonzepts im Theater nach. Diese reicht bis zum
»Trauma des zerstückelten Körpers« (58), das dafür sorgt, dass die
Figur in einen Prozess der permanenten Transfiguration eingeschrie-
ben bleibt. Petra Maria Meyer zeigt, dass die Fragmentierung und
Rainer Leschke
16
Partialisierung des Körpers eine für das Theater ungleich radikalere
Erfahrung darstellt, als sie es vielleicht für andere Medien wie den
Film ist, dem die Zerstückelung quasi als technisches Prinzip, näm-
lich als Montage, inhäriert. Dieser Prozess der Auflösung der Figur
reicht bis zur Reduktion auf jene reinen »Sprachflächen« (66), die
eine Abkehr vom Repräsentationsmodell der Figur insgesamt nahe-
zulegen scheinen. Meyer zeigt zugleich aber auch, dass der Prozess
des Wandels der Figurenkonzeptionen des Theaters kein Verdrän-
gungsprozess ist. Vielmehr ist von einer Koexistenz der verschiede-
nen historisch aggregierten Modelle von Figur auszugehen.
Die Figurenkonzepte im Tanz fügen der Rollenfigur des Theaters
noch die Betonung der Raumgestalt des Körpers des Tänzers und vor
allem die Bewegungsfigur hinzu. Mit der Bewegungsfigur kommt
gegenüber dem Figurenmodell des Theaters strukturell noch ein wei-
teres Moment ins Spiel: die geometrische Figur. Durch die geometri-
sche Figur findet, wie Christiane Berger zeigt, eine Übertragung von
Rationalitätsidealen auf den Tanz statt. Die Trias von Raumfigur des
Körpers, Schrittfolge und dramaturgischer Figur bestimmt damit die
Figurenkonzeption des Tanzes. Dabei sind die Raum- und die Bewe-
gungsfiguren des Tanzes von einer besonderen Flüchtigkeit gekenn-
zeichnet, so dass die Wahrnehmung der Figur eine spezifische Re-
zeptionsleistung erforderlich macht. Die »Figur segmentiert das Be-
wegungskontinuum« (73) und führt somit zu einer eigenen Struktur-
bildung, die im Theater vom Konzept der Natürlichkeit und Ganzheit
geleistet wurde.
Die Bewegungsfiguren strukturieren nicht nur Bewegungskonti-
nua, sie lassen sich vor allem als einzelne Figuren allererst im Nach-
hinein oder in der Wiederholung identifizieren. Figuren bilden typi-
sche Repertoires aus und stellen damit eine Grundlage für die Unter-
scheidung von Tänzen dar. Dabei sorgt der Übergang vom Formen-
kanon zur Improvisation für eine sukzessive Auflösung wiederholba-
rer und damit identifizierbarer Formen. So werden im Tanztheater
von Berger ähnliche Auflösungsprozesse einer »statische[n] Konzep-
tion von Körper- und Bewegungsfiguren« »durch prozessbetonte
Modelle« (74) beobachtet, wie sie mit dem Konzept der Transfigura-
tion von Meyer im Theater aufgezeigt werden.
Die Strukturen und die Strukturierungsleistungen der literarischen
Figur differenzieren vor allem das, was in Theater und Tanz als dra-
maturgische Figur erscheint. Beim Übergang vom Theater zum Tanz
und zur Literatur wird ein Prozess deutlich, den man als eine partielle
Einleitung
17
Formkopplung bezeichnen kann. Solche partiellen Formkopplungen
herrschen zwischen unterschiedlichen Medien und lassen das Kon-
zept der Figur in seinem intermedialen Transfer so fluide erscheinen.
Während die Rollenfigur des Theaters durch die Bewegungsfigur des
Tanzes in die Geometrie transgrediert und solcherart angereichert
wird, sind die Figurenkonzepte der Rollen- oder Handlungsfigur
Grundlage der literarischen Figurenkonzeption. So lassen sich die
wesentlichen Filiationen der medialen Form Figur einerseits auf die
Gestalt, also auf das Raumkonzept und seine Geometrie, andererseits
auf die Repräsentation eines Handlungsträgers, also das Subjektmo-
dell, zurückführen.
Nicolas Pethes betont, dass die Medialität des Figurenkonzepts erst
ex post also nach der stürmischen medientechnischen Entwicklung
um 1900 und ihrer Vervielfältigung medialer Angebote erkannt wer-
den konnte. Dass die Literaturgeschichte so sehr mit einem persona-
len Figurenkonzept verbunden ist, hängt mit ihrer Abhängigkeit von
Akteuren zusammen. Diese Abhängigkeit geht jedoch über den nor-
mativ konstituierten Bereich von Literatur als Teil des Kunstsystems
hinaus und betrifft generell alle Texte, sofern diese »Handlungen,
Gedanken und Aussagen (und nicht lediglich Sachinformationen oder
philosophische Reflexionen) zum Gegenstand haben« (88). Figuren
sind also eine narrative Form: »Figuren werden erzeugt, indem inner-
halb eines Erzähltextes Handlungen Personen zugerechnet werden«
(89).
Zugleich verweist Pethes auf den der Zuschreibung von
Handlungsträgerschaft inhärierenden mimetischen Aspekt und damit
auf Analogien zu »textexterne[n] Welten« (90). Da Erzählungen
dominant von Figuren handeln, die zumeist einer dichotomischen
Anordnung unterliegen, und da die Figur narrativ als eine eher stati-
sche Instanz konzipiert ist, ist es nach Pethes kaum verwunderlich,
dass gerade im Bereich der Figurenkonstruktion Standardisierungen
beobachtet werden können. Zugleich wird der Wandel in den Form-
bildungen, Standardisierungen und Perspektivierungen, dem Figuren
historisch ausgesetzt sind, nachgezeichnet. Die Figur erweist sich
damit zugleich als eine historische Form, die allein mittels der Ver-
änderungen dieser ihrer medialen Form »geschichtliche Zeugen-
schaft«5 erlangt.
5 Benjamins an die Aura und Echtheit des Kunstwerks gekoppelte Kategorie wird durch die
Form der Figur quasi in einen generalisierten Modus überführt (vgl. Benjamin 1973, 13).
Rainer Leschke
18
Auch wenn die mediale Form der Figur nicht nur in der Literatur,
sondern auch in der Lyrik stets eine historische Dimension aufweist,
so heißt das noch längst nicht, dass zwischen erzählender Literatur
und Lyrik in Bezug auf die Figurenkonzeption nicht formästhetische
Differenzen existierten. So rekonstruiert Iris Hermann das Konzept
der Figur in der Lyrik als einen »Ort des Sprechens« (129), was die-
sem ja auch in der erzählenden Literatur vorkommenden Figurenmo-
dell ein besonderes Gewicht verleiht. Das lyrische Ich als das Subjekt
des Sprechens macht dabei zugleich die historischen Transformatio-
nen, die das Subjekt als sozialer Konstruktion erfährt, mehr oder
minder mit. So ist das lyrische Ich der Barocklyrik kein individuelles,
sondern ein repräsentatives. Das Ich markiert also vornehmlich eine
Perspektive6 des Sprechens. Zugleich zeigt Hermann, dass sich die
Figurenmodelle der Lyrik von der anthropomorphen Konstruktion
zum »funktionalen Bauelement« (115) von Texten entwickeln. Mit
der medialen Form der Figur wird so in lyrische Texte eine Deixis
implementiert, die die Rezeption steuert.
Hermann verweist darüber hinaus darauf, dass es sich bei den
Figurenkonstruktionen der Lyrik nicht um ein ganzes oder vollständi-
ges, sondern um ein »dissoziatives Ich« (118) handelt, was die Re-
duktion des Ichs auf einen perspektivischen Ort des Sprechens noch
verstärkt. Dass die Figurenkonzeptionen der Lyrik sich keineswegs
auf das lyrische Ich beschränken, zeigt Hermann an den verschiede-
nen Modi der Figurenausbildung auf, die immerhin von den Kon-
struktionen eines Wir oder Du über göttliche Figuren bis hin zum
Ding und Tier reichen. Allerdings wird zugleich deutlich, dass die
Lesbarkeit der Figur, d.h. ihre Interpretierbarkeit, gerade durch die
Offenheit dieser Figurenkonstruktion in der Lyrik als einer textuellen
Perspektive überhaupt erst ermöglicht wird.
Neben die textuelle Konstruktion der Figur in der Lyrik tritt in der
Popmusik die Repräsentation des Sprechens mittels einer sprechen-
den Person. Dabei ist dieses duale Figurenkonzept von textueller und
präsentierender Figur nach Christoph Jacke in einen Bedingungszu-
sammenhang von medialen, medientechnischen, institutionellen und
formästhetischen Voraussetzungen eingebunden. Die Figuren der
Popmusik sind darüber hinaus in einen Medienverbund integriert. Es
handelt sich insofern immer schon um systematisch transmedial an-
6 Dabei unterliegt das Konzept der Perspektive ähnlichen formästhetischen Bedingungen
wie die mediale Form der Figur. Von daher werden im lyrischen Ich quasi zwei Formen
enggeführt. Zur medialen Form der Perspektive vgl. Leschke 2010, 44ff.
Einleitung
19
gelegte Figurenkonzepte. Zwar kann die Engführung von Text- und
Präsentationsfigur zu einer Verdichtung der Figur und damit zu einer
Reduktion ihrer Offenheit führen, sie scheint jedoch zugleich die
Bedingung ihrer medienübergreifenden Anlage darzustellen. Die
Verdichtung des Figurenmodells durch die Abbildung zweier Kon-
strukte aufeinander geht insofern einher mit seiner medialen Öffnung.
Zugleich führt die Engführung und transmediale Repräsentation des
Figurenkonzepts zu einer Erosion der Differenz von Fiktion und Do-
kumentation, die sich in einer Intensivierung des mimetischen
Aspekts und zugleich in solch ambivalenten Konstrukten wie dem
des Images ausdrückt.
Wenn in der Popmusik von einer tendenziellen Erosion der Diffe-
renz von Figur und Person auszugehen ist, so ist für die Presse ein
ähnlicher Prozess anzunehmen, der jedoch in der exakt umgekehrten
Bewegungsrichtung verläuft: Die Person wird zunehmend mit figu-
ralen Attributen versehen und damit selbst immer mehr zur Figur.
Christian Imminger zeigt zunächst einmal auf, dass das figurative
Repertoire in diesem Feld grundsätzlich weiter gedacht werden muss,
da allein schon die historisch evolvierten Formen der Darstellung in
der Presse – vom Layout bis hin zur Logik der Textsorten und zum
Text-Bild-Verhältnis – selbst auch figurative Aspekte aufweisen.
Neben diesen rein formästhetischen Darstellungsfiguren der Presse
hat diese jedoch von Beginn an zugleich auch Figurenrepertoires, die
sich wie in der Literatur vornehmlich an Handlungsrollen ausrichten.
Diese handlungsrelevanten Figurenmodelle verfügen jedoch in der
Presse über eine besondere Funktion: Die in der Bandbreite von Pro-
tagonisten und Antagonisten angesiedelten Figurenrepertoires über-
nehmen nämlich immer auch eine politische Orientierungsfunktion.
Das jedoch macht darauf aufmerksam, dass sich der Modus der nor-
mativen Kodierung des Figurenmodells im Transfer ändern kann: Die
prinzipiell dualistische, normativ jedoch indifferente Strukturierung
des Figurenrepertoires in narrativen Umgebungen wird im Medium
der Presse auf eine politische Kodierung verkürzt. Neben diesem
politisch aufgeladenen Repertoire von Handlungsträgern beobachtet
Imminger eine immer größere Bedeutung von Autorenfiguren in den
Pressetexten. Dies muss nicht zwangsläufig mit einer Personalisie-
rung einhergehen, sondern kann durchaus auch anonymisiert mittels
einer spezifischen Figurenfunktion der Presse, nämlich der Zeugen-
schaft, bewerkstelligt werden. Zugleich wird anhand dieser doku-
mentarischen Figurenfunktion deutlich, dass die Presse sich nicht nur
Rainer Leschke
20
bei literarischen Modellen bedient, sondern auch eigene Figurenmo-
delle generiert hat.
Während die Figur in der Lyrik dem Sprechen eine Perspektive
gibt, wird sie in der bildenden Kunst vom zentralperspektivischen
Bildraum in und unter eine Perspektive gestellt. Norbert Schmitz
analysiert dabei den Wandel, den die Figurenmodelle in der Kunstge-
schichte von dem Entstehen der Zentralperspektive in der Frührenais-
sance bis zu deren Aufgabe in der Moderne erfahren haben. Schmitz
macht darauf aufmerksam, dass sowohl die individualisierende Figu-
rendarstellung als auch die Zentralperspektive an die Entstehung des
Subjekts als soziale Kategorie gebunden war. Dabei verweist Schmitz
darauf, dass der Prozess der Figuration durchaus als ambivalent ein-
zuschätzen ist: Denn es handelt sich keineswegs ausschließlich um
eine Emanzipation des Subjekts, sondern genauso gut um dessen
Unterwerfung unter einen als universal gedachten Systemraum.
Diese Strukturen der Figurendarstellung zerbrechen wiederum in
der Malerei der Moderne und auch hier geht Schmitz von einer Syn-
chronie von sozialem und ästhetischem Prozess aus. Die Analogie für
den zentralperspektivischen Bildraum sieht Schmitz in den Ord-
nungsprinzipien des Classical Style, mit dem für den Film eine eigene
Natürlichkeit der Figurendarstellung entwickelt worden ist. Dabei
geht er davon aus, dass die Modi der Figurenverwendung eine Achse
zwischen der sozialen Funktion des Subjekts und dem medialen
Wandel bilden. Zugleich wendet Schmitz sich gegen die Verabsolu-
tierung eines »eindimensionalen Entwicklungsmodells« (203) der
Figurendarstellung, das eine sukzessive Aufgabe der Figurendarstel-
lung in der Kunst unterstelle, und nimmt demgegenüber vielmehr
eine Kopräsenz der unterschiedlichen Modi der Figurendarstellung
an. So weist er auf die in dieser Koexistenz sich ausdrückende »an-
dauernde gesellschaftliche Funktionalität« (207) der Figurendarstel-
lung hin, die eben auch für die Formen der Hochkunst über Bedeu-
tung verfüge, ja letztlich für sie sogar eine Herausforderung darstelle.
Für Jörn Glasenapp beschränken sich die Präsenz von Figuren in
der Fotografie und damit die Bedeutung der Kategorie wesentlich auf
die inszenierte Fotografie. Die Idee der Figur ist dem Gefundenen des
fotografischen Objekts ebenso fremd wie die Narrativierung, an die er
die mediale Form der Figur gebunden sieht. Allerdings wird das
Moment der Figur quasi ex post ins Dispositiv der Fotografie inte-
griert. Glasenapp verweist unter Rekurs auf Berger darauf, dass im
Prozess der Interpretation von Fotografien eine implizite, Sinn kon-
Einleitung
21
stituierende Narrativierung des fotografischen Bildes erfolge, die
zugleich den Status des Objekts betreffe: Das fotografische Bild wird
in konstruierte und Sinn ermöglichende Geschichten integriert.
Damit erlangen abgebildete Personen zumindest potentiell einen
Figurenstatus. Die Figur ist also in diesem Kontext das Produkt einer
rezeptiven Haltung und beruht auf deren impliziter Intermedialität,
also der Anwendung des narrativen Paradigmas auf die Fotografie.
Zugleich macht Glasenapp auf den der Fotografie typischen Modus
der Präsentation von Figuren aufmerksam, nämlich den des Zeigens,
der dem Modus des Sagens, wie er in narrativen Kontexten vor-
herrscht, entgegengesetzt ist. Die stumme Fotografie kann Figuren
eben nur zeigen, Narration bleibt – wenigstens zumeist – auf eine
rezeptive Supplementierung angewiesen. Die Beschränkung der Fo-
tografie auf den Modus des Zeigens ist zugleich, wie Glasenapp zeigt,
der Grund ihrer systematischen Offenheit.
Dass es sich im Comic um Figuren im emphatischen Sinne han-
delt, die Figur und Marke zu einer Einheit synthetisieren, führt Jens
Meinrenken aus. Der Comic hat in diesem Sinne „originäre Figuren“
(242) entwickelt, die durch ihre Kraft die Narration weitgehend zu
determinieren scheinen. Umgekehrt konterkarieren die künstlerische
Weiterverarbeitung von Figurenmodellen des Comic sowie ihre Re-
zeption als „Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums“ (Benjamin
I, 2, 462) jedoch gleichzeitig, so Meinrenken, ihre vorrangige Auffas-
sung „als stereotype und eindimensionale Verkörperungen einer mas-
senmedialen Populärkultur“ (230). Die Bedeutung der Figur wird
nicht zuletzt dann unübersehbar, wenn Autoren mit Figuren den Pa-
nelrahmen zu transzendieren trachten und damit implizit die formäs-
thetischen Konventionen des Genres thematisieren und zugleich for-
male Bezüge zum Theater deutlich werden lassen. Nicht zuletzt das
dynamische Potential, das die Figur im Medium Comic gewinnt, lässt
ein Spiel von Figur und Gestalt und damit ein implizites Reflexiv-
Werden des Figurenkonzepts möglich werden. Mit dem Verweis auf
die enormen Transformationsmöglichkeiten dieser Art zeichnerischen
Morphings, die anderen traditionellen Medien zumindest in dieser
Deutlichkeit eher abgeht, lässt Meinrenken die enorme Bandbreite
der Figurenkonzepte des Comics deutlich werden.
Dass der Film deutlich weniger Probleme mit den Narrationen hat
als die Fotographie und daher wie der Comic eine entschieden grö-
ßere Affinität zur Figur aufweist, ist evident. Dabei sind mit dem
Übergang zum Bewegtbild durchaus bedeutende Veränderungen im
Rainer Leschke
22
Figurenkonzept ermöglicht worden. So tritt nach Henriette Heidbrink
die Figur im Film vor allem als eine wahrnehmbare »dynamische
Körperlichkeit« (251) auf den Plan. Zugleich eröffnet die Großauf-
nahme, also die Fragmentierung des Körpers, den Raum für eine
Emotionalisierung der Figur. In der Filmfigur interferieren daher sehr
unterschiedliche Figurenkonzepte: nämlich einerseits die begrenzte
Fläche – als Körperlichkeit bzw. als emotionalisiertes Körperfrag-
ment – und andererseits ein narrativ codiertes Figurenmodell. Dieses
Überlagern verschiedener Figurenmodelle in der Filmfigur lässt diese
gleichzeitig strukturell so reichhaltig erscheinen. Aus dieser Konstel-
lation resultiert auch der paradigmatische Status, der der Filmfigur
generell für Figurenmodelle zukommt.
Zugleich sorgt der Reichtum an Formen der Figur im Film für jene
Vielgestalt theoretischer Modelle der Figur, die Heidbrink als Effekte
unterschiedlicher Beobachtungsalternativen rekonstruiert. Ähnlich
offen wird auch mit der unterschiedlichen Schärfentiefe, die Figuren
in filmischen Kontexten gestattet wird, umgegangen, indem die Aus-
differenziertheit der Merkmalsbestimmungen funktional analysiert
wird. Figurentypen, also Figurenmodelle mit einer gering ausgepräg-
ten individuellen Merkmalsausstattung, weisen so etwa eine ver-
gleichsweise hohe intermediale Mobilität und Mobilisierbarkeit auf.
Insofern sind Figurenmodelle immer aus ihren funktionalen Bedin-
gungszusammenhängen heraus zu rekonstruieren und keineswegs
absolut zu setzen. Wenn reflexive Bezugnahmen auf solche Figuren-
typen in filmischen Narrationen zu beobachten sind, wie es spätestens
seit dem postmodernen Film nicht selten der Fall ist, dann erweist
sich eben dieses Reflexiv-werden standardisierter Figurentypen als
Re-Individualisierung dieser hochgradig konventionalisierten Figu-
rentypen.
Bei den Figurenkonzepten des Fernsehens kann im Gegensatz zum
Mangel der Fotografie eher von einem Überschuss an figurativen
Konstruktionen und Darstellungsformen ausgegangen werden, der
noch über die Vielzahl der Figurenmodelle des Films hinausgeht. In
diesem Reichtum an figurativem Potential und auch in den Formen,
die dabei entwickelt werden, ähnelt das Fernsehen dem figurativen
Repertoire der Popmusik. Gerd Hallenberger zeigt, dass die Fernseh-
figur die drei Aspekte der Figur, nämlich professionelle Rollenfigur,
medial konstruierte Rolle und private Person, quasi zu einer Gesamt-
figur vereinigt und dass das Fernsehen das einzige Medium ist, das
aufgrund der Vielzahl der ihm als Medium zur Verfügung stehenden
Einleitung
23
Formate und Formen dazu in der Lage ist, alle drei Aspekte der Ge-
samtfigur medial zu inszenieren.
Hallenberger macht damit auf den konstitutiven Zusammenhang
von den Darstellungsformen, die einem Medium gegeben sind, und
den Repräsentationsmöglichkeiten von Figurenkonzepten aufmerk-
sam. Jede Programmform und – innerhalb jeder Programmform –
jedes Genre generieren eigene Rollen und damit eben auch mehr oder
minder spezifische Figurenkonzepte. Das Fernsehen integriert inso-
fern eine Reihe von Figurenmodellen und wird damit zu einer Art
Metamedium der Figur. Die Fernsehfigur ist Hallenberger zufolge
das Ergebnis eines formästhetischen Kumulationsprozesses, der in
eine medienübergreifende »Gesamtfigur« (282) mündet. Figurenkon-
zepte weisen – und hier findet sich ein durchaus der Fotografie ver-
gleichbarer Befund – eine wichtige Funktion bei den »Strategien der
Sinnproduktion« (291) auf.
Da zugleich in einzelnen Formaten des Fernsehens – wie etwa in
Casting-Shows – der Herstellungsprozess von Figuren zum Gegen-
stand der Beobachtung wird, verfügt das Fernsehen nicht nur über
eine intermediale Integration von Figurenkonzepten, sondern eben
auch über Formen, die sich mehr oder minder reflexiv mit deren Pro-
duktions- und Rezeptionsprozess auseinandersetzen. Hallenberger
verweist zudem darauf, dass die vom Fernsehen hervorgebrachten
bzw. integrierten Figurenmodelle in die sozialen Reproduktionspro-
zesse diffundieren. So stehen Figurenmodelle und soziale Realität in
einem konstitutiven Wechselverhältnis, worauf ja bereits die Ver-
weise auf das Subjekt als Referenzrahmen der Figurenentwicklung in
der bildenden Kunst hindeuten.
In der Werbung wird die Transferleistung medialer Formen ge-
nutzt, um eine Verbindung von Ware und Figur zu generieren. Damit
gerät jener Warencharakter als mögliche Funktion der Figur in den
Blick, die den Figuren im Mediensystem im Prinzip immer schon
zukommt. Jens Eder analysiert die Engführung von Marken-Icon und
Figur und entwickelt aus diesem Bezug das Figurenkonzept der Wer-
bung. Gerade Werbefiguren sind grundsätzlich immer schon interme-
dial angelegt. Sie nutzen also das strukturelle Transferpotential me-
dialer Formen, um so etwas wie eine standardisierte intermediale
Identität zu erzeugen. Diese Figurenkonstruktionen sind häufig »in
Verfahren der Symbolisierung von Produkt- oder Markeneigenschaf-
ten eingebunden« (305).
Rainer Leschke
24
Als mit funktionalen Interessen verbundene Figurenkonzepte, die sich
einem ausschließlich pragmatisch orientierten und damit strategi-
schen Konstruktionsprozess verdanken, lassen Werbefiguren die
Funktionalitäten und Modalitäten von Prinzipien der Figurenkon-
struktion hervortreten. Eder unterscheidet anhand von Werbefiguren
unterschiedliche Strategien der Figurenkonstruktion, die letztlich
auch den anderen Figurenkonstruktionen zugrunde liegen, die sich
allerdings aufgrund der nicht hinreichend definierten pragmatischen
Kontexte, sonst nur selten ermitteln lassen. Nicht zuletzt die Ȁsthe-
tik der Prägnanz« (315), die für die Werbefiguren gilt, führt zu einem
Offenlegen des strategischen Grundes der medialen Form der Figur.
Während der strategische Impuls die Konstruktion von Werbefiguren
beherrscht, sieht ihr Funktionsmechanismus vor, dass die Rezeption
von eben dieser Konstruktion absieht und in den konventionellen
Rezeptionsmodus von Figuren verfällt.
Lisa Gotto rekonstruiert die Figurenmodelle des Videoclips als Re-
flexion der Formen des Fernsehens. Die Figuren des Videoclips sind
in diesem Sinne genauestens auf die Performativität des Fernsehens
hin kalkuliert. Der Videoclip verdichtet damit die Formmerkmale des
Fernsehens: So nimmt er die Motive des Zappings, der Wiederho-
lung, die als Voraussetzung des Popstars anzusehen ist, und der Öko-
nomisierung auf. Zugleich lässt sich der strukturelle Bezug zum Wer-
befilm kaum verleugnen. Die strukturelle Intermedialität macht quasi
den formästhetischen Kern der Figurenmodelle des Videoclips aus.
Dabei setzt das Repertoire der hier beobachtbaren Figurenmodelle auf
den analysierten filmischen und fernsehaffinen Modi auf, ja der Vi-
deoclip vollzieht auch die beschriebenen Fragmentierungs- und Auf-
lösungsprozesse nach, die bis zur Reduktion auf die bloße Stimme
reichen und damit die lyrische Reduktion auf einen Ort des Sprechens
quasi reformulieren.
Die hybride Struktur von Figurenmodellen, wie sie etwa im Tanz
zwischen Raumfigur und Handlungsrolle herrscht, kennzeichnet, wie
Jürgen Sorg zeigt, ebenfalls die Figurenmodelle des Computerspiels.
Zu den narrativen Funktionen der Figur, wie sie sich in der Literatur
und im Film entwickelt haben, tritt im Computerspiel noch die ludi-
sche hinzu. Den Figuren des Computerspiels werden damit gleichzei-
tig unterschiedliche Handlungsoptionen zugewiesen, sie übernehmen
sowohl narrative als auch ludische Funktionen. Die Figurenkonzepte
des Computerspiels greifen dabei in ihren Erscheinungsformen einer-
seits auf konventionelle Spielfiguren, wie sie sich etwa in Brettspie-
Einleitung
25
len entwickelt haben, und andererseits auf die Figurenkonventionen
von literarischen und filmischen Narrationen zurück. Dabei bildet die
ludische Funktion der Figur zugleich die Grundlage einer nicht unwe-
sentlichen Differenz im Figurenrepertoire des Computerspiels: Sie
macht nämlich Spieler-Figuren von Nicht-Spieler-Figuren unter-
scheidbar.
Zugleich stellen die Figuren des Computerspiels die zentralen
Bezugspunkte des Spielers und damit die Grundlage der ludischen
Beziehungskonstellation zwischen Spieler und Spiel dar. Die Steuer-
barkeit der Figur wird damit zum herausragenden Merkmal der Spiel-
figur im Computerspiel, die zugleich eine prinzipielle Erweiterung
medialer Figurenkonzepte darstellt. Zwar greift dieses Konzept auf
die lange kulturelle Tradition der Spielfiguren zurück, ihre mediale
Integration wurde jedoch wesentlich erst durch das Figurenmodell
des Computerspiels geleistet. Die Figuren bilden aufgrund ihrer Steu-
erbarkeit also eine Art Interface für das Spielgeschehen.
Die prinzipielle Hybridität der Computerspielfigur bestimmt auch
die Referenzen der Figurenmodelle und Erscheinungsformen: Von
den für Simulationen üblichen extramedialen Referenzen – etwa bei
Wettkampfspielen – bis zu dominant inter- und intramedialen Refe-
renzen kann sich das Figurenrepertoire des Computerspiels an nahezu
allen Figurenmodellen bedienen. Dabei unterscheiden sich die Modi
der Subjektadressierung jedoch weitgehend von denen der Figuren-
modelle anderer Medien. Zugleich hat das Computerspiel, wie Sorg
zeigt, aus seiner hybriden Struktur heraus durchaus auch eigene Figu-
renmodelle generiert: So lässt sich etwa der Regelapparat von Spielen
narrativieren, was sich in einem eigenen Figurenmodell nieder-
schlägt.
Jochen Venus weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Figu-
ren sich nicht zuletzt wesentlich den interpretativen Bemühungen der
Rezipienten verdankt. Figuren sind in diesem Sinne semiotische Kon-
strukte, sie sind, »operative Sein-Sollens-Fehlschlüsse, modallogische
Grenzüberschreitungen von dem, was ist, zu dem, was es sein soll«
(387). Figuren beruhen daher grundlegend auf dem Prinzip der
Grenzüberschreitung, sie sind nicht nur, sondern sie werden gemacht.
Einem solchen Konstruktions- oder Projektionsprozess verdankt sich
auch die so unentwegt zu beobachtende Tendenz zur Anthropo-
morphisierung von Figuren. Figuren wahrzunehmen heißt, »stilisierte
Darstellungen« »als artifizielle Präsenz einer Figurenintention« (393)
zu deuten. Venus macht deutlich, dass man nicht von »einem ge-
Rainer Leschke
26
schlossenen Formenset« der Erscheinungsformen von Figur ausgehen
könne, sondern nur von einer »ungeordneten offenen Menge gat-
tungsspezifischer Formevidenzen« (395). Diese Formevidenzen leitet
er aus der Peirceschen Entfaltung der Dimensionen des Zeichens ab.
Venus rekonstruiert damit ein Gerüst von Paradigmen, an denen »sich
die Beschreibung von Figurenformen zu orientieren hätte« (403).
Zugleich verdeutlicht Jochen Venus die enorme medienwissenschaft-
liche Bedeutung der Kategorie der Figur, behaupten doch gerade
Medienästhetik und Medienkultur mit der »Darstellung von Subjekti-
vität und Handlungsträgerschaft« (403) und damit mit der Figuren-
darstellung wenigstens eine relative Eigenständigkeit gegenüber der
ökonomischen und sozialen Konditionierung des Mediensystems.
Das, als was sich vor diesem Hintergrund die unterschiedlichen
Figurenmodelle der verschiedenen Medien in dem gegenwärtigen
komplexen Mediensystem herausstellen, ist trotz ihrer grundsätzli-
chen Konstruiertheit weder ein ganzheitliches System, noch eine
hierarchische Struktur oder lineare Entwicklung oder sonst eine
transparente Dynamik. Vielmehr hat man es mit einem komplexen
Netz von interferierenden Bezügen, Migrationsbewegungen, Inten-
tionen und Unterscheidungen zu tun, die nicht zuletzt aufgrund der
vergleichsweise elastischen Beziehungen einen weitgehend unpro-
blematischen Funktionsprozess sowohl auf der Ebene der Produktion
wie der der Rezeption gestatten. Viele der Bezüge zwischen den di-
versen Figurenkonzepten der unterschiedlichen Medien sind dabei
von Analogiekonstruktionen (Leschke 2010, 119ff, 174, 203) getrie-
ben, die den Figurenmodellen ihre anthropomorphen Konstruktionen
nahelegen und sie mir jener Natürlichkeit ausstatten. Und gerade
diese scheinbare Natürlichkeit der Medienfigur ist es auch, die sie so
nachhaltig vor einer Rekonstruktion abgeschirmt hat. Was man also
letztlich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Figur im
Mediensystem findet, ist kein System, sondern vielmehr eine Topo-
graphie der Medienfigur, die es gilt – und das ist das Ziel der Auto-
rinnen und Autoren dieses Bandes – differenziert zu beschreiben.
Literatur
Benjamin, Walter (1973): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit. 11. Aufl., 68.-73. Tsd. Frankfurt a.M.
Leschke, Rainer (2010): Medien und Formen: Eine Morphologie der Medien.
Konstanz.
27
I. Morphologie der Figur
29
Rainer Leschke
Die Figur als mediale Form
Überlegungen zur Funktion der Figur in den Medien
Wenn Figuren einerseits in praktisch allen Medien vorkommen und
damit geradezu eine Universalie des Mediensystems sind und sie auf
der anderen Seite in den verschiedenen Medien sehr unterschiedliche
Erscheinungsformen annehmen, dann hat man es bei der Figur mit
einer Kategorie zu tun, die mit ihrer Kombination von Varianz und
Kontinuität eine enorme Integrationskraft im Mediensystem entwic-
kelt hat. Den Mechanismen, die diese erstaunlich elastische Dialektik
von Varianz und Kontrolle eines Konzepts ermöglichen, soll im Fol-
genden nachgegangen werden.
Es geht dabei um die kategoriale Logik des Konzepts, die gerade
angesichts der aktuellen Dynamiken des Mediensystems, also ange-
sichts des Verlusts der Identität der Einzelmedien in ihrer universalen
Vernetzung, der zahllosen Hybridformen und der Auflösung der
Grenzen von Produktion und Konsumtion sowie der von Fiktion und
Dokumentation eine so enorm gesteigerte Bedeutung erlangt hat. Die
Dynamik und Flexibilität des Konzepts der Figur hat daher eine für
das aktuelle Mediensystem geradezu paradigmatische Qualität ge-
wonnen. Zugleich handelt es sich um ein Konzept, das quasi histo-
risch mit dem Mediensystem mitgewachsen ist und auf den unter-
schiedlichen historischen Stufen unterschiedliche Modellierungen
erfahren hat.
Die Morphologie der medialen Form der Figur gewinnt daher nicht
zuletzt auch einen paradigmatischen Status für die Beschreibung des
Mediensystems selbst. Der Formwandel und seine charakteristischen
Dynamiken und Entwicklungen, die das Konzept der Figur in seinen
Repräsentationen in den unterschiedlichen Medien durchgemacht hat,
haben mittlerweile nahezu alle anderen Elemente des Mediensystems
gleichermaßen erfasst: Formate, Narrationen, Stoffe, Motive, Dar-
stellungsformen und Ästhetiken sind enorm dynamische Austausch-
Rainer Leschke
30
beziehungen im Mediensystem eingegangen. All diese Elemente des
Mediensystems bewegen sich nahezu unbegrenzt in diesem System
und operieren dabei mit einem Formwandel, der die Form der Figur
quasi immer schon kennzeichnete.
Figur als mediale Form stellt zunächst einmal eine Art begriffliches
Re-Entry1 dar, also die Anwendung eines Begriffes auf sich selbst.
Figur wird, darauf weist bereits Dierse im historischen Wörterbuch
der Philosophie hin, häufig »synonym mit ›forma‹ verwandt […] für
äußere Gestalt, Aussehen, Form, Erscheinung« (Dierse 1972, 948).
Auch Auerbach bezeichnet als Figur im rhetorischen Sinne »jede
Formung der Rede« (Auerbach 1938, 448) und verweist zugleich auf
den Zusammenhang von Figur als allgemeiner Gestaltbegriff und
forma (Auerbach 1938, 456). Formen der Figur wären damit nichts
anderes als eben Figuren der Figur und das klingt zunächst einmal
nach einem schlechten Pleonasmus. Zudem ist das Risiko solcher
Wiedereinspeisungen von Kategorien in ihren eigenen Verlauf be-
kannt, drohen doch vor allem Zirkularität und Begründungslosigkeit.
Dennoch soll gerade dieses Re-Entry Programm sein. Denn die
Formen der Figuren bieten zugleich eine enorme Chance: Sie markie-
ren ebenso die zentrale Stelle im Konzept von Form wie in dem von
Figur und sie bringen damit die formästhetischen Fragestellungen
zumindest für die Medientheorie auf den Punkt. Formen der Figur
beschäftigt sich also mit den Typen und Funktionen von Figur in den
verschiedenen Medien historischer und gegenwärtiger Mediensy-
steme und die Anwendung des Begriffs auf sich selbst ist allein schon
deshalb nicht heillos, weil die Selbstanwendung des Begriffs nicht
auf eine Wesensbestimmung von Form und Figur aus ist, sondern
Typologien und Strukturen im Mediensystem zu erfassen sucht. Die
Formen der Figur bewegen sich immer schon in einer anderen Grö-
ßenordnung, als es die einzelnen historischen Medienfiguren tun. Es
geht nicht um Einzelfiguren, wie prominent diese auch immer sein
mögen, sondern es geht um das Prinzip von Figur in den unterschied-
lichen Medien.
Denn offensichtlich muss den verschiedenen Figuren im
Mediensystem etwas gemeinsam sein, wäre doch ansonsten der Be-
1 Zwar wird der Begriff des Re-Entry bei Niklas Luhmann – und in George Spencer-
Browns Laws of Form (vgl. Spencer-Brown 1999, XXX u. 60 ff) – auf Unterscheidungen
angewandt und nicht auf Begriffe, dennoch ist die ‚Figur‘ des Arguments prinzipiell die-
selbe, nämlich Selbstapplikation und damit drohen Redundanz und Begründungslosigkeit.
Die Figur als mediale Form
31
griff der Figur kaum zu rechtfertigen. Man befindet sich also bei der
Reflexion der Formen der Figur immer schon oberhalb der konkreten
einzelnen Figur eines Mediums und unterhalb der Debatte um Me-
dialität an sich, ja selbst noch unterhalb der Ebene des einzelnen
Werkes. Man hat es von daher bei den Formen der Figur mit mittle-
ren Größen2 zu tun, die zwar immer schon abstrakt sind, die aber
dennoch auf keine Letztgrößen zielen. Und in diesem Feld der mittle-
ren Größen funktioniert eben vieles, was bei Letztgrößen nicht funk-
tioniert, so auch die widerspruchsfreie Selbstanwendung. Letztgrößen
lassen kategoriale Selbstanwendungen schwierig werden – und das ist
dann eben auch das Problem bei Luhmann –, bei mittleren Größen
hingegen handelt es sich nur um unterschiedliche Größenordnungen
eines Begriffs. Und diese Größenordnungen sollen beobachtet und in
ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden.
Im Übrigen verfügt die Auffassung von Figur als Kategorie mittle-
rer Größe bereits über eine gewisse Tradition, ja vielleicht handelt es
sich um dasjenige, was den Begriff attraktiv werden lässt. Wenn
Platon den Begriff der Figur im Menon thematisiert, dann ist Figur
zunächst einmal Begriff, weil es so viele unterschiedliche davon gibt
und es um die Natur dieses Vielen gehen soll. Wenn »das Gerade
ebensogut Figur sei als das Runde« (Platon 388, 14), dann stellt sich
offensichtlich die Frage nach dem integrierenden Begriff. Und dieser
sei im Fall der Figur offensichtlich leichter zu finden als etwa in dem
der Tugend, bei deren Bestimmungsversuch die Figur ausgerechnet
als didaktisches Exempel auftaucht. Dabei soll dem Begriff der Figur
offensichtlich ein solcher integrierender Status zukommen: Von dem
bei möglichen tugendhaften Erscheinungen gegebenen »Schwarm«
(Platon 388, 11) recht diffuser Zuordnungen bleibt im vergleichs-
weise einfachen, da einsichtigen Fall der Figur nurmehr »die Grenze
des Körpers«3 (Platon 388, 16) und damit eine vergleichsweise
eindeutige Bestimmung4 übrig. Bei der Figur geht es also darum,
einen Schwarm von Attributen auf einen ebenso einfachen wie evi-
2 Die Kategorien mittlerer Größen verweisen im Übrigen bereits ansatzweise auf ein Kon-
zept wie das der figuralen Bedeutung, das auch zwischen dem einfachen Wortsinn und
abstraktem Begriff und damit in einer mittleren Ebene positioniert ist.
3 »Von jeder Figur nämlich behaupte ich: was den Körper begrenze, das sei Figur, oder
kurz gefaßt, Figur sei die Grenze des Körpers« (Platon 388, 16). Im Übrigen scheinen sich
die verschiedenen Übersetzungen nicht so recht zwischen Figur und Gestalt entscheiden zu
können. In der Schleiermacher Übersetzung figuriert die Figur stets als Gestalt.
4 Im Gegensatz zum Begriff der Tugend verfügt die Kategorie der Figur zudem offensicht-
lich auch noch über den Vorzug der Lehrbarkeit.
Rainer Leschke
32
denten Begriff zu bringen. Figur bildet bei Platon ein Beispiel für
eine ideell abgerüstete, da auf die bloße Anschauung gebrachte Kate-
gorie. Figur als Körpergrenze scheint damit insgesamt eine recht
klare Angelegenheit darzustellen, über die es sich kaum nachzuden-
ken lohnt, hielt Platon es doch immerhin für möglich, den Begriff
selbst noch einem Sklaven und damit dem historischen Repräsentan-
ten überzeugend einfacher intellektueller Ausstattung begreiflich zu
machen.
Dass die Dinge doch nicht ganz so einfach liegen, machte schon
Aristoteles deutlich, wenn er von Schlussfiguren ausgeht. Figuren
bezeichnen dann Formen der Argumentation.5 Die Figur bleibt damit
nicht mehr auf die Statik der Körpergrenze beschränkt, sondern sie
wird in die Zeit projiziert und unterläuft damit jene hoffnungsvolle
didaktische Einfachheit. Sie entzieht sich dieser Unmittelbarkeit vor
allem deshalb, weil dasjenige, was hier unter Figur verhandelt wird,
nicht mehr unmittelbar der Anschauung zugänglich ist. Figur löst sich
damit nicht nur von der Statik, sondern eben auch von der Evidenz
und wird Struktur. Einheiten jenseits einfacher Anschauung und
Zeitlosigkeit6 sind zweifellos komplexer als es Platon noch vorge-
schwebt haben mag. Die Lösung des Begriffs der Figur von der Un-
mittelbarkeit ist zugleich die Voraussetzung seiner rhetorischen
Funktion. Wenn Figur die Form eines Schlusses darstellen soll, dann
fungiert Figur als festgelegte, wiedererkennbare, ja gegebenenfalls
sogar eindeutig identifizierbare Struktur. Struktur wäre dann also
dasjenige, was dem Begriff der Figur Kontur verliehe. Zugleich sind
Figuren keine Zeichen, sondern bloß wahrscheinlich.
»Das Wahrscheinliche und das Zeichen sind nicht das-
selbe« (Aristoteles 1995, 145).7
5 »Auch sieht man, daß alle Schlüsse in dieser Figur vollkommen sind; denn alle werden
durch das zu Anfang Angenommene vollendet; endlich, daß durch diese Figur alle Pro-
bleme, d.h. alle Sätze, nach denen man fragen kann, bewiesen werden: daß etwas jedem
und keinem zukommt, daß es einem zukommt und daß es einem nicht zukommt. Eine
solche Schlußfigur nenne ich die erste« (Aristoteles 1995, 9).
6 Das Moment der Abstraktion und Zeitlosigkeit findet im Übrigen auch bei Augustin
Verwendung: »Obwohl Augustin die allegorische Deutungsweise ablehnt, ›so besitzt er
doch eine Idealität, die das konkrete Ereignis, so vollständig es auch erhalten bleibt, als F.
aus der Zeit heraus und in die Perspektive der Jederzeitlichkeit und Ewigkeit versetzt‹«
(Dierse 1972, 949).
7 Allerdings gilt das auch nicht für geometrische Figuren, die nicht Zeichen, aber dennoch
berechenbar und daher gerade in ihrer Form streng sind.
Die Figur als mediale Form
33
Figuren sind andererseits stets mehr als Zeichen: Sie bewegen sich
nämlich systematisch oberhalb der Ebene von Zeichen8, indem sie die
Strukturen von Elementen bezeichnen. Wir haben es bei Figuren also
inzwischen mit einem Feld zu tun, das von Körpergrenzen bis hin zu
charakteristisch dynamisierten abstrakten Strukturen reicht. Und in
dem Moment, in dem wie bei Plotin9 auch noch der Tanz figurfähig,
also als Figur begriffen wird, finden Form und Bewegung zusammen
und die dynamisierte abstrakte Struktur gewinnt wieder Evidenz und
Gestalt.
Damit wären bereits einige Dimensionen des Begriffs der Figur
einigermaßen ausgelotet: Figuren sind in jedem Fall begrenzt und das
Objekt der Begrenzung kann von Körpern bis hin zu Bewegungen
und Abläufen definierter Elemente reichen. Zugleich weist der Be-
griff der Figur von Anfang an eine konstitutive Nähe zum Konzept
der Gestalt auf, was ja bereits bei Platons Modell der Körpergrenze
anklang. So wird Figur auch konkret »von Varro etymologisch ge-
deutet als das, was der Bildhauer (fictor) herstellt« (Dierse 1972,
948).
Damit haben sich im Wesentlichen zwei Figurenkonzepte herauskri-
stallisiert: nämlich Figur als begrenzte Gestalt und Figur als charak-
teristisch begrenzte Dynamik. Beide Modelle von Figur verfügen
über mediale Relevanz: Die am Tanzmodell aufgehängte charakteri-
stische dynamische Form, wie sie bei Erzählverläufen, Spieldynami-
ken und Rhythmen auftaucht, wird ebenso als mediale Figur begriffen
wie die diversen Gestalten der ‚dramatis personae‘, die in dramati-
schen, narrativen und interaktiven Kontexten erscheinen.
Offensichtlich ist zugleich, dass der Figur die Grenze wesentlich
ist: Sowohl die Gestalt als auch die Dynamik sind Figur nur, soweit
sie über einigermaßen überschaubare Grenzen verfügen. Die Grenze
8 Auch wenn der englische Begriff figure Zahlzeichen meint, soll, da alle sonstigen Begriffe
von Figur auf Strukturen also auf einen charakteristischen Zusammenhalt von Elementen
verweisen, Struktur als Kriterium von Figur benutzt werden.
9 »Da nun der Himmelsumschwung nichts willkürliches hat, sondern gemäß der Vernunft
des Gesamtorganismus abläuft, so musste es auch einen Einklang geben des Wirkenden mit
dem erleidenden, eine bestimmte Ordnung, die sie ineinander und zueinander fügt, derart,
daß jeder Stellung des Himmelsumlaufes und der darunter befindlichen Himmelskörper
jeweils ein bestimmter Zustand entspricht. So führen alle Dinge im Chor gleichsam einen
einzigen Reigen auf. Auch in den Tänzen bei uns ist es so; […]. Die Glieder aber des
Tänzers können unmöglich in jeder einzelnen Figur im gleichen Zustand sein; sein Leib
gibt dem Tanz nach und beugt sich, das eine seiner Glieder wird gestrafft, das andere
gelockert, das eine strengt sich an, das andere hat entsprechend der jeweils verschiedenen
Tanzfigur Ruhe« (Plotin 1962, 327).
Rainer Leschke
34
sorgt dafür, dass es sich dann bei Figuren zwangsläufig um erkenn-
bare Entitäten handeln muss. Insofern liegt das Konzept des Indivi-
duums, das Schelling mit der Figur in Verbindung bringt, diesen Vor-
stellungen auch nicht allzu fern.
„Der erste Übergang zur Individualität ist also Formung
und Gestaltung der Materie. Im gemeinen Leben wird al-
les, was von sich selbst oder durch Menschenhand Figur
erhalten hat, als Individuum betrachtet oder behandelt. Es
ist sonach a priori abzuleiten, daß jeder feste Körper eine
Art von Individualität hat, sowie, daß jeder Übergang aus
flüssigem in festen Zustand mit einer Anschießung, d.h.
Bildung zu bestimmter Gestalt, verbunden ist; denn das
Wesen des Flüssigen besteht eben darin, daß in ihm kein
Theil angetroffen werde, der vom andern durch Figur sich
unterscheide (in der absoluten Continuität, d.h. Nichtindi-
vidualität seiner Theile), dagegen je vollkommener jener
Proceß des Übergangs ist, desto entschiedener die Figur
des Ganzen nicht nur, sondern auch der Theile« (Schelling
2000 [1798], 207).
Figur hat insofern etwas mit Individuen, zumindest aber mit Einhei-
ten zu tun. Figur kombiniert Einheit und Struktur und d.h., Figuren
sind in der Regel Einheiten aus zusammengesetzten Elementen. Be-
denkt man noch, dass der Grenze eine besondere Aufmerksamkeit
gilt, ja dass sie nicht nur gelegentlich ästhetisiert wird, dass sie zu-
mindest aber eine gewisse Qualität, nämlich Prägnanz, aufweisen
muss, dann wird die herausgehobene Bedeutung der Begrenzung für
die Figur deutlich. Prägnanz und Ästhetik sind dabei nur die Bedin-
gungen der Möglichkeit einer ganzheitlichen Wahrnehmung von
Figur, auf die es offenbar ankommt. Die ganzheitliche Erfassung gilt
sowohl für dynamische Figuren, wo sie an deren Durchlauf gebunden
ist, wie für die ziemlich statischen Körpergrenzen. Figuren sind also
nicht beliebige Strukturen, sondern solche, die mit ihren Wahrneh-
mungsbedingungen so rückgekoppelt sind, dass sie selbst in diffusen
Umgebungen eindeutig erkennbar sind und damit zugleich als probate
Komplexitätsreduktionen fungieren können.
Das ganzheitliche Erfassen einer Entität wie der Figur hat zunächst
einmal eine Ordnungsfunktion. Figuren strukturieren Material, wie-
wohl sie immer schon selbst Struktur sind. Figuren fungieren damit
Die Figur als mediale Form
35
einerseits als Komplexitätsreduktionen, andererseits als mögliche
Referenzpunkte. Beides bestimmt die möglichen Leistungen von
Figur: Immer wenn in Medien wahrnehmbare Komplexitätsreduktio-
nen und Referenzpunkte von Nöten sind, dann sind offenbar auch
Figuren zur Stelle.
Begriff und Funktion sind, und das wird nicht zuletzt beim Begriff
der Figur deutlich, grundsätzlich zu trennen: So gelingt es dem Figu-
renbegriff offenbar, seine Ordnungsfunktion trotz seiner offensichtli-
chen Unschärfe auszuüben. Der Begriff der Figur nomadisiert durch
äußerst unterschiedliche Bezugssysteme, die immerhin von Mathe-
matik und Logik bis zu Narration und Computerspiel reichen. Kant
brachte ihn sogar mit etwas rein Mechanischem wie einer Maschine
in Verbindung, was erst unter den Konditionen digitaler Interaktivität
und Programmcodes wieder einigermaßen verständlich werden
könnte:
»Ein Körper (oder Körperchen), dessen bewegende Kraft
von seiner Figur abhängt, heißt Maschine« (Kant 1997,
87).
In jedem Fall funktioniert der Begriff der Figur einerseits aufgrund
seiner spezifischen Unschärfe und seines reichlich offenen Horizonts,
andererseits weil er als Konzept selbst offenbar über Formqualitäten
und damit über Strukturierungsleistung verfügt. Augenscheinlich ist
es ausgerechnet diese formierende Unschärfe, die ihn attraktiv
macht.10 Die Qualität, die der Unschärfe inhäriert und die sie gerade
für mediale Kontexte so geeignet erscheinen lässt, ist die der Über-
tragbarkeit und der gleichzeitigen Kenntlich- und Wahrnehmbarkeit.
Das offene Konzept von Figur, das einzig von den Bedingungen der
Begrenzung und Struktur zusammengehalten wird, stellt an seinen
Transfer in andere Umstände und somit auch in andere mediale Um-
gebungen keine sonderlichen Anforderungen. Kurz, Figuren sind ein
Konzept, das leicht übertragbar ist, und in einem Mediensystem, das
sich bemüht, sich vor allem durch die enormen Unterschiede der di-
versen Medien auszuzeichnen, ist gerade diese allseitige Einsetzbar-
und Transferierbarkeit einer Kategorie ein nicht zu unterschätzender
Vorteil. Diese leichte Übertragbarkeit hat sogar einen eigenen Rezep-
10 Das gilt nicht allein für den Begriff der Figur, sondern es betrifft noch eine ganze Reihe
weiterer grundlegender medienwissenschaftlicher Begriffe wie Interaktivität, Information
und Kommunikation (vgl. Kolb/Leschke/Schemer-Reinhard 2008).
Rainer Leschke
36
tionsmodus hervorgebracht, dem es um die Rekonstruktion des Unei-
gentlichen der Rede zu tun ist: nämlich die Figuraldeutung, mit der
Auerbach sich beschäftigt:
»Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen
zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von
ihnen nicht nur nicht sich selbst, sondern auch das andere
bedeutet, das andere hingegen das eine einschliesst oder
erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen
aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, inner-
halb der Zeit; sie sind beide, wie schon mehrfach betont
wurde, in dem fließenden Strom enthalten, welcher das ge-
schichtliche Leben ist, […]« (Auerbach 1938, 468).
Die Figuraldeutung gehört, insofern sie »ein Ding für das andere
setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, […] zu den alle-
gorischen Darstellungsformen« (Auerbach 1938, 468). Dass ein Ding
im Lichte eines anderen einen anderen Sinn annehmen kann und da-
mit vom Ding zur Figur eines Dings avanciert und die involvierten
Akteure zugleich über einen historischen Status verfügen, also reale
Ereignisse sind, schränkt die Bedingungen für die Figuraldeutung
zwar nachhaltig ein, weist der Figur jedoch eine bestimmte Position
zu die in ihrer Interpretation als mediale Form wenigstens implizit
wieder auftauchen wird: die Abstraktion vom konkreten Ding und die
gleichzeitige Bindung ans konkrete Objekt. Die Abstraktion ist dabei
das Resultat eines schlichten Vergleichs und das Figurale ist dabei
dasjenige, was das Resultat darstellt.
Die Figur als mediale Form
37
Form und Symbol
Selbst wenn die Figur als Begriff zunächst einmal unterbestimmt
erscheinen mag und er eine vergleichsweise geringe Eigenkomplexi-
tät aufweist, so macht das die Dinge doch noch längst nicht einfach.
Zwar erleichtert die Offenheit prinzipiell den Transfer, dennoch sagt
die Offenheit allein noch recht wenig über den Funktionsprozess der
Übertragung von Konzepten selbst aus. Bei der Analyse des Transfers
eines Konzepts wie desjenigen der Figur zwischen unterschiedlichen
Medien muss der Typ von Kategorie, die gleichsam quer zu den Me-
dien steht und dennoch über prägende Kraft verfügt, erfasst werden.
Die Kombination von Strukturierungsleistung und Prägung, die zu-
dem noch davon ausgeht, dass das Modell nicht allein ist, sondern
funktionale Alternativen existieren, verweist zunächst einmal an
Cassirers Konzept symbolischer Formen. Nun greift Cassirer für
medienwissenschaftliche Verhältnisse zweifellos weit aus, denn im-
merhin beginnt er seine Philosophie der symbolischen Formen wie
folgt:
»Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation
wird durch den Begriff des Seins bezeichnet« (Cassirer
1923a, 3).
Und das Modell der symbolischen Formen setzt auch genau hier an,
nämlich bei den möglichen Auffassungen und Konstruktionen des
Seins. Cassirer geht aber im Gegensatz zu anderen Spekulationen
über das Sein wie etwa denen Heideggers nicht von privilegierten
oder gar einer einzig sinnvollen bzw. einer einzig möglichen Auffas-
sung dieses Seins aus, sondern er nimmt an, dass sich verschiedene,
aber prinzipiell gleichberechtigte Typen der Konstruktion und Re-
konstruktion von Welt unterscheiden lassen. Es handelt sich also bei
den symbolischen Formen um ein Set von nicht hierarchisierbaren,
verschiedenen Weisen des Weltzugangs:
»Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion
des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-reli-
giösen Denkens und die Funktion der künstlerischen An-
schauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird,
wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht
sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu
Rainer Leschke
38
einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objekti-
ven Anschauungsganzen sich vollzieht. Die Kritik der
Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur« (Cassirer
1923a, 11).
Nun haben diese unterschiedlichen Modi des Weltzugangs offen-
sichtlich noch nichts mit dem Konzept der Figur zu tun. Cassirers
exklusiver Club von Typen der Weltkonstruktion sieht nicht nur das
Modell der Figur nicht vor, er operiert auch in einer ganz anderen
Größenordnung. Bei Cassirer handelt es sich durchaus um Letztkate-
gorien und d.h. um Konzepte, die sich nicht nur konstitutiv und irre-
duzibel von einander unterscheiden und die daher auch nicht auf ein-
ander zu reduzieren sind, sondern es handelt sich vor allem um ein
mehr oder minder invariantes und daher ontologisierbares Ensemble
von Formen. Wenn dieses Modell der symbolischen Formen aber von
Cassirer als prinzipiell geschlossene Gesellschaft konzipiert wird und
Figuren es bei ihm aus angesichts seines Erwartungshorizonts durch-
aus verständlichen Gründen nicht zur symbolischen Form gebracht
haben, dann stellt sich die Frage nach dem, was das Konzept der Fi-
gur offenbar so spontan zu leisten im Stande ist, es stellt sich die
Frage nach einem möglichen Transfer des Konzepts. Die Frage ist
also, ob man Cassirers Konzept nicht auch ein wenig kleiner und
damit in der Größenordnung jener eingangs erwähnten mittleren Grö-
ßen haben kann.
Allerdings sieht Cassirer selbst einen solchen Transfer seiner sym-
bolischen Formen in kleinere Verhältnisse nicht vor. Sein Problem ist
anderer Art, sucht er doch die Universalität und Vollständigkeit sei-
ner symbolischen Formen als Weltkonstruktionen unter Beweis zu
stellen. Nun machen Figuren sicherlich noch keine Welt, ja noch
nicht einmal ein einigermaßen vollständiges Medienprodukt, zugleich
aber sind Figuren zweifellos Formen und zwar Formen, die mediale
Konzepte und Darstellungsmöglichkeiten präformieren.
Figuren verfügen also über eine charakteristische prägende Kraft,
die die Medienprodukte zwar nicht vollständig determinieren, aber
doch immerhin weitreichend beeinflussen. So lassen sich etwa Nar-
rationen oder Dramen ohne das Konzept der Figur kaum sinnvoll
denken. Figuren prägen also die Entitäten, in denen sie sich bewegen,
und in dieser Hinsicht tun sie es durchaus den symbolischen Formen
gleich. Zumal sie auch ein ähnliches Verhältnis zu singulären Phä-
nomenen unterhalten. Figuren lassen sich wie symbolische Formen
Die Figur als mediale Form
39
»als gewisse Weisen der ›Objektivierung‹ bezeichnen: d.h. als Mittel,
ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; […]«
(Cassirer 1923a, I, 8). Beide sind insofern in jedem Fall zunächst
einmal Instrumente der Generalisierung und der Abstraktion. Zu-
gleich wird beiden Konzepten eine prägende Kraft zugeschrieben.
Benötigt wird also ein theoretisches Modell der symbolischen For-
men unterhalb symbolischer Aufladung und Universalisierung. Es
geht um das Konstruktionsprinzip und nicht um das komplette Sy-
stem Cassirers. Dieses Konstruktionsprinzip hat Erwin Panofsky
relativ hemdsärmelig und quasi intuitiv isoliert, als er die Perspektive
als symbolische Form rekonstruierte. Panofsky übernahm kurzent-
schlossen jenen »glücklich geprägten Terminus« (Panofsky 1985
[1924/25], 108) Cassirers und macht damit etwas vollkommen ande-
res, indem er quasi eine symbolische Form innerhalb einer symboli-
schen Form installierte. Denn da die Kunst selbst als eine symboli-
sche Form bereits vorgesehen ist, handelt es sich bei dem, was
Panofsky beobachtet, um eine Form-in-der-Form-Konstruktion und
damit um ein Verhältnis, das Cassirers Konstruktion in ziemliche
Schwierigkeiten bringt. Panofsky wandte in einer Verdopplung, die
bei Cassirer nirgends vorgesehen war, das Verfahren nochmals auf
sich selbst an. Er übertrug also eine Konstruktion nicht nur auf einen
nicht vorgesehenen Gegenstand, sondern er arbeitete vor allem mit
einer anderen Größenordnung. Und in dieser letzten Transformation,
dem Heruntertransformieren der universalen Weisen der Weltrekon-
struktion auf medial bedingte Darstellungs- und Anschauungsformen,
scheint das Entscheidende zu passieren: Panofsky interpretiert die
symbolischen Formen nicht mehr als die mehr oder minder ontologi-
sierbaren Formen eines Geistes, sondern als einen spezifischen Typ
von Relation: Nämlich als ein Set von denkbaren und prinzipiell
gleichwertigen Formen von Bezügen zwischen Subjekten und Ob-
jekten, wobei die Objekte durch die Relation weitgehend konstituiert
werden.
Mit dem mit diesem Wiedereintritt der Relation in ihr Objekt ver-
bundenen Zurückfahren der Größenordnung verliert der Vorgang
tendenziell an Generalität, jedoch keineswegs an Bedeutung: Zwar ist
bei der Perspektive immerhin ein Wechsel von Raumkonzepten im
Spiel, etwa der vom »Aggregatraum« zum »Systemraum« (Panofsky
1985 [1924/25], 109), aber zugleich handelt es sich keineswegs um
einen Austausch zwischen symbolischen Formen in den Dimensionen
Cassirers. Vergleichbares gilt für das Konzept der Figur, denn auch
Rainer Leschke
40
dieses bewegt sich mit Sicherheit unterhalb der Dimensionen symbo-
lischer Formen und ob ein Wechsel des vielleicht noch einigermaßen
vergleichbaren Konzepts von Person hierbei im Spiel ist, bleibt noch
unklar. Insofern wird von den Formen der Figur selbst das Niveau der
von Panofsky heruntertransformierten symbolischen Formen, bei dem
es sich ja immer noch um den Austausch von »Weltvorstellung(en)«
(Panofsky 1985 [1924/25], 110) handelt, allenfalls in Ansätzen er-
reicht.
Die neuerliche Anwendung eines Konzepts auf sich selbst, wie sie
Panofsky für die Perspektive als symbolische Form anstrengt, be-
zeichnet im Prinzip ja auch genau das, was mit den Formen der Figur
angedacht wird. Dass es sich dabei keineswegs um einen argumenta-
tiven Zirkel und damit ein begründungslogisches Problem handelt,
hat damit zu tun, dass hier zwar eine Form auf eine Form angewendet
wird, nicht aber dasselbe in dasselbe kopiert werden soll, also die
Identität beider Formbildungsprozesse behauptet wird. Es geht viel-
mehr darum, dass die Kategorie Figur als mediale Form begriffen
werden soll.
Dabei sind zwei Operationen zu unterscheiden: die Verdichtung
der diversen Einzelerscheinungen von Figur in den singulären Medi-
enprodukten zu einem Konzept von Figur, das für ein einzelnes Me-
dium Geltung zu beanspruchen vermag, und die Verdichtung der an
unterschiedlichen Medien beobachteten Modelle von Figur zu einer
generellen Form des medialen Konzepts Figur. Man hat es also mit
zwei differenten Formbildungsprozessen zu tun: Dem Auffassen von
Einzelphänomenen ohne kategorialen Status, also Individuen, als
Elemente von Form und dem Synthetisieren dieser unterschiedlichen
Formen von Figur in den verschiedenen Medien zu einem Konzept
von Figur für das Mediensystem.
Beide Formprozesse operieren, wiewohl es in beiden Fällen um
Form geht, mit grundsätzlich verschiedenen Objekten, nämlich in
einem Fall mit singulären Erscheinungen und im anderen Fall mit
Kategorien, und diese konstitutive Differenz sorgt für die Wider-
spruchsfreiheit dieses Konzepts. Es geht also in beiden Fällen um
Formbildung, allerdings um Formbildung auf unterschiedlichem Ni-
veau und das macht die Angelegenheit zumindest logisch harmlos.
Panofsky greift demgegenüber ziemlich weit aus, die Begriffsar-
beit, an deren Ende die jeweils unterschiedlichen Modelle von Per-
spektive stehen, ist weitgehend geleistet und es geht vor allem darum,
die vorhandenen Modelle selbst als Form aufzufassen. Die Blaupause
Die Figur als mediale Form
41
dafür lieferte Cassirers Konzept der symbolischen Formen, so dass
Panofsky ein auf Universalität ausgelegtes Konzept mit einfachen
Kategorien quasi in der Mitte zusammenzuschrauben versuchte, was
zwangsläufig entweder die Kategorien überstrapaziert oder aber die
Universalität empfindlich ramponiert. Dass Panofsky dabei höher
ansetzt, als es für ein Modell der Figur überhaupt von Nöten ist, wird
allein schon daran deutlich, dass neben dem prinzipiellen Nachweis,
dass es sich bei der Zentralperspektive nicht um irgendeine Annähe-
rung an Natur oder Realität, sondern um Konstruktion und damit um
Form handelt, vor allem deviante oder unvollständige Perspektivkon-
struktionen (vgl. Panofsky 1985 [1924/25], 115ff) sein analytisches
Interesse gewinnen und sich dabei das Interesse nicht auf die analy-
sierten Objekte selbst, sondern auf die Stadien des Übergangs von
einem Modell perspektivischer Konstruktion zu einem anderen rich-
tet.
Das Interesse an Hybridformen ist einerseits charakteristisch für
eine formästhetische Analyse, die durch den funktionalen und ästheti-
schen Vergleich Formen und den systematischen Zusammenhang
zwischen diesen zu gewinnen sucht, es markiert aber auch zugleich
einen grundlegenden Unterschied gegenüber Cassirers Konzept, da
eben nicht von einer konstitutiven Differenz und Abgeschlossenheit
der symbolischen Formen untereinander ausgegangen wird, sondern
nur die Innenverhältnisse einer Form, nämlich die der Perspektive,
zum Gegenstand der Betrachtung werden. Diese Innenverhältnisse
der medialen Form Perspektive, die Panofsky faktisch untersucht,
bewegen sich auf derselben Ebene, auf der die Formen der Figur
operieren, und sie haben nichts mit dem System symbolischer For-
men zu tun, um das es Cassirer geht.
Von den symbolischen Formen bleibt also nur die Form, das
Symbolische geht auf das Konto des Universalitätsanspruchs und der
steht auf dem Feld medialer Formen nicht zur Debatte. Insofern las-
sen sich die Funktionsprozesse übertragen, nicht jedoch der Aussage-
horizont und der Geltungsanspruch. Und diese internen Formverhält-
nisse entsprechen exakt dem, was mit den Formen der Figur ange-
dacht ist. Die Perspektive ist in diesem Sinne mediale und nicht sym-
bolische Form und sie ist darin durchaus der Figur als Form ver-
gleichbar. Das gilt auch dann, wenn wie bei der Figur noch nicht auf
bereits einigermaßen konventionalisierte Begriffskonzepte auf der
Ebene der einzelnen Medien zurückgegriffen werden kann und diese
selbst erst entwickelt werden müssen. Insofern muss im Bereich der
Rainer Leschke
42
Figur das Panofskysche Modell zunächst einmal von unten her auf-
gepolstert werden, bevor die analogen Anstrengungen zur Erfassung
der Formen der Figur unternommen werden können. Das Modell von
Figur ist daher selbst erst für die jeweiligen Medien zu entwickeln,
bevor es als mediale Form zur Debatte steht.
Es geht insofern bei den Formen der Figur nicht um den Austausch
oder die Verabschiedung von Weltvorstellungen, sondern um medi-
enästhetische Darstellungs- und Anschauungsformen und damit um
Formen mittlerer Reichweite. Allerdings kann deren Verhältnis unter-
und zueinander, sieht man von dem Ausschließlichkeitsanspruch der
Cassirerschen Konstruktion einmal ab, analog zum Modell symboli-
scher Formen rekonstruiert werden. Die Figur ist in diesem Sinne
eine mediale Form, ein Konstrukt, das weitgehend ohne metaphysi-
sche oder ontologische Ambitionen auskommt und das stattdessen
das analytische Potential zu forcieren sucht. Bei medialen Formen
handelt es sich um all diejenigen Darstellungs- und Anschauungsfor-
men, die in den Medien als Lösung für bestimmte Darstellungspro-
bleme emergiert sind und die in der Folge zu Konventionen verdich-
tet wurden. Mediale Formen erwachsen also aus der Formalästhetik
der einzelnen Medien und damit den Konditionen, die die spezifische
Technologie von Medien der medialen Gestaltung auferlegt. Sie gel-
ten daher auch nicht nur für einzelne Werke, sondern sie betreffen die
Bedingungen medialen Erzählens und Spielens insgesamt, vor allem
jedoch die Darstellungsmodi eines Mediums.
Dass Darstellungsprobleme und ihre Lösung in der Regel nicht bei
einem Medium halt machen, sondern dass sie von Medium zu Me-
dium wandern und transferiert oder appliziert werden, liegt nahe.
Mediale Formen sind so zwar in einer spezifischen medialen Umge-
bung entstanden, sie bleiben jedoch nicht zwangsläufig auf diese
beschränkt, sondern sie wuchern üblicherweise über diese hinaus.
Damit gehören die medialen Formen quasi zu den Querverstrebungen
des Mediensystems und auch das Konzept der Figur stellt genau eine
solche Querverstrebung dar. Die Figur ist zweifellos nicht die einzige
mediale Form, die eine solche integrative Funktion im Mediensystem
ausübt, aber sie gehört in jedem Fall zu den prominenteren Vertre-
tern.11
11 Andere vergleichbar bedeutsame, allerdings nicht unbedingt in demselben Maße
ausdifferenzierte mediale Formen wären etwa das Konzept der Autorschaft. Gleichzeitig
gibt es insbesondere mediale Konstruktionsformen wie die diversen dramaturgischen
Formen, Spielformen, Projektions- und Montageformen, die ebenfalls über die Grenzen der
Die Figur als mediale Form
43
Wir haben es also beim Konzept der Figur mit einem Modell zu tun,
das zumindest auf der Ebene des Mediensystems operiert. Der Hori-
zont des Modells der Figur ist daher in jedem Fall weiter, als ein ein-
zelnes Medium reicht, ja er geht teilweise noch über die Grenzen des
Mediensystems selbst hinaus. Allerdings beherrscht die mediale Form
der Figur auch nicht die Weisen unserer Weltauffassung in einem
Umfang, wie ihn Cassirer andachte. In diesem doppelten Bezug me-
dialer Formen, die ihren konkreten Entstehungszusammenhang zwar
einem einzelnen Medium verdanken, die aber immer schon über die-
ses hinausgehen und sich am Mediensystem ausrichten, liegt auch
ihre systematische Unschärfe oder Offenheit begründet. Ohne diese
Unschärfe wäre der Transfer von einem Medium auf ein anderes auch
nicht zu leisten. Wie nun das Entstehen dieser Unschärfe einzuschät-
zen ist, ob sie dem Konzept der Figur von Anfang an – und diese
Anfänge liegen zumindest soweit zurück, wie das Erzählen, die My-
then, figurale Bildlichkeit, ja die Sprache12 selbst reichen – eigen war,
wird sich kaum mehr sinnvoll entscheiden lassen, weil kein auf ein
Medium allein beschränkter Zustand sich auch nur einigermaßen
zuverlässig mehr rekonstruieren lässt. Im Prinzip ist für die mediale
Form der Figur noch nicht einmal ein Ursprungsmedium mit einiger
Sicherheit zu bestimmen. Das Konzept der Figur ist also, solange es
überhaupt zurückverfolgt werden kann, immer schon ein Mediener-
eignis und es bezieht sich daher von Anfang an auf das Mediensy-
stem insgesamt.
Die Unschärfe ist demnach für die Kategorie der Figur konstitutiv
und davon bleibt auch ihr Status als mediale Form nicht ausgenom-
men. Dabei wirkt sich die Unschärfe in mindestens zwei Dimensio-
nen aus: nämlich intermedial und historisch. Dass sich das Konzept
der Figur in der erzählenden Prosa vom Mythos über das Epos bis
zum Roman geändert hat, steht außer Frage, und dass der sehr viel
kürzere Zeitraum, der dem Medium Film bislang zur Verfügung ge-
Einzelmedien hinweg Geltung erlangt haben. Auch rhetorische Figuren wären in diesem
Sinne als mediale Formen aufzufassen, so dass sie nicht nur kategorial zu den Formen der
Figur gehören, sondern auch systematisch keinen Unterschied machen, so dass der begriff-
liche Status der rhetorischen Figur, der bei den Begriffsbestimmungen der Figur in der
Regel nur als Sonderfall behandelt zu werden pflegt, im Konzept medialer Formen einen
wesentlich integrativeren Status erlangt, als das bislang der Fall gewesen sein mag. Mediale
Formen gehören so zu den essentiellen Konstrukten des Mediensystems.
12 Bedeutsam erscheint hier der Zusammenhang von Sprache und dem Konzept der Person
(vgl. Cassirer 1923a, 212ff), das wiederum in Verbindung mit der medialen Form der Figur
gebracht zu werden vermag.
Rainer Leschke
44
standen hat, ebenfalls einige Figurenkonzepte gesehen hat, dürfte
kaum minder fraglich sein. Insofern benötigt das Konzept der Figur
eine prinzipielle strukturelle Elastizität, um in solchen Formänderun-
gen bestehen zu können, und die Leistung von medialen Formen
besteht genau darin, dass sie dazu im Stande sind. Die systematische
Unschärfe imprägniert daher das Konzept der Figur gegen die Un-
wägbarkeiten der Zeitläufe. Umgekehrt ändern sich bei jedem Me-
dienwechsel die formalästhetischen Bedingungen und die mediale
Form muss an diese Bedingungen stets neu adaptiert und rekalibriert
werden. Und dieselben Struktureigenschaften, die gegen die Erosio-
nen der Zeit schützen, ermöglichen auch die Neuorientierung der
medialen Form in einem veränderten Mediensystem.
Um solche durchaus wechselvollen Adaptationsprozeduren tolerie-
ren zu können, benötigen mediale Formen eine spezifische Ausstat-
tung. Mediale Formen gehorchen keinen Entweder-Oder-Bedingun-
gen, sondern sie rekrutieren aus einem Komplex von Merkmalen, die
nicht zwangsläufig alle erfüllt sein müssen, damit die mediale Form
als eine solche erkannt wird und funktioniert.
Formen sind daher Merkmalskomplexe mit unscharfen Rändern,
so dass Formen je nach der Zahl und Intensität der von ihnen reprä-
sentierten Merkmale das ganze Spektrum von diffus bis prägnant ein-
nehmen können. Der Merkmalskomplex versammelt in der Regel um
einen Kern notwendiger Bedingungen, die also zur Identifizierung
der medialen Form unerlässlich sind, eine Aura möglicher Akzi-
denzien13, die in der Lage sind, den Formeffekt zu verstärken, die
aber nicht notwendig sind und ihn daher allein nicht hervorbringen
können.
Prägnanz stellt sich dann ein, wenn nicht nur die notwendigen
Bedingungen erfüllt sind, sondern auch noch eine möglichst große
Zahl weiterer Merkmale hinzutritt und diese notwendigen und mögli-
chen Bedingungen darüber hinaus auch noch eine einigermaßen plau-
sible Einheit zu stiften vermögen. Form ist also das Ergebnis einer
Entscheidung, die über einer gegebenen Auswahl von Merkmalen aus
der Menge möglicher Merkmale dieser Form getroffen wird, und das
bedeutet, dass diese Entscheidungen durchaus unterschiedlich aus-
13 Im Übrigen ist das Verfahren, mit gestaffelten Graden der Verbindlichkeit zu operieren,
um aufgrund der dann gegebenen Kontinua differenzierte Entscheidungsspielräume zu
gewinnen, keineswegs neu. Bereits John Locke benutzt derartige Staffelungen, um norma-
tiven Absolutheitsansprüchen auszuweichen und pragmatische Entscheidungsmöglichkei-
ten zu gewinnen.
Die Figur als mediale Form
45
fallen können, da das weitgehend von der Formerfahrung des jeweili-
gen Rezipienten abhängt. Bekannte mediale Formen werden bereits
bei einer geringeren Merkmalshäufung identifiziert als unbekannte.
Die Merkmalssättigung, die für erforderlich gehalten wird, um eine
Form als Form anzuerkennen, ist daher eine Angelegenheit der Erfah-
rung. Form ist also nicht einfach da, sondern sie wird gelernt.
Zugleich können diese Lernprozesse als die Voraussetzung der
permanenten Restabilisierung von medialen Formen im Mediensy-
stem betrachtet werden. Die Wahrnehmung von Form orientiert sich
daher nicht an irgendeinem Urmodell, also einer Art Urmeter, an dem
dann Maß genommen würde, sondern jede Anerkennung von
transformierten oder adaptierten medialen Formen als Formen ver-
schiebt quasi die Grenze des Begriffs und setzt sie neu fest. Mediale
Formen unterliegen damit permanenten Renovierungs- und Adjustie-
rungsprozessen, die nur um den Preis eines Aussetzens der medialen
und kulturellen Entwicklung überhaupt still gestellt werden könnten.
Die qua Lernprozess in mediale Formen eingebaute permanente
Runderneuerung hält sie beständig aktuell, so dass mediale Formen
aus Mediensystemen erst ausscheiden, wenn diese Aktualisierung
nicht mehr gelingen sollte. Die Aktualität medialer Formen ist daher
kein analytischer Verdienst einer Medienwissenschaft, sondern
schlichter Begleiteffekt ihres Funktionsmechanismus.
Insofern kann auch das Emergieren neuer Medien mediale Formen
nicht wirklich schrecken. Dass neue Medien, sobald die technischen
und ökonomischen Adaptations- und Integrationsprozesse erst einmal
gelaufen sind, systematisch auf ihre formalästhetischen Bedingungen
hin befragt werden, um ihre kulturelle Leistungsfähigkeit abzuschät-
zen, und dass das Ergebnis in der Regel ausdifferenzierte Ästhetiken
des jeweiligen Mediums sind, ist bekannt. Mit diesen Ästhetiken sind
aber auch die Konditionen für mediale Formen bekannt und die Frage
des Transfers wird zu der Frage, inwieweit es gelingt, unter den for-
malästhetischen Konditionen des neuen Mediums erneut die Prä-
gnanz für eine bestimmte, in einem anderen Medium bereits etablierte
mediale Form herzustellen. Sobald der Transfer erst einmal gelungen
ist, setzt die Eigendynamik des Konzepts ein, und d.h., die medialen
Formen variieren im Rahmen der Lernprozesse, die sie zu initiieren
vermögen.
Mediale Formen sind Größen unterhalb der Einheiten von Medien-
produkten und d.h., sie sind nie allein. Mediale Formen sind daher
immer schon Elemente in anderen Einheiten: Figuren machen be-
Rainer Leschke
46
kanntlich noch längst keinen Film, kein Drama und auch kein Com-
puterspiel, sondern sie stellen bestenfalls notwendige Momente für
ein solches Medienangebot dar. Insofern lassen sich mediale Formen
isoliert auch nicht sinnvoll betrachten, sondern Formen operieren
stets in Medienangeboten, Mediensystemen oder sozialen Systemen
und diese Umwelten sind für ihren Funktionsprozess durchaus von
entscheidender Bedeutung.
Form ausschließlich immanent zu erfassen ist ohnehin nicht mög-
lich, da isolierte Formen nun einmal nicht zu haben sind. Sie gingen
dann nämlich ihrer Grenze, die in diesem Fall mit der des Objekts
überhaupt zusammenfiele, verlustig, was zur Folge hätte, dass sie
schlicht nicht mehr wahrzunehmen wären. Die Idee, eine Form quasi
rein und ausschließlich gewinnen zu können, versuchte implizit, die
Figur Grund Relation zu suspendieren. Das Erkennen und Identifizie-
ren von medialen Formen abstrahiert zunächst einmal von ihrer je-
weiligen operativen Verknüpfung in Medienangeboten, so dass der
Grund zwangsläufig diffus bleibt. Das gilt allerdings nur für die
Identifizierung von medialen Formen. Sobald diese einmal erfolgt ist,
geht es um die operativen Leistungen der medialen Form, also die
Anschlusshandlungen, Kopplungen und Vernetzungen der Form im
Medienangebot. Sobald eine Figur also einmal als Figur erkannt ist,
geht es nur noch um die Leistungen, die sie üblicherweise in Medien-
angeboten erbringt, und die Figur als Kategorie und mediale Form
treten in den Hintergrund. Der Sinn der Konstruktion einer medialen
Form besteht also darin, ein Set von Anschlussmöglichkeiten und
Erwartungen zu implementieren und dadurch Struktur zu schaffen:
die Anerkennung der medialen Form erkennt also faktisch einigerma-
ßen standardisierte Strukturbedingungen an.
Das Identifizieren und das mediale Funktionieren von Formen
bezeichnen demgemäß zwei unterschiedliche Prozesse. Die Identifi-
zierung erfolgt über den Abgleich von Merkmalen. Es werden Analo-
gien auf der Ebene der Merkmale hergestellt und es wird dann von
einem bestimmten Grad der Sättigung ab auf das Vorhandensein ei-
ner medialen Form geschlossen, die sich analog zu derjenigen ver-
hält, aus deren Inventar die zum Vergleich herangezogenen Merk-
male stammen. Die Identifizierung medialer Formen erfolgt also über
das Beobachten von Analogien, wobei diese über die beschriebenen
weichen Grenzen verfügen und insofern anpassungsfähig bleiben. Es
wird daher zwar keine vollständige, aber doch eine wesentliche Re-
dundanz der Merkmale verlangt. Ohnehin setzt Analogie grundsätz-
Die Figur als mediale Form
47
lich Redundanz voraus und bezieht sich damit auf die Grundverfas-
sung medialer Formen, die nichts anderes als geronnene Wiederho-
lungen sind. Mediale Formen sind daher keine Einzelerscheinungen,
sondern regelmäßige Muster, Schleifen und Strukturen. Sie operieren
weitgehend unabhängig von dem Gesichtspunkt ästhetischer Qualität,
die auf unbedingte Singularität setzt. Figuren existieren als Formen
und sie funktionieren auch als solche vollkommen unabhängig davon,
wie trivial oder ambitioniert sie auch immer angelegt sein mögen.
Insofern ist ästhetische Normativität für die Analyse und Diskussion
medialer Formen wie derjenigen der Figur kein Kriterium. Es geht
mithin um Formen, die erst als gegebene Strukturen zum Objekt äs-
thetischer Verarbeitungsprozesse werden und daher diesen immer
schon vorausgehen.
Die mediale Form der Figur gehört so eben auch zu den Grundele-
menten von Narration, bildlicher Darstellung sowie medialen Spiel-
und Berichtsformen. Sie stellt in diesem Sinne keine zusätzliche Leis-
tung, sondern eine schlichte Notwendigkeit dar und steht daher auch
in den meisten medialen Prozessen gar nicht erst zur Disposition. Die
Identifizierung der medialen Form der Figur als einer in den weitaus
meisten medialen Kommunikationsprozessen notwendigen Form hat
vor allem eine Orientierungsfunktion und ist daher ziemlich elemen-
tar, so dass ästhetische Ambitionen, so sie denn gehegt werden, die-
sen Orientierungsfunktionen quasi aufzumodulieren sind. Vor allem
aber betreffen die ästhetischen Eingriffe in das Konzept in der Regel
nicht die orientierungsrelevanten Merkmale, sondern sie konzentrie-
ren sich auf die eher akzidentellen, die den Formeffekt zwar verstär-
ken, indem sie für Prägnanz sorgen, ohne die es zur Not aber eben
auch geht. Die Ästhetisierung betrifft damit vor allem die Integration
und Vernetzung der Form ins Medienangebot und nicht diese selbst.
Die Konstruktion von medialen Formen unterscheidet sich insofern
von der Relation zwischen Form und Medienprodukt und die Identi-
fizierung medialer Formen dann demgemäß auch von der Bestim-
mung ihrer pragmatischen Leistung. Mediale Formen generieren
einen pragmatischen Erwartungshorizont, der das Medienprodukt mit
einer spezifischen Dynamik versieht. Sie sind dabei so vertraut, dass
ihre Implikationen automatisch mit den Formen selbst aufgerufen
werden. Wenn so in narrativen Umgebungen eine Figur einmal als
solche erkannt ist, dann sind auch die Folgen gleich mitgegeben und
die werden solange als natürlich hingenommen, solange nicht gegen
irgendwelche dieser Erwartungen verstoßen wird, wobei zunächst
Rainer Leschke
48
einmal gleichgültig ist, ob dieser Verstoß aus Dilettantismus oder aus
einem ästhetischen Anspruch heraus erfolgt ist. Wenn Formen nach
Gesichtspunkten der Analogie festgestellt werden, dann geht es also
bei dem Verhältnis von medialer Form und Medienprodukt um Fra-
gen der Passung und möglicher Anschlüsse.
Passung, Kopplungen und die dadurch ermöglichte Varianz sind
also das Feld, auf dem sich die Geschichte der Figur und ihrer Me-
dien abspielt. Es geht um den Erhalt oder die Neubildung von An-
schlüssen und Kopplungen, also um das, was man als Verwurzelung
oder Verdrahtung medialer Form betrachten könnte. Sobald aus den
Spielsteinen der Brettspiele die narrativ aufgeladenen Figuren von
Computerspielen werden, sind Figurenkonstruktion und vom Spiel
vorgehaltene Interaktionsmöglichkeiten miteinander abzugleichen.
Die mediale Form der Figur eröffnet einerseits die Möglichkeit, ein-
zelne Spielregeln und Spielzüge zu motivieren, erzeugt andererseits
aber wiederum den Bedarf nach Motivation, d.h., unmotivierte oder
nur schlecht motivierbare Handlungsanweisungen werden als unpas-
send empfunden. Wenn einzig die Logik der Regelmechanik, die
selbst von den Bedürfnissen des Spielflusses, einer Spieldramaturgie,
wiedererkennbaren Ordnungsmustern, Zufallsimplementationen und
dem Zwang zu strategischer Offenheit reguliert wird, gelten soll,
wenn also nur ein Spiel gespielt wird, dann kann die Implementation
des Regelapparates auf dem Wege bloßer Definition und Setzung
erfolgen. Eine extraludische Verknüpfung der Regeln untereinander
ist nicht erforderlich.
Allein die Funktionalität und d.h. die Widerspruchsfreiheit und
Koppelbarkeit der Regeln untereinander ist für den Regelkanon eines
Spiels ausschlaggebend. Sobald der Spielstein zur Figur mutiert, be-
darf dieses logische Netz einer zweiten Codierung, die für den Zu-
sammenhalt und damit die Motivation sorgt. Dass man sich dabei an
narrative Muster wie etwa Rahmen- und Binnenerzählung anschließt,
um Spielniveaus, also Levelstrukturen und Missionen, und Narrati-
onsstrukturen abzubilden und miteinander abzugleichen, ist eher ne-
bensächlich, vielmehr ist die Notwendigkeit, überhaupt zu solchen
Modellen zu greifen, das Entscheidende und das bleibt eine Folge des
Übergangs vom Spielstein zur Figur.
Auf der anderen Seite begrenzt die narrative Motivierung auch die
Aktionsmöglichkeiten, die rein von der Spiellogik her denkbar wären.
Alle nicht narrativierbaren Aktionspotentiale des Spiels fallen somit
weg, zumindest aber werden sie marginalisiert. Andernfalls zerbrä-
Die Figur als mediale Form
49
chen diese Handlungsmöglichkeiten die Isotopie, die man offensicht-
lich zugleich mit der medialen Form der Figur importiert hat. Mit der
medialen Form der Figur handelt man sich so ein Feld von Isotopien
ein, deren Verletzung selbst zumindest erläuterungsbedürftig wäre.
Literatur
Aristoteles (1995): Organon. Lehre vom Schluß oder Erste Analytik. In:
Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 1, Hamburg.
Auerbach, Erich (1938): Figura. In: Arichivum romanicum: nuova rivista di
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Aufl. Darmstadt.
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der Philosophie. Bd. 2. Basel, S. 948-949.
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Pollok, Konstantin (Hg.). Hamburg.
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den Wissenschaften. In: Schubert, Kai; Schubert, Sigrid; Wulf, Volker (Hg.):
Navigationen 8/1: Interaktionen. Marburg, S. 81-102.
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ten 22-29 in der chronologischen Reihenfolge. Hamburg.
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Baumgartner, Hans Michael von (Hg.): Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
von: Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke 6. Stuttgart.
50
51
II. Bühne
53
Petra Maria Meyer
Figur, Figuration, Transfiguration
Figurenkonzepte im Theater
»Othello und Desdemona sind Bilder, die eine
Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen
Theaterbesucher und die wirklichen Schauspie-
ler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die
der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht
ist« (Plessner 1982, 403).
»Die Figuren heben sich nach Maßgabe dessen
ab, was sich im Zuge des Diskurses, daran als
Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes wiedererkennen
läßt« (Barthes 1984, 16).
Als Inszenierungskunst1 ist Theater eine der ältesten kulturellen und
künstlerischen Praktiken menschlicher Selbstauslegung. Sie ermög-
licht dem Schauspieler, ein Anderer seiner Selbst zu sein und dem
Zuschauer, sich im Anderen zu erkennen. Dazwischen geschobene
Bilder sind konstitutiv für diese Spiegelfunktion, die historisch wech-
selnden Figurenkonzepten zugrunde liegt.
Unter Figur versteht man im Theater allgemein eine hörbar
und/oder sichtbar auf der Bühne auftretende Gestalt, die beteiligt oder
unbeteiligt in eine Handlung oder ein performatives Geschehen in-
volviert ist. Dabei entsteht die Figur im Aufführungstext (im Unter-
schied zum Dramentext) aus dem Verhältnis von Rolle und leiblicher
Erscheinung des Schauspielers durch die Wahrnehmung des Zu-
schauers.2 Die Art und Weise, wie Schauspieler im Gegenwartsthea-
1 Den Begriff Inszenierung benutze ich hier im anthropologischen Sinne von Wolfgang Iser
(vgl. Iser 1991, 512ff), der Inszenierung als »Institution menschlicher Selbstauslegung«
versteht und spiegeltheoretisch reflektiert.
2 Zur wichtigen Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Schauspieler, Figur und
Rolle: Schwind 1997, 430.
Petra Maria Meyer
54
ter zur Erscheinung kommen, weist eine große Variationsbreite auf.
Neben dem zentralen Auftritt leibhaftiger Schauspieler in Kopräsenz
mit dem Publikum sind unterschiedliche mediale Erscheinungsweisen
einer Präsenz der Absenz über Audio- oder Videotechnologie zuneh-
mend verbreitet. Figuren werden zudem durch den Einsatz von Pup-
pen im Figurentheater oder durch belebte Objekte im Maschinen-
theater konstruiert.
Dramentheoretisch wird von einer Interdependenz von Figur und
Handlung ausgegangen. Nach Manfred Pfister ist insofern eine Figu-
rendarstellung ohne Handlungsbezug und eine Handlung ohne Figu-
rendarstellung undenkbar (Pfister 1988, 220). Diese wechselseitige
Abhängigkeit stellt jedoch keine Substanzialität von Theater dar,
sondern eine historisch gewachsene Spielart, deren historische Ge-
nese lange Zeit vernachlässigt und erst in jüngster Zeit durch neue
theaterhistoriographische Ansätze stärker herausgestellt wurde (vgl.
in diesem Zusammenhang: Marx/Rättig 2000).
Eine historisierende Betrachtung des Figurenbegriffs zeigt den Va-
riantenreichtum in Wechselwirkung mit diskursiven Grundlagen auf,
die als verschiedene Bedingungsfelder der Möglichkeit von Figu-
renkonstitutionen einwirken. Diese reichen von mythologisch be-
gründeten, aus Handlungen hervorgehenden Typen im antiken Grie-
chenland, die durch Aristoteles Poetik eine wegweisende Programm-
schrift erhielten, dem Volksbewusstsein entstammende Idealbilder,
die in der Commedia dell’arte zu Kunstfiguren wie Harlekin, Pulci-
nella oder Zanni werden, bis zu individualisierten Figuren mit Cha-
rakteren und Handlungskompetenz im 18. Jahrhundert. Ein seit der
Aufklärung und insbesondere durch Gotthold Ephraim Lessings Äs-
thetik der Identifikation festgeschriebenes Verständnis von Figur hat
bis zum heutigen psychologisch-realistischen Theater besonders
nachhaltig gewirkt. Dekonstruktion, Authentizitäts- und Simulakren-
debatten, ein zunehmendes Bewusstsein von Selbstreferenzialität und
nicht zuletzt Entwicklungen der Performance Art sowie des Musik-
und Tanztheaters haben jedoch im 20. Jahrhundert einen Weggang
von psychologisch angelegten Charakteren in der Schauspielerfüh-
rung bewirkt. Entsprechend andere Figurenkonzepte zeigen sich bei-
spielsweise darin, dass Figuren durch Nummerierung unterschieden
werden oder Schauspieler unter ihren eigenen Namen auftreten. Im
Weggang vom klassischen Handlungsdrama und in Hinwendung zum
Klang-, Bilder- und Bewegungstheater, das weniger logisch-analy-
tisch als sinnlich und assoziativ über Klangwirkungen und Bildinhalte
Figurenkonzepte im Theater
55
Bedeutungen generiert, haben sich sowohl Einschätzung und Funk-
tion der Spiegelung als auch Bilder einer imaginären Welt verändert.
Dieser Zusammenhang wird bereits im Zuge der Diskurse zur fi-
gura erkennbar, auf die ich insofern kurz eingehe, bevor ich im An-
schluss an Beispielen aus dem theatergeschichtlich bedeutsamen 18.
Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert unterschiedliche Figurenkon-
zepte verdeutliche, um abschließend eine in der Theaterwissenschaft
zunehmende Verwendung der Begriffe Figuration und Transfigura-
tion zu begründen.3
typos, imago, figura
Der mit fingere (bilden, formen, gestalten) verwandte lateinische
Begriff figura (Gestalt, plastisches Gebilde, äußere Erscheinung) trat
zunächst als Übersetzung des griechischen Wortes typos auf. Im Grie-
chischen von den Verben schlagen und prägen abgeleitet, bedeutet
typos (vgl. Strenge 1998, 1587) handwerklich-künstlerisch die prä-
gende Form, das Geprägte, auch Abdruck, beispielsweise eines Sie-
gelrings. Da sowohl Platon4 als auch Aristoteles5 das Gedächtnis als
das, was jeder Repräsentation zugrunde liegt und sich selbst nicht
repräsentieren lässt, über die Medienmetapher des Abdruckes eines
Siegelringes in Wachs verstehen, ist sowohl diese Abdrucktheorie als
3 Um dem bedeutungsbeladenen Begriff der Figur, der bezogen auf Spielarten im Gegen-
wartstheater missverständlich ist, zu entgehen, habe ich in einem Vortrag auf dem Jahres-
Kolloquium zum DFG-Forschungsschwerpunkt Theatralität 1997 in Berlin, bezogen auf
den komponierten Film Solo von Mauricio Kagel, die Begriffe Figuration und Transfigura-
tion eingebracht (vgl. Meyer 2000). Diese Nutzung eines offeneren Begriffes wurde dann in
meiner Habilitationsschrift weitergeführt (vgl. Meyer 2001, insbesondere 321f). Theater-
wissenschaftlich wird dem notwendigen »Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge«
zunehmend Beachtung geschenkt (vgl. z.B. Brandl-Risi/Ernst/Wagner 2000).
4 Wie ein Siegelring seine Abdrücke in der Wachsmasse, so hinterlassen Wahrnehmungen
und Gedanken ihre Spuren, so dass sie auch dann erhalten bleiben, wenn sie für den Men-
schen nicht mehr gegenwärtig sind. Allerdings bilden sie sich nach Platon als eine leere
Form ab, die ein prinzipielles Wiedererkennen ermöglicht, da sie mit dem gleichen Inhalt
angefüllt werden bzw. ein gegebener Inhalt mit der vorgeprägten Form identifiziert werden
kann. In diesem Sinne ist auch eine Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Mei-
nung möglich, da eine richtige Meinung dann gegeben ist, wenn der Inhalt mit seinem
Abbild identifiziert werden kann, er in den vorgeprägten Abdruck hineinpasst (vgl. Platon
1958, Theaitetos 193 b).
5 Auch Aristoteles geht davon aus, dass das, was über die Sinnesorgane wahrgenommen
und erfahren wird, ein eikon, ein Bild hinterlässt, das mit dem Abdruck eines Siegels in
Wachs vergleichbar ist (vgl. Aristoteles 1924, 38ff).
Petra Maria Meyer
56
auch die platonische Abbildtheorie mit dem Begriff typos verbunden,
der als Vorbild und Muster den Begriffen Paradigma, Archetyp und
Prototyp nahe steht.
Das Bild (eidolon), in Platons Theorie hierarchisch abgestufter Ab-
bildungsverhältnisse verstanden als »das einem Wahren ähnlich ge-
machte andere solche« (Platon 1958, Sophistes 240a), ist nicht wahr-
haft Seiendes, sondern ein ähnliches Scheinbares. Ähnlichkeit ver-
bindet gleichsam Bildbegriff und den Begriff der Mimesis. Entspre-
chend zählt Platon zu den mimetischen Künsten nicht nur Schauspiel,
sondern auch Malerei, Plastik, Musik und Dichtung.6
Als ›prägende Form‹ wirkte typos7 ebenso in die antike Mnemo-
technik und somit auf den rhetorischen figura-Begriff ein, wie in der
allgemeinen Bedeutung von Bildung, Formung, Gestalt auf die
christliche Realprophetie. Personen oder Ereignisse im Alten Testa-
ment fungieren in diesem Sinne als figuram Christi (vgl. Auerbach
1967, 72). Theatergeschichtlich gehen sie in mittelalterliche, geistli-
che Ansätze eines dramatischen Spieles ein, mit dem Gottesdienste
variiert wurden. Erst im Weiteren finden sich die Bedeutungen Um-
riss, Gestalt, Form, so dass der Einfluss der platonischen Erinne-
rungs- und Bildtheorie in der Wortgeschichte von figura, die im Zuge
der Graezisierung der römischen Bildung durch Varro, Lukrez und
Cicero beginnt, nicht unterschätzt werden sollte.8
Mit Rücksicht auf den reicheren Sprachschatz des Griechischen,
das eine große Anzahl von differenzierteren Worten für den Gestalt-
begriff aufweist, betont auch Erich Auerbach, dass typos in seiner
Tendenz zu forma und auch hinsichtlich der erweiterten Bedeutung
von figura in Richtung auf Statue, Bild, Portrait einwirkte. In dieses
Bedeutungsfeld fallen auch die Begriffe imago und simulacrum (vgl.
Auerbach 1967, 57).
Der aus dem Lateinischen stammende Begriff imago umfasst die
Bedeutungen Bild, Bildnis, Abbild, Trugbild, Vorstellung und ist mit
dem lateinischen Verb imitari (nachahmen) und altlateinisch imor
(gleich sein) verbunden (vgl. Duden 1989, 300). Schon der Begriff
impliziert somit eine theatrale Urszene im Wirkungsfeld der Mimikry,
6 Im Konzept der musiké kamen die Künste Musik, Poesie und Tanz im antiken Griechen-
land verschieden, aber ungetrennt zur Wirkung.
7 Nach Auerbach blieb typos im lateinischen Sprachbereich lediglich ein Fremdwort, so
dass aus der Bedeutungsgeschichte hervorgegangene Vorstellungen in allem Varianten-
reichtum mit figura verbunden wurden (vgl. Auerbach 1967).
8 In der wichtigen theaterhistoriographischen Forschung zu Figur und Figuration bleibt
dieser Aspekt m.W. ausgespart, was die Studien nicht schmälern soll.
Figurenkonzepte im Theater
57
einer heteromorphen Identifikation und Nachahmung, die Jacques
Lacan im 20. Jahrhundert nicht auf ein »vorherrschendes Gesetz der
Anpassung« (Lacan 1975, 66) zurückführt, sondern zunehmend mit
einer »Aktivität der Mimikry [...] – Verkleidung, Tarnung und Ein-
schüchterung« (Lacan 1980, 106) verbindet.
Sinnlicher und beweglicher als forma zeigt sich figura bei Lukrez
auch in der Bedeutung von Traumbild, Phantasiegestalt, Schatten der
Toten. Bezogen auf den wichtigen Übergang von der Gestalt zur
Nachahmung, dem Übergang zum Theater gleichsam, sollte somit
nicht vergessen werden: »[...] Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild
sind Bedeutungen, die immer mit figura verknüpft bleiben«
(Auerbach 1967, 58).
Die Diskussion der figura in der Antike weist zugleich eine enge
Verbindung mit dem Gestalt-Begriff (griech. schema) auf, der jedoch
im Griechischen sehr viel weiter und beweglicher ist als das Fremd-
wort Schema im Deutschen. Darauf weist Auerbach, der diese Be-
weglichkeit im Begriff figura als weiterentwickelt ansieht, hin, indem
er anmerkt, dass Aristoteles die mimischen Gesten der Menschen im
Allgemeinen und der Schauspieler im Besonderen schemata nennt.
Roland Barthes wird ihm später folgen:
»Das Wort darf nicht im rhetorischen Sinne verstanden
werden, sondern eher im gymnastischen oder choreogra-
phischen, kurz: im griechischen – ơאήµα, das ist nicht das
›Schema‹, das ist, in einem sehr viel lebendigeren Sinne,
die Gebärde des in Bewegung erfaßten und nicht des im
Ruhezustand betrachteten Körpers, des Körpers der Ath-
leten, der Redner, der Statuen: das, was sich vom
angespannten, gestrafften Körper stillstellen läßt« (Barthes
1984, 16).
Schon dieser kleine Einblick in die Begriffsgeschichte verdeutlicht
die Ambivalenz des Begriffes Figur. Zum einen erscheint Figur als
statisches Bild und Statue, zum anderen als dynamische Bewegung
des Körpers. Ist Figur einerseits mit der Möglichkeit von Repräsen-
tation über die Ähnlichkeit verbunden, so bringen ihre Beweglichkeit,
die einen Form- und Gestaltwandel impliziert, aber auch die Nähe zur
Phantasiegestalt, zum Phantasma und zum Traumbild, immer schon
Unähnlichkeit ein. Grundlegend bleibt in den Diskursen jedoch die
Petra Maria Meyer
58
Verbindung der Figur mit Gestalt, mit dem Bild des menschlichen
Körpers.
Körperbilder treten ihrerseits ambivalent auf. Sie verbinden sich
einerseits mit dem Streben nach Vollkommenheit und suggerieren
Vollständigkeit, andererseits versinnbildlichen sie einen zerstückelten
Körper. Ist es auch ungesichert, ob der Mensch sich notwendig bild-
haft seines Körpers versichern muss, so ist doch eine diskursive Kon-
struktion des Körpers über Körperbilder und Spiegelfunktionen unbe-
streitbar. Die Sicht auf die Ganzheit oder die Zerstückeltheit des Kör-
pers ist Effekt einer historisch varianten Diskursivierung des Körpers
und der medialen Entwicklung, die sich in den Figurenkonzepten des
Theaters niedergeschlagen hat.
Während in der antiken griechischen Tragödie Die Bakchen des
Euripides durch die Zerstückelung des Pentheus das Vorstellungsbild
eines verstreuten Leibs evoziert wird, sucht das Theater der Aufklä-
rung das Phantasma der Ganzheit zu bewahren. Zugleich kommt es
zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Figur und Handlung.
Kann für Aristoteles die Tragödie auch ohne Charaktere auskommen,
da die Handlung für ihn grundlegend ist, aus der erst Charaktere ent-
stehen (vgl. Aristoteles 1982, 19), so verkehrt sich durch das Men-
schenbild der Aufklärung das Verhältnis. Der »aus der selbstver-
schuldeten Unmündigkeit«9 ausgetretene, vernünftige Mensch han-
delt selbstbestimmt, wird somit zum Verursacher der Handlung, die
auf ihn zurückgeführt wird. Grundlegend für die Figurenkonzeption
wird dabei insbesondere auch die Sprachbegabung des Vernunftmen-
schen. Die Rede erweist sich als ideale, vernünftige und kontrollierte
Form des Handelns, so dass der Sprechakt das Handeln häufig erüb-
rigt. Bevor ich mich verstärkt der Figurenkonzeption im Diskursnetz
des 18. Jahrhundert zuwende, sei jedoch der Einfluss der Rhetorik
zumindest gestreift.
Auf die diversen rhetorischen Figurensysteme und ihre Beziehung
zum Theater kann hier freilich nicht eingegangen werden. Es sei so-
mit nur darauf hingewiesen, dass diese Thematik von der Teichosko-
pie, dem Botenbericht als bühnentechnische, rhetorische Figur über
9 Immanuel Kants Aufsatz, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784) kann
als zentrale Programmschrift angesehen werden, die den Menschen dazu aufruft, sich seiner
eigenen Vernunft zu bedienen, selbst zu denken, selbst zu urteilen. Diese Selbstständigkeit
ist jedoch nicht vorgesehen, ohne den Menschen über verschiedene Medien anzuleiten. Zur
Einweisung und Internalisierung der Diskurstechniken dienten im 18. Jahrhundert Briefe,
die expandierende Presse, eine Vielfalt neuer Zeitungen und Zeitschriften und insbesondere
das Theater.
Figurenkonzepte im Theater
59
die eloquentia corporis, die in Wechselwirkung mit dem Diskurs der
Anthropologie insbesondere auch das 18. Jahrhundert prägte (vgl.
Kosenina 1995), bis zur Übertragung rhetorischer Figuren auf die
Musik (als Ausschmückung) oder den Tanz (als Bewegungsfigur)
reicht.
Da die Antike keine eigene Schauspieltheorie kannte, waren für
Rede- und Schauspielkunst die Rhetoriken von Aristoteles, später von
Cicero oder Quintilian gleichermaßen richtungweisend. Im Absolu-
tismus des 17. Jahrhunderts griff der Hofschauspieler ebenfalls auf
Rhetorikbücher als Anleitung zurück (vgl. Möhrmann 1990, 84). Die
enge Verbindung von rhetorischer actio, Theatertheorie und -praxis,
die sich in der Frühen Neuzeit entwickelte, löst sich im 17. Jahrhun-
dert zugunsten einer Schauspiellehre jedoch langsam auf. Im Um-
bruch vom höfischen Theater zur psychologischen Introspekti-
onskunst der bürgerlichen Bühne wird ein Ende des rhetorischen
Einflusses zwar bewusst deklariert, Traktate wenden sich jedoch im
18. und auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch an Schau-
spieler und öffentliche Redner gleichermaßen.
Bilder einer natürlichen und ganzheitlichen Figur
im 18. Jahrhundert
Ein Weggang von der Rhetorik wird in den Diskursen des 18. Jahr-
hunderts über eine »Wiederentdeckung des Menschen und seiner
Natur« (vgl. Kosenina 1995), insbesondere durch eine psychologi-
sche Besinnung auf den natürlichen Ausdruck der Affekte und
Leidenschaften, propagiert. Die so genannte Natur, genauer gesagt,
das, was man recht unterschiedlich Natur nannte, wurde zu einem
Leitbegriff und bei Charles Batteux 1746 zum »Prinzip«, auf das er
die schönen Künste zurückführen will (vgl. Batteux 1975). Dass unter
Natur sehr Unterschiedliches verstanden wurde, lässt sich an der Pra-
xis von Schauspielkunst in dieser Zeit zeigen: Deklamation und Pose
französischer Tragödiendarstellung, eine selbstherrliche Zurschau-
stellung privaten Gefühls empfindsamer Schauspieler oder auch eine
groteske Übertreibung der Komödiendarsteller, verstanden sich glei-
chermaßen als natürliche Darstellungsweisen. Als Leitmodell fun-
gierte jedoch ein Idealbild, das es durch dazwischen geschobene Bil-
der zu generieren galt. Eine Beschreibung des für die Figurenkonzep-
tion des 18. Jahrhunderts modellhaften Prototyps des natürlichen
Petra Maria Meyer
60
Menschendarstellers, des berühmten Hamlet-Darstellers David
Garrick, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich:
»[...] Voller Entsetzen über das schreckliche Gemählde,
welches ihm seine Blutschulden vorhielt, rang er mit dem
Tode; die Natur schien ihre letzten Kräfte anzustrengen;
diese Situation erregte Schaudern. Er kratzte auf der Erde,
und scharrte gleichsam sein Grab auf; aber der Augenblick
rückte heran, man sah den Tod vor Augen; alles mahlte
den Zeitpunkt, der alle Ungleichheit aufhebt; endlich ver-
schied er; das Todesschluchzen und die konvulsivischen
Bewegungen der Gesichtsmuskeln, der Arme und der
Brust, gaben diesem grauenvollen Gemählde den letzten
Pinselzug« (Noverre 1769, 162f).
Abb. 1: Benjamin Wilson: Garrick as Hamlet, 1754.
Jean George Noverre10 beschreibt hier, wie sich die Figur, die David
Garrick in der Rolle eines Tyrannen verkörpert, dem die Angst vor
10 Im 18. Jahrhundert erfolgt ein tanzgeschichtlich relevanter Umbruch, da sich das Ballett
von seiner Rolle emanzipiert, gefällige Einlage zu Lustspielen oder Opern ohne jeden
inhaltlichen Bezug zu sein. Jean George Noverre, der als ausübender Künstler sehr viel
weniger von Bedeutung war als seine theoretischen Reflexionen zur Tanzkunst, leitete eine
erste große Reform des Tanzes ein. Er wollte das Ballett von der feudalen Repräsentations-
funktion und Vorgabe befreien, in Symmetrie und Geometrie choreographisch die feudale
Hierarchie des Staates widerzuspiegeln, und klagte die Autonomie der Kunst gegenüber der
Figurenkonzepte im Theater
61
dem jüngsten Gericht ins Gesicht geschrieben steht, im Wahrneh-
mungsakt des Betrachters durch ein dazwischen geschobenes Bild
konstituiert. Ganz nach der Devise des Horaz ut pictura poesis wer-
den nicht nur Garricks Gestik und Mimik zu Ausdrucksträgern der
Malerei, vielmehr wird auch unterstellt, dass Garrick gleichsam ein
Gemälde vor Augen haben muss, um ein Gemälde zu evozieren.11
Gemalte Bilder treten zwischen die wirklichen Schauspieler und die
wirklichen Zuschauer und bewahren das Idealbild auch für die Nach-
welt.
Abb. 2: Gilbert Austin, Chironomia or a treatise on rhetorical delivery,
London 1808.
Garricks angsterfüllt weit geöffnete Augen und gestische Haltung12
erinnern jedoch sofort auch an die zusammengesetzten, bedeutsamen
Gesten, die in Gilbert Austins rhetorischer Schulung zu finden sind.
Zum Idealbild der natürlichen Gestalt trägt die Rhetorik im 18. Jahr-
hundert weiterhin bei. Lessings Fragment »Der Schauspieler«
(1754/55), seine Äußerungen zur Chironomie in der Hamburger
Dramaturgie (Lessing 1981, 28) oder Goethes »Regeln für Schau-
staatlichen Ordnung ein, orientierte sie jedoch zugleich an zwei anderen Ordnungssy-
stemen, an dem der Malerei und dem des Handlungsdramas. In seinen berühmten »Briefen
über die Tanzkunst« (»Lettres sur la danse, et sur les ballets« 1760; dt. 1769) argumentiert
Noverre entsprechend intermedial. Das Ballett will er als Gemälde, jedes Gemälde als eine
besondere Szene verstanden wissen, die wiederum zu einer anderen Szene führt. Findet der
Tanz sein Modellmedium im Bildmedium Malerei, so folgt der innere Bildaufbau der
Malerei wiederum der Handlungsdramaturgie des Theaters, dessen Einfluss das Gemälde
zur Szene theatralisiert.
11 Das intermediale Wechselverhältnis von Malerei und Theater im 18. Jahrhundert ist in
der Theaterwissenschaft gut erforscht, so dass ich diesen Aspekt hier nicht weiter ausführe.
12 Zur Beschreibung der malerischen Szene vgl. Meyer 2004.
Petra Maria Meyer
62
spieler« (1803) zeugen von weiter bestehenden Versuchen, Theater
und Rhetorik zu verbinden.
Der natürliche Ausdruck ist weniger unbewusst als bewusst sym-
bolisch verfasst. Durch den Einfluss der Anthropologie13 gelangte
Lessing zu einem psychophysischen Neuverständnis in seiner Schau-
spieltheorie, die dem Schauspieler eine »psychische Selbstinduktion«
empfiehlt, durch die »natürliche Gebärden willentlich hervorgebracht
werden können« (Kosenina 1995, 78). Ein »naturwahrer Darstel-
lungsstil« resultiert nach Lessing aus dem genauen Studium durch
Zergliederung des darzustellenden Affektes, in den der Schauspieler
durch präzise Nachahmung der somatischen Zeichen selbst hinein
kommt (vgl. Kosenina 1995, 7).
Grundlegend für die zeitgemäße Seelenzeichenkunde und Hand-
lung als Nachahmung ist gleichsam die Spiegelung in der Malerei, im
Blick eines Noverre und anderer Zuschauer. Über mimetische Spie-
gelung findet der Schauspieler zur ganzheitlichen Gestalt, die eine
symbolische Zurichtung vergessen macht. Doch Jacques Lacans Aus-
führungen vorwegnehmend, ist das »Phantasma der Gestalt« (vgl.
Heeg) auch im 18. Jahrhundert durch die real existierende Mangel-
haftigkeit bedroht, dem Idealbild niemals gleichkommen zu können.
In seiner überzeugenden Studie zum 18. Jahrhundert hat Günther
Heeg erhellend auf eine Szene in Friedrich Maximilian Klingers
Sturm und Drang-Drama Die Zwillinge hingewiesen (vgl. Heeg 2000,
327).
13 Der Einfluss, den die neu entstehende philosophische Disziplin der Anthropologie aus-
übte, wurde überzeugend von Alexander Kosenina herausgearbeitet, der damit zugleich das
entscheidende diskursive Umfeld markierte, in dem sich die Schauspieltheorie im 18.
Jahrhundert unabhängig von der Rhetorik entfalten konnte. In ihr wird die Unvereinbarkeit
eines natürlichen Seelenausdruckes und ihres künstlerischen Gebrauches stark diskutiert
und in unterschiedlicher Weise gemeistert. Insbesondere durch Gotthold Ephraim Lessing
wurden die einander widerstreitenden Auffassungen des Schriftstellers Pierre Rémond de
Saint Albine und des Schauspielers Francesco Riccoboni in die deutsche Diskussion einge-
bracht. Während der Schriftsteller sich hinsichtlich der Frage, ob der Schauspieler empfin-
den soll, was er in seiner Rolle zu empfinden vorgibt, für den empfindenden Schauspieler
ausspricht, besteht der Schauspieler Riccoboni auf einem reflektierten Umgang mit der
Rolle. Lessing und der späte Diderot pflichten der notwendigen reflektierten Distanz bei.
Figurenkonzepte im Theater
63
Abb. 3: Bildzitat aus: Heeg 2000.
Der Stich von Johann Albrecht (Abb. 3) versinnlicht eine bezeich-
nende Spiegelszene. Seit Platon fungiert der Spiegel nicht nur als
Medium einer täuschenden Erscheinung. Da das Abbild an die Prä-
senz des Abgebildeten gebunden ist, Spiegelbild und Spiegelgegen-
stand aufeinander verwiesen bleiben, garantiert es einen Referenten.
Dadurch fungiert der Spiegel auch als Erkenntnismedium. Als solcher
erlaubt er dem Protagonisten nicht mehr, sich über sich selbst zu täu-
schen. Nachdem Guelfo seinen Zwillingsbruder ermordet hat, glaubt
er das Kainsmal auf seiner Stirn im Spiegel zu sehen, und setzt mit
wehenden Haaren und mit dem Degen weit ausholend dazu an, sich
zu zerschlagen: »Zerschlage dich Guelfo«. Für Heeg zeigt sich in
dieser Zerstörungswut eine Rebellion gegen und Gefahr für das Ge-
staltprinzip im 18. Jahrhundert, ein an der ganzheitlichen, natürlichen
Gestalt orientiertes Darstellungsprinzip, die entsprechend zurückge-
drängt werden musste.
Im 20. Jahrhundert kann dagegen das Trauma des zerstückelten
Körpers auf die Bühne gelangen. Ein dazwischen geschobenes Bild
und Worte des aufgeklärt mündigen Sprechers, die im 18. Jahrhun-
dert ein integrales Selbstbild ermöglichten, können nun zerrüttete
Formen annehmen, so dass die Figur in keiner Gestalt mehr zur Ruhe
zu kommen scheint, sich sehr viel dynamischer figuriert, immer wie-
der anders transfiguriert.
Petra Maria Meyer
64
Figuration und Transfiguration im 20. Jahrhundert
Da die Medienentwicklung zu veränderten Wahrnehmungsprozessen
führte und medial veränderte Wahrnehmungsformen auch die Körper-
Repräsentationen änderten, entstanden geradezu notwendig auch neue
Figurenkonzepte im Theater des 20. Jahrhunderts. Eine Anekdote des
in den 1920er-Jahren wichtigen Filmtheoretikers Béla Balázs macht
deutlich, welche Veränderungen das neue Ensemble der Medien, das
neben Phonographie und Photographie nun auch den Film umfasst,
für das Theater bereit hält. Balázs berichtet von einem Mädchen aus
Sibirien, das nach ihrem ersten Filmerlebnis völlig entsetzt erzählt,
nur zerstückelte Menschen gesehen zu haben. In ihrer noch unge-
schulten Wahrnehmung eines neuen Mediums hatte sie die für uns
heute selbstverständliche Ergänzung von Groß- oder Nahaufnahmen
einzelner Körperteile durch die Erinnerung an vorherige Bilder des
ganzen Körpers noch nicht habitualisiert (vgl. Balázs 1972, 24). Der
Film macht zum einen bewusst, dass es die Wahrnehmung des Zu-
schauers ist, die den ganzen Körper generiert. Zum anderen verdeut-
licht er die bis dahin andere Wahrnehmungssituation im Theater. Mit
der Integration von Film- oder Videoprojektionen sind grundlegende
Veränderungen im Nähe- und Distanzverhältnis gegeben, die die
Körperwahrnehmung fundamental beeinflussen. Während dem
Theaterbesucher im Zuschauerraum mit Abstand zur Bühne ein
Ganzkörperbild präsentiert wird, zeigen sich ihm auf der Leinwand
Körperteile, Fragmente eines zerstückelten Körpers.
Unter diesen anderen medialen Voraussetzungen lässt Samuel
Beckett, ein Theaterautor, der intermedial zwischen Literatur, Thea-
ter, Radio und Fernsehen arbeitete, bezeichnenderweise ein Partial-
objekt des Körpers, einen Mund, auf der Bühne auftreten. In Not I /
Nicht Ich, 1972 verfasst und uraufgeführt, ist die Theaterbühne in
völlige Dunkelheit getaucht. Der Zuschauer sieht nur einen Mund.
Auch das übrige Gesicht liegt im Dunkel. Die Stimme des Mundes ist
zu Beginn und am Ende unverständlich. Hinzu kommt die dunkle
Gestalt eines Vernehmers, der von Kopf bis Fuß bis zur Unbestimmt-
heit verhüllt, schweigend »in aufmerksamer Spannung dem Mund
gegenübersteht« (Beckett 1978, 11) und zumeist unbeweglich (»to-
tenstarr«, ebd.) bleibt. Im Verlauf des Stückes hebt er jedoch viermal
die sonst verborgenen Arme seitwärts, lässt sie wieder zurückfallen
und verleiht somit dem Redeschwall eine zusätzliche Strukturierung.
Beckett spezifiziert diese Bewegung als »Geste hilflosen Mitleids«.
Figurenkonzepte im Theater
65
Ein bei Lessing für das bürgerliche Trauerspiel noch konstitutiv er-
achtetes »Mitleid«14 ist nun hilflos geworden. Mit dem sprechenden
Titel Not I (die Homophonie Not Eye liegt nahe) negiert Beckett von
Beginn an die Ich-Instanz des aufgeklärten Vernunftmenschen und
die übliche Ordnung der Sichtbarkeit, um den Erfahrungsraum der
literarischen Moderne und poststrukturalistischen Philosophie freizu-
setzen, in der ein »Ich« als »Dahintergestecktes« (Nietzsche) proble-
matisch wird, so dass weniger bewusstes Handeln als unbewusste
Geschehnisse figurenkonstitutiv werden. Entsprechend tritt der aus-
gestellte Mund nicht mehr vorrangig als Organon des Sprechens auf,
sondern wird auch an der Schwelle zur Artikulation als Körperöff-
nung verlautbart, als Organ der Ausscheidung dessen, was die Prota-
gonistin bis zum siebzigsten Lebensjahr nicht hat verdauen können.15
»...raus...in diese Welt...diese Welt...winzig kleines
Ding...vor der Zeit...in ein gottver-... was?... Mädchen?...
ja...winzig kleines Mädchen...in dies...raus in dies...vor der
Zeit...gottverlassenes Loch namens...namens...egal... Eltern
unbekannt...nie von gehört...er verschwunden... ver-
duftet...kaum daß seine Hose wieder zu war...sie
genauso...acht Monate später...fast auf den Tag...also keine
Liebe...davon verschont...keine Liebe wie sie gewöhnlich
ausgelassen wird am...sprachlosen Kind...im Heim...
nein...auch was das angeht überhaupt keine...überhaupt
keine Liebe...weder da noch später...also das
Übliche...nichts Erwähnenswertes bis um die Sechzig als –
...was?...Siebzig?... großer Gott!« (Beckett 1978, 11-13).
Dieser biographische Abriss einer konsequent in der dritten Person
erzählten, tragischen Lebensgeschichte, die ein Mund in unterschied-
lichen Brocken und Bröckchen schon partiell zersetzt und diskonti-
nuierlich ausscheidet, markiert neue diskursive Bedingungen der
Möglichkeit von Figurenkonzeption, einen anderen Kern in jeder
Figur:
14 Der Begriff Mitleid impliziert bereits die Umcodierung der tragischen Katharsis durch
Schauder und Jammer zur Empfindsamkeit des Bürgerlichen Theaters.
15 Vgl. zur akustischen Konzentration auf das Körperorgan in der Inszenierung von Not I /
Non I als Hörstück, mit besonderer Berücksichtigung der Stimme: Meyer 2008, 317ff.
Petra Maria Meyer
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»Im Kern jeder Figur steckt etwas von ›verbaler Halluzi-
nation‹ (Freud, Lacan), ein verstümmelter Satz, der sich in
den meisten Fällen auf ihren syntaktischen Bereich
beschränkt (›Obwohl du...bist‹; ›wenn du noch...müßtest‹)«
(Barthes 1984, 19).
Ungewöhnlich für das Theater, weil nicht in einer szenischen Situa-
tion begründet, wird ein Mund zur Verkörperung einer Figuration,
deren Rolle weniger dramatisch als narrativ ist. Der szenische Mini-
malismus in den Short Plays, die bereits Theater in Performance-Art
überführen, betonen nicht nur einen physischen Gestaltwandel, der
sich im Stück ereignet, sondern auch den Umstand, dass sich die
dabei freigesetzte Figuration nur im Wahrnehmungsakt des Zuschau-
ers und Zuhörers konstituiert.
Becketts Monolog eines wahnsinnig gewordenen Mundes über-
schreitet die Grenzen, die ein kultureller Code den Gebärden und der
Sprache setzt. Die Performance versinnlicht den Prozess, in dem die
Sprache über die ihr gesetzten Grenzen hinausgeht, um sich selbst zu <