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Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien

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Abstract and Figures

Figuren sind für die Künste und die Medien unentbehrlich, denn sie fechten den Kampf um die begehrte Aufmerksamkeit aus. Sie bevölkern Bilder, Filme, Comics und Bühnen. Zugleich sind sie in Werbespots, Videoclips und Hypertexten zu finden. Wie das Computerspiel seine Avatare benötigt die politische Presse ihre Akteure und die Show ihre Stars, Experten und Freaks. Das Faszinationspotenzial der medialen Form Figur ist immens und die Vielfalt, in der sie auftritt, ist kaum zu überblicken. Der vorliegende Band will die verschiedenen Erscheinungsformen der Figur in Künsten und Medien darstellen und eine »Morphologie der Figur« entwickeln.
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5
Inhalt
Vorwort.................................................................................................... 7
Einleitung: Zur transmedialen Logik der Figur..................................... 11
I. Morphologie der Figur
Rainer Leschke
Die Figur als mediale Form
Überlegungen zur Funktion der Figur in den Medien...........................29
II. Bühne
Petra Maria Meyer
Figur, Figuration, Transfiguration
Figurenkonzepte im Theater.................................................................. 53
Christiane Berger
Figurenkonzepte im Tanz......................................................................73
III. Schrift Text Ton
Nicolas Pethes
Helden, Hunde, Eigenschaften
Figurenkonzepte in der literarischen Narration.....................................87
Iris Hermann
Formen der Figur in der Lyrik
Lyrisches Ich und lyrisches Du............................................................ 109
Christoph Jacke
Figurenkonzepte in der Popmusik.......................................................133
Christian Imminger
Der Zeitungsleser ist auch nur eine Figur
Zum Figurenkonzept der Presse ..........................................................155
IV. Bild
Norbert M. Schmitz
Die soziale Attraktivität des medialen Wandels der Figur
zwischen Kunst- und Filmgeschichte ..................................................175
Jörn Glasenapp
Figurenkonzepte in der Fotografie ......................................................215
Jens Meinrenken
Figurenkonzepte im Comic .................................................................229
6
V. Audiovisuelle und interaktive Medien
Henriette Heidbrink
Formen der Filmfigur .......................................................................... 249
Gerd Hallenberger
Figurenkonzepte im Fernsehen............................................................275
Jens Eder
Figuren in der Werbung....................................................................... 295
Lisa Gotto
Figurenkonzepte im Videoclip ............................................................ 325
Jürgen Sorg
Figurenkonzepte im Computerspiel.....................................................341
VI. Semiotik der Figur
Jochen Venus
Die Formen der Figur und die Semiotik des Subjekts.........................375
Autorinnen und Autoren......................................................................407
Index .................................................................................................... 413
7
Vorwort
Die Figuren der Medienlandschaft haben sich gegenwärtig zu einem
Gegenstand entwickelt, der die Forschung in bemerkenswerter Weise
stimuliert. So erfuhr gerade auch die internationale Erforschung me-
dialer Figuren in den letzten Jahren zunehmend an Beachtung.1 Seit
den 1990er-Jahren ist zudem ein medienübergreifender Anstieg an
Monografien zum Thema Figur zu verzeichnen;2 zugleich ist die Fi-
gur als elementare Einheit zum festen Bestandteil narrativer Kom-
pendien avanciert.3
Im Zug der aktuellen Entwicklungen im Mediensystem scheinen
die dazugehörigen Figuren ihre Attraktivität für die Wissenschaft
keinesfalls eingebüßt zu haben, obwohl das Feld der Figurenfor-
schung bereits unter zahlreichen Blickwinkeln bearbeitet wurde. So
wurden in den ganz frühen Ansätze von der Antike bis ins 19. Jahr-
hundert vorherrschend normative Anweisungen formuliert, anhand
derer sich rhetorische und rezeptive Effekte der Figurendarstellung
erzielen lassen sollten.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sorgten zunehmend systematische
Forschungsvorhaben für mittlerweile fest etablierte Unterscheidun-
gen, Kategorien und Typologien. Und auch die Diskussion, die seit
der Mitte des 20. Jahrhunderts das Feld der Figurenforschung maß-
geblich in Form von zwei Fragestellungen bereitet hat, ist abge-
schlossen: Zum einen wurde darum gerungen, ob Figuren eher als
menschenähnliche Wesen oder als ästhetische Strukturen beobachtet
1 Zeitgleich zu diesem Band erscheint der internationale Sammelband Characters in Fic-
tional Worlds (hrsg. v. Jens Eder, Fotis Jannidis u. Ralf Schneider, 2010).
2 U.a.: Postmodern Characters (Aleid Fokkema, 1991); Menschendarstellung (Thomas
Koch, 1991); Figurendarstellung im Roman (Göran Nieragden, 1995); Engaging Charac-
ters (Murray Smith, 1995); The Phantom of the Cinema (Loyd Michaels, 1998); Grundriß
zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption (Ralf Schneider, 2000); Figur und Person
(Fotis Jannidis, 2004); Fictional Minds (Alan Palmer, 2004); Character development and
storytelling for games (Lee Sheldon, 2004); What ist the Avatar (Rune Klevjer, 2006);
Offene Welten ohne Helden (Margrit Tröhler, 2007); Die Figur im Film (Jens Eder, 2008).
3 Vgl. Uri Margolins Beitrag in The Cambridge Companion to Narrative (hrsg. v. David
Herman, 2007) und Fotis Jannidis Beitrag in Handbook of Narratology (hrsg. v. Peter
Hühn, John Pier, Wolf Schmid u. Jörg Schönert, 2009).
Vorwort
8
werden sollten. Zum anderen wurde debattiert, ob Figuren eher durch
ihren Anthropomorphismus oder ihre Aktionen d.h. durch ihre po-
tenzielle Relevanz für den Plot in der Forschung Geltung erlangen
sollten.
Heute herrscht weitestgehend Einvernehmen darüber, dass die
medienspezifischen Darstellungsweisen dazu führen, dass die Zu-
schauer via Rezeption eine Vorstellung von einer Figur entwickeln
und diese kann, sie muss aber nicht unbedingt menschenähnlich sein.
Auch wenn die dominante Referenz vieler Ansätze die Menschen-
ähnlichkeit bleibt, verliert dieser Vergleichshorizont an Relevanz,
weil sich vor allem die bemerkenswerte Flexibilität und Multifunk-
tionalität von Figuren in den Vordergrund der Beobachtung drängt.
Im Zeitalter der Inter- und Transdisziplinärität werden Figuren in
einem zunehmend transversal verknüpften Mediensystem demzufolge
zumeist als multiple Phänomene beschrieben, die auf einer zeichen-
haften Verfasstheit im medialen Material basieren und in Abhän-
gigkeit zur Eindeutigkeit und Deutlichkeit der medialen Vorlage für
mehr oder weniger abweichende Vorstellungen beim Publikum sor-
gen.
Zahlreiche aktuelle Ansätze orientieren sich am narratologischen
Paradigma und hantieren medienübergreifend mit vergleichsweise
hoch aggregierten narratologischen Basiseinheiten. Weiterhin finden
sich aktuelle Figurentheorien in (sozial-)psychologische, kommuni-
kations- oder rezeptionstheoretische Konzeptionen eingebettet und
begreifen Figuren als kommunikative oder rezeptive Effekte. Eine
zentrale Herausforderung der Figurenforschung besteht derzeit folg-
lich darin, die interdisziplinären Ansätze miteinander zu kombinieren,
ohne dass es aufgrund ihrer unterschiedlichen paradigmatischen Pro-
venienz zu konzeptionellen Friktionen kommt.
Hier wird demgegenüber der Versuch unternommen, die Figur
nicht als Objekt sondern als Effekt zu begreifen, der sich anhand von
Beschreibungen von Figurenkonzepten in unterschiedlichen Medien
und Medienangeboten beobachten lässt. Dabei zeigt sich die Figur
allerdings nicht als klare Linie oder gar eindeutige Struktur, sondern
vielmehr als ein Spektrum an begrenzten Variationen, die über mehr
Ähnlichkeiten verfügen als Differenzen.
Die aktuelle Herausforderung, der sich dieser Band stellt, besteht
demzufolge darin, Figurenkonzepte als intermediales Sediment zu
erarbeiten. Die Voraussetzungen dafür bestehen einerseits im
transmedialen Vorkommen von Figuren und andererseits in ihrer
Vorwort
9
Medienspezifik. Durch die kontrastive Beobachtung von gängigen
Figurenkonzepten in unterschiedlichen Medien und Medienangeboten
so das Kalkül der Herausgeber setzen sich die Formen der Figur
als wiederholt wahrgenommene Strukturen gleichsam zwischen den
Medien ab.
Siegen, im Oktober 2010 Henriette Heidbrink und Rainer Leschke
10
11
Einleitung: Zur transmedialen Logik der Figur
Dass Figuren in den Medien vorkommen ist ebenso bekannt, wie es
zumeist leichthändig übersehen wird. Medien ohne Figuren und ohne
figuratives Potential wie etwa das Telefon und die CD sind ent-
sprechend selten, und zumeist handelt es sich um Medien, die sich
weitgehend auf die Übermittlung und Speicherung von Informationen
beschränken und keine eigenen kulturellen Formen hervorgebracht,
sondern vor allem beschleunigt und archiviert haben. Diese sich vor-
nehmlich durch ihre Transparenz1 auszeichnenden Medien verhalten
sich in Bezug auf die Figuration eher zurückhaltend. Aber die mei-
sten Medien üben sich keineswegs in derartiger Bescheidenheit, son-
dern sie erheben z.T. durchaus mit Vehemenz Anspruch darauf,
kulturell zu intervenieren.
Sobald das geschieht, treten immer auch Figuren auf den Plan: So
kennen nicht nur Filme, Theater, Literatur und Texte Figuren, son-
dern eben auch die Malerei, die Lyrik, die Fotografie, das Fernsehen,
der Rundfunk, die Computerspiele und die Hypertexte. Figuren be-
völkern zudem sämtliche der von Hybridformen zwischen diesen
unterschiedlichen Medien gebildeten Nischen. Insofern hätte man mit
den allgegenwärtigen Figuren quasi eine Art Geld der Medien gefun-
den, also jene universale Tauschinstanz, die alle gleich macht oder
alles grau werden lässt. Nur sind, vielleicht damit gerade das nicht
geschieht und die Welt nicht in Grauwerten versinkt, Figur und Figur
ebenso zweifelsfrei in all diesen Medien nicht dasselbe.
1 Die Transparenz der Medien rekurriert auf Heiders Medienbegriff aus den 1920er-Jahren,
der insbesondere durch die prominenten Zwischenträger Niklas Luhmann und Sybille
Krämer am Leben erhalten worden ist. Heider geht davon aus, dass Medien optimaler
Weise Informationen störungsfrei transportieren sollten und daher möglichst wenig Eigen-
sinn aufweisen sollten. McLuhan kaprizierte sich demgegenüber auf die formbildende
Leistung der Medien: Das Medium ist nur so lange die Botschaft, solange es Formen und
mit diesen Bedeutung generiert. Diese antagonistischen Medienkonzepte verfügen glei-
chermaßen über einen empirischen Grund und d.h., sie sind beide nicht von der Hand zu
weisen, sie betonen allerdings jeweils nur eine Dimension von Medialität. Insofern sind
beide, Transparenz und Gestaltbildung, Qualitäten von Medien und die Einzelmedien
bewegen sich in dem von diesen beiden Extrema gebildeten Spektrum. Dabei lassen sich
zwischen der Affinität von Medien zum Konzept von Figur und der formbildenden Lei-
stung von Medien Bezüge herstellen: Formbildung ist in diesem Sinne die mediale Voraus-
setzung der Figuration.
Rainer Leschke
12
Zu funktionieren scheint diese enorme intermediale Beweglichkeit
der Figur über ein spezifisches Verhältnis von Differenz und Ähn-
lichkeit: All die verschiedenen Figurenkonzepte der unterschiedlichen
Medien haben partielle Gemeinsamkeiten und unterscheiden sich
gleichzeitig auf der anderen Seite kaum minder deutlich. Dabei fällt
es trotz der vorhandenen Gemeinsamkeiten relativ schwer, so etwas
wie einen Kern von Eigenschaften oder Merkmalen zu isolieren, der
für alle Figurenkonzepte gleichermaßen Geltung besäße. Derartig
prekäre Verhältnisse von Ähnlichkeit und Differenz sind vergleichs-
weise selten theoretisch modelliert worden.
So könnte etwa Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit
dazu herangezogen werden, dieses ambivalente Verhältnis von Diffe-
renz und Ähnlichkeit zu formulieren. Allerdings bliebe es selbst dann
immer noch bei einer relativ diffusen Metapher, also einem Sprach-
spiel, das selbst eben wesentlich Sprachspiel ist. Ausgedrückt würde
damit nämlich vor allem jene Indifferenz, auf deren Aufhebung der
vorliegende Band abzielt. Die Abwesenheit eines einfachen theoreti-
schen Konzeptes für das, was mit der Figur bei den Medienwechseln,
denen sie ausgesetzt ist, geschieht, verweist auf zweierlei: Einmal auf
die genaue Analyse der verschiedenen Modi von dem, was in den
Medien als Figur fungieren kann und zum anderen auf die konzeptio-
nelle Arbeit an dem, was im Medientransfer mit solchen Konzepten
wie denen der Figur grundsätzlich geschieht. Es geht mithin um eine
Bestimmung der Wechselkurse, die zwischen den einzelnen Figuren-
konzepten anzusetzen sind und die die Ökonomie der Figur im Medi-
ensystem regulieren. Das aber bedeutet vor allem, dass nicht bei dif-
fusen Aussagen stehen geblieben werden kann, sondern dass den
Bezügen zwischen den einzelnen Figurenkonzepten differenziert
nachgegangen werden muss: Die Autorinnen und Autoren dieses
Bandes gehen davon aus, dass es bei dem, was Figuren in den diver-
sen Einzelmedien repräsentieren, und dem, was zwischen den Medien
als Ähnlichkeiten entsteht, um mehr als einen zufälligen, d.h. um
einen systematischen Zusammenhang handelt: Folglich besteht das
Projekt dieses Bandes darin, die Funktionen und die Ästhetik dieser
komplexen Interferenzen und Überschneidungen zu rekonstruieren.
Konzeptionell werden Figuren dabei als mediale Formen begriffen,
die durch das Mediensystem migrieren. Mediale Formen stellen Ein-
heiten dar, die systematisch über das einzelne Medienangebot hi-
nausweisen. Sie werden folglich als Größen begriffen, die die Me-
dienangebote eines Mediums generell oder wenigstens einen definier-
Einleitung
13
ten umfänglichen Teil davon betreffen. So sind mediale Formen in
die Formästhetik des jeweiligen Mediums eingelassen. Sie sind Ein-
heiten, die diese Formästhetik auf eine bestimmte Weise organisieren
und damit systematisch komplexere Strukturen aufweisen als die
formästhetischen Eigenschaften des Mediums. Zugleich sind mediale
Formen stets mehr als Zeichen.2 Es handelt sich bei ihnen zwar um
relativ große Einheiten, dennoch verfügen sie im Gegensatz zu Wer-
ken über eine vergleichsweise geringe Eigenspezifik. Mediale For-
men sind mitten in dem Kontinuum von Werk und Zeichen positio-
niert und zugleich sind sie kleiner als die jeweiligen Einzelmedien
und Werke, in denen sie sich bewegen. Daher können mediale For-
men in einem emphatischen Sinne und d.h. notwendig als Kategorien
mittlerer Größe verstanden werden, die damit genauso gut universale
Differenzen entstehen lassen wie sie Vermittlung ermöglichen.
Mediale Formen sind damit als universale Kontrastfolie für den
Aufbau von Bedeutungen entscheidend. Dennoch handelt es sich bei
ihnen genauso gut um medienübergreifende Kategorien. So gehört
die Transferierbarkeit ganz offenkundig zu den Struktureigenschaften
medialer Formen. Mediale Formen generieren so eine eigene Ord-
nung, die quer zu den Ordnungsstrukturen von Medium, Werk und
Zeichen steht. Dieses zweite Ordnungsmodell erlaubt nicht nur den
Transfer von medialen Formen wie der Figur, sondern verhilft zur
Konstitution von Bedeutung durch die Verschiebung von Interferen-
zen und Differenzen. Mediale Formen beteiligen sich also am kultu-
rellen Spiel der Bedeutungskonstruktion in einem durchaus ausge-
zeichneten Maße.
Die Figur steht in diesem Konzert medialer Formen keineswegs
allein, sondern es handelt sich um ein vielgestaltiges Panoptikum an
Formen, das von so unterschiedlichen Repräsentationen wie Drama-
turgien und ihren ausdifferenzierten Teilen, Genres, Formaten, bis hin
zu an spezifische Medien gebundenen Einzelformen3 reicht. Figuren
als mediale Formen, sind also Konstruktionen in den Medien. Es sind
Konstruktionen von selbständigen Einheiten, die den medialen Funk-
tionsprozess über ihre Formleistungen unterstützen und abfedern.
Figuren zeichnen sich darüber hinaus noch dadurch aus, dass sie als
Formen instantan sicht- und erfassbar sind: Figuren sind nicht wie
etwa Dramaturgien nur in streng genommen eigentlich erst nach
2 Vgl. dazu den Beitrag von Jochen Venus in diesem Band.
3 Wie etwa Bullet Time, Splitscreen im Film, die Cutsceen oder das Tutorial im Computer-
spiel etc.
Rainer Leschke
14
ihrem Vollzug wahrnehmbar, sondern sofort und spontan. Und es ist
diese spontane und zugleich vollständige Erfassbarkeit, die sie nicht
nur als Form bemerkbar macht, sondern die sie so geeignet für den
Transfer erscheinen lässt. Wenn mediale Formen sich so gut als Ver-
bindungsglieder zwischen den Medien eignen, dann gilt das für eine
so vorzüglich sichtbare Form wie die der Figur, die noch dazu in
nahezu allen relevanten Medien vorkommt, in noch weitaus größerem
Maße.
Figuren sind als mediale Formen zugleich immer auch Träger
kultureller Bedeutungen, ja zumeist ganzer Bedeutungscluster, so
dass man in kulturellen Interaktionen kaum jemals ernstlich ohne sie
auskommen wird. Hinzu kommt ihre strukturelle Sichtbarkeit als
Handlungsträger, die sich quasi in ihrer medialen Omnipräsenz nur
verlängert. Figurenkonzepte weisen damit so etwas wie historische
und kulturelle Signifikanz auf und nicht nur das: Ihre jeweils medien-
gebundenen Erscheinungsformen demonstrieren zugleich so etwas
wie mediale Signifikanz. Figuren sind daher gleichzeitig ein exzel-
lentes Objekt, um jene Bewegungen und Dynamiken zwischen den
Medien, die mit der zunehmenden Komplexität von Mediensystemen
immer mehr an Relevanz gewinnen, zu analysieren.
Die Sichtbar- und Bedeutsamkeit von Figuren und ihre vielfach
4
anthropomorphe Gestalt versorgen Figuren, sobald sie Menschen
oder menschähnliche Wesen repräsentieren, mit einem Überschuss an
Natürlichkeit. Dieser sorgt zunächst einmal dafür, dass die Allgegen-
wart von Figuren nicht als besonders befremdlich empfunden wird:
Menschen halten sich und ihre Repräsentationen nun einmal r das
Natürlichste der Welt. Ihre narrative und mediale Funktionalität rückt
dabei aus dem Blick. Denn qua ihrer Funktionalität dienen Figuren
zuallererst als Handlungsträger und sie sind daher für jede noch so
einfache Handlungsrepräsentation erforderlich. Aber allein schon der
Verweis auf die Figur-Grund-Relation der Gestaltpsychologie, an der
an sich nichts Handelndes dran ist, verdeutlicht, dass offenbar die
Funktionalität der Handlung allein nicht genügt, den Status von Figu-
ren hinreichend zu bestimmen. So ist an der Figur als Gestalt nicht
zwangsläufig auch etwas Menschliches oder Anthropomorphes, viel-
mehr reicht für diesen Bezug das aus, was sie mit den Figuren der
Geometrie gemein hat, dass es nämlich um begrenzte Flächen oder
Formen geht. Nun sind zweifellos auch Subjekte und menschliche
4 Dass dieses keineswegs immer der Fall sein muss, wird an Spielfiguren deutlich, die
Spielstände markieren und dieses in sehr unterschiedlicher Gestalt tun können.
Einleitung
15
Wesen begrenzt, nur genügt wiederum das allein weder für die Figur
als Handlungsträger noch für die Bestimmung von Figur als Gestalt
oder geometrische Erscheinung und eine Verpflichtung auf anthro-
pomorphe Zusammenhänge wäre in jedem Fall eher störend. Den-
noch ist die Entität der Figur in jedem Fall bedeutsam, bildet sie doch
zumindest eine der Voraussetzungen ihrer Migration durch das Medi-
ensystem, denn der Transfer von Modellen und Konzepten ist zumin-
dest an deren Einheit gebunden. Es handelt sich mithin bei dieser
relativ unschuldig daher kommenden medialen Form der Figur um
ein komplexes System der Übertragung von Bedeutung und Ordnung
innerhalb des Medien- und Kunstsystems, die auf durchaus eigene
Weise dem System eine im Nachhinein als natürlich erscheinende
Stabilität verleiht. Dass die Komplexität dieser Ordnung nur durch
eine multiperspektivische Näherung überhaupt zu erfassen ist, dem
wird versucht, durch die unterschiedlichen medialen Perspektiven,
die dieser Band vereinigt und in einen systematischen Zusammen-
hang integriert, Rechnung zu tragen.
Petra Maria Meyer schlägt auf dem wohl ältesten und zugleich
prominentesten medialen Feld der Figur, dem Theater, den Bogen
von der Gestalt zur Figuration und Transfiguration. Die Figur betritt
die kulturelle Bühne in Gestalt einer Art prästabilisierter Einheit,
nämlich der von »Rolle und leiblicher Erscheinung des Schauspie-
lers« (53), die zu einem heimlichen regulativen Prinzip von dem wer-
den sollte, was auch gegenwärtig immer noch unter Medienfigur
verstanden wird. So hat dieses Verhältnis von dem Körper des Schau-
spielers und der Handlungsrolle zweifellos eine prägende Kraft ent-
wickelt. Zugleich weist die Figur im Theater eine ungeheure Band-
breite an Formen auf, die bis zu den Transfigurationen des »Klang-,
Bilder- und Bewegungstheater[s (54) reicht. Das lässt allein schon
auf dem Feld des Theaters deutlich werden, dass es sich beim Kon-
zept der Figur, selbst wenn man sie nur in einem einzelnen Medium
reflektiert, immer schon um ein dynamisches Konzept handelt.
Ausgehend von einem Modell des Natürlichen und Ganzheitlichen
der Figur im Theater des 18. Jahrhunderts, also orientiert an der Re-
präsentation der Idee des bürgerlichen Subjekts, zeichnet Meyer die
quasi analog zum Schicksal dieses Subjektmodells verlaufende Dy-
namik des Figurenkonzepts im Theater nach. Diese reicht bis zum
»Trauma des zerstückelten Körpers« (58), das dafür sorgt, dass die
Figur in einen Prozess der permanenten Transfiguration eingeschrie-
ben bleibt. Petra Maria Meyer zeigt, dass die Fragmentierung und
Rainer Leschke
16
Partialisierung des Körpers eine für das Theater ungleich radikalere
Erfahrung darstellt, als sie es vielleicht für andere Medien wie den
Film ist, dem die Zerstückelung quasi als technisches Prinzip, näm-
lich als Montage, inhäriert. Dieser Prozess der Auflösung der Figur
reicht bis zur Reduktion auf jene reinen »Sprachflächen« (66), die
eine Abkehr vom Repräsentationsmodell der Figur insgesamt nahe-
zulegen scheinen. Meyer zeigt zugleich aber auch, dass der Prozess
des Wandels der Figurenkonzeptionen des Theaters kein Verdrän-
gungsprozess ist. Vielmehr ist von einer Koexistenz der verschiede-
nen historisch aggregierten Modelle von Figur auszugehen.
Die Figurenkonzepte im Tanz fügen der Rollenfigur des Theaters
noch die Betonung der Raumgestalt des Körpers des Tänzers und vor
allem die Bewegungsfigur hinzu. Mit der Bewegungsfigur kommt
gegenüber dem Figurenmodell des Theaters strukturell noch ein wei-
teres Moment ins Spiel: die geometrische Figur. Durch die geometri-
sche Figur findet, wie Christiane Berger zeigt, eine Übertragung von
Rationalitätsidealen auf den Tanz statt. Die Trias von Raumfigur des
Körpers, Schrittfolge und dramaturgischer Figur bestimmt damit die
Figurenkonzeption des Tanzes. Dabei sind die Raum- und die Bewe-
gungsfiguren des Tanzes von einer besonderen Flüchtigkeit gekenn-
zeichnet, so dass die Wahrnehmung der Figur eine spezifische Re-
zeptionsleistung erforderlich macht. Die »Figur segmentiert das Be-
wegungskontinuum« (73) und führt somit zu einer eigenen Struktur-
bildung, die im Theater vom Konzept der Natürlichkeit und Ganzheit
geleistet wurde.
Die Bewegungsfiguren strukturieren nicht nur Bewegungskonti-
nua, sie lassen sich vor allem als einzelne Figuren allererst im Nach-
hinein oder in der Wiederholung identifizieren. Figuren bilden typi-
sche Repertoires aus und stellen damit eine Grundlage für die Unter-
scheidung von Tänzen dar. Dabei sorgt der Übergang vom Formen-
kanon zur Improvisation für eine sukzessive Auflösung wiederholba-
rer und damit identifizierbarer Formen. So werden im Tanztheater
von Berger ähnliche Auflösungsprozesse einer »statische[n] Konzep-
tion von Körper- und Bewegungsfiguren« »durch prozessbetonte
Modelle« (74) beobachtet, wie sie mit dem Konzept der Transfigura-
tion von Meyer im Theater aufgezeigt werden.
Die Strukturen und die Strukturierungsleistungen der literarischen
Figur differenzieren vor allem das, was in Theater und Tanz als dra-
maturgische Figur erscheint. Beim Übergang vom Theater zum Tanz
und zur Literatur wird ein Prozess deutlich, den man als eine partielle
Einleitung
17
Formkopplung bezeichnen kann. Solche partiellen Formkopplungen
herrschen zwischen unterschiedlichen Medien und lassen das Kon-
zept der Figur in seinem intermedialen Transfer so fluide erscheinen.
Während die Rollenfigur des Theaters durch die Bewegungsfigur des
Tanzes in die Geometrie transgrediert und solcherart angereichert
wird, sind die Figurenkonzepte der Rollen- oder Handlungsfigur
Grundlage der literarischen Figurenkonzeption. So lassen sich die
wesentlichen Filiationen der medialen Form Figur einerseits auf die
Gestalt, also auf das Raumkonzept und seine Geometrie, andererseits
auf die Repräsentation eines Handlungsträgers, also das Subjektmo-
dell, zurückführen.
Nicolas Pethes betont, dass die Medialität des Figurenkonzepts erst
ex post also nach der stürmischen medientechnischen Entwicklung
um 1900 und ihrer Vervielfältigung medialer Angebote erkannt wer-
den konnte. Dass die Literaturgeschichte so sehr mit einem persona-
len Figurenkonzept verbunden ist, hängt mit ihrer Abhängigkeit von
Akteuren zusammen. Diese Abhängigkeit geht jedoch über den nor-
mativ konstituierten Bereich von Literatur als Teil des Kunstsystems
hinaus und betrifft generell alle Texte, sofern diese »Handlungen,
Gedanken und Aussagen (und nicht lediglich Sachinformationen oder
philosophische Reflexionen) zum Gegenstand haben« (88). Figuren
sind also eine narrative Form: »Figuren werden erzeugt, indem inner-
halb eines Erzähltextes Handlungen Personen zugerechnet werden«
(89).
Zugleich verweist Pethes auf den der Zuschreibung von
Handlungsträgerschaft inhärierenden mimetischen Aspekt und damit
auf Analogien zu »textexterne[n] Welten« (90). Da Erzählungen
dominant von Figuren handeln, die zumeist einer dichotomischen
Anordnung unterliegen, und da die Figur narrativ als eine eher stati-
sche Instanz konzipiert ist, ist es nach Pethes kaum verwunderlich,
dass gerade im Bereich der Figurenkonstruktion Standardisierungen
beobachtet werden können. Zugleich wird der Wandel in den Form-
bildungen, Standardisierungen und Perspektivierungen, dem Figuren
historisch ausgesetzt sind, nachgezeichnet. Die Figur erweist sich
damit zugleich als eine historische Form, die allein mittels der Ver-
änderungen dieser ihrer medialen Form »geschichtliche Zeugen-
schaft«5 erlangt.
5 Benjamins an die Aura und Echtheit des Kunstwerks gekoppelte Kategorie wird durch die
Form der Figur quasi in einen generalisierten Modus überführt (vgl. Benjamin 1973, 13).
Rainer Leschke
18
Auch wenn die mediale Form der Figur nicht nur in der Literatur,
sondern auch in der Lyrik stets eine historische Dimension aufweist,
so heißt das noch längst nicht, dass zwischen erzählender Literatur
und Lyrik in Bezug auf die Figurenkonzeption nicht formästhetische
Differenzen existierten. So rekonstruiert Iris Hermann das Konzept
der Figur in der Lyrik als einen »Ort des Sprechens« (129), was die-
sem ja auch in der erzählenden Literatur vorkommenden Figurenmo-
dell ein besonderes Gewicht verleiht. Das lyrische Ich als das Subjekt
des Sprechens macht dabei zugleich die historischen Transformatio-
nen, die das Subjekt als sozialer Konstruktion erfährt, mehr oder
minder mit. So ist das lyrische Ich der Barocklyrik kein individuelles,
sondern ein repräsentatives. Das Ich markiert also vornehmlich eine
Perspektive6 des Sprechens. Zugleich zeigt Hermann, dass sich die
Figurenmodelle der Lyrik von der anthropomorphen Konstruktion
zum »funktionalen Bauelement« (115) von Texten entwickeln. Mit
der medialen Form der Figur wird so in lyrische Texte eine Deixis
implementiert, die die Rezeption steuert.
Hermann verweist darüber hinaus darauf, dass es sich bei den
Figurenkonstruktionen der Lyrik nicht um ein ganzes oder vollständi-
ges, sondern um ein »dissoziatives Ic (118) handelt, was die Re-
duktion des Ichs auf einen perspektivischen Ort des Sprechens noch
verstärkt. Dass die Figurenkonzeptionen der Lyrik sich keineswegs
auf das lyrische Ich beschränken, zeigt Hermann an den verschiede-
nen Modi der Figurenausbildung auf, die immerhin von den Kon-
struktionen eines Wir oder Du über göttliche Figuren bis hin zum
Ding und Tier reichen. Allerdings wird zugleich deutlich, dass die
Lesbarkeit der Figur, d.h. ihre Interpretierbarkeit, gerade durch die
Offenheit dieser Figurenkonstruktion in der Lyrik als einer textuellen
Perspektive überhaupt erst ermöglicht wird.
Neben die textuelle Konstruktion der Figur in der Lyrik tritt in der
Popmusik die Repräsentation des Sprechens mittels einer sprechen-
den Person. Dabei ist dieses duale Figurenkonzept von textueller und
präsentierender Figur nach Christoph Jacke in einen Bedingungszu-
sammenhang von medialen, medientechnischen, institutionellen und
formästhetischen Voraussetzungen eingebunden. Die Figuren der
Popmusik sind darüber hinaus in einen Medienverbund integriert. Es
handelt sich insofern immer schon um systematisch transmedial an-
6 Dabei unterliegt das Konzept der Perspektive ähnlichen formästhetischen Bedingungen
wie die mediale Form der Figur. Von daher werden im lyrischen Ich quasi zwei Formen
enggeführt. Zur medialen Form der Perspektive vgl. Leschke 2010, 44ff.
Einleitung
19
gelegte Figurenkonzepte. Zwar kann die Engführung von Text- und
Präsentationsfigur zu einer Verdichtung der Figur und damit zu einer
Reduktion ihrer Offenheit führen, sie scheint jedoch zugleich die
Bedingung ihrer medienübergreifenden Anlage darzustellen. Die
Verdichtung des Figurenmodells durch die Abbildung zweier Kon-
strukte aufeinander geht insofern einher mit seiner medialen Öffnung.
Zugleich führt die Engführung und transmediale Repräsentation des
Figurenkonzepts zu einer Erosion der Differenz von Fiktion und Do-
kumentation, die sich in einer Intensivierung des mimetischen
Aspekts und zugleich in solch ambivalenten Konstrukten wie dem
des Images ausdrückt.
Wenn in der Popmusik von einer tendenziellen Erosion der Diffe-
renz von Figur und Person auszugehen ist, so ist für die Presse ein
ähnlicher Prozess anzunehmen, der jedoch in der exakt umgekehrten
Bewegungsrichtung verläuft: Die Person wird zunehmend mit figu-
ralen Attributen versehen und damit selbst immer mehr zur Figur.
Christian Imminger zeigt zunächst einmal auf, dass das figurative
Repertoire in diesem Feld grundsätzlich weiter gedacht werden muss,
da allein schon die historisch evolvierten Formen der Darstellung in
der Presse vom Layout bis hin zur Logik der Textsorten und zum
Text-Bild-Verhältnis selbst auch figurative Aspekte aufweisen.
Neben diesen rein formästhetischen Darstellungsfiguren der Presse
hat diese jedoch von Beginn an zugleich auch Figurenrepertoires, die
sich wie in der Literatur vornehmlich an Handlungsrollen ausrichten.
Diese handlungsrelevanten Figurenmodelle verfügen jedoch in der
Presse über eine besondere Funktion: Die in der Bandbreite von Pro-
tagonisten und Antagonisten angesiedelten Figurenrepertoires über-
nehmen nämlich immer auch eine politische Orientierungsfunktion.
Das jedoch macht darauf aufmerksam, dass sich der Modus der nor-
mativen Kodierung des Figurenmodells im Transfer ändern kann: Die
prinzipiell dualistische, normativ jedoch indifferente Strukturierung
des Figurenrepertoires in narrativen Umgebungen wird im Medium
der Presse auf eine politische Kodierung verkürzt. Neben diesem
politisch aufgeladenen Repertoire von Handlungsträgern beobachtet
Imminger eine immer größere Bedeutung von Autorenfiguren in den
Pressetexten. Dies muss nicht zwangsläufig mit einer Personalisie-
rung einhergehen, sondern kann durchaus auch anonymisiert mittels
einer spezifischen Figurenfunktion der Presse, nämlich der Zeugen-
schaft, bewerkstelligt werden. Zugleich wird anhand dieser doku-
mentarischen Figurenfunktion deutlich, dass die Presse sich nicht nur
Rainer Leschke
20
bei literarischen Modellen bedient, sondern auch eigene Figurenmo-
delle generiert hat.
Während die Figur in der Lyrik dem Sprechen eine Perspektive
gibt, wird sie in der bildenden Kunst vom zentralperspektivischen
Bildraum in und unter eine Perspektive gestellt. Norbert Schmitz
analysiert dabei den Wandel, den die Figurenmodelle in der Kunstge-
schichte von dem Entstehen der Zentralperspektive in der Frührenais-
sance bis zu deren Aufgabe in der Moderne erfahren haben. Schmitz
macht darauf aufmerksam, dass sowohl die individualisierende Figu-
rendarstellung als auch die Zentralperspektive an die Entstehung des
Subjekts als soziale Kategorie gebunden war. Dabei verweist Schmitz
darauf, dass der Prozess der Figuration durchaus als ambivalent ein-
zuschätzen ist: Denn es handelt sich keineswegs ausschließlich um
eine Emanzipation des Subjekts, sondern genauso gut um dessen
Unterwerfung unter einen als universal gedachten Systemraum.
Diese Strukturen der Figurendarstellung zerbrechen wiederum in
der Malerei der Moderne und auch hier geht Schmitz von einer Syn-
chronie von sozialem und ästhetischem Prozess aus. Die Analogie für
den zentralperspektivischen Bildraum sieht Schmitz in den Ord-
nungsprinzipien des Classical Style, mit dem für den Film eine eigene
Natürlichkeit der Figurendarstellung entwickelt worden ist. Dabei
geht er davon aus, dass die Modi der Figurenverwendung eine Achse
zwischen der sozialen Funktion des Subjekts und dem medialen
Wandel bilden. Zugleich wendet Schmitz sich gegen die Verabsolu-
tierung eines »eindimensionalen Entwicklungsmodells« (203) der
Figurendarstellung, das eine sukzessive Aufgabe der Figurendarstel-
lung in der Kunst unterstelle, und nimmt demgegenüber vielmehr
eine Kopräsenz der unterschiedlichen Modi der Figurendarstellung
an. So weist er auf die in dieser Koexistenz sich ausdrückende »an-
dauernde gesellschaftliche Funktionalität« (207) der Figurendarstel-
lung hin, die eben auch für die Formen der Hochkunst über Bedeu-
tung verfüge, ja letztlich für sie sogar eine Herausforderung darstelle.
Für Jörn Glasenapp beschränken sich die Präsenz von Figuren in
der Fotografie und damit die Bedeutung der Kategorie wesentlich auf
die inszenierte Fotografie. Die Idee der Figur ist dem Gefundenen des
fotografischen Objekts ebenso fremd wie die Narrativierung, an die er
die mediale Form der Figur gebunden sieht. Allerdings wird das
Moment der Figur quasi ex post ins Dispositiv der Fotografie inte-
griert. Glasenapp verweist unter Rekurs auf Berger darauf, dass im
Prozess der Interpretation von Fotografien eine implizite, Sinn kon-
Einleitung
21
stituierende Narrativierung des fotografischen Bildes erfolge, die
zugleich den Status des Objekts betreffe: Das fotografische Bild wird
in konstruierte und Sinn ermöglichende Geschichten integriert.
Damit erlangen abgebildete Personen zumindest potentiell einen
Figurenstatus. Die Figur ist also in diesem Kontext das Produkt einer
rezeptiven Haltung und beruht auf deren impliziter Intermedialität,
also der Anwendung des narrativen Paradigmas auf die Fotografie.
Zugleich macht Glasenapp auf den der Fotografie typischen Modus
der Präsentation von Figuren aufmerksam, nämlich den des Zeigens,
der dem Modus des Sagens, wie er in narrativen Kontexten vor-
herrscht, entgegengesetzt ist. Die stumme Fotografie kann Figuren
eben nur zeigen, Narration bleibt wenigstens zumeist auf eine
rezeptive Supplementierung angewiesen. Die Beschränkung der Fo-
tografie auf den Modus des Zeigens ist zugleich, wie Glasenapp zeigt,
der Grund ihrer systematischen Offenheit.
Dass es sich im Comic um Figuren im emphatischen Sinne han-
delt, die Figur und Marke zu einer Einheit synthetisieren, führt Jens
Meinrenken aus. Der Comic hat in diesem Sinne „originäre Figuren“
(242) entwickelt, die durch ihre Kraft die Narration weitgehend zu
determinieren scheinen. Umgekehrt konterkarieren die künstlerische
Weiterverarbeitung von Figurenmodellen des Comic sowie ihre Re-
zeption als „Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums“ (Benjamin
I, 2, 462) jedoch gleichzeitig, so Meinrenken, ihre vorrangige Auffas-
sung „als stereotype und eindimensionale Verkörperungen einer mas-
senmedialen Populärkultur“ (230). Die Bedeutung der Figur wird
nicht zuletzt dann unübersehbar, wenn Autoren mit Figuren den Pa-
nelrahmen zu transzendieren trachten und damit implizit die formäs-
thetischen Konventionen des Genres thematisieren und zugleich for-
male Bezüge zum Theater deutlich werden lassen. Nicht zuletzt das
dynamische Potential, das die Figur im Medium Comic gewinnt, lässt
ein Spiel von Figur und Gestalt und damit ein implizites Reflexiv-
Werden des Figurenkonzepts möglich werden. Mit dem Verweis auf
die enormen Transformationsmöglichkeiten dieser Art zeichnerischen
Morphings, die anderen traditionellen Medien zumindest in dieser
Deutlichkeit eher abgeht, lässt Meinrenken die enorme Bandbreite
der Figurenkonzepte des Comics deutlich werden.
Dass der Film deutlich weniger Probleme mit den Narrationen hat
als die Fotographie und daher wie der Comic eine entschieden grö-
ßere Affinität zur Figur aufweist, ist evident. Dabei sind mit dem
Übergang zum Bewegtbild durchaus bedeutende Veränderungen im
Rainer Leschke
22
Figurenkonzept ermöglicht worden. So tritt nach Henriette Heidbrink
die Figur im Film vor allem als eine wahrnehmbare »dynamische
Körperlichkeit« (251) auf den Plan. Zugleich eröffnet die Großauf-
nahme, also die Fragmentierung des Körpers, den Raum für eine
Emotionalisierung der Figur. In der Filmfigur interferieren daher sehr
unterschiedliche Figurenkonzepte: nämlich einerseits die begrenzte
Fläche als Körperlichkeit bzw. als emotionalisiertes Körperfrag-
ment und andererseits ein narrativ codiertes Figurenmodell. Dieses
Überlagern verschiedener Figurenmodelle in der Filmfigur lässt diese
gleichzeitig strukturell so reichhaltig erscheinen. Aus dieser Konstel-
lation resultiert auch der paradigmatische Status, der der Filmfigur
generell für Figurenmodelle zukommt.
Zugleich sorgt der Reichtum an Formen der Figur im Film für jene
Vielgestalt theoretischer Modelle der Figur, die Heidbrink als Effekte
unterschiedlicher Beobachtungsalternativen rekonstruiert. Ähnlich
offen wird auch mit der unterschiedlichen Schärfentiefe, die Figuren
in filmischen Kontexten gestattet wird, umgegangen, indem die Aus-
differenziertheit der Merkmalsbestimmungen funktional analysiert
wird. Figurentypen, also Figurenmodelle mit einer gering ausgepräg-
ten individuellen Merkmalsausstattung, weisen so etwa eine ver-
gleichsweise hohe intermediale Mobilität und Mobilisierbarkeit auf.
Insofern sind Figurenmodelle immer aus ihren funktionalen Bedin-
gungszusammenhängen heraus zu rekonstruieren und keineswegs
absolut zu setzen. Wenn reflexive Bezugnahmen auf solche Figuren-
typen in filmischen Narrationen zu beobachten sind, wie es spätestens
seit dem postmodernen Film nicht selten der Fall ist, dann erweist
sich eben dieses Reflexiv-werden standardisierter Figurentypen als
Re-Individualisierung dieser hochgradig konventionalisierten Figu-
rentypen.
Bei den Figurenkonzepten des Fernsehens kann im Gegensatz zum
Mangel der Fotografie eher von einem Überschuss an figurativen
Konstruktionen und Darstellungsformen ausgegangen werden, der
noch über die Vielzahl der Figurenmodelle des Films hinausgeht. In
diesem Reichtum an figurativem Potential und auch in den Formen,
die dabei entwickelt werden, ähnelt das Fernsehen dem figurativen
Repertoire der Popmusik. Gerd Hallenberger zeigt, dass die Fernseh-
figur die drei Aspekte der Figur, nämlich professionelle Rollenfigur,
medial konstruierte Rolle und private Person, quasi zu einer Gesamt-
figur vereinigt und dass das Fernsehen das einzige Medium ist, das
aufgrund der Vielzahl der ihm als Medium zur Verfügung stehenden
Einleitung
23
Formate und Formen dazu in der Lage ist, alle drei Aspekte der Ge-
samtfigur medial zu inszenieren.
Hallenberger macht damit auf den konstitutiven Zusammenhang
von den Darstellungsformen, die einem Medium gegeben sind, und
den Repräsentationsmöglichkeiten von Figurenkonzepten aufmerk-
sam. Jede Programmform und innerhalb jeder Programmform
jedes Genre generieren eigene Rollen und damit eben auch mehr oder
minder spezifische Figurenkonzepte. Das Fernsehen integriert inso-
fern eine Reihe von Figurenmodellen und wird damit zu einer Art
Metamedium der Figur. Die Fernsehfigur ist Hallenberger zufolge
das Ergebnis eines formästhetischen Kumulationsprozesses, der in
eine medienübergreifende »Gesamtfigur« (282) mündet. Figurenkon-
zepte weisen und hier findet sich ein durchaus der Fotografie ver-
gleichbarer Befund eine wichtige Funktion bei den »Strategien der
Sinnproduktion« (291) auf.
Da zugleich in einzelnen Formaten des Fernsehens wie etwa in
Casting-Shows der Herstellungsprozess von Figuren zum Gegen-
stand der Beobachtung wird, verfügt das Fernsehen nicht nur über
eine intermediale Integration von Figurenkonzepten, sondern eben
auch über Formen, die sich mehr oder minder reflexiv mit deren Pro-
duktions- und Rezeptionsprozess auseinandersetzen. Hallenberger
verweist zudem darauf, dass die vom Fernsehen hervorgebrachten
bzw. integrierten Figurenmodelle in die sozialen Reproduktionspro-
zesse diffundieren. So stehen Figurenmodelle und soziale Realität in
einem konstitutiven Wechselverhältnis, worauf ja bereits die Ver-
weise auf das Subjekt als Referenzrahmen der Figurenentwicklung in
der bildenden Kunst hindeuten.
In der Werbung wird die Transferleistung medialer Formen ge-
nutzt, um eine Verbindung von Ware und Figur zu generieren. Damit
gerät jener Warencharakter als mögliche Funktion der Figur in den
Blick, die den Figuren im Mediensystem im Prinzip immer schon
zukommt. Jens Eder analysiert die Engführung von Marken-Icon und
Figur und entwickelt aus diesem Bezug das Figurenkonzept der Wer-
bung. Gerade Werbefiguren sind grundsätzlich immer schon interme-
dial angelegt. Sie nutzen also das strukturelle Transferpotential me-
dialer Formen, um so etwas wie eine standardisierte intermediale
Identität zu erzeugen. Diese Figurenkonstruktionen sind häufig »in
Verfahren der Symbolisierung von Produkt- oder Markeneigenschaf-
ten eingebunden« (305).
Rainer Leschke
24
Als mit funktionalen Interessen verbundene Figurenkonzepte, die sich
einem ausschließlich pragmatisch orientierten und damit strategi-
schen Konstruktionsprozess verdanken, lassen Werbefiguren die
Funktionalitäten und Modalitäten von Prinzipien der Figurenkon-
struktion hervortreten. Eder unterscheidet anhand von Werbefiguren
unterschiedliche Strategien der Figurenkonstruktion, die letztlich
auch den anderen Figurenkonstruktionen zugrunde liegen, die sich
allerdings aufgrund der nicht hinreichend definierten pragmatischen
Kontexte, sonst nur selten ermitteln lassen. Nicht zuletzt die Ȁsthe-
tik der Prägnanz« (315), die für die Werbefiguren gilt, führt zu einem
Offenlegen des strategischen Grundes der medialen Form der Figur.
Während der strategische Impuls die Konstruktion von Werbefiguren
beherrscht, sieht ihr Funktionsmechanismus vor, dass die Rezeption
von eben dieser Konstruktion absieht und in den konventionellen
Rezeptionsmodus von Figuren verfällt.
Lisa Gotto rekonstruiert die Figurenmodelle des Videoclips als Re-
flexion der Formen des Fernsehens. Die Figuren des Videoclips sind
in diesem Sinne genauestens auf die Performativität des Fernsehens
hin kalkuliert. Der Videoclip verdichtet damit die Formmerkmale des
Fernsehens: So nimmt er die Motive des Zappings, der Wiederho-
lung, die als Voraussetzung des Popstars anzusehen ist, und der Öko-
nomisierung auf. Zugleich lässt sich der strukturelle Bezug zum Wer-
befilm kaum verleugnen. Die strukturelle Intermedialität macht quasi
den formästhetischen Kern der Figurenmodelle des Videoclips aus.
Dabei setzt das Repertoire der hier beobachtbaren Figurenmodelle auf
den analysierten filmischen und fernsehaffinen Modi auf, ja der Vi-
deoclip vollzieht auch die beschriebenen Fragmentierungs- und Auf-
lösungsprozesse nach, die bis zur Reduktion auf die bloße Stimme
reichen und damit die lyrische Reduktion auf einen Ort des Sprechens
quasi reformulieren.
Die hybride Struktur von Figurenmodellen, wie sie etwa im Tanz
zwischen Raumfigur und Handlungsrolle herrscht, kennzeichnet, wie
Jürgen Sorg zeigt, ebenfalls die Figurenmodelle des Computerspiels.
Zu den narrativen Funktionen der Figur, wie sie sich in der Literatur
und im Film entwickelt haben, tritt im Computerspiel noch die ludi-
sche hinzu. Den Figuren des Computerspiels werden damit gleichzei-
tig unterschiedliche Handlungsoptionen zugewiesen, sie übernehmen
sowohl narrative als auch ludische Funktionen. Die Figurenkonzepte
des Computerspiels greifen dabei in ihren Erscheinungsformen einer-
seits auf konventionelle Spielfiguren, wie sie sich etwa in Brettspie-
Einleitung
25
len entwickelt haben, und andererseits auf die Figurenkonventionen
von literarischen und filmischen Narrationen zurück. Dabei bildet die
ludische Funktion der Figur zugleich die Grundlage einer nicht unwe-
sentlichen Differenz im Figurenrepertoire des Computerspiels: Sie
macht nämlich Spieler-Figuren von Nicht-Spieler-Figuren unter-
scheidbar.
Zugleich stellen die Figuren des Computerspiels die zentralen
Bezugspunkte des Spielers und damit die Grundlage der ludischen
Beziehungskonstellation zwischen Spieler und Spiel dar. Die Steuer-
barkeit der Figur wird damit zum herausragenden Merkmal der Spiel-
figur im Computerspiel, die zugleich eine prinzipielle Erweiterung
medialer Figurenkonzepte darstellt. Zwar greift dieses Konzept auf
die lange kulturelle Tradition der Spielfiguren zurück, ihre mediale
Integration wurde jedoch wesentlich erst durch das Figurenmodell
des Computerspiels geleistet. Die Figuren bilden aufgrund ihrer Steu-
erbarkeit also eine Art Interface für das Spielgeschehen.
Die prinzipielle Hybridität der Computerspielfigur bestimmt auch
die Referenzen der Figurenmodelle und Erscheinungsformen: Von
den für Simulationen üblichen extramedialen Referenzen etwa bei
Wettkampfspielen bis zu dominant inter- und intramedialen Refe-
renzen kann sich das Figurenrepertoire des Computerspiels an nahezu
allen Figurenmodellen bedienen. Dabei unterscheiden sich die Modi
der Subjektadressierung jedoch weitgehend von denen der Figuren-
modelle anderer Medien. Zugleich hat das Computerspiel, wie Sorg
zeigt, aus seiner hybriden Struktur heraus durchaus auch eigene Figu-
renmodelle generiert: So lässt sich etwa der Regelapparat von Spielen
narrativieren, was sich in einem eigenen Figurenmodell nieder-
schlägt.
Jochen Venus weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Figu-
ren sich nicht zuletzt wesentlich den interpretativen Bemühungen der
Rezipienten verdankt. Figuren sind in diesem Sinne semiotische Kon-
strukte, sie sind, »operative Sein-Sollens-Fehlschlüsse, modallogische
Grenzüberschreitungen von dem, was ist, zu dem, was es sein soll«
(387). Figuren beruhen daher grundlegend auf dem Prinzip der
Grenzüberschreitung, sie sind nicht nur, sondern sie werden gemacht.
Einem solchen Konstruktions- oder Projektionsprozess verdankt sich
auch die so unentwegt zu beobachtende Tendenz zur Anthropo-
morphisierung von Figuren. Figuren wahrzunehmen heißt, »stilisierte
Darstellungen« »als artifizielle Präsenz einer Figurenintention« (393)
zu deuten. Venus macht deutlich, dass man nicht von »einem ge-
Rainer Leschke
26
schlossenen Formenset« der Erscheinungsformen von Figur ausgehen
könne, sondern nur von einer »ungeordneten offenen Menge gat-
tungsspezifischer Formevidenzen« (395). Diese Formevidenzen leitet
er aus der Peirceschen Entfaltung der Dimensionen des Zeichens ab.
Venus rekonstruiert damit ein Gerüst von Paradigmen, an denen »sich
die Beschreibung von Figurenformen zu orientieren hätte« (403).
Zugleich verdeutlicht Jochen Venus die enorme medienwissenschaft-
liche Bedeutung der Kategorie der Figur, behaupten doch gerade
Medienästhetik und Medienkultur mit der »Darstellung von Subjekti-
vität und Handlungsträgerschaft« (403) und damit mit der Figuren-
darstellung wenigstens eine relative Eigenständigkeit gegenüber der
ökonomischen und sozialen Konditionierung des Mediensystems.
Das, als was sich vor diesem Hintergrund die unterschiedlichen
Figurenmodelle der verschiedenen Medien in dem gegenwärtigen
komplexen Mediensystem herausstellen, ist trotz ihrer grundsätzli-
chen Konstruiertheit weder ein ganzheitliches System, noch eine
hierarchische Struktur oder lineare Entwicklung oder sonst eine
transparente Dynamik. Vielmehr hat man es mit einem komplexen
Netz von interferierenden Bezügen, Migrationsbewegungen, Inten-
tionen und Unterscheidungen zu tun, die nicht zuletzt aufgrund der
vergleichsweise elastischen Beziehungen einen weitgehend unpro-
blematischen Funktionsprozess sowohl auf der Ebene der Produktion
wie der der Rezeption gestatten. Viele der Bezüge zwischen den di-
versen Figurenkonzepten der unterschiedlichen Medien sind dabei
von Analogiekonstruktionen (Leschke 2010, 119ff, 174, 203) getrie-
ben, die den Figurenmodellen ihre anthropomorphen Konstruktionen
nahelegen und sie mir jener Natürlichkeit ausstatten. Und gerade
diese scheinbare Natürlichkeit der Medienfigur ist es auch, die sie so
nachhaltig vor einer Rekonstruktion abgeschirmt hat. Was man also
letztlich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Figur im
Mediensystem findet, ist kein System, sondern vielmehr eine Topo-
graphie der Medienfigur, die es gilt und das ist das Ziel der Auto-
rinnen und Autoren dieses Bandes differenziert zu beschreiben.
Literatur
Benjamin, Walter (1973): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit. 11. Aufl., 68.-73. Tsd. Frankfurt a.M.
Leschke, Rainer (2010): Medien und Formen: Eine Morphologie der Medien.
Konstanz.
27
I. Morphologie der Figur
29
Rainer Leschke
Die Figur als mediale Form
Überlegungen zur Funktion der Figur in den Medien
Wenn Figuren einerseits in praktisch allen Medien vorkommen und
damit geradezu eine Universalie des Mediensystems sind und sie auf
der anderen Seite in den verschiedenen Medien sehr unterschiedliche
Erscheinungsformen annehmen, dann hat man es bei der Figur mit
einer Kategorie zu tun, die mit ihrer Kombination von Varianz und
Kontinuität eine enorme Integrationskraft im Mediensystem entwic-
kelt hat. Den Mechanismen, die diese erstaunlich elastische Dialektik
von Varianz und Kontrolle eines Konzepts ermöglichen, soll im Fol-
genden nachgegangen werden.
Es geht dabei um die kategoriale Logik des Konzepts, die gerade
angesichts der aktuellen Dynamiken des Mediensystems, also ange-
sichts des Verlusts der Identität der Einzelmedien in ihrer universalen
Vernetzung, der zahllosen Hybridformen und der Auflösung der
Grenzen von Produktion und Konsumtion sowie der von Fiktion und
Dokumentation eine so enorm gesteigerte Bedeutung erlangt hat. Die
Dynamik und Flexibilität des Konzepts der Figur hat daher eine für
das aktuelle Mediensystem geradezu paradigmatische Qualität ge-
wonnen. Zugleich handelt es sich um ein Konzept, das quasi histo-
risch mit dem Mediensystem mitgewachsen ist und auf den unter-
schiedlichen historischen Stufen unterschiedliche Modellierungen
erfahren hat.
Die Morphologie der medialen Form der Figur gewinnt daher nicht
zuletzt auch einen paradigmatischen Status für die Beschreibung des
Mediensystems selbst. Der Formwandel und seine charakteristischen
Dynamiken und Entwicklungen, die das Konzept der Figur in seinen
Repräsentationen in den unterschiedlichen Medien durchgemacht hat,
haben mittlerweile nahezu alle anderen Elemente des Mediensystems
gleichermaßen erfasst: Formate, Narrationen, Stoffe, Motive, Dar-
stellungsformen und Ästhetiken sind enorm dynamische Austausch-
Rainer Leschke
30
beziehungen im Mediensystem eingegangen. All diese Elemente des
Mediensystems bewegen sich nahezu unbegrenzt in diesem System
und operieren dabei mit einem Formwandel, der die Form der Figur
quasi immer schon kennzeichnete.
Figur als mediale Form stellt zunächst einmal eine Art begriffliches
Re-Entry1 dar, also die Anwendung eines Begriffes auf sich selbst.
Figur wird, darauf weist bereits Dierse im historischen Wörterbuch
der Philosophie hin, häufig »synonym mit ›forma‹ verwandt […] für
äußere Gestalt, Aussehen, Form, Erscheinung« (Dierse 1972, 948).
Auch Auerbach bezeichnet als Figur im rhetorischen Sinne »jede
Formung der Rede« (Auerbach 1938, 448) und verweist zugleich auf
den Zusammenhang von Figur als allgemeiner Gestaltbegriff und
forma (Auerbach 1938, 456). Formen der Figur wären damit nichts
anderes als eben Figuren der Figur und das klingt zunächst einmal
nach einem schlechten Pleonasmus. Zudem ist das Risiko solcher
Wiedereinspeisungen von Kategorien in ihren eigenen Verlauf be-
kannt, drohen doch vor allem Zirkularität und Begründungslosigkeit.
Dennoch soll gerade dieses Re-Entry Programm sein. Denn die
Formen der Figuren bieten zugleich eine enorme Chance: Sie markie-
ren ebenso die zentrale Stelle im Konzept von Form wie in dem von
Figur und sie bringen damit die formästhetischen Fragestellungen
zumindest für die Medientheorie auf den Punkt. Formen der Figur
beschäftigt sich also mit den Typen und Funktionen von Figur in den
verschiedenen Medien historischer und gegenwärtiger Mediensy-
steme und die Anwendung des Begriffs auf sich selbst ist allein schon
deshalb nicht heillos, weil die Selbstanwendung des Begriffs nicht
auf eine Wesensbestimmung von Form und Figur aus ist, sondern
Typologien und Strukturen im Mediensystem zu erfassen sucht. Die
Formen der Figur bewegen sich immer schon in einer anderen Grö-
ßenordnung, als es die einzelnen historischen Medienfiguren tun. Es
geht nicht um Einzelfiguren, wie prominent diese auch immer sein
mögen, sondern es geht um das Prinzip von Figur in den unterschied-
lichen Medien.
Denn offensichtlich muss den verschiedenen Figuren im
Mediensystem etwas gemeinsam sein, wäre doch ansonsten der Be-
1 Zwar wird der Begriff des Re-Entry bei Niklas Luhmann und in George Spencer-
Browns Laws of Form (vgl. Spencer-Brown 1999, XXX u. 60 ff) auf Unterscheidungen
angewandt und nicht auf Begriffe, dennoch ist die ‚Figur‘ des Arguments prinzipiell die-
selbe, nämlich Selbstapplikation und damit drohen Redundanz und Begründungslosigkeit.
Die Figur als mediale Form
31
griff der Figur kaum zu rechtfertigen. Man befindet sich also bei der
Reflexion der Formen der Figur immer schon oberhalb der konkreten
einzelnen Figur eines Mediums und unterhalb der Debatte um Me-
dialität an sich, ja selbst noch unterhalb der Ebene des einzelnen
Werkes. Man hat es von daher bei den Formen der Figur mit mittle-
ren Größen2 zu tun, die zwar immer schon abstrakt sind, die aber
dennoch auf keine Letztgrößen zielen. Und in diesem Feld der mittle-
ren Gßen funktioniert eben vieles, was bei Letztgrößen nicht funk-
tioniert, so auch die widerspruchsfreie Selbstanwendung. Letztgrößen
lassen kategoriale Selbstanwendungen schwierig werden und das ist
dann eben auch das Problem bei Luhmann , bei mittleren Größen
hingegen handelt es sich nur um unterschiedliche Größenordnungen
eines Begriffs. Und diese Größenordnungen sollen beobachtet und in
ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden.
Im Übrigen verfügt die Auffassung von Figur als Kategorie mittle-
rer Größe bereits über eine gewisse Tradition, ja vielleicht handelt es
sich um dasjenige, was den Begriff attraktiv werden lässt. Wenn
Platon den Begriff der Figur im Menon thematisiert, dann ist Figur
zunächst einmal Begriff, weil es so viele unterschiedliche davon gibt
und es um die Natur dieses Vielen gehen soll. Wenn »das Gerade
ebensogut Figur sei als das Runde« (Platon 388, 14), dann stellt sich
offensichtlich die Frage nach dem integrierenden Begriff. Und dieser
sei im Fall der Figur offensichtlich leichter zu finden als etwa in dem
der Tugend, bei deren Bestimmungsversuch die Figur ausgerechnet
als didaktisches Exempel auftaucht. Dabei soll dem Begriff der Figur
offensichtlich ein solcher integrierender Status zukommen: Von dem
bei möglichen tugendhaften Erscheinungen gegebenen »Schwarm«
(Platon 388, 11) recht diffuser Zuordnungen bleibt im vergleichs-
weise einfachen, da einsichtigen Fall der Figur nurmehr »die Grenze
des Körper3 (Platon 388, 16) und damit eine vergleichsweise
eindeutige Bestimmung4 übrig. Bei der Figur geht es also darum,
einen Schwarm von Attributen auf einen ebenso einfachen wie evi-
2 Die Kategorien mittlerer Größen verweisen im Übrigen bereits ansatzweise auf ein Kon-
zept wie das der figuralen Bedeutung, das auch zwischen dem einfachen Wortsinn und
abstraktem Begriff und damit in einer mittleren Ebene positioniert ist.
3 »Von jeder Figur nämlich behaupte ich: was den Körper begrenze, das sei Figur, oder
kurz gefaßt, Figur sei die Grenze des Körpers« (Platon 388, 16). Im Übrigen scheinen sich
die verschiedenen Übersetzungen nicht so recht zwischen Figur und Gestalt entscheiden zu
können. In der Schleiermacher Übersetzung figuriert die Figur stets als Gestalt.
4 Im Gegensatz zum Begriff der Tugend verfügt die Kategorie der Figur zudem offensicht-
lich auch noch über den Vorzug der Lehrbarkeit.
Rainer Leschke
32
denten Begriff zu bringen. Figur bildet bei Platon ein Beispiel für
eine ideell abgerüstete, da auf die bloße Anschauung gebrachte Kate-
gorie. Figur als Körpergrenze scheint damit insgesamt eine recht
klare Angelegenheit darzustellen, über die es sich kaum nachzuden-
ken lohnt, hielt Platon es doch immerhin für möglich, den Begriff
selbst noch einem Sklaven und damit dem historischen Repräsentan-
ten überzeugend einfacher intellektueller Ausstattung begreiflich zu
machen.
Dass die Dinge doch nicht ganz so einfach liegen, machte schon
Aristoteles deutlich, wenn er von Schlussfiguren ausgeht. Figuren
bezeichnen dann Formen der Argumentation.5 Die Figur bleibt damit
nicht mehr auf die Statik der Körpergrenze beschränkt, sondern sie
wird in die Zeit projiziert und unterläuft damit jene hoffnungsvolle
didaktische Einfachheit. Sie entzieht sich dieser Unmittelbarkeit vor
allem deshalb, weil dasjenige, was hier unter Figur verhandelt wird,
nicht mehr unmittelbar der Anschauung zugänglich ist. Figur löst sich
damit nicht nur von der Statik, sondern eben auch von der Evidenz
und wird Struktur. Einheiten jenseits einfacher Anschauung und
Zeitlosigkeit6 sind zweifellos komplexer als es Platon noch vorge-
schwebt haben mag. Die Lösung des Begriffs der Figur von der Un-
mittelbarkeit ist zugleich die Voraussetzung seiner rhetorischen
Funktion. Wenn Figur die Form eines Schlusses darstellen soll, dann
fungiert Figur als festgelegte, wiedererkennbare, ja gegebenenfalls
sogar eindeutig identifizierbare Struktur. Struktur wäre dann also
dasjenige, was dem Begriff der Figur Kontur verliehe. Zugleich sind
Figuren keine Zeichen, sondern bloß wahrscheinlich.
»Das Wahrscheinliche und das Zeichen sind nicht das-
selbe« (Aristoteles 1995, 145).7
5 »Auch sieht man, daß alle Schlüsse in dieser Figur vollkommen sind; denn alle werden
durch das zu Anfang Angenommene vollendet; endlich, daß durch diese Figur alle Pro-
bleme, d.h. alle Sätze, nach denen man fragen kann, bewiesen werden: daß etwas jedem
und keinem zukommt, daß es einem zukommt und daß es einem nicht zukommt. Eine
solche Schlußfigur nenne ich die erste« (Aristoteles 1995, 9).
6 Das Moment der Abstraktion und Zeitlosigkeit findet im Übrigen auch bei Augustin
Verwendung: »Obwohl Augustin die allegorische Deutungsweise ablehnt, ›so besitzt er
doch eine Idealität, die das konkrete Ereignis, so vollständig es auch erhalten bleibt, als F.
aus der Zeit heraus und in die Perspektive der Jederzeitlichkeit und Ewigkeit versetzt‹«
(Dierse 1972, 949).
7 Allerdings gilt das auch nicht für geometrische Figuren, die nicht Zeichen, aber dennoch
berechenbar und daher gerade in ihrer Form streng sind.
Die Figur als mediale Form
33
Figuren sind andererseits stets mehr als Zeichen: Sie bewegen sich
nämlich systematisch oberhalb der Ebene von Zeichen8, indem sie die
Strukturen von Elementen bezeichnen. Wir haben es bei Figuren also
inzwischen mit einem Feld zu tun, das von Körpergrenzen bis hin zu
charakteristisch dynamisierten abstrakten Strukturen reicht. Und in
dem Moment, in dem wie bei Plotin9 auch noch der Tanz figurhig,
also als Figur begriffen wird, finden Form und Bewegung zusammen
und die dynamisierte abstrakte Struktur gewinnt wieder Evidenz und
Gestalt.
Damit wären bereits einige Dimensionen des Begriffs der Figur
einigermaßen ausgelotet: Figuren sind in jedem Fall begrenzt und das
Objekt der Begrenzung kann von Körpern bis hin zu Bewegungen
und Abläufen definierter Elemente reichen. Zugleich weist der Be-
griff der Figur von Anfang an eine konstitutive Nähe zum Konzept
der Gestalt auf, was ja bereits bei Platons Modell der Körpergrenze
anklang. So wird Figur auch konkret »von Varro etymologisch ge-
deutet als das, was der Bildhauer (fictor) herstellt« (Dierse 1972,
948).
Damit haben sich im Wesentlichen zwei Figurenkonzepte herauskri-
stallisiert: nämlich Figur als begrenzte Gestalt und Figur als charak-
teristisch begrenzte Dynamik. Beide Modelle von Figur verfügen
über mediale Relevanz: Die am Tanzmodell aufgehängte charakteri-
stische dynamische Form, wie sie bei Erzählverläufen, Spieldynami-
ken und Rhythmen auftaucht, wird ebenso als mediale Figur begriffen
wie die diversen Gestalten der ‚dramatis personae‘, die in dramati-
schen, narrativen und interaktiven Kontexten erscheinen.
Offensichtlich ist zugleich, dass der Figur die Grenze wesentlich
ist: Sowohl die Gestalt als auch die Dynamik sind Figur nur, soweit
sie über einigermaßen überschaubare Grenzen verfügen. Die Grenze
8 Auch wenn der englische Begriff figure Zahlzeichen meint, soll, da alle sonstigen Begriffe
von Figur auf Strukturen also auf einen charakteristischen Zusammenhalt von Elementen
verweisen, Struktur als Kriterium von Figur benutzt werden.
9 »Da nun der Himmelsumschwung nichts willkürliches hat, sondern gemäß der Vernunft
des Gesamtorganismus abläuft, so musste es auch einen Einklang geben des Wirkenden mit
dem erleidenden, eine bestimmte Ordnung, die sie ineinander und zueinander fügt, derart,
daß jeder Stellung des Himmelsumlaufes und der darunter befindlichen Himmelskörper
jeweils ein bestimmter Zustand entspricht. So führen alle Dinge im Chor gleichsam einen
einzigen Reigen auf. Auch in den Tänzen bei uns ist es so; […]. Die Glieder aber des
Tänzers können unmöglich in jeder einzelnen Figur im gleichen Zustand sein; sein Leib
gibt dem Tanz nach und beugt sich, das eine seiner Glieder wird gestrafft, das andere
gelockert, das eine strengt sich an, das andere hat entsprechend der jeweils verschiedenen
Tanzfigur Ruhe« (Plotin 1962, 327).
Rainer Leschke
34
sorgt dafür, dass es sich dann bei Figuren zwangsläufig um erkenn-
bare Entitäten handeln muss. Insofern liegt das Konzept des Indivi-
duums, das Schelling mit der Figur in Verbindung bringt, diesen Vor-
stellungen auch nicht allzu fern.
„Der erste Übergang zur Individualität ist also Formung
und Gestaltung der Materie. Im gemeinen Leben wird al-
les, was von sich selbst oder durch Menschenhand Figur
erhalten hat, als Individuum betrachtet oder behandelt. Es
ist sonach a priori abzuleiten, daß jeder feste Körper eine
Art von Individualität hat, sowie, d jeder Übergang aus
flüssigem in festen Zustand mit einer Anschießung, d.h.
Bildung zu bestimmter Gestalt, verbunden ist; denn das
Wesen des Flüssigen besteht eben darin, d in ihm kein
Theil angetroffen werde, der vom andern durch Figur sich
unterscheide (in der absoluten Continuität, d.h. Nichtindi-
vidualität seiner Theile), dagegen je vollkommener jener
Proceß des Übergangs ist, desto entschiedener die Figur
des Ganzen nicht nur, sondern auch der Theile« (Schelling
2000 [1798], 207).
Figur hat insofern etwas mit Individuen, zumindest aber mit Einhei-
ten zu tun. Figur kombiniert Einheit und Struktur und d.h., Figuren
sind in der Regel Einheiten aus zusammengesetzten Elementen. Be-
denkt man noch, dass der Grenze eine besondere Aufmerksamkeit
gilt, ja dass sie nicht nur gelegentlich ästhetisiert wird, dass sie zu-
mindest aber eine gewisse Qualität, nämlich Prägnanz, aufweisen
muss, dann wird die herausgehobene Bedeutung der Begrenzung für
die Figur deutlich. Prägnanz und Ästhetik sind dabei nur die Bedin-
gungen der Möglichkeit einer ganzheitlichen Wahrnehmung von
Figur, auf die es offenbar ankommt. Die ganzheitliche Erfassung gilt
sowohl für dynamische Figuren, wo sie an deren Durchlauf gebunden
ist, wie für die ziemlich statischen Körpergrenzen. Figuren sind also
nicht beliebige Strukturen, sondern solche, die mit ihren Wahrneh-
mungsbedingungen so rückgekoppelt sind, dass sie selbst in diffusen
Umgebungen eindeutig erkennbar sind und damit zugleich als probate
Komplexitätsreduktionen fungieren können.
Das ganzheitliche Erfassen einer Entität wie der Figur hat zunächst
einmal eine Ordnungsfunktion. Figuren strukturieren Material, wie-
wohl sie immer schon selbst Struktur sind. Figuren fungieren damit
Die Figur als mediale Form
35
einerseits als Komplexitätsreduktionen, andererseits als mögliche
Referenzpunkte. Beides bestimmt die möglichen Leistungen von
Figur: Immer wenn in Medien wahrnehmbare Komplexitätsreduktio-
nen und Referenzpunkte von Nöten sind, dann sind offenbar auch
Figuren zur Stelle.
Begriff und Funktion sind, und das wird nicht zuletzt beim Begriff
der Figur deutlich, grundsätzlich zu trennen: So gelingt es dem Figu-
renbegriff offenbar, seine Ordnungsfunktion trotz seiner offensichtli-
chen Unschärfe auszuüben. Der Begriff der Figur nomadisiert durch
äußerst unterschiedliche Bezugssysteme, die immerhin von Mathe-
matik und Logik bis zu Narration und Computerspiel reichen. Kant
brachte ihn sogar mit etwas rein Mechanischem wie einer Maschine
in Verbindung, was erst unter den Konditionen digitaler Interaktivität
und Programmcodes wieder einigermaßen verständlich werden
könnte:
»Ein Körper (oder Körperchen), dessen bewegende Kraft
von seiner Figur abhängt, heißt Maschine« (Kant 1997,
87).
In jedem Fall funktioniert der Begriff der Figur einerseits aufgrund
seiner spezifischen Unschärfe und seines reichlich offenen Horizonts,
andererseits weil er als Konzept selbst offenbar über Formqualitäten
und damit über Strukturierungsleistung verfügt. Augenscheinlich ist
es ausgerechnet diese formierende Unschärfe, die ihn attraktiv
macht.10 Die Qualität, die der Unschärfe inriert und die sie gerade
für mediale Kontexte so geeignet erscheinen lässt, ist die der Über-
tragbarkeit und der gleichzeitigen Kenntlich- und Wahrnehmbarkeit.
Das offene Konzept von Figur, das einzig von den Bedingungen der
Begrenzung und Struktur zusammengehalten wird, stellt an seinen
Transfer in andere Umstände und somit auch in andere mediale Um-
gebungen keine sonderlichen Anforderungen. Kurz, Figuren sind ein
Konzept, das leicht übertragbar ist, und in einem Mediensystem, das
sich bemüht, sich vor allem durch die enormen Unterschiede der di-
versen Medien auszuzeichnen, ist gerade diese allseitige Einsetzbar-
und Transferierbarkeit einer Kategorie ein nicht zu unterschätzender
Vorteil. Diese leichte Übertragbarkeit hat sogar einen eigenen Rezep-
10 Das gilt nicht allein für den Begriff der Figur, sondern es betrifft noch eine ganze Reihe
weiterer grundlegender medienwissenschaftlicher Begriffe wie Interaktivität, Information
und Kommunikation (vgl. Kolb/Leschke/Schemer-Reinhard 2008).
Rainer Leschke
36
tionsmodus hervorgebracht, dem es um die Rekonstruktion des Unei-
gentlichen der Rede zu tun ist: nämlich die Figuraldeutung, mit der
Auerbach sich beschäftigt:
»Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen
zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von
ihnen nicht nur nicht sich selbst, sondern auch das andere
bedeutet, das andere hingegen das eine einschliesst oder
erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen
aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, inner-
halb der Zeit; sie sind beide, wie schon mehrfach betont
wurde, in dem fließenden Strom enthalten, welcher das ge-
schichtliche Leben ist, […]« (Auerbach 1938, 468).
Die Figuraldeutung gehört, insofern sie »ein Ding für das andere
setzt, indem eines das andere darstellt und bedeutet, […] zu den alle-
gorischen Darstellungsformen« (Auerbach 1938, 468). Dass ein Ding
im Lichte eines anderen einen anderen Sinn annehmen kann und da-
mit vom Ding zur Figur eines Dings avanciert und die involvierten
Akteure zugleich über einen historischen Status verfügen, also reale
Ereignisse sind, schränkt die Bedingungen für die Figuraldeutung
zwar nachhaltig ein, weist der Figur jedoch eine bestimmte Position
zu die in ihrer Interpretation als mediale Form wenigstens implizit
wieder auftauchen wird: die Abstraktion vom konkreten Ding und die
gleichzeitige Bindung ans konkrete Objekt. Die Abstraktion ist dabei
das Resultat eines schlichten Vergleichs und das Figurale ist dabei
dasjenige, was das Resultat darstellt.
Die Figur als mediale Form
37
Form und Symbol
Selbst wenn die Figur als Begriff zunächst einmal unterbestimmt
erscheinen mag und er eine vergleichsweise geringe Eigenkomplexi-
tät aufweist, so macht das die Dinge doch noch längst nicht einfach.
Zwar erleichtert die Offenheit prinzipiell den Transfer, dennoch sagt
die Offenheit allein noch recht wenig über den Funktionsprozess der
Übertragung von Konzepten selbst aus. Bei der Analyse des Transfers
eines Konzepts wie desjenigen der Figur zwischen unterschiedlichen
Medien muss der Typ von Kategorie, die gleichsam quer zu den Me-
dien steht und dennoch über prägende Kraft verfügt, erfasst werden.
Die Kombination von Strukturierungsleistung und Prägung, die zu-
dem noch davon ausgeht, dass das Modell nicht allein ist, sondern
funktionale Alternativen existieren, verweist zunächst einmal an
Cassirers Konzept symbolischer Formen. Nun greift Cassirer für
medienwissenschaftliche Verhältnisse zweifellos weit aus, denn im-
merhin beginnt er seine Philosophie der symbolischen Formen wie
folgt:
»Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation
wird durch den Begriff des Seins bezeichnet« (Cassirer
1923a, 3).
Und das Modell der symbolischen Formen setzt auch genau hier an,
nämlich bei den möglichen Auffassungen und Konstruktionen des
Seins. Cassirer geht aber im Gegensatz zu anderen Spekulationen
über das Sein wie etwa denen Heideggers nicht von privilegierten
oder gar einer einzig sinnvollen bzw. einer einzig möglichen Auffas-
sung dieses Seins aus, sondern er nimmt an, dass sich verschiedene,
aber prinzipiell gleichberechtigte Typen der Konstruktion und Re-
konstruktion von Welt unterscheiden lassen. Es handelt sich also bei
den symbolischen Formen um ein Set von nicht hierarchisierbaren,
verschiedenen Weisen des Weltzugangs:
»Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion
des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-reli-
giösen Denkens und die Funktion der künstlerischen An-
schauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird,
wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht
sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu
Rainer Leschke
38
einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objekti-
ven Anschauungsganzen sich vollzieht. Die Kritik der
Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur« (Cassirer
1923a, 11).
Nun haben diese unterschiedlichen Modi des Weltzugangs offen-
sichtlich noch nichts mit dem Konzept der Figur zu tun. Cassirers
exklusiver Club von Typen der Weltkonstruktion sieht nicht nur das
Modell der Figur nicht vor, er operiert auch in einer ganz anderen
Größenordnung. Bei Cassirer handelt es sich durchaus um Letztkate-
gorien und d.h. um Konzepte, die sich nicht nur konstitutiv und irre-
duzibel von einander unterscheiden und die daher auch nicht auf ein-
ander zu reduzieren sind, sondern es handelt sich vor allem um ein
mehr oder minder invariantes und daher ontologisierbares Ensemble
von Formen. Wenn dieses Modell der symbolischen Formen aber von
Cassirer als prinzipiell geschlossene Gesellschaft konzipiert wird und
Figuren es bei ihm aus angesichts seines Erwartungshorizonts durch-
aus verständlichen Gründen nicht zur symbolischen Form gebracht
haben, dann stellt sich die Frage nach dem, was das Konzept der Fi-
gur offenbar so spontan zu leisten im Stande ist, es stellt sich die
Frage nach einem möglichen Transfer des Konzepts. Die Frage ist
also, ob man Cassirers Konzept nicht auch ein wenig kleiner und
damit in der Größenordnung jener eingangs erwähnten mittleren Grö-
ßen haben kann.
Allerdings sieht Cassirer selbst einen solchen Transfer seiner sym-
bolischen Formen in kleinere Verhältnisse nicht vor. Sein Problem ist
anderer Art, sucht er doch die Universalität und Vollständigkeit sei-
ner symbolischen Formen als Weltkonstruktionen unter Beweis zu
stellen. Nun machen Figuren sicherlich noch keine Welt, ja noch
nicht einmal ein einigermaßen vollständiges Medienprodukt, zugleich
aber sind Figuren zweifellos Formen und zwar Formen, die mediale
Konzepte und Darstellungsmöglichkeiten präformieren.
Figuren verfügen also über eine charakteristische prägende Kraft,
die die Medienprodukte zwar nicht vollständig determinieren, aber
doch immerhin weitreichend beeinflussen. So lassen sich etwa Nar-
rationen oder Dramen ohne das Konzept der Figur kaum sinnvoll
denken. Figuren prägen also die Entitäten, in denen sie sich bewegen,
und in dieser Hinsicht tun sie es durchaus den symbolischen Formen
gleich. Zumal sie auch ein ähnliches Verhältnis zu singulären Phä-
nomenen unterhalten. Figuren lassen sich wie symbolische Formen
Die Figur als mediale Form
39
»als gewisse Weisen der ›Objektivierung‹ bezeichnen: d.h. als Mittel,
ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; […]«
(Cassirer 1923a, I, 8). Beide sind insofern in jedem Fall zunächst
einmal Instrumente der Generalisierung und der Abstraktion. Zu-
gleich wird beiden Konzepten eine prägende Kraft zugeschrieben.
Benötigt wird also ein theoretisches Modell der symbolischen For-
men unterhalb symbolischer Aufladung und Universalisierung. Es
geht um das Konstruktionsprinzip und nicht um das komplette Sy-
stem Cassirers. Dieses Konstruktionsprinzip hat Erwin Panofsky
relativ hemdsärmelig und quasi intuitiv isoliert, als er die Perspektive
als symbolische Form rekonstruierte. Panofsky übernahm kurzent-
schlossen jenen »glücklich geprägten Terminus« (Panofsky 1985
[1924/25], 108) Cassirers und macht damit etwas vollkommen ande-
res, indem er quasi eine symbolische Form innerhalb einer symboli-
schen Form installierte. Denn da die Kunst selbst als eine symboli-
sche Form bereits vorgesehen ist, handelt es sich bei dem, was
Panofsky beobachtet, um eine Form-in-der-Form-Konstruktion und
damit um ein Verhältnis, das Cassirers Konstruktion in ziemliche
Schwierigkeiten bringt. Panofsky wandte in einer Verdopplung, die
bei Cassirer nirgends vorgesehen war, das Verfahren nochmals auf
sich selbst an. Er übertrug also eine Konstruktion nicht nur auf einen
nicht vorgesehenen Gegenstand, sondern er arbeitete vor allem mit
einer anderen Größenordnung. Und in dieser letzten Transformation,
dem Heruntertransformieren der universalen Weisen der Weltrekon-
struktion auf medial bedingte Darstellungs- und Anschauungsformen,
scheint das Entscheidende zu passieren: Panofsky interpretiert die
symbolischen Formen nicht mehr als die mehr oder minder ontologi-
sierbaren Formen eines Geistes, sondern als einen spezifischen Typ
von Relation: Nämlich als ein Set von denkbaren und prinzipiell
gleichwertigen Formen von Bezügen zwischen Subjekten und Ob-
jekten, wobei die Objekte durch die Relation weitgehend konstituiert
werden.
Mit dem mit diesem Wiedereintritt der Relation in ihr Objekt ver-
bundenen Zurückfahren der Größenordnung verliert der Vorgang
tendenziell an Generalität, jedoch keineswegs an Bedeutung: Zwar ist
bei der Perspektive immerhin ein Wechsel von Raumkonzepten im
Spiel, etwa der vom »Aggregatraum« zum »Systemraum« (Panofsky
1985 [1924/25], 109), aber zugleich handelt es sich keineswegs um
einen Austausch zwischen symbolischen Formen in den Dimensionen
Cassirers. Vergleichbares gilt für das Konzept der Figur, denn auch
Rainer Leschke
40
dieses bewegt sich mit Sicherheit unterhalb der Dimensionen symbo-
lischer Formen und ob ein Wechsel des vielleicht noch einigermaßen
vergleichbaren Konzepts von Person hierbei im Spiel ist, bleibt noch
unklar. Insofern wird von den Formen der Figur selbst das Niveau der
von Panofsky heruntertransformierten symbolischen Formen, bei dem
es sich ja immer noch um den Austausch von »Weltvorstellung(en)«
(Panofsky 1985 [1924/25], 110) handelt, allenfalls in Ansätzen er-
reicht.
Die neuerliche Anwendung eines Konzepts auf sich selbst, wie sie
Panofsky für die Perspektive als symbolische Form anstrengt, be-
zeichnet im Prinzip ja auch genau das, was mit den Formen der Figur
angedacht wird. Dass es sich dabei keineswegs um einen argumenta-
tiven Zirkel und damit ein begründungslogisches Problem handelt,
hat damit zu tun, dass hier zwar eine Form auf eine Form angewendet
wird, nicht aber dasselbe in dasselbe kopiert werden soll, also die
Identität beider Formbildungsprozesse behauptet wird. Es geht viel-
mehr darum, dass die Kategorie Figur als mediale Form begriffen
werden soll.
Dabei sind zwei Operationen zu unterscheiden: die Verdichtung
der diversen Einzelerscheinungen von Figur in den singulären Medi-
enprodukten zu einem Konzept von Figur, das für ein einzelnes Me-
dium Geltung zu beanspruchen vermag, und die Verdichtung der an
unterschiedlichen Medien beobachteten Modelle von Figur zu einer
generellen Form des medialen Konzepts Figur. Man hat es also mit
zwei differenten Formbildungsprozessen zu tun: Dem Auffassen von
Einzelphänomenen ohne kategorialen Status, also Individuen, als
Elemente von Form und dem Synthetisieren dieser unterschiedlichen
Formen von Figur in den verschiedenen Medien zu einem Konzept
von Figur für das Mediensystem.
Beide Formprozesse operieren, wiewohl es in beiden Fällen um
Form geht, mit grundsätzlich verschiedenen Objekten, nämlich in
einem Fall mit singulären Erscheinungen und im anderen Fall mit
Kategorien, und diese konstitutive Differenz sorgt für die Wider-
spruchsfreiheit dieses Konzepts. Es geht also in beiden Fällen um
Formbildung, allerdings um Formbildung auf unterschiedlichem Ni-
veau und das macht die Angelegenheit zumindest logisch harmlos.
Panofsky greift demgegenüber ziemlich weit aus, die Begriffsar-
beit, an deren Ende die jeweils unterschiedlichen Modelle von Per-
spektive stehen, ist weitgehend geleistet und es geht vor allem darum,
die vorhandenen Modelle selbst als Form aufzufassen. Die Blaupause
Die Figur als mediale Form
41
dafür lieferte Cassirers Konzept der symbolischen Formen, so dass
Panofsky ein auf Universalität ausgelegtes Konzept mit einfachen
Kategorien quasi in der Mitte zusammenzuschrauben versuchte, was
zwangsläufig entweder die Kategorien überstrapaziert oder aber die
Universalität empfindlich ramponiert. Dass Panofsky dabei höher
ansetzt, als es für ein Modell der Figur überhaupt von Nöten ist, wird
allein schon daran deutlich, dass neben dem prinzipiellen Nachweis,
dass es sich bei der Zentralperspektive nicht um irgendeine Annähe-
rung an Natur oder Realität, sondern um Konstruktion und damit um
Form handelt, vor allem deviante oder unvollständige Perspektivkon-
struktionen (vgl. Panofsky 1985 [1924/25], 115ff) sein analytisches
Interesse gewinnen und sich dabei das Interesse nicht auf die analy-
sierten Objekte selbst, sondern auf die Stadien des Übergangs von
einem Modell perspektivischer Konstruktion zu einem anderen rich-
tet.
Das Interesse an Hybridformen ist einerseits charakteristisch für
eine formästhetische Analyse, die durch den funktionalen und ästheti-
schen Vergleich Formen und den systematischen Zusammenhang
zwischen diesen zu gewinnen sucht, es markiert aber auch zugleich
einen grundlegenden Unterschied gegenüber Cassirers Konzept, da
eben nicht von einer konstitutiven Differenz und Abgeschlossenheit
der symbolischen Formen untereinander ausgegangen wird, sondern
nur die Innenverhältnisse einer Form, nämlich die der Perspektive,
zum Gegenstand der Betrachtung werden. Diese Innenverhältnisse
der medialen Form Perspektive, die Panofsky faktisch untersucht,
bewegen sich auf derselben Ebene, auf der die Formen der Figur
operieren, und sie haben nichts mit dem System symbolischer For-
men zu tun, um das es Cassirer geht.
Von den symbolischen Formen bleibt also nur die Form, das
Symbolische geht auf das Konto des Universalitätsanspruchs und der
steht auf dem Feld medialer Formen nicht zur Debatte. Insofern las-
sen sich die Funktionsprozesse übertragen, nicht jedoch der Aussage-
horizont und der Geltungsanspruch. Und diese internen Formverhält-
nisse entsprechen exakt dem, was mit den Formen der Figur ange-
dacht ist. Die Perspektive ist in diesem Sinne mediale und nicht sym-
bolische Form und sie ist darin durchaus der Figur als Form ver-
gleichbar. Das gilt auch dann, wenn wie bei der Figur noch nicht auf
bereits einigermaßen konventionalisierte Begriffskonzepte auf der
Ebene der einzelnen Medien zurückgegriffen werden kann und diese
selbst erst entwickelt werden müssen. Insofern muss im Bereich der
Rainer Leschke
42
Figur das Panofskysche Modell zunächst einmal von unten her auf-
gepolstert werden, bevor die analogen Anstrengungen zur Erfassung
der Formen der Figur unternommen werden können. Das Modell von
Figur ist daher selbst erst für die jeweiligen Medien zu entwickeln,
bevor es als mediale Form zur Debatte steht.
Es geht insofern bei den Formen der Figur nicht um den Austausch
oder die Verabschiedung von Weltvorstellungen, sondern um medi-
enästhetische Darstellungs- und Anschauungsformen und damit um
Formen mittlerer Reichweite. Allerdings kann deren Verhältnis unter-
und zueinander, sieht man von dem Ausschließlichkeitsanspruch der
Cassirerschen Konstruktion einmal ab, analog zum Modell symboli-
scher Formen rekonstruiert werden. Die Figur ist in diesem Sinne
eine mediale Form, ein Konstrukt, das weitgehend ohne metaphysi-
sche oder ontologische Ambitionen auskommt und das stattdessen
das analytische Potential zu forcieren sucht. Bei medialen Formen
handelt es sich um all diejenigen Darstellungs- und Anschauungsfor-
men, die in den Medien als Lösung für bestimmte Darstellungspro-
bleme emergiert sind und die in der Folge zu Konventionen verdich-
tet wurden. Mediale Formen erwachsen also aus der Formalästhetik
der einzelnen Medien und damit den Konditionen, die die spezifische
Technologie von Medien der medialen Gestaltung auferlegt. Sie gel-
ten daher auch nicht nur für einzelne Werke, sondern sie betreffen die
Bedingungen medialen Erzählens und Spielens insgesamt, vor allem
jedoch die Darstellungsmodi eines Mediums.
Dass Darstellungsprobleme und ihre Lösung in der Regel nicht bei
einem Medium halt machen, sondern dass sie von Medium zu Me-
dium wandern und transferiert oder appliziert werden, liegt nahe.
Mediale Formen sind so zwar in einer spezifischen medialen Umge-
bung entstanden, sie bleiben jedoch nicht zwangsläufig auf diese
beschränkt, sondern sie wuchern üblicherweise über diese hinaus.
Damit gehören die medialen Formen quasi zu den Querverstrebungen
des Mediensystems und auch das Konzept der Figur stellt genau eine
solche Querverstrebung dar. Die Figur ist zweifellos nicht die einzige
mediale Form, die eine solche integrative Funktion im Mediensystem
ausübt, aber sie gehört in jedem Fall zu den prominenteren Vertre-
tern.11
11 Andere vergleichbar bedeutsame, allerdings nicht unbedingt in demselben Maße
ausdifferenzierte mediale Formen wären etwa das Konzept der Autorschaft. Gleichzeitig
gibt es insbesondere mediale Konstruktionsformen wie die diversen dramaturgischen
Formen, Spielformen, Projektions- und Montageformen, die ebenfalls über die Grenzen der
Die Figur als mediale Form
43
Wir haben es also beim Konzept der Figur mit einem Modell zu tun,
das zumindest auf der Ebene des Mediensystems operiert. Der Hori-
zont des Modells der Figur ist daher in jedem Fall weiter, als ein ein-
zelnes Medium reicht, ja er geht teilweise noch über die Grenzen des
Mediensystems selbst hinaus. Allerdings beherrscht die mediale Form
der Figur auch nicht die Weisen unserer Weltauffassung in einem
Umfang, wie ihn Cassirer andachte. In diesem doppelten Bezug me-
dialer Formen, die ihren konkreten Entstehungszusammenhang zwar
einem einzelnen Medium verdanken, die aber immer schon über die-
ses hinausgehen und sich am Mediensystem ausrichten, liegt auch
ihre systematische Unschärfe oder Offenheit begründet. Ohne diese
Unschärfe wäre der Transfer von einem Medium auf ein anderes auch
nicht zu leisten. Wie nun das Entstehen dieser Unschärfe einzuschät-
zen ist, ob sie dem Konzept der Figur von Anfang an und diese
Anfänge liegen zumindest soweit zurück, wie das Erzählen, die My-
then, figurale Bildlichkeit, ja die Sprache12 selbst reichen eigen war,
wird sich kaum mehr sinnvoll entscheiden lassen, weil kein auf ein
Medium allein beschränkter Zustand sich auch nur einigermaßen
zuverlässig mehr rekonstruieren lässt. Im Prinzip istr die mediale
Form der Figur noch nicht einmal ein Ursprungsmedium mit einiger
Sicherheit zu bestimmen. Das Konzept der Figur ist also, solange es
überhaupt zurückverfolgt werden kann, immer schon ein Mediener-
eignis und es bezieht sich daher von Anfang an auf das Mediensy-
stem insgesamt.
Die Unschärfe ist demnach für die Kategorie der Figur konstitutiv
und davon bleibt auch ihr Status als mediale Form nicht ausgenom-
men. Dabei wirkt sich die Unschärfe in mindestens zwei Dimensio-
nen aus: nämlich intermedial und historisch. Dass sich das Konzept
der Figur in der erzählenden Prosa vom Mythos über das Epos bis
zum Roman geändert hat, steht außer Frage, und dass der sehr viel
kürzere Zeitraum, der dem Medium Film bislang zur Verfügung ge-
Einzelmedien hinweg Geltung erlangt haben. Auch rhetorische Figuren wären in diesem
Sinne als mediale Formen aufzufassen, so dass sie nicht nur kategorial zu den Formen der
Figur gehören, sondern auch systematisch keinen Unterschied machen, so dass der begriff-
liche Status der rhetorischen Figur, der bei den Begriffsbestimmungen der Figur in der
Regel nur als Sonderfall behandelt zu werden pflegt, im Konzept medialer Formen einen
wesentlich integrativeren Status erlangt, als das bislang der Fall gewesen sein mag. Mediale
Formen gehören so zu den essentiellen Konstrukten des Mediensystems.
12 Bedeutsam erscheint hier der Zusammenhang von Sprache und dem Konzept der Person
(vgl. Cassirer 1923a, 212ff), das wiederum in Verbindung mit der medialen Form der Figur
gebracht zu werden vermag.
Rainer Leschke
44
standen hat, ebenfalls einige Figurenkonzepte gesehen hat, dürfte
kaum minder fraglich sein. Insofern benötigt das Konzept der Figur
eine prinzipielle strukturelle Elastizität, um in solchen Formänderun-
gen bestehen zu können, und die Leistung von medialen Formen
besteht genau darin, dass sie dazu im Stande sind. Die systematische
Unschärfe imprägniert daher das Konzept der Figur gegen die Un-
wägbarkeiten der Zeitläufe. Umgekehrt ändern sich bei jedem Me-
dienwechsel die formalästhetischen Bedingungen und die mediale
Form muss an diese Bedingungen stets neu adaptiert und rekalibriert
werden. Und dieselben Struktureigenschaften, die gegen die Erosio-
nen der Zeit schützen, ermöglichen auch die Neuorientierung der
medialen Form in einem veränderten Mediensystem.
Um solche durchaus wechselvollen Adaptationsprozeduren tolerie-
ren zu können, benötigen mediale Formen eine spezifische Ausstat-
tung. Mediale Formen gehorchen keinen Entweder-Oder-Bedingun-
gen, sondern sie rekrutieren aus einem Komplex von Merkmalen, die
nicht zwangsläufig alle erfüllt sein müssen, damit die mediale Form
als eine solche erkannt wird und funktioniert.
Formen sind daher Merkmalskomplexe mit unscharfen Rändern,
so dass Formen je nach der Zahl und Intensität der von ihnen reprä-
sentierten Merkmale das ganze Spektrum von diffus bis prägnant ein-
nehmen können. Der Merkmalskomplex versammelt in der Regel um
einen Kern notwendiger Bedingungen, die also zur Identifizierung
der medialen Form unerlässlich sind, eine Aura möglicher Akzi-
denzien13, die in der Lage sind, den Formeffekt zu verstärken, die
aber nicht notwendig sind und ihn daher allein nicht hervorbringen
können.
Prägnanz stellt sich dann ein, wenn nicht nur die notwendigen
Bedingungen erfüllt sind, sondern auch noch eine möglichst große
Zahl weiterer Merkmale hinzutritt und diese notwendigen und mögli-
chen Bedingungen darüber hinaus auch noch eine einigermaßen plau-
sible Einheit zu stiften vermögen. Form ist also das Ergebnis einer
Entscheidung, die über einer gegebenen Auswahl von Merkmalen aus
der Menge möglicher Merkmale dieser Form getroffen wird, und das
bedeutet, dass diese Entscheidungen durchaus unterschiedlich aus-
13 Im Übrigen ist das Verfahren, mit gestaffelten Graden der Verbindlichkeit zu operieren,
um aufgrund der dann gegebenen Kontinua differenzierte Entscheidungsspielräume zu
gewinnen, keineswegs neu. Bereits John Locke benutzt derartige Staffelungen, um norma-
tiven Absolutheitsansprüchen auszuweichen und pragmatische Entscheidungsmöglichkei-
ten zu gewinnen.
Die Figur als mediale Form
45
fallen können, da das weitgehend von der Formerfahrung des jeweili-
gen Rezipienten abhängt. Bekannte mediale Formen werden bereits
bei einer geringeren Merkmalshäufung identifiziert als unbekannte.
Die Merkmalssättigung, die für erforderlich gehalten wird, um eine
Form als Form anzuerkennen, ist daher eine Angelegenheit der Erfah-
rung. Form ist also nicht einfach da, sondern sie wird gelernt.
Zugleich können diese Lernprozesse als die Voraussetzung der
permanenten Restabilisierung von medialen Formen im Mediensy-
stem betrachtet werden. Die Wahrnehmung von Form orientiert sich
daher nicht an irgendeinem Urmodell, also einer Art Urmeter, an dem
dann Maß genommen würde, sondern jede Anerkennung von
transformierten oder adaptierten medialen Formen als Formen ver-
schiebt quasi die Grenze des Begriffs und setzt sie neu fest. Mediale
Formen unterliegen damit permanenten Renovierungs- und Adjustie-
rungsprozessen, die nur um den Preis eines Aussetzens der medialen
und kulturellen Entwicklung überhaupt still gestellt werden könnten.
Die qua Lernprozess in mediale Formen eingebaute permanente
Runderneuerung hält sie beständig aktuell, so dass mediale Formen
aus Mediensystemen erst ausscheiden, wenn diese Aktualisierung
nicht mehr gelingen sollte. Die Aktualität medialer Formen ist daher
kein analytischer Verdienst einer Medienwissenschaft, sondern
schlichter Begleiteffekt ihres Funktionsmechanismus.
Insofern kann auch das Emergieren neuer Medien mediale Formen
nicht wirklich schrecken. Dass neue Medien, sobald die technischen
und ökonomischen Adaptations- und Integrationsprozesse erst einmal
gelaufen sind, systematisch auf ihre formalästhetischen Bedingungen
hin befragt werden, um ihre kulturelle Leistungsfähigkeit abzuschät-
zen, und dass das Ergebnis in der Regel ausdifferenzierte Ästhetiken
des jeweiligen Mediums sind, ist bekannt. Mit diesen Ästhetiken sind
aber auch die Konditionen für mediale Formen bekannt und die Frage
des Transfers wird zu der Frage, inwieweit es gelingt, unter den for-
malästhetischen Konditionen des neuen Mediums erneut die Prä-
gnanz für eine bestimmte, in einem anderen Medium bereits etablierte
mediale Form herzustellen. Sobald der Transfer erst einmal gelungen
ist, setzt die Eigendynamik des Konzepts ein, und d.h., die medialen
Formen variieren im Rahmen der Lernprozesse, die sie zu initiieren
vermögen.
Mediale Formen sind Größen unterhalb der Einheiten von Medien-
produkten und d.h., sie sind nie allein. Mediale Formen sind daher
immer schon Elemente in anderen Einheiten: Figuren machen be-
Rainer Leschke
46
kanntlich noch längst keinen Film, kein Drama und auch kein Com-
puterspiel, sondern sie stellen bestenfalls notwendige Momente für
ein solches Medienangebot dar. Insofern lassen sich mediale Formen
isoliert auch nicht sinnvoll betrachten, sondern Formen operieren
stets in Medienangeboten, Mediensystemen oder sozialen Systemen
und diese Umwelten sind für ihren Funktionsprozess durchaus von
entscheidender Bedeutung.
Form ausschließlich immanent zu erfassen ist ohnehin nicht mög-
lich, da isolierte Formen nun einmal nicht zu haben sind. Sie gingen
dann nämlich ihrer Grenze, die in diesem Fall mit der des Objekts
überhaupt zusammenfiele, verlustig, was zur Folge hätte, dass sie
schlicht nicht mehr wahrzunehmen wären. Die Idee, eine Form quasi
rein und ausschließlich gewinnen zu können, versuchte implizit, die
Figur Grund Relation zu suspendieren. Das Erkennen und Identifizie-
ren von medialen Formen abstrahiert zunächst einmal von ihrer je-
weiligen operativen Verknüpfung in Medienangeboten, so dass der
Grund zwangsläufig diffus bleibt. Das gilt allerdings nur für die
Identifizierung von medialen Formen. Sobald diese einmal erfolgt ist,
geht es um die operativen Leistungen der medialen Form, also die
Anschlusshandlungen, Kopplungen und Vernetzungen der Form im
Medienangebot. Sobald eine Figur also einmal als Figur erkannt ist,
geht es nur noch um die Leistungen, die sie üblicherweise in Medien-
angeboten erbringt, und die Figur als Kategorie und mediale Form
treten in den Hintergrund. Der Sinn der Konstruktion einer medialen
Form besteht also darin, ein Set von Anschlussmöglichkeiten und
Erwartungen zu implementieren und dadurch Struktur zu schaffen:
die Anerkennung der medialen Form erkennt also faktisch einigerma-
ßen standardisierte Strukturbedingungen an.
Das Identifizieren und das mediale Funktionieren von Formen
bezeichnen demgemäß zwei unterschiedliche Prozesse. Die Identifi-
zierung erfolgt über den Abgleich von Merkmalen. Es werden Analo-
gien auf der Ebene der Merkmale hergestellt und es wird dann von
einem bestimmten Grad der Sättigung ab auf das Vorhandensein ei-
ner medialen Form geschlossen, die sich analog zu derjenigen ver-
hält, aus deren Inventar die zum Vergleich herangezogenen Merk-
male stammen. Die Identifizierung medialer Formen erfolgt also über
das Beobachten von Analogien, wobei diese über die beschriebenen
weichen Grenzen verfügen und insofern anpassungsfähig bleiben. Es
wird daher zwar keine vollständige, aber doch eine wesentliche Re-
dundanz der Merkmale verlangt. Ohnehin setzt Analogie grundsätz-
Die Figur als mediale Form
47
lich Redundanz voraus und bezieht sich damit auf die Grundverfas-
sung medialer Formen, die nichts anderes als geronnene Wiederho-
lungen sind. Mediale Formen sind daher keine Einzelerscheinungen,
sondern regelmäßige Muster, Schleifen und Strukturen. Sie operieren
weitgehend unabhängig von dem Gesichtspunkt ästhetischer Qualität,
die auf unbedingte Singularität setzt. Figuren existieren als Formen
und sie funktionieren auch als solche vollkommen unabhängig davon,
wie trivial oder ambitioniert sie auch immer angelegt sein mögen.
Insofern ist ästhetische Normativität für die Analyse und Diskussion
medialer Formen wie derjenigen der Figur kein Kriterium. Es geht
mithin um Formen, die erst als gegebene Strukturen zum Objekt äs-
thetischer Verarbeitungsprozesse werden und daher diesen immer
schon vorausgehen.
Die mediale Form der Figur gehört so eben auch zu den Grundele-
menten von Narration, bildlicher Darstellung sowie medialen Spiel-
und Berichtsformen. Sie stellt in diesem Sinne keine zusätzliche Leis-
tung, sondern eine schlichte Notwendigkeit dar und steht daher auch
in den meisten medialen Prozessen gar nicht erst zur Disposition. Die
Identifizierung der medialen Form der Figur als einer in den weitaus
meisten medialen Kommunikationsprozessen notwendigen Form hat
vor allem eine Orientierungsfunktion und ist daher ziemlich elemen-
tar, so dass ästhetische Ambitionen, so sie denn gehegt werden, die-
sen Orientierungsfunktionen quasi aufzumodulieren sind. Vor allem
aber betreffen die ästhetischen Eingriffe in das Konzept in der Regel
nicht die orientierungsrelevanten Merkmale, sondern sie konzentrie-
ren sich auf die eher akzidentellen, die den Formeffekt zwar verstär-
ken, indem sie für Prägnanz sorgen, ohne die es zur Not aber eben
auch geht. Die Ästhetisierung betrifft damit vor allem die Integration
und Vernetzung der Form ins Medienangebot und nicht diese selbst.
Die Konstruktion von medialen Formen unterscheidet sich insofern
von der Relation zwischen Form und Medienprodukt und die Identi-
fizierung medialer Formen dann demgemäß auch von der Bestim-
mung ihrer pragmatischen Leistung. Mediale Formen generieren
einen pragmatischen Erwartungshorizont, der das Medienprodukt mit
einer spezifischen Dynamik versieht. Sie sind dabei so vertraut, dass
ihre Implikationen automatisch mit den Formen selbst aufgerufen
werden. Wenn so in narrativen Umgebungen eine Figur einmal als
solche erkannt ist, dann sind auch die Folgen gleich mitgegeben und
die werden solange als natürlich hingenommen, solange nicht gegen
irgendwelche dieser Erwartungen verstoßen wird, wobei zunächst
Rainer Leschke
48
einmal gleichgültig ist, ob dieser Verstoß aus Dilettantismus oder aus
einem ästhetischen Anspruch heraus erfolgt ist. Wenn Formen nach
Gesichtspunkten der Analogie festgestellt werden, dann geht es also
bei dem Verhältnis von medialer Form und Medienprodukt um Fra-
gen der Passung und möglicher Anschlüsse.
Passung, Kopplungen und die dadurch ermöglichte Varianz sind
also das Feld, auf dem sich die Geschichte der Figur und ihrer Me-
dien abspielt. Es geht um den Erhalt oder die Neubildung von An-
schlüssen und Kopplungen, also um das, was man als Verwurzelung
oder Verdrahtung medialer Form betrachten könnte. Sobald aus den
Spielsteinen der Brettspiele die narrativ aufgeladenen Figuren von
Computerspielen werden, sind Figurenkonstruktion und vom Spiel
vorgehaltene Interaktionsmöglichkeiten miteinander abzugleichen.
Die mediale Form der Figur eröffnet einerseits die Möglichkeit, ein-
zelne Spielregeln und Spielzüge zu motivieren, erzeugt andererseits
aber wiederum den Bedarf nach Motivation, d.h., unmotivierte oder
nur schlecht motivierbare Handlungsanweisungen werden als unpas-
send empfunden. Wenn einzig die Logik der Regelmechanik, die
selbst von den Bedürfnissen des Spielflusses, einer Spieldramaturgie,
wiedererkennbaren Ordnungsmustern, Zufallsimplementationen und
dem Zwang zu strategischer Offenheit reguliert wird, gelten soll,
wenn also nur ein Spiel gespielt wird, dann kann die Implementation
des Regelapparates auf dem Wege bloßer Definition und Setzung
erfolgen. Eine extraludische Verknüpfung der Regeln untereinander
ist nicht erforderlich.
Allein die Funktionalität und d.h. die Widerspruchsfreiheit und
Koppelbarkeit der Regeln untereinander ist für den Regelkanon eines
Spiels ausschlaggebend. Sobald der Spielstein zur Figur mutiert, be-
darf dieses logische Netz einer zweiten Codierung, die für den Zu-
sammenhalt und damit die Motivation sorgt. Dass man sich dabei an
narrative Muster wie etwa Rahmen- und Binnenerzählung anschließt,
um Spielniveaus, also Levelstrukturen und Missionen, und Narrati-
onsstrukturen abzubilden und miteinander abzugleichen, ist eher ne-
bensächlich, vielmehr ist die Notwendigkeit, überhaupt zu solchen
Modellen zu greifen, das Entscheidende und das bleibt eine Folge des
Übergangs vom Spielstein zur Figur.
Auf der anderen Seite begrenzt die narrative Motivierung auch die
Aktionsmöglichkeiten, die rein von der Spiellogik her denkbar wären.
Alle nicht narrativierbaren Aktionspotentiale des Spiels fallen somit
weg, zumindest aber werden sie marginalisiert. Andernfalls zerbrä-
Die Figur als mediale Form
49
chen diese Handlungsmöglichkeiten die Isotopie, die man offensicht-
lich zugleich mit der medialen Form der Figur importiert hat. Mit der
medialen Form der Figur handelt man sich so ein Feld von Isotopien
ein, deren Verletzung selbst zumindest erläuterungsbedürftig wäre.
Literatur
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Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 1, Hamburg.
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Baumgartner, Hans Michael von (Hg.): Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
von: Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke 6. Stuttgart.
50
51
II. Bühne
53
Petra Maria Meyer
Figur, Figuration, Transfiguration
Figurenkonzepte im Theater
»Othello und Desdemona sind Bilder, die eine
Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen
Theaterbesucher und die wirklichen Schauspie-
ler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die
der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht
ist« (Plessner 1982, 403).
»Die Figuren heben sich nach Maßgabe dessen
ab, was sich im Zuge des Diskurses, daran als
Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes wiedererkennen
läßt« (Barthes 1984, 16).
Als Inszenierungskunst1 ist Theater eine der ältesten kulturellen und
künstlerischen Praktiken menschlicher Selbstauslegung. Sie ermög-
licht dem Schauspieler, ein Anderer seiner Selbst zu sein und dem
Zuschauer, sich im Anderen zu erkennen. Dazwischen geschobene
Bilder sind konstitutiv für diese Spiegelfunktion, die historisch wech-
selnden Figurenkonzepten zugrunde liegt.
Unter Figur versteht man im Theater allgemein eine hörbar
und/oder sichtbar auf der Bühne auftretende Gestalt, die beteiligt oder
unbeteiligt in eine Handlung oder ein performatives Geschehen in-
volviert ist. Dabei entsteht die Figur im Aufführungstext (im Unter-
schied zum Dramentext) aus dem Verhältnis von Rolle und leiblicher
Erscheinung des Schauspielers durch die Wahrnehmung des Zu-
schauers.2 Die Art und Weise, wie Schauspieler im Gegenwartsthea-
1 Den Begriff Inszenierung benutze ich hier im anthropologischen Sinne von Wolfgang Iser
(vgl. Iser 1991, 512ff), der Inszenierung als »Institution menschlicher Selbstauslegung«
versteht und spiegeltheoretisch reflektiert.
2 Zur wichtigen Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Schauspieler, Figur und
Rolle: Schwind 1997, 430.
Petra Maria Meyer
54
ter zur Erscheinung kommen, weist eine große Variationsbreite auf.
Neben dem zentralen Auftritt leibhaftiger Schauspieler in Kopräsenz
mit dem Publikum sind unterschiedliche mediale Erscheinungsweisen
einer Präsenz der Absenz über Audio- oder Videotechnologie zuneh-
mend verbreitet. Figuren werden zudem durch den Einsatz von Pup-
pen im Figurentheater oder durch belebte Objekte im Maschinen-
theater konstruiert.
Dramentheoretisch wird von einer Interdependenz von Figur und
Handlung ausgegangen. Nach Manfred Pfister ist insofern eine Figu-
rendarstellung ohne Handlungsbezug und eine Handlung ohne Figu-
rendarstellung undenkbar (Pfister 1988, 220). Diese wechselseitige
Abhängigkeit stellt jedoch keine Substanzialität von Theater dar,
sondern eine historisch gewachsene Spielart, deren historische Ge-
nese lange Zeit vernachlässigt und erst in jüngster Zeit durch neue
theaterhistoriographische Ansätze stärker herausgestellt wurde (vgl.
in diesem Zusammenhang: Marx/Rättig 2000).
Eine historisierende Betrachtung des Figurenbegriffs zeigt den Va-
riantenreichtum in Wechselwirkung mit diskursiven Grundlagen auf,
die als verschiedene Bedingungsfelder der Möglichkeit von Figu-
renkonstitutionen einwirken. Diese reichen von mythologisch be-
gründeten, aus Handlungen hervorgehenden Typen im antiken Grie-
chenland, die durch Aristoteles Poetik eine wegweisende Programm-
schrift erhielten, dem Volksbewusstsein entstammende Idealbilder,
die in der Commedia dellarte zu Kunstfiguren wie Harlekin, Pulci-
nella oder Zanni werden, bis zu individualisierten Figuren mit Cha-
rakteren und Handlungskompetenz im 18. Jahrhundert. Ein seit der
Aufklärung und insbesondere durch Gotthold Ephraim Lessings Äs-
thetik der Identifikation festgeschriebenes Verständnis von Figur hat
bis zum heutigen psychologisch-realistischen Theater besonders
nachhaltig gewirkt. Dekonstruktion, Authentizitäts- und Simulakren-
debatten, ein zunehmendes Bewusstsein von Selbstreferenzialität und
nicht zuletzt Entwicklungen der Performance Art sowie des Musik-
und Tanztheaters haben jedoch im 20. Jahrhundert einen Weggang
von psychologisch angelegten Charakteren in der Schauspielerfüh-
rung bewirkt. Entsprechend andere Figurenkonzepte zeigen sich bei-
spielsweise darin, dass Figuren durch Nummerierung unterschieden
werden oder Schauspieler unter ihren eigenen Namen auftreten. Im
Weggang vom klassischen Handlungsdrama und in Hinwendung zum
Klang-, Bilder- und Bewegungstheater, das weniger logisch-analy-
tisch als sinnlich und assoziativ über Klangwirkungen und Bildinhalte
Figurenkonzepte im Theater
55
Bedeutungen generiert, haben sich sowohl Einschätzung und Funk-
tion der Spiegelung als auch Bilder einer imaginären Welt verändert.
Dieser Zusammenhang wird bereits im Zuge der Diskurse zur fi-
gura erkennbar, auf die ich insofern kurz eingehe, bevor ich im An-
schluss an Beispielen aus dem theatergeschichtlich bedeutsamen 18.
Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert unterschiedliche Figurenkon-
zepte verdeutliche, um abschließend eine in der Theaterwissenschaft
zunehmende Verwendung der Begriffe Figuration und Transfigura-
tion zu begründen.3
typos, imago, figura
Der mit fingere (bilden, formen, gestalten) verwandte lateinische
Begriff figura (Gestalt, plastisches Gebilde, äußere Erscheinung) trat
zunächst als Übersetzung des griechischen Wortes typos auf. Im Grie-
chischen von den Verben schlagen und prägen abgeleitet, bedeutet
typos (vgl. Strenge 1998, 1587) handwerklich-künstlerisch die prä-
gende Form, das Geprägte, auch Abdruck, beispielsweise eines Sie-
gelrings. Da sowohl Platon4 als auch Aristoteles5 das Gedächtnis als
das, was jeder Repräsentation zugrunde liegt und sich selbst nicht
repräsentieren lässt, über die Medienmetapher des Abdruckes eines
Siegelringes in Wachs verstehen, ist sowohl diese Abdrucktheorie als
3 Um dem bedeutungsbeladenen Begriff der Figur, der bezogen auf Spielarten im Gegen-
wartstheater missverständlich ist, zu entgehen, habe ich in einem Vortrag auf dem Jahres-
Kolloquium zum DFG-Forschungsschwerpunkt Theatralität 1997 in Berlin, bezogen auf
den komponierten Film Solo von Mauricio Kagel, die Begriffe Figuration und Transfigura-
tion eingebracht (vgl. Meyer 2000). Diese Nutzung eines offeneren Begriffes wurde dann in
meiner Habilitationsschrift weitergeführt (vgl. Meyer 2001, insbesondere 321f). Theater-
wissenschaftlich wird dem notwendigen »Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge«
zunehmend Beachtung geschenkt (vgl. z.B. Brandl-Risi/Ernst/Wagner 2000).
4 Wie ein Siegelring seine Abdrücke in der Wachsmasse, so hinterlassen Wahrnehmungen
und Gedanken ihre Spuren, so dass sie auch dann erhalten bleiben, wenn sie für den Men-
schen nicht mehr gegenwärtig sind. Allerdings bilden sie sich nach Platon als eine leere
Form ab, die ein prinzipielles Wiedererkennen ermöglicht, da sie mit dem gleichen Inhalt
angefüllt werden bzw. ein gegebener Inhalt mit der vorgeprägten Form identifiziert werden
kann. In diesem Sinne ist auch eine Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Mei-
nung möglich, da eine richtige Meinung dann gegeben ist, wenn der Inhalt mit seinem
Abbild identifiziert werden kann, er in den vorgeprägten Abdruck hineinpasst (vgl. Platon
1958, Theaitetos 193 b).
5 Auch Aristoteles geht davon aus, dass das, was über die Sinnesorgane wahrgenommen
und erfahren wird, ein eikon, ein Bild hinterlässt, das mit dem Abdruck eines Siegels in
Wachs vergleichbar ist (vgl. Aristoteles 1924, 38ff).
Petra Maria Meyer
56
auch die platonische Abbildtheorie mit dem Begriff typos verbunden,
der als Vorbild und Muster den Begriffen Paradigma, Archetyp und
Prototyp nahe steht.
Das Bild (eidolon), in Platons Theorie hierarchisch abgestufter Ab-
bildungsverhältnisse verstanden als »das einem Wahren ähnlich ge-
machte andere solche« (Platon 1958, Sophistes 240a), ist nicht wahr-
haft Seiendes, sondern ein ähnliches Scheinbares. Ähnlichkeit ver-
bindet gleichsam Bildbegriff und den Begriff der Mimesis. Entspre-
chend zählt Platon zu den mimetischen Künsten nicht nur Schauspiel,
sondern auch Malerei, Plastik, Musik und Dichtung.6
Als prägende Form wirkte typos7 ebenso in die antike Mnemo-
technik und somit auf den rhetorischen figura-Begriff ein, wie in der
allgemeinen Bedeutung von Bildung, Formung, Gestalt auf die
christliche Realprophetie. Personen oder Ereignisse im Alten Testa-
ment fungieren in diesem Sinne als figuram Christi (vgl. Auerbach
1967, 72). Theatergeschichtlich gehen sie in mittelalterliche, geistli-
che Ansätze eines dramatischen Spieles ein, mit dem Gottesdienste
variiert wurden. Erst im Weiteren finden sich die Bedeutungen Um-
riss, Gestalt, Form, so dass der Einfluss der platonischen Erinne-
rungs- und Bildtheorie in der Wortgeschichte von figura, die im Zuge
der Graezisierung der römischen Bildung durch Varro, Lukrez und
Cicero beginnt, nicht unterschätzt werden sollte.8
Mit Rücksicht auf den reicheren Sprachschatz des Griechischen,
das eine große Anzahl von differenzierteren Worten für den Gestalt-
begriff aufweist, betont auch Erich Auerbach, dass typos in seiner
Tendenz zu forma und auch hinsichtlich der erweiterten Bedeutung
von figura in Richtung auf Statue, Bild, Portrait einwirkte. In dieses
Bedeutungsfeld fallen auch die Begriffe imago und simulacrum (vgl.
Auerbach 1967, 57).
Der aus dem Lateinischen stammende Begriff imago umfasst die
Bedeutungen Bild, Bildnis, Abbild, Trugbild, Vorstellung und ist mit
dem lateinischen Verb imitari (nachahmen) und altlateinisch imor
(gleich sein) verbunden (vgl. Duden 1989, 300). Schon der Begriff
impliziert somit eine theatrale Urszene im Wirkungsfeld der Mimikry,
6 Im Konzept der musiké kamen die Künste Musik, Poesie und Tanz im antiken Griechen-
land verschieden, aber ungetrennt zur Wirkung.
7 Nach Auerbach blieb typos im lateinischen Sprachbereich lediglich ein Fremdwort, so
dass aus der Bedeutungsgeschichte hervorgegangene Vorstellungen in allem Varianten-
reichtum mit figura verbunden wurden (vgl. Auerbach 1967).
8 In der wichtigen theaterhistoriographischen Forschung zu Figur und Figuration bleibt
dieser Aspekt m.W. ausgespart, was die Studien nicht schmälern soll.
Figurenkonzepte im Theater
57
einer heteromorphen Identifikation und Nachahmung, die Jacques
Lacan im 20. Jahrhundert nicht auf ein »vorherrschendes Gesetz der
Anpassung« (Lacan 1975, 66) zurückführt, sondern zunehmend mit
einer »Aktivität der Mimikry [...] Verkleidung, Tarnung und Ein-
schüchterung« (Lacan 1980, 106) verbindet.
Sinnlicher und beweglicher als forma zeigt sich figura bei Lukrez
auch in der Bedeutung von Traumbild, Phantasiegestalt, Schatten der
Toten. Bezogen auf den wichtigen Übergang von der Gestalt zur
Nachahmung, dem Übergang zum Theater gleichsam, sollte somit
nicht vergessen werden: »[...] Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild
sind Bedeutungen, die immer mit figura verknüpft bleiben«
(Auerbach 1967, 58).
Die Diskussion der figura in der Antike weist zugleich eine enge
Verbindung mit dem Gestalt-Begriff (griech. schema) auf, der jedoch
im Griechischen sehr viel weiter und beweglicher ist als das Fremd-
wort Schema im Deutschen. Darauf weist Auerbach, der diese Be-
weglichkeit im Begriff figura als weiterentwickelt ansieht, hin, indem
er anmerkt, dass Aristoteles die mimischen Gesten der Menschen im
Allgemeinen und der Schauspieler im Besonderen schemata nennt.
Roland Barthes wird ihm später folgen:
»Das Wort darf nicht im rhetorischen Sinne verstanden
werden, sondern eher im gymnastischen oder choreogra-
phischen, kurz: im griechischen ơאήµα, das ist nicht das
Schema‹, das ist, in einem sehr viel lebendigeren Sinne,
die Gebärde des in Bewegung erfaßten und nicht des im
Ruhezustand betrachteten Körpers, des Körpers der Ath-
leten, der Redner, der Statuen: das, was sich vom
angespannten, gestrafften Körper stillstellen läßt« (Barthes
1984, 16).
Schon dieser kleine Einblick in die Begriffsgeschichte verdeutlicht
die Ambivalenz des Begriffes Figur. Zum einen erscheint Figur als
statisches Bild und Statue, zum anderen als dynamische Bewegung
des Körpers. Ist Figur einerseits mit der Möglichkeit von Repräsen-
tation über die Ähnlichkeit verbunden, so bringen ihre Beweglichkeit,
die einen Form- und Gestaltwandel impliziert, aber auch die Nähe zur
Phantasiegestalt, zum Phantasma und zum Traumbild, immer schon
Unähnlichkeit ein. Grundlegend bleibt in den Diskursen jedoch die
Petra Maria Meyer
58
Verbindung der Figur mit Gestalt, mit dem Bild des menschlichen
Körpers.
Körperbilder treten ihrerseits ambivalent auf. Sie verbinden sich
einerseits mit dem Streben nach Vollkommenheit und suggerieren
Vollständigkeit, andererseits versinnbildlichen sie einen zerstückelten
Körper. Ist es auch ungesichert, ob der Mensch sich notwendig bild-
haft seines Körpers versichern muss, so ist doch eine diskursive Kon-
struktion des Körpers über Körperbilder und Spiegelfunktionen unbe-
streitbar. Die Sicht auf die Ganzheit oder die Zerstückeltheit des Kör-
pers ist Effekt einer historisch varianten Diskursivierung des Körpers
und der medialen Entwicklung, die sich in den Figurenkonzepten des
Theaters niedergeschlagen hat.
Während in der antiken griechischen Tragödie Die Bakchen des
Euripides durch die Zerstückelung des Pentheus das Vorstellungsbild
eines verstreuten Leibs evoziert wird, sucht das Theater der Aufklä-
rung das Phantasma der Ganzheit zu bewahren. Zugleich kommt es
zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Figur und Handlung.
Kann für Aristoteles die Tragödie auch ohne Charaktere auskommen,
da die Handlung für ihn grundlegend ist, aus der erst Charaktere ent-
stehen (vgl. Aristoteles 1982, 19), so verkehrt sich durch das Men-
schenbild der Aufklärung das Verhältnis. Der »aus der selbstver-
schuldeten Unmündigkeit«9 ausgetretene, vernünftige Mensch han-
delt selbstbestimmt, wird somit zum Verursacher der Handlung, die
auf ihn zurückgeführt wird. Grundlegend für die Figurenkonzeption
wird dabei insbesondere auch die Sprachbegabung des Vernunftmen-
schen. Die Rede erweist sich als ideale, vernünftige und kontrollierte
Form des Handelns, so dass der Sprechakt das Handeln ufig erüb-
rigt. Bevor ich mich verstärkt der Figurenkonzeption im Diskursnetz
des 18. Jahrhundert zuwende, sei jedoch der Einfluss der Rhetorik
zumindest gestreift.
Auf die diversen rhetorischen Figurensysteme und ihre Beziehung
zum Theater kann hier freilich nicht eingegangen werden. Es sei so-
mit nur darauf hingewiesen, dass diese Thematik von der Teichosko-
pie, dem Botenbericht als bühnentechnische, rhetorische Figur über
9 Immanuel Kants Aufsatz, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784) kann
als zentrale Programmschrift angesehen werden, die den Menschen dazu aufruft, sich seiner
eigenen Vernunft zu bedienen, selbst zu denken, selbst zu urteilen. Diese Selbstständigkeit
ist jedoch nicht vorgesehen, ohne den Menschen über verschiedene Medien anzuleiten. Zur
Einweisung und Internalisierung der Diskurstechniken dienten im 18. Jahrhundert Briefe,
die expandierende Presse, eine Vielfalt neuer Zeitungen und Zeitschriften und insbesondere
das Theater.
Figurenkonzepte im Theater
59
die eloquentia corporis, die in Wechselwirkung mit dem Diskurs der
Anthropologie insbesondere auch das 18. Jahrhundert prägte (vgl.
Kosenina 1995), bis zur Übertragung rhetorischer Figuren auf die
Musik (als Ausschmückung) oder den Tanz (als Bewegungsfigur)
reicht.
Da die Antike keine eigene Schauspieltheorie kannte, waren für
Rede- und Schauspielkunst die Rhetoriken von Aristoteles, später von
Cicero oder Quintilian gleichermaßen richtungweisend. Im Absolu-
tismus des 17. Jahrhunderts griff der Hofschauspieler ebenfalls auf
Rhetorikbücher als Anleitung zurück (vgl. Möhrmann 1990, 84). Die
enge Verbindung von rhetorischer actio, Theatertheorie und -praxis,
die sich in der Frühen Neuzeit entwickelte, löst sich im 17. Jahrhun-
dert zugunsten einer Schauspiellehre jedoch langsam auf. Im Um-
bruch vom höfischen Theater zur psychologischen Introspekti-
onskunst der bürgerlichen Bühne wird ein Ende des rhetorischen
Einflusses zwar bewusst deklariert, Traktate wenden sich jedoch im
18. und auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch an Schau-
spieler und öffentliche Redner gleichermaßen.
Bilder einer natürlichen und ganzheitlichen Figur
im 18. Jahrhundert
Ein Weggang von der Rhetorik wird in den Diskursen des 18. Jahr-
hunderts über eine »Wiederentdeckung des Menschen und seiner
Natur« (vgl. Kosenina 1995), insbesondere durch eine psychologi-
sche Besinnung auf den natürlichen Ausdruck der Affekte und
Leidenschaften, propagiert. Die so genannte Natur, genauer gesagt,
das, was man recht unterschiedlich Natur nannte, wurde zu einem
Leitbegriff und bei Charles Batteux 1746 zum »Prinzip«, auf das er
die schönen Künste zurückführen will (vgl. Batteux 1975). Dass unter
Natur sehr Unterschiedliches verstanden wurde, lässt sich an der Pra-
xis von Schauspielkunst in dieser Zeit zeigen: Deklamation und Pose
französischer Tragödiendarstellung, eine selbstherrliche Zurschau-
stellung privaten Gefühls empfindsamer Schauspieler oder auch eine
groteske Übertreibung der Komödiendarsteller, verstanden sich glei-
chermaßen als natürliche Darstellungsweisen. Als Leitmodell fun-
gierte jedoch ein Idealbild, das es durch dazwischen geschobene Bil-
der zu generieren galt. Eine Beschreibung des für die Figurenkonzep-
tion des 18. Jahrhunderts modellhaften Prototyps des natürlichen
Petra Maria Meyer
60
Menschendarstellers, des berühmten Hamlet-Darstellers David
Garrick, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich:
»[...] Voller Entsetzen über das schreckliche Gemählde,
welches ihm seine Blutschulden vorhielt, rang er mit dem
Tode; die Natur schien ihre letzten Kräfte anzustrengen;
diese Situation erregte Schaudern. Er kratzte auf der Erde,
und scharrte gleichsam sein Grab auf; aber der Augenblick
rückte heran, man sah den Tod vor Augen; alles mahlte
den Zeitpunkt, der alle Ungleichheit aufhebt; endlich ver-
schied er; das Todesschluchzen und die konvulsivischen
Bewegungen der Gesichtsmuskeln, der Arme und der
Brust, gaben diesem grauenvollen Gemählde den letzten
Pinselzug« (Noverre 1769, 162f).
Abb. 1: Benjamin Wilson: Garrick as Hamlet, 1754.
Jean George Noverre10 beschreibt hier, wie sich die Figur, die David
Garrick in der Rolle eines Tyrannen verkörpert, dem die Angst vor
10 Im 18. Jahrhundert erfolgt ein tanzgeschichtlich relevanter Umbruch, da sich das Ballett
von seiner Rolle emanzipiert, gefällige Einlage zu Lustspielen oder Opern ohne jeden
inhaltlichen Bezug zu sein. Jean George Noverre, der als ausübender Künstler sehr viel
weniger von Bedeutung war als seine theoretischen Reflexionen zur Tanzkunst, leitete eine
erste große Reform des Tanzes ein. Er wollte das Ballett von der feudalen Repräsentations-
funktion und Vorgabe befreien, in Symmetrie und Geometrie choreographisch die feudale
Hierarchie des Staates widerzuspiegeln, und klagte die Autonomie der Kunst gegenüber der
Figurenkonzepte im Theater
61
dem jüngsten Gericht ins Gesicht geschrieben steht, im Wahrneh-
mungsakt des Betrachters durch ein dazwischen geschobenes Bild
konstituiert. Ganz nach der Devise des Horaz ut pictura poesis wer-
den nicht nur Garricks Gestik und Mimik zu Ausdrucksträgern der
Malerei, vielmehr wird auch unterstellt, dass Garrick gleichsam ein
Gemälde vor Augen haben muss, um ein Gemälde zu evozieren.11
Gemalte Bilder treten zwischen die wirklichen Schauspieler und die
wirklichen Zuschauer und bewahren das Idealbild auch für die Nach-
welt.
Abb. 2: Gilbert Austin, Chironomia or a treatise on rhetorical delivery,
London 1808.
Garricks angsterfüllt weit geöffnete Augen und gestische Haltung12
erinnern jedoch sofort auch an die zusammengesetzten, bedeutsamen
Gesten, die in Gilbert Austins rhetorischer Schulung zu finden sind.
Zum Idealbild der natürlichen Gestalt trägt die Rhetorik im 18. Jahr-
hundert weiterhin bei. Lessings Fragment »Der Schauspieler«
(1754/55), seine Äußerungen zur Chironomie in der Hamburger
Dramaturgie (Lessing 1981, 28) oder Goethes »Regeln für Schau-
staatlichen Ordnung ein, orientierte sie jedoch zugleich an zwei anderen Ordnungssy-
stemen, an dem der Malerei und dem des Handlungsdramas. In seinen berühmten »Briefen
über die Tanzkunst« (»Lettres sur la danse, et sur les ballets« 1760; dt. 1769) argumentiert
Noverre entsprechend intermedial. Das Ballett will er als Gemälde, jedes Gemälde als eine
besondere Szene verstanden wissen, die wiederum zu einer anderen Szene führt. Findet der
Tanz sein Modellmedium im Bildmedium Malerei, so folgt der innere Bildaufbau der
Malerei wiederum der Handlungsdramaturgie des Theaters, dessen Einfluss das Gemälde
zur Szene theatralisiert.
11 Das intermediale Wechselverhältnis von Malerei und Theater im 18. Jahrhundert ist in
der Theaterwissenschaft gut erforscht, so dass ich diesen Aspekt hier nicht weiter ausführe.
12 Zur Beschreibung der malerischen Szene vgl. Meyer 2004.
Petra Maria Meyer
62
spieler« (1803) zeugen von weiter bestehenden Versuchen, Theater
und Rhetorik zu verbinden.
Der natürliche Ausdruck ist weniger unbewusst als bewusst sym-
bolisch verfasst. Durch den Einfluss der Anthropologie13 gelangte
Lessing zu einem psychophysischen Neuverständnis in seiner Schau-
spieltheorie, die dem Schauspieler eine »psychische Selbstinduktion«
empfiehlt, durch die »natürliche Gebärden willentlich hervorgebracht
werden können« (Kosenina 1995, 78). Ein »naturwahrer Darstel-
lungsstil« resultiert nach Lessing aus dem genauen Studium durch
Zergliederung des darzustellenden Affektes, in den der Schauspieler
durch präzise Nachahmung der somatischen Zeichen selbst hinein
kommt (vgl. Kosenina 1995, 7).
Grundlegend für die zeitgemäße Seelenzeichenkunde und Hand-
lung als Nachahmung ist gleichsam die Spiegelung in der Malerei, im
Blick eines Noverre und anderer Zuschauer. Über mimetische Spie-
gelung findet der Schauspieler zur ganzheitlichen Gestalt, die eine
symbolische Zurichtung vergessen macht. Doch Jacques Lacans Aus-
führungen vorwegnehmend, ist das »Phantasma der Gestalt« (vgl.
Heeg) auch im 18. Jahrhundert durch die real existierende Mangel-
haftigkeit bedroht, dem Idealbild niemals gleichkommen zu können.
In seiner überzeugenden Studie zum 18. Jahrhundert hat Günther
Heeg erhellend auf eine Szene in Friedrich Maximilian Klingers
Sturm und Drang-Drama Die Zwillinge hingewiesen (vgl. Heeg 2000,
327).
13 Der Einfluss, den die neu entstehende philosophische Disziplin der Anthropologie aus-
übte, wurde überzeugend von Alexander Kosenina herausgearbeitet, der damit zugleich das
entscheidende diskursive Umfeld markierte, in dem sich die Schauspieltheorie im 18.
Jahrhundert unabhängig von der Rhetorik entfalten konnte. In ihr wird die Unvereinbarkeit
eines natürlichen Seelenausdruckes und ihres künstlerischen Gebrauches stark diskutiert
und in unterschiedlicher Weise gemeistert. Insbesondere durch Gotthold Ephraim Lessing
wurden die einander widerstreitenden Auffassungen des Schriftstellers Pierre Rémond de
Saint Albine und des Schauspielers Francesco Riccoboni in die deutsche Diskussion einge-
bracht. Während der Schriftsteller sich hinsichtlich der Frage, ob der Schauspieler empfin-
den soll, was er in seiner Rolle zu empfinden vorgibt, für den empfindenden Schauspieler
ausspricht, besteht der Schauspieler Riccoboni auf einem reflektierten Umgang mit der
Rolle. Lessing und der späte Diderot pflichten der notwendigen reflektierten Distanz bei.
Figurenkonzepte im Theater
63
Abb. 3: Bildzitat aus: Heeg 2000.
Der Stich von Johann Albrecht (Abb. 3) versinnlicht eine bezeich-
nende Spiegelszene. Seit Platon fungiert der Spiegel nicht nur als
Medium einer täuschenden Erscheinung. Da das Abbild an die Prä-
senz des Abgebildeten gebunden ist, Spiegelbild und Spiegelgegen-
stand aufeinander verwiesen bleiben, garantiert es einen Referenten.
Dadurch fungiert der Spiegel auch als Erkenntnismedium. Als solcher
erlaubt er dem Protagonisten nicht mehr, sich über sich selbst zu täu-
schen. Nachdem Guelfo seinen Zwillingsbruder ermordet hat, glaubt
er das Kainsmal auf seiner Stirn im Spiegel zu sehen, und setzt mit
wehenden Haaren und mit dem Degen weit ausholend dazu an, sich
zu zerschlagen: »Zerschlage dich Guelfo«. Für Heeg zeigt sich in
dieser Zerstörungswut eine Rebellion gegen und Gefahr für das Ge-
staltprinzip im 18. Jahrhundert, ein an der ganzheitlichen, natürlichen
Gestalt orientiertes Darstellungsprinzip, die entsprechend zurückge-
drängt werden musste.
Im 20. Jahrhundert kann dagegen das Trauma des zerstückelten
Körpers auf die Bühne gelangen. Ein dazwischen geschobenes Bild
und Worte des aufgeklärt mündigen Sprechers, die im 18. Jahrhun-
dert ein integrales Selbstbild ermöglichten, können nun zerrüttete
Formen annehmen, so dass die Figur in keiner Gestalt mehr zur Ruhe
zu kommen scheint, sich sehr viel dynamischer figuriert, immer wie-
der anders transfiguriert.
Petra Maria Meyer
64
Figuration und Transfiguration im 20. Jahrhundert
Da die Medienentwicklung zu veränderten Wahrnehmungsprozessen
führte und medial veränderte Wahrnehmungsformen auch die Körper-
Repräsentationen änderten, entstanden geradezu notwendig auch neue
Figurenkonzepte im Theater des 20. Jahrhunderts. Eine Anekdote des
in den 1920er-Jahren wichtigen Filmtheoretikers Béla Balázs macht
deutlich, welche Veränderungen das neue Ensemble der Medien, das
neben Phonographie und Photographie nun auch den Film umfasst,
für das Theater bereit hält. Balázs berichtet von einem Mädchen aus
Sibirien, das nach ihrem ersten Filmerlebnis völlig entsetzt erzählt,
nur zerstückelte Menschen gesehen zu haben. In ihrer noch unge-
schulten Wahrnehmung eines neuen Mediums hatte sie die für uns
heute selbstverständliche Ergänzung von Groß- oder Nahaufnahmen
einzelner Körperteile durch die Erinnerung an vorherige Bilder des
ganzen Körpers noch nicht habitualisiert (vgl. Bazs 1972, 24). Der
Film macht zum einen bewusst, dass es die Wahrnehmung des Zu-
schauers ist, die den ganzen Körper generiert. Zum anderen verdeut-
licht er die bis dahin andere Wahrnehmungssituation im Theater. Mit
der Integration von Film- oder Videoprojektionen sind grundlegende
Veränderungen im Nähe- und Distanzverhältnis gegeben, die die
Körperwahrnehmung fundamental beeinflussen. Während dem
Theaterbesucher im Zuschauerraum mit Abstand zur Bühne ein
Ganzkörperbild präsentiert wird, zeigen sich ihm auf der Leinwand
Körperteile, Fragmente eines zerstückelten Körpers.
Unter diesen anderen medialen Voraussetzungen lässt Samuel
Beckett, ein Theaterautor, der intermedial zwischen Literatur, Thea-
ter, Radio und Fernsehen arbeitete, bezeichnenderweise ein Partial-
objekt des Körpers, einen Mund, auf derhne auftreten. In Not I /
Nicht Ich, 1972 verfasst und uraufgeführt, ist die Theaterbühne in
völlige Dunkelheit getaucht. Der Zuschauer sieht nur einen Mund.
Auch das übrige Gesicht liegt im Dunkel. Die Stimme des Mundes ist
zu Beginn und am Ende unverständlich. Hinzu kommt die dunkle
Gestalt eines Vernehmers, der von Kopf bis Fuß bis zur Unbestimmt-
heit verhüllt, schweigend »in aufmerksamer Spannung dem Mund
gegenübersteht« (Beckett 1978, 11) und zumeist unbeweglich (»to-
tenstarr«, ebd.) bleibt. Im Verlauf des Stückes hebt er jedoch viermal
die sonst verborgenen Arme seitwärts, lässt sie wieder zurückfallen
und verleiht somit dem Redeschwall eine zusätzliche Strukturierung.
Beckett spezifiziert diese Bewegung als »Geste hilflosen Mitleids«.
Figurenkonzepte im Theater
65
Ein bei Lessing für das bürgerliche Trauerspiel noch konstitutiv er-
achtetes »Mitleid«14 ist nun hilflos geworden. Mit dem sprechenden
Titel Not I (die Homophonie Not Eye liegt nahe) negiert Beckett von
Beginn an die Ich-Instanz des aufgeklärten Vernunftmenschen und
die übliche Ordnung der Sichtbarkeit, um den Erfahrungsraum der
literarischen Moderne und poststrukturalistischen Philosophie freizu-
setzen, in der ein »Ich« als »Dahintergestecktes« (Nietzsche) proble-
matisch wird, so dass weniger bewusstes Handeln als unbewusste
Geschehnisse figurenkonstitutiv werden. Entsprechend tritt der aus-
gestellte Mund nicht mehr vorrangig als Organon des Sprechens auf,
sondern wird auch an der Schwelle zur Artikulation als Körperöff-
nung verlautbart, als Organ der Ausscheidung dessen, was die Prota-
gonistin bis zum siebzigsten Lebensjahr nicht hat verdauen können.15
»...raus...in diese Welt...diese Welt...winzig kleines
Ding...vor der Zeit...in ein gottver-... was?... Mädchen?...
ja...winzig kleines Mädchen...in dies...raus in dies...vor der
Zeit...gottverlassenes Loch namens...namens...egal... Eltern
unbekannt...nie von gehört...er verschwunden... ver-
duftet...kaum daß seine Hose wieder zu war...sie
genauso...acht Monate später...fast auf den Tag...also keine
Liebe...davon verschont...keine Liebe wie sie gewöhnlich
ausgelassen wird am...sprachlosen Kind...im Heim...
nein...auch was das angeht überhaupt keine...überhaupt
keine Liebe...weder da noch später...also das
Übliche...nichts Erwähnenswertes bis um die Sechzig als
...was?...Siebzig?... großer Gott!« (Beckett 1978, 11-13).
Dieser biographische Abriss einer konsequent in der dritten Person
erzählten, tragischen Lebensgeschichte, die ein Mund in unterschied-
lichen Brocken und Bröckchen schon partiell zersetzt und diskonti-
nuierlich ausscheidet, markiert neue diskursive Bedingungen der
Möglichkeit von Figurenkonzeption, einen anderen Kern in jeder
Figur:
14 Der Begriff Mitleid impliziert bereits die Umcodierung der tragischen Katharsis durch
Schauder und Jammer zur Empfindsamkeit des Bürgerlichen Theaters.
15 Vgl. zur akustischen Konzentration auf das Körperorgan in der Inszenierung von Not I /
Non I als Hörstück, mit besonderer Berücksichtigung der Stimme: Meyer 2008, 317ff.
Petra Maria Meyer
66
»Im Kern jeder Figur steckt etwas von ›verbaler Halluzi-
nation‹ (Freud, Lacan), ein verstümmelter Satz, der sich in
den meisten Fällen auf ihren syntaktischen Bereich
beschränkt (Obwohl du...bist; wenn du noch...müßtest‹)«
(Barthes 1984, 19).
Ungewöhnlich für das Theater, weil nicht in einer szenischen Situa-
tion begründet, wird ein Mund zur Verkörperung einer Figuration,
deren Rolle weniger dramatisch als narrativ ist. Der szenische Mini-
malismus in den Short Plays, die bereits Theater in Performance-Art
überführen, betonen nicht nur einen physischen Gestaltwandel, der
sich im Stück ereignet, sondern auch den Umstand, dass sich die
dabei freigesetzte Figuration nur im Wahrnehmungsakt des Zuschau-
ers und Zuhörers konstituiert.
Becketts Monolog eines wahnsinnig gewordenen Mundes über-
schreitet die Grenzen, die ein kultureller Code den Gebärden und der
Sprache setzt. Die Performance versinnlicht den Prozess, in dem die
Sprache über die ihr gesetzten Grenzen hinausgeht, um sich selbst zu
entleeren. In der Entleerung klingt gleichsam eine zweite akustisch-
gestische Sprache an, in der kein Subjekt mehr wortführend ist. Die
Absenz des souveränen, intentionalen Subjekts eröffnet die versinn-
lichte Leere oder benannte Stille von Becketts Stücken, in denen
seine Protagonisten niemals aufhören zu sprechen.16 Sprache ist hier
vehement auf sich selbst zurückgeworfen und setzt in ihrer radikalen
Verausgabung gleichsam ihr Anderes, eine Gerden- und Tonspra-
che, frei.
In Theaterstücken von Elfriede Jelinek wird Sprache in anderer
Weise zum Hauptdarsteller und derart ins Zentrum gerückt, dass sie
nicht mehr nur Dienstleister der Wortbedeutung ist, sondern zu einem
szenisch zu gestaltenden Material avanciert, das selber we, wohin
es will. Insofern werden keine psychologisch realistisch gezeichneten
Figuren einander gegenüber gestellt, sondern so genannte Sprachflä-
chen gegeneinander gesetzt. Die repräsentationslogische Definition,
nach der sich »Theater ereignet [...], wenn es eine Person A gibt, die
X verkörpert, während S zuschaut« (Fischer-Lichte 1983, Bd. 1, 25),
ist hier nicht mehr zutreffend. Eine der Darstellung eingeschriebene
Entfaltung weiterer Darstellungen, eine prinzipiell infinite Verwand-
lungsbewegung des Akteurs bewirkt eine Dynamisierung des Figu-
renkonzeptes durch Figuration und Transfiguration.
16 Zu Becketts Radioarbeiten in diesem Zusammenhang vgl. Meyer 1997.
Figurenkonzepte im Theater
67
»Wer kann schon sagen, welche Figuren im Theater ein
Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse beliebig viele gege-
neinander auftreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese
Leute ja nicht! Jeder kann ein anderer sein und von einem
Dritten dargestellt werden, der mit einem Vierten identisch
ist, ohne daß es jemandem auffiele« (Jelinek 1992, 226).
Elfriede Jelinek setzt die semiotische Bewegung der Supplementarität
oder das Vermögen der Zeichen, in andere Zeichen übersetzt werden
zu können, einer Illusion der Ich-Identität entgegen. Ein Arbeiten mit
Sprachflächen verdeutlicht die Entstehungsbedingungen von Figuren
und Identitäten wie ihren Wechsel. Machtstrukturen und Ausschluss-
verfahren, diskursive und mediale Bedingungen von Identitätsentwür-
fen werden in solchen Figurationskonzepten transparent.
Wird im Theater der Repräsentation gewöhnlich ein Konflikt zwi-
schen Personen oder Interessengemeinschaften zum Ausgangspunkt
der Dramaturgie eines Handlungsverlaufes, so findet man bei Jelinek
die Reibung von Diskursen, in Aufführungstexten von Robert Wilson
bis Heiner Goebbels nicht selten Konflikte zwischen unterschiedli-
chen Medien oder medienspezifischen Artikulationsformen.
In Heiner Goebbels Theaterinszenierung Die Wiederholung17 stel-
len sich die Akteure im Programmheft unter ihrem eigenen Namen
vor. Im Verlauf des Stückes instrumentieren und figurieren die Ak-
teure ein immer wieder anders auf sie verteiltes Textmaterial, das
somit in Wiederholung und Differenz auftritt, während das wech-
selnde Rollenverhalten eine Transfiguration ermöglicht.
Auf dem Weg von der Figur zur Figuration und Transfiguration
kann Bertolt Brecht nicht unerwähnt bleiben. Im Bedingungsfeld
eines anderen Diskurses, des marxistischen Materialismus, führte
Brecht das Verfahren der Verfremdung ein. Der Brechtsche Schau-
spieler macht kenntlich, »[...] d sein Spiel noch die andereng-
lichkeiten ahnen läßt und nur eine der möglichen Varianten darstellt«
(Brecht 1957, 109). Jedes aufgenommene und abgebrochene Rollen-
spiel impliziert die Möglichkeit seiner Andersartigkeit.
Mit der Aufhebung der Verpflichtung, nur eine oder überhaupt
eine Rolle zu spielen, schließen verschiedene Vertreter des Gegen-
17 »Die Wiederholung / La Reprise / The Repetition« lautet der dreisprachige Titel einer
multilingualen und plurimedialen Theaterkomposition von Heiner Goebbels, die 1995 im
Bockenheimer Depot, der Spielstätte der Städtischen Bühnen Frankfurt und des TAT
produziert wurde. Ausführlich zu diesem Stück siehe Meyer 2001, 267-321.
Petra Maria Meyer
68
wartstheaters immer wieder auch an eine Tendenz in der amerikani-
schen Nachkriegsavantgarde an. Richard Schechner hat sich in die-
sem Sinne unter Berufung auf Jerzy Grotowski eines Verkörperungs-
auftrages entledigt und die Funktion des Performers abseits seiner
Funktionsbestimmung im psychologisch-realistischen Theater neu
bestimmt.
Auf spezifisch auditive Weise hat sich auch Valère Novarinas
Theater der Ohren von der sprechenden und handelnden Dramenfigur
befreit. Ein pneumatischer Schauspieler dient Novarina vielmehr als
Loch, durch das der Autor seinen Text der Welt zurückerstatten
kann.
Abb. 7: Filmstill aus einem Videomitschnitt des Düsseldorfer Schauspiel-
hauses der Inszenierung, Valère Novarina, Brief an die Schauspieler,
Spielzeit 2005/2006, Regie Philip Tiedemann.
Abb. 8: Filmstill aus einem Videomitschnitt des Düsseldorfer Schauspiel-
hauses der Inszenierung, Valère Novarina, Brief an die Schauspieler,
Spielzeit 2005/2006, Regie Philip Tiedemann.
Figurenkonzepte im Theater
69
Wie schon Beckett ist auch Novarina am theatralen Ausdruck eines
Sprachstromes interessiert, den er durchlöchert, um ihn in Nach-
folge von Antonin Artaud an den Körper, seine Stimme und seinen
Atem zurückzubinden. In der Inszenierung des Stückes Brief an die
Schauspieler18 treten die Akteure in entpersönlichter Heterogenität
auf. In variierten blauweißen Ganzkörpertrikots erscheinen sie ebenso
neutral wie different in einem buchstäblich eröffneten Spielraum der
Transfiguration. Am Rücken angebrachte Buchstaben ermöglichen,
dass die Akteure in wechselnden Konstellationen sprachliche Sätze
figurieren, ihre Lautgestaltung ermöglicht, dass sie variierte Laut-
kompositionen realisieren. Mehr zeigend als sprechend agieren sie
auf einem Schreibblatt, signifikant reißen sie Löcher ins Vorgeschrie-
bene.
In einer bezeichnenden Szene, in der das Schreibblatt und Textge-
rüst zum Klettergerüst für ein kindliches Spiel umcodiert werden,
hängt ein Akteur mit einem Gurt am Gerüst befestigt, kippend in der
Luft und entäußert vorsprachliche Laute, Schreie, Kieckser, die eine
Akteurin neben ihm in verständliche Wortsprache zu übersetzen be-
müht ist. Unschwer lässt sich die Szene als akustische Reinszenierung
des visuell ausgerichteten Schauspiels wahrnehmen, das Jacques
Lacan als Spiegelstadium und Urszene der Selbster- und -verkennung
einbrachte (vgl. Lacan 1966, 93f). Im Unterschied zur lediglich illu-
sionär gegebenen Ganzheit im Spiegel ist es in der von Tiedemann
herausgearbeiteten Szene eine akustische Rückspiegelung des Laut-
materials als codierte Sprache, die in all ihrer Verkennung eindring-
lich spürbar wird. Zudem entbehrt die Szene der reibungslosen
Glätte, mit der das Spiegelstadium das Imaginäre mit einem Trugbild
aufzuladen vermag. Der Akteur quält sich hier sichtlich und hörbar,
unterstreicht diese Anstrengung lautlich, physiognomisch und ge-
stisch, indem er sich nicht nur mit den Händen, sondern auch mit der
Zunge durch Zungenklatscher selbst affiziert. »Von allen Tieren sind
wir die einzigen, die dieses Loch haben«, sagt abschließend die Über-
setzerin. Das, was das Loch hier entäußert, lässt sich nicht in die
symbolische Ordnung recodieren und die Figurationen der Akteure
verweigern die Konstitution einer psychologisch-realistischen Figur,
die sich parallel auf den Bühnen bis heute kunstvoll zu behaupten
weiß.
18 Valère Novarina, Brief an die Schauspieler, uraufgeführt 2006 in Düsseldorf unter der
Regie von Philip Tiedemann.
Petra Maria Meyer
70
Fazit
Der Begriff der dramatischen Figur ist nach wie vor bezogen auf ein
psychologisch-realistisches Theater und den populären Film von
Relevanz. Bezogen auf andere Theaterformen, die sich durch den
diskursiven und medialen Wandel historisch variant ausprägten, er-
scheint jedoch eine Erweiterung der Begrifflichkeit um Figuration
und Transfiguration sinnvoll. Mit den entsprechend unterschiedlichen
Figuren- bzw. Figurationskonzeptionen geht zugleich ein Wechsel
der Spiegelfunktion einher.
Fungiert im wegweisend einflussreichen Theater des 18. Jahrhun-
derts der Spiegel als Bildner der Figur, die Handlung als Nachah-
mung und mimetische Angleichung an den spiegelbildlichen Anderen
betreibt, so betrachtet ein dekonstruktiv agierendes Theater im 20.
Jahrhundert den Spiegel häufig als ein besonderes Bildmedium, das
den Bildner der Ich- und Identitätsfunktion (vgl. Lacan 1975) in sei-
nem Verkennungspotential erkennt und das Medium im Feld der
Repräsentation in neuer Weise erkennbar zu machen und anders zu
nutzen weiß. Bei der anderen Nutzung wird ein desillusionierender,
akustischer Spiegel immer wichtiger. Stimme und Blick operieren
von Beckett bis Novarina gegen eine etablierte Ordnung des Sehens
und setzen neue, häufig desillusionierte Bilder einer imaginären Welt
frei, die sich im Theater immer noch und darin liegt eine besondere
Kraft zwischen wirkliche Schauspieler und wirkliche Zuschauer
schieben. Eine durch Figuration und Transfiguration gegebene an-
dere Spiegelfunktion lässt sich abschließend mit Wolfgang Iser for-
mulieren:
»Nie endgültig bei sich zu sein wird dem Menschen zum
Anlaß, im Spiegel seiner Möglichkeiten immer anders zu
sein« (Iser 1991, 512 u. 514).
Figurenkonzepte im Theater
71
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Abb. 2: Aus: Gilbert Austin, Chironomia or a treatise on rhetorical delivery.
London 1808.
Abb. 3: Bildzitat aus: Heeg 2000, S. 327.
Abb. 4-6: Filmstills aus der Fernsehinszenierung „Not I“ von Samuel Beckett,
1975 realisiert.
Abb. 7-8: Filmstills aus einem Videomitschnitt des Düsseldorfer Schauspielhau-
ses der Inszenierung, Valère Novarina, Brief an die Schauspieler. Spielzeit
2005/2006, Regie: Philip Tiedemann.
73
Christiane Berger
Figurenkonzepte im Tanz
Tanz findet in den unterschiedlichsten Kontexten statt und umfasst
ein entsprechend weites Feld verschiedener Formen: Kunsttanz, Ge-
sellschaftstanz, Ritualtänze, Tänze der zeitgenössischen Popkultur
usw. Dabei kann hier nicht allen Ausformungen nachgegangen wer-
den; stattdessen wird ein Schwerpunkt auf den Bühnentanz gelegt,
wobei immer wieder auch Verweise auf Tanz in anderen Kontexten
erfolgen werden. Für alle Bereiche des Tanzes gilt weitgehend über-
einstimmend, dass sich Formen der Figur auf mehreren Ebenen fin-
den: als Raumgestalt des Tänzerkörpers, als Bewegungseinheit (z.B.
als Schrittkombination), als dramaturgische Deutungseinheit (z.B. als
Rollenfigur) und als Wahrnehmungsphänomen (vgl. Brandstetter
1997b, 599).
Die Raumgestalt kann sich sowohl auf die Haltung eines Tänzers
(z.B. eine Arabesque) als auch auf die Formation mehrerer Körper
beziehen. Beide sind häufig an geometrischen Formen orientiert. Als
Bewegungseinheit können Schrittfolgen und -kombi-nationen sowie
bestimmte Bewegungsabfolgen (z.B. eine Pirouette) gelten. Anders
als diese Bewegungsfiguren, die nicht an einen bestimmten Stil oder
ein bestimmtes Genre geknüpft sind, kommt die häufig verwendete
Deutungseinheit der Rollenfigur typischerweise in narrativen Formen
des darstellenden Tanzes vor. All diesen verschiedenen Typen der
Figur liegt die Figur als Einheit der Wahrnehmung zugrunde: Sie
entsteht als wahrgenommene Einheit im Auge des Betrachters. Die
Figur segmentiert das Bewegungskontinuum und konstituiert in die-
sem Sinne zuallererst ›eine‹ identifizierbare Bewegung. Da die Tanz-
bewegung selbst flüchtig ist, überdauert die Tanzfigur nur in der Er-
innerung des Betrachters oder Tänzers. Tänzer und Betrachter sind
die beiden wesentlichen Elemente der konstitutiven Situation des
Bühnentanzes, der in der theatralen Situation zwischen Akteur und
Zuschauer aufgeführt wird. Andere Formen des Tanzes kennen diese
beiden Funktionen von Zuschauer und Akteur ebenfalls, allerdings
Christiane Berger
74
sind sie dort in der Regel durchlässiger. Tanzfiguren des Bühnentan-
zes lehnen sich insbesondere auf der Ebene der Dramaturgie und
Deutung an Figuren aus anderen Künsten an, um aus diesen Künsten
bekannte Rezeptionsmodi für sich in Anspruch nehmen zu können
und so dem Publikum die Rezeption zu erleichtern. Kompositionsmu-
ster wie z.B. Solo/Duett/Gruppe oder Vorder-/Hintergrund in der
Bühnenkonzeption spielen insbesondere in traditionellen Formen des
Bühnentanzes eine wichtige Rolle und werden in zeitgenössischen
Formen des Tanzes zunehmend hinterfragt. Gleiches gilt grundsätz-
lich für eine statische Konzeption von Körper- und Bewegungsfigu-
ren, die durch prozessbetonte Modelle abgelöst werden. Damit geht
die Infragestellung gewohnter und hergebrachter Rezeptionshaltun-
gen einher. Kritisch betrachtet wird insbesondere die identifizierende
Bezugnahme des Zuschauers mit einer dramatischen Rollenfigur, die
das Handlungsballett aus dem bürgerlichen Drama übernommen
hatte. Auf diese Weise rücken bei der Rezeption tänzerischer Figuren
die Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung von Körper und
Bewegung in den Mittelpunkt.
Bedingungen der Wahrnehmung
Tanz findet in den unterschiedlichsten Kontexten statt und entspre-
chend unterschiedlich sind die Bedingungen der Präsentation:
Kunsttanz, Gesellschaftstanz, Ritualtänze, Tänze der zeitgenössischen
Popkultur usw. unterliegen jeweils eigenen Bedingungen.
Der sogenannte Bühnentanz wird in der Regel in einer theatralen
Situation vor Publikum aufgeführt. In traditionellen Theaterbauten
manifestiert sich diese Situation als Trennung zwischen Bühnen- und
Zuschauerraum, das Bühnenportal rahmt aus der Perspektive des
Publikums die Tanzfiguren auf der Bühne und folgt dem zentralper-
spektivischen Paradigma. Indem das Publikum mit entsprechender
Distanz auf die Figuren schaut, wird deren Gesamtgestalt und Einheit
betont. Typisches Beispiel ist die Formation des corps de ballet, in
der eine große Gruppe oft ununterscheidbarer Tänzerinnen geometri-
sche Figuren in den Raum zeichnet. Im zeitgenössischen Theater
allerdings wird diese strikte Trennung in Bühnen- und Zuschauer-
raum nicht nur räumlich zunehmend aufgegeben: Die Aktivität des
Zuschauers wird mehr und mehr betont und die Zuschauer werden
immer öfter so platziert, dass sie z.B. rund um das Geschehen sitzen
Figurenkonzepte im Tanz
75
oder sich frei im Raum des Geschehens bewegen können. Die Raum-
formationen sind nicht mehr für den aus der Distanz zu gewinnenden
Gesamteindruck komponiert, sondern werden entsprechend des
enger werdenden Gesichtsfeldes der Zuschauer dezentriert. Indem
Gesamtformationen in synchron nebeneinander ablaufende Einzelge-
schehen aufgelöst werden, werden die präsentierten Figuren kleintei-
liger und zugleich komplexer.
Im Gesellschaftstanz gibt es zwar ebenfalls Zuschauer-Akteur-
Situationen, allerdings können hier alle Beteiligten jederzeit die Rolle
wechseln: vom Tänzer auf der in der Regel klar definierten Tanzf-
che zum Zuschauer, der von den häufig rund um die Tanzfläche plat-
zierten Sitzgelegenheiten aus die Tänzer auf der Tanzfläche beob-
achten kann, und umgekehrt. Ähnlich verhält es sich bei zeitgenössi-
schen populären Tänzen, die im privaten Rahmen, zum Beispiel auf
einer Party oder im öffentlichen Raum, beispielsweise in einer Disko,
getanzt werden. Hier spielt die Ausübung des Tanzes eine mindestens
ebenso große Rolle wie seine Zurschaustellung, so dass entsprechend
die Innenwahrnehmung der Tänzer gegenüber der Außenwahrneh-
mung durch die Zuschauer an Bedeutung gewinnt. Die aktiven n-
zer untereinander nehmen sich, wenn die Sicht nicht durch andere
Tänzer verstellt ist, hier in der Regel aus so geringer Distanz wahr,
dass sie lediglich einzelne Körperteile und Bewegungsmomente der
anderen Tänzer wahrnehmen können. Entsprechend werden wahr-
nehmbare Figuren hier keinesfalls aus mehreren Körpern, meist wohl
nicht einmal aus einem gesamten menschlichen Körper gebildet und
umfassen auch keinen Bewegungsablauf aus mehreren Momenten
wie im Bühnentanz.
Neben der Kopräsenz von Akteur und Zuschauer prägt seine Pro-
zess- und Ereignishaftigkeit die spezifischen Bedingungen der Wahr-
nehmung des Tanzes: Körperbewegung vollzieht sich als Prozess in
der Zeit und existiert nur im Moment, sie geschieht einmalig und ist
unwiederholbar. Tanz ist also flüchtig, gilt einigen gar als die flüch-
tigste aller Künste1. Zwar hinterlässt er Spuren im Körper, der ge-
tanzt hat, und formt ihn, doch die Tanzbewegung selbst ist nicht dau-
erhaft. Bühnentanz hinterlässt anders als Kunstformen wie Litera-
tur, Skulptur, Malerei, Architektur usw. kein Artefakt, sondern
vollzieht sich wie andere darstellende Künste als Aufführung.
Bestand haben die Tanzfiguren entsprechend nur im Gedächtnis der-
jenigen, die der Aufführung beigewohnt haben, also der Tänzer oder
1 Vgl. z.B. Köhne-Kirsch 1989, 200; Peter/Thorausch 1999, 8.
Christiane Berger
76
Zuschauer.2 Dabei spielen nicht nur visuelle Erinnerungen eine Rolle,
sondern vor allem motorische Erinnerungen des Körpergedächtnisses
(prozedurales Gedächtnis).
Übertragungen von Strukturmodellen
Das mathematische Wissenschaftsideal des Rationalismus beein-
flusste die Entstehung des akademischen Balletts, das sich strikt an
einem geometrischen Raumkonzept orientierte, welches sowohl die
Positionierung der Körperteile als auch die Raumausrichtung des
Körpers und seine Raumwege bestimmte. Mit Hilfe dieser geometri-
schen Figuren der Körper und zurückgelegten Raumwege repräsen-
tierten die Hofballette, die in Frankreich unter Ludwig XIV. ihren
Höhepunkt erlebten, die rationale Ordnung und das absolutistische
Herrschaftskonzept.
In der weiteren Entwicklung des Balletts entstand die psychologi-
sche Rollenfigur, die sich aus der dramatischen Tradition des
Sprechtheaters ableitet. Um dem bis dahin nicht als eigenständige
Kunstform anerkannten Bühnentanz seine Existenzberechtigung zu
sichern, betrieb Jean-Georges Noverre in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts die Assimilation des Theatertanzes an die Konzeption
des bürgerlichen Illusionstheaters: Der Tanz solle einer dem Drama
der Zeit entsprechenden subjektzentrierten Narration folgen, die
durch pantomimischen Tanz möglichst wirklichkeitsgetreu dargestellt
werde.
So entsteht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Zu-
sammenwirken von Tanz, Ballett und Pantomime das ballet d’action.
In der Folge beherrschte das Handlungsballett mit seiner erzähleri-
schen Struktur und entsprechenden Figuren bis Ende des 19. Jahrhun-
derts den Bühnentanz und repräsentiert bis heute nahezu unange-
fochten die Balletttradition. Viele Handlungsballette verwenden Mär-
chenfiguren der literarischen Tradition für ihr Libretto: So zum Bei-
spiel die klassizistischen Handlungsballette Dornröschen und Nuss-
knacker von Marius Petipa, die er Ende des 19. Jahrhunderts für das
Kaiserliche Russische Ballett entwarf und die heute vielen als Inbe-
griff des klassischen Balletts gelten. Andere sogenannte Märchen-
ballette wie Schwanensee und Petruschka bedienen sich traditioneller
2 Zur Bedeutung der Figur für die Erinnerung von Bewegung vgl. Brandstetter 1997a/b,
2000b.
Figurenkonzepte im Tanz
77
Motive als Grundlage und entwerfen daraus eigene Figuren, die der
literarisch-dramatischen Tradition ähneln. In der Gegenwart führt
besonders John Neumeier diese Tradition des Handlungsballetts fort
und choreographiert neben Neufassungen der klassischen Handlungs-
ballette literarische Stoffe wie Shakespeares Sommernachtstraum
oder die Kameliendame von Alexandre Dumas. Die Rollenfigur des
Handlungsballetts entspringt also einer literarischen Tradition, die
verschiedene Genres vom Märchen über das Drama bis hin zum Ro-
man und zur Erzählung umfasst.
Eine Orientierung an musikalischen Strukturen und Figuren, zum
Beispiel den musikalischen Kompositionsprinzipien Thema und Va-
riation, erlebte das Ballett in besonderem Maße im 20. Jahrhundert
mit den sogenannten sinfonischen Balletten. 1909 choreographierte
Michail Fokine das erste abendfüllende handlungslose Ballett, Les
Sylphides, für die Ballets Russes. Diese Idee des sinfonischen Bal-
letts, das ohne Handlung und Sujet sich ausschließlich an der Musik
orientiert, fand in den neoklassischen Balletten George Balanchines
der 1930er- bis 1950er-Jahre ihren Höhepunkt. Ausgangspunkt dieser
sinfonischen Ballette war allein die Musik, die er präzise in tänzeri-
sche Bewegung umsetzte.
Gegenwärtig wird verstärkt das Verhältnis von Tanz und digitalen
Technologien bzw. der Einsatz digitaler Medien im Tanz diskutiert.3
Auf diese Weise verschiebt sich der Blick vom ›realen‹ menschlichen
Körper, der live vom kopräsenten Zuschauer wahrgenommen wird,
zur medialen Vermittlung von Körpern und Bewegung. Entsprechend
finden Figurenkonzepte digitaler Medien Eingang in den Bühnentanz,
und zwar nicht nur in der Weise, dass Körper und Bewegung medial
vermittelt werden, sondern auch derart, dass Körperbilder, die dem
virtuellen Raum entstammen, auf den ›realen‹ Tänzerkörper übertra-
gen werden. Das zeigt sich zum Beispiel in der Fragmentierung von
Körpern. Hier werden Entwicklungen verstärkt, die schon mit dem
Aufkommen des Films begannen und bereits im Tanz der 1920er und
1930er-Jahre zu beobachten waren.4
3 Vgl. z.B. Evert 2003, Dinkla/Leeker 2002.
4 Vgl. z.B. Hardt 2004, Foellmer 2006.
Christiane Berger
78
Zentrale Dimensionen tänzerischer Figuren
Bewegungsfiguren verschiedenster Art, sei es im Bühnen-, Gesell-
schafts- oder populären Tanz, strukturieren den Bewegungsfluss.
Denn Bewegung als kontinuierliches Geschehen wirft das Problem
der Segmentierung und daran anschließend der Identifizierung auf. Es
versteht sich nicht von selbst, was ›eine‹ Bewegung ist, wo sie an-
fängt und aufhört. So entstehen zum Beispiel erst durch das Setzen
von Zäsuren einzelne Schritte und darauf aufbauend Schrittfolgen,
die als Bewegungsfigur benannt werden können. Gleiches gilt zum
Beispiel für eine bestimmte Pose, die erst als solche, das heißt als mo-
menthafter Eindruck, aus dem Bewegungsfluss herausgelöst und als
solche erkannt bzw. zu einer solchen ernannt werden muss. Auf diese
Weise kann ein Repertoire festgelegter und für einen bestimmten
Tanz typischer Bewegungsfiguren entstehen, das erinnerbar, lehr-
und lernbar ist und erneut aufgerufen werden kann. Durch diese
Festlegung spezifischer Bewegungsfiguren entstehen Tänze, die
identifizierbar und von anderen Tänzen unterscheidbar sind. Bewe-
gungsfiguren übernehmen also sowohl für den Aufführenden als auch
für den Zuschauer eine wichtige Funktion, indem sie die Wahrneh-
mung, Erinnerung und Identifizierung von Bewegung strukturieren
und zugespitzt formuliert allererst ermöglichen.
Besonders im Bühnentanz werden typische Prinzipien der Kompo-
sition von Figuren auf der Bühne angewandt, um den Gesamtein-
druck des Bühnengeschehens für den Zuschauer zu gestalten. Die
klassische Konzeption des Bühnenraums und Regeln zur Nutzung
bestimmter Bühnenbereiche formulierte Doris Humphrey 1959 in The
Art of Making Dances. Hier beschreibt sie, welche Bedeutung Tanz-
sequenzen in Abhängigkeit davon erhalten, wo sie auf der Bühne
platziert werden bzw. welche Raumwege sie zurücklegen. Sie nutzt
zum Beispiel das klassische Kompositionsprinzip von Vorder- und
Hintergrund, legt fest, welche der beiden Bühnendiagonalen eine
stärkere Wirkung erzielt, dass die Bühnenmitte dem Geschehen eine
besondere Bedeutung verleiht und Aufmerksamkeit verschafft usw.
Ihre Ausführungen gehen hinsichtlich dieser Kompositionsprinzipien
weitgehend konform mit der Praxis des Bühnentanzes bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts. So sind beispielsweise die Sequenzen eines
klassischen Balletts so angeordnet, dass Solosequenzen, die im Büh-
nenvordergrund und in der Bühnenmitte ablaufen, von Gruppenfor-
mationen im Hintergrund begleitet werden.
Figurenkonzepte im Tanz
79
Weiterhin werden Figuren im Tanz typischerweise durch einen ein-
zelnen Körper im Solo, durch zwei Körper im Duett oder durch meh-
rere Körper in der Gruppenformation gebildet. So strukturiert sich ein
klassisches Ballett nach Solo-, Pas de deux- und Corps de ballet-Sze-
nen, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten aufeinander folgen.
Diese Struktur der Choreographie wiederholt sich bis heute in klassi-
schen Ballett-Kompanien in der Hierarchie der Ensemblemitglieder,
die nach Solo- und Gruppentänzern geschieden werden.
Diese Hierarchisierung ist im zeitgenössischen Tanz weitgehend
aufgelöst. Der US-amerikanische Choreograph Merce Cunningham5
etwa löste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das zentralper-
spektivische Bühnenparadigma in seinen Choreographien durch einen
enthierarchisierten Raum ab, in dem jede Bewegung unabhängig von
ihrer Bedeutung an jedem Punkt der Bühne stattfinden konnte. Das
Bühnengeschehen war nicht wie bei der traditionellen Guckkasten-
bühne auf einen bestimmten Zuschauerplatz ausgerichtet, von dem
aus sich das Geschehen optimal darstellt. Vielmehr war Cunninghams
Konzept darauf ausgerichtet, dass jede Zuschauerperspektive einen
unterschiedlichen Eindruck seiner Choreographie vermittelte, ohne
dass eine bevorzugte Perspektive existierte. Auf diese Weise wird die
Idee eines geometrischen Bühnenraums und in sich geschlossener,
geometrischer Gruppenformationen unterlaufen. Die Trennung von
Gruppe und Solo wird aufgehoben bzw. flexibilisiert bis hin zur Ent-
scheidung des Zuschauers, mehrere Tänzer als einzelne Tänzer oder
als Gruppe wahrzunehmen. Die in den 1970er-Jahren in New York
entstandene Contact Improvisation schließlich, die als Interaktion mit
einem oder mehreren Partnern im zeitgenössischen Tanz eine zentrale
Stellung einnimmt, gründet sich vollständig auf den Gedanken von
Paar- und Gruppenkonstellationen und blendet die Figur des Solisten
konzeptionell aus.
Die Kategorisierung nach Solo, Paar, Gruppe findet sich auch in
den unterschiedlichen Arten von Gesellschaftstänzen wieder. Häufig
dient das Merkmal Solo/Paar/Gruppe sogar der Klassifizierung der
Tänze: Am bekanntesten sind in unserem Kulturraum wohl die Paar-
tänze, die als Kanon der Standard-Latein-Tänze in jeder Tanzschule
vermittelt werden. Zudem sind hier Tänze wie Salsa und Tango Ar-
gentino zu nennen. Davon unterschieden werden Gruppennze (z.B.
Line Dance). Jedoch existieren ebenso Gesellschaftstänze, in denen
Paarsequenzen mit Gruppensequenzen wechseln (z.B. Square
5 Vgl. z.B. Cunningham 1986, Huschka 2000, von Kostelanetz 1998.
Christiane Berger
80
Dance). Viele Tänze der Popkultur sind als Solotänze angelegt (Hip-
Hop, Break Dance etc.), können jedoch auch in Duette oder Gruppen-
formationen übergehen.
Improvisation versus Formenkanon
Aufgrund der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Tänze ist die Iden-
tifizierung von tanztypischen Figuren kaum zu leisten. Zwar existie-
ren in vielen Tänzen die oben beschriebenen Kompositionsprinzipien
Solo/Duett/Gruppe, jedoch ist ihre Ausprägung sehr unterschiedlich.
Auch die Loslösung des zeitgenössischen Tanzes von der Idee eines
fixen Bewegungsrepertoires steht der Angabe tanztypischer Figuren
entgegen: Während das Ballett ein klar definiertes und benanntes
Repertoire an Schrittkombinationen (z.B. Pas de bourrée), Haltun-
gen/Positionen (z.B. Attitude und Arabesque) und Bewegungen (z.B.
Pirouette) kennt, ist dies im modernen und zeitgenössischen Tanz seit
Mitte des 20. Jahrhunderts immer weniger der Fall.
Doch ein solches Repertoire ermöglicht erst, dass einige dieser
Bewegungsfiguren so bekannt und ›typisch‹ werden, wie zum Bei-
spiel die Arabesque und Attitude. Solche typischen Figuren fehlen
also in vielen Formen des zeitgenössischen Tanzes. Dazu trägt auch
bei, dass in einigen Formen des zeitgenössischen Tanzes die im Büh-
nentanz bis dahin vorherrschende Idee der spezifischen äußeren Form
an Bedeutung verliert. In der Contact Improvisation beispielsweise ist
die räumliche Form, die der tanzende Körper einnimmt und die für
den Blick des Zuschauers gestaltet wird, dem Zusammenspiel mit
dem/den Partner/n nachgeordnet. Die im Tanz entstehende Figur
bemisst sich hier weniger nach der visuellen Form; vielmehr ent-
scheidet das Zusammenspiel der Körper, die mit dem Geben und
Nehmen von Gewicht unter den Bedingungen der Schwerkraft spie-
len, welche Figuren entstehen. Da es sich um eine Technik der Im-
provisation handelt, die keine Formvorgaben kennt, sondern lediglich
die Aufforderung, im Körperkontakt mit dem Partner auf seinen Kör-
per zu reagieren und ihn gegebenenfalls zu stützen, gibt es in der
Konzeption der Contact Improvisation kein Repertoire von Schritt-
oder Bewegungsfiguren. Eine ähnliche Entwicklung wird deutlich im
Paartanz, wo stärker improvisierte Tänze wie Tango Argentino und
Salsa an Beliebtheit gewinnen im Vergleich zu Standard-Latein-Tän-
Figurenkonzepte im Tanz
81
zen, die ein festes Repertoire von Bewegungsfiguren und Regeln
ihrer Verknüpfung kennen.
Die Figur als Grundlage der Rezeption
Die Formen der Figur spielen, wie beschrieben, eine entscheidende
Rolle für den Rezeptionsprozess. Grundlage der Wahrnehmung tän-
zerischer Körperbewegung ist eine Art imaginativer Mitvollzug von
Bewegung durch den Zuschauer. Diesen Vorgang bezeichnet der US-
amerikanische Tanzkritiker und -theoretiker John J. Martin als
Metakinese‹: »There is a kinesthetic response in the body of the
spectator which to some extent reproduces in him the experience of
the dancer« (Martin 1972, 48). Martin nahm an, dass der Zuschauer
die Bewegungen des Tänzers auf der Bühne in ähnlicher Weise
wahrnimmt wie seine eigenen Bewegungen, sie »through kinesthetic
sympathy« (ebd., 23) mitvollzieht. Zu dieser Annahme gelangte er,
indem er Ergebnisse der physiologischen und psychologischen For-
schung zur Kinästhesie (Bewegungswahrnehmung) aufnahm und auf
die Wahrnehmung von Tanz übertrug.
Das Phänomen, dass die Vorstellung oder Wahrnehmung von
Bewegungen in der Muskulatur Tonusveränderungen auslöst, die
unwillentlich zum ansatzweisen oder sogar vollständigen Mitvollzug
bzw. zur Nachahmung der Bewegung führen können, beschrieb der
britische Physiologe und Zoologe William B. Carpenter bereits 1874
in seinen Principles of Mental Physiology als ideomotorische Bewe-
gung: Wenn wir sehen, wie sich ein menschlicher Körper bewegt,
nehmen wir diese Bewegung wahr als eine, die auch unser Körper
potentiell ausführen könnte, und vollziehen die Bewegung in diesem
Sinne mit. Heute wird diese Theorie bestätigt durch neurowissen-
schaftliche Forschung. Der Forscher und Choreograph Ivar
Hagendoorn beschreibt dieses Phänomen des empathischen Mitvoll
zugs von Fremdbewegungen als motorische Einbildungskraft, die
auf neuronaler Ebene in den so genannten Spiegelneuronen begründet
liegt: Sie verbinden die Wahrnehmung von Bewegungen und Hand
lungen mit ihrer Bedeutung im Sinne des Effekts dieser Bewegung
bzw. Handlung. Das führt dazu, dass bei der Beobachtung einer Be-
wegung die gleichen Neuronen aktiviert werden wie bei der Ausfüh-
rung der Bewegung. Allerdings wird die motorische Aktivität blo-
ckiert, so dass der Wahrnehmende die Bewegung nicht etwa tatsäch-
Christiane Berger
82
lich ausführt. Auf diese Weise vermittelt sich dem Wahrnehmenden
die Empfindung der Bewegung, ohne dass er sich selbst bewegt (vgl.
Hagendoorn 2002, 431f). Daraus leitet Hagendoorn die Hypothese
ab, dass »der Zuschauer (im Gehirn) virtuell mittanzt« (ebd., 439).
An diese Grundlage der Bewegungswahrnehmung schließt die Re-
zeption ›abstrakter‹ Bewegungsfiguren unmittelbar an, die keine psy-
chologische Identifikation mit dem Tanzgeschehen erlauben. Sobald
bekannte visuelle Muster wie beispielsweise geometrische Figuren
erkannt werden können, dienen sie der Strukturierung von Wahrneh-
mung und Erinnerung. Gerade solche tänzerischen Formenspiele
werden häufig als eine Art bewegtes abstraktes Bild rezipiert. Spielt
die choreographische Komposition mit den Bedingungen der Wahr-
nehmung, so wird die für die moderne Kunst typische Selbstreflexion
des Zuschauers provoziert, der sich der Möglichkeiten und Grenzen
seiner Wahrnehmung von Körper und Bewegung sowie seiner Wahr-
nehmungsgewohnheiten bewusst wird.
Insbesondere der zeitgenössische Tanz rückt häufig diese Mög-
lichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung in den Mittelpunkt: zum
Beispiel spielt die Lichtdramaturgie mit der Sichtbarkeit der Körper,
die Choreographie spielt mit der Einheit bzw. Fragmentierung der
Tänzerkörper usw. Ein Beispiel ist hier der Choreograph William
Forsythe, der mit der Dezentrierung des Körpers und der Isolation
einzelner Körperteile arbeitet: Jedes Körperteil bzw. jedes Gelenk
eines Tänzerkörpers kann in seinen Choreographien eine Bewegung
initiieren und sich isoliert bewegen.6 Damitst sich das Körperzen-
trum in mehrere Initiationspunkte auf, so dass die Einheit des Körpers
als »operative unity« (Forsythe zitiert nach Brandstetter 1997b, 616)
in ein komplexes System polyrhythmischer Bewegungen zerfällt.
Nicht mehr die Gesamtgestalt des Körpers bildet eine geometrische
Figur, sondern jedes Körperteil und seine Bewegungslinien im
Raum können als Raumfigur betrachtet werden. Hier wird die Funk-
tion der Figur als Wahrnehmungseinheit in Frage gestellt. Das klassi-
sche Figurenkonzept, das Einheit, Gesamtheit, Identität behauptet,
wird durch Konzepte abgelöst, die von Gabriele Brandstetter als »Fi-
guration« im Sinne eines »transformatorischen Vorgangs«
(Brandstetter 2000a, 194) beschreiben werden, um zu betonen, dass
es sich um einen unabgeschlossenen Prozess handelt. Zur Diskussion
stehen damit die beiden Pole von statischer Pose und dynamischem
Schritt, zwischen denen sich der Tanz bewegt und die dem Zuschauer
6 Zur Dezentralisierung des Körpers bei Forsythe vgl. auch Evert 2003, 124-127.
Figurenkonzepte im Tanz
83
unterschiedliche Rezeptionshaltungen abverlangen: Während in der
Pose der Körper zumindest momenthaft eine Figur im Raum bildet
und einen bildhaften Eindruck erzeugt, dominiert im Schritt die Be-
wegtheit und der Bewegungsfluss den Eindruck des Zuschauers.
Rollenfiguren hingegen werden anders als die abstrakteren Be-
wegungsfiguren auf einer psychischen Ebene rezipiert. Typischr
die Rezeption von Rollenfiguren im Tanz ist wie bei anderen narra-
tiven Medien die identifizierende Bezugnahme: Die psychologische
Rollenfigur des Bühnentanzes ermöglicht dem Zuschauer die Identi-
fikation mit dem Bühnengeschehen. Sie erleichtert die Rezeption,
indem sie Strategien der Kunstrezeption aufruft, die bei textlichen
und bildlichen Darstellungsmedien bekannt und verbreitet sind.
Die Rollenfigur ist in diesem Sinne eine Anleihe einer
rezeptionsästhetischen Strategie aus anderen Kunstformen, die eine
größere Tradition aufweisen und entsprechend leichter für das Publi-
kum rezipierbar sind. Im zeitgenössischen Tanz ersetzt der sich prä-
sentierende Performer in der Regel die dargestellte Rollenfigur; der
Modus des Als-ob, der die Darstellung einer Rollenfigur kennzeich-
net, wird durch verschiedene Stilmittel gebrochen oder offen gelegt.
Gleichwohl erfüllt auch die Figur des Performers eine ähnliche
Funktion, indem er vom Zuschauer als Identifikationsfolie oder auch
als Gegenüber genutzt werden kann. Doch psychologische Rollen-
und Performerfiguren liefern, wie schon die Bewegungsfiguren, nicht
nur dem Zuschauer eine orientierende Kategorie zur Rezeption, son-
dern auch dem Akteur eine Struktur, die ihn bei der Aushrung der
Tanzbewegung unterstützt: Die Rollenfigur und wenn auch in ande-
rer Weise die Figur des Performers liefern dem Tänzer eine Art
Interpretationsrahmen für die Ausgestaltung seiner Tanzbewegungen.
Christiane Berger
84
Literatur
Brandstetter, Gabriele (1997a): „Choreographie und Memoria. Konzepte des
Gedächtnisses von Bewegung in der Renaissance und im 20. Jahrhundert“. In:
Öhlschläger, Claudia; Wiens, Birgit (Hg.): Körper Gedächtnis Schrift. Der
Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin, S. 196-218.
Brandstetter, Gabriele (1997b): „Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu
William Forsythe“. In: Neumann, Gerhard (Hg.): Poststrukturalismus. Heraus-
forderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weinheim, S. 598-623.
Brandstetter, Gabriele (2000a): „Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv
von Bewegung“. In: Brandl-Riesi, Bettina; Ernst, Wolf-Dieter; Wagner,
Meike (Hg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer
Gefüge. München, S. 189-212.
Brandstetter, Gabriele (2000b): „Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis
von Bewegung“. In: Dies.; Völckers, Hortensia (Hg.): ReMembering the
body. Körper-Bilder in Bewegung. Ostfildern-Ruit, S. 102-134.
Cunningham, Merce (1986): Der Tänzer und der Tanz. Gespräche mit Jacqueline
Lesschaeve. Frankfurt a.M.
Dinkla, Söke; Leeker, Martina (Hg.) (2002): Tanz und Technologie / Dance and
Technology. Berlin.
Evert, Kerstin (2003): Dance. Lab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technolo-
gien. Würzburg.
Foellmer, Susanne (2006): Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz
und Schauspiel der 1920er Jahre. Bielefeld.
Hagendoorn, Ivar (2002): „Einige Hypothesen über das Wesen und die Praxis des
Tanzes“. In: Klein, Gabriele; Zipprich, Christa (Hg.): Tanz Theorie Text.
Jahrbuch Tanzforschung 12. Münster, S. 429-444.
Hardt, Yvonne (2004): Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des
Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster.
Humphrey, Doris (1959): The art of making dances. New York.
Huschka, Sabine (2000): Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körper-
konzepte, Choreographie und Tanzästhetik. Würzburg.
Köhne-Kirsch, Verena (1989): Die „schöne Kunst“ des Tanzes. Phänomenologi-
sche Erörterungen einer flüchtigen Kunstart. Frankfurt a.M. u.a.
Kostelanetz, Richard von (Hg.) (1998): Merce Cunningham. Dancing in Space
and Time. Pennington/N.J.
Martin, John (1972): The Modern Dance. New York.
Peter, Frank-Manuel; Thorausch, Thomas (1999): „Deutsches Tanzarchivln:
Tanzdokumente digital“. In: Forsythe, William (Hg.): Improvisation Techno-
logies. A Tool for the Analytical Dance Eye. Ostfildern, S. 8-9.
85
III. Schrift Text Ton
86
87
Nicolas Pethes
Helden, Hunde, Eigenschaften
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
Der Beitrag entfaltet die lange Tradition der Konstruktion literari-
scher Figuren und versteht sie als textintern generierte Instanzen,
denen Handlungen und Aussagen zugeordnet werden. Während hier-
bei bis ins 18. Jahrhundert statische Charaktertypen dominieren, tre-
ten vor dem Hintergrund der neuen Semantik von Individualität Figu-
ren in den Vordergrund, die dynamischen und nicht immer zielge-
richteten Entwicklungsprozessen unterworfen sind. Die damit einher-
gehende Entfaltung der innerpsychischen Dimension von Charakteren
ermöglicht den in der älteren Forschung so genannten Übergang von
›flachen‹ zu ›runden‹ Charakteren. Dieser Übergang betrifft aber
nicht nur anthropologische Aspekte, sondern verweist auf die Rele-
vanz verschiedener Erzählperspektiven bei der Gestaltung literari-
scher Figuren: Neben auktorialen Beschreibungen sowie Aussagen
literarischer Figuren übereinander betrifft das in der modernen Lite-
ratur zunehmend implizite Selbstcharakterisierungen von Figuren
durch Techniken der internen Fokalisierung. Für alle diese Fälle lässt
sich zeigen, dass das Bild einer literarischen Figur, indem es sich aus
Fremd- und Selbstaussagen strukturiert, auf die gleiche Weise ent-
steht, wie Vorstellungen über reale Personen, so dass die vieldisku-
tierte (ggfs. auch historische) ›Realität‹ literarischer Figuren eher in
dieser strukturellen Analogie ihrer jeweiligen Konstitution als in mi-
metischen Referenzen auf die außertextuelle Wirklichkeit zu sehen
ist.
Nicolas Pethes
88
Struktur und Funktion
Wie viele Mediengeschichten hat auch diejenige der ›Figur1 eine
Vorgeschichte, die erst nach dem Aufkommen so genannter ›neuer‹
Medien im 19. und 20. Jahrhundert überhaupt in ihrer Medialität
erkannt und reflektiert wurde: die Geschichte der Literatur. Die litera-
rische Tradition des Abendlands ist so eng mit der Vorstellung perso-
naler Figuren verbunden, dass die semiotische und mediale Kons-
truiertheit dieser Form kaum wahrgenommen wurde. Grund dafür ist
die Intuition, dass die Literatur im Unterschied zu den anderen beiden
traditionell unterschiedenen Künsten auf menschliche Akteure ange-
wiesen scheint zumindest solange literarische Texte auf Handlungs-
zusammenhänge referieren.2hrend die Musik grundsätzlich nicht
bzw. nur sehr randständig zu mimetischer Darstellung geeignet ist,
steht der bildenden Kunst neben menschlichen Figuren eine ganze
Reihe von diesen unabhängigen Sujets zur Verfügung. Dichtung, die
dramatische und erzählende zumal, aber auch die Lyrik, ist ohne
menschliche oder zumindest anthropomorphisierte Figuren kaum
denkbar, und man wird noch das kontemplativste Naturgedicht hin-
sichtlich der Instanz seiner Artikulation auf eine, in diesem Fall im-
plizite, Figurenrede zurückführen müssen.
Im Vergleich zu den übrigen Künsten (vielleicht auch: zu akusti-
schen und visuellen Medien) ist die Literatur mithin im Besonderen
auf Figuren angewiesen. Diese Angewiesenheit ist allerdings nicht
auf die Literatur im engeren belletristischen Sinne beschränkt. Viel-
mehr ist die Figur eine Form, die sich in allen mündlichen, schriftli-
chen und gedruckten Texten findet, soweit diese Texte Handlungen,
Gedanken und Aussagen (und nicht lediglich Sachinformationen oder
philosophische Reflexionen) zum Gegenstand haben. In diesem Sinne
wird hier im Folgenden von Narration die Rede sein, und zwar zu-
nächst unabhängig von ihrer konkreten Kunst-, Medien- oder Gat-
tungsform. Unter Narration ist vielmehr eine Struktur zu verstehen,
innerhalb derer für alle berichteten oder vollzogenen Handlungen,
Gedanken und Aussagen Instanzen erzeugt werden. Für die struktu-
1 Ich setze für die folgende Argumentation die Bedeutung des Begriffs ›Figur als persona-
ler Handlungsträger voraus, ohne ihn eigens von seiner mathematischen und rhetorischen
Gebrauchsweise abzugrenzen.
2 Zur Notwendigkeit der Literatur, Menschen darzustellen, vgl. Forster 1949, 52; zur
Definition von Dichtung als Nachahmung handelnder Personen vgl. Aristoteles Poetik,
1448a (i.d. Ausg. v. 1982, 7).
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
89
relle Position und Funktion solcher Instanzen ist es dabei zunächst
unerheblich, ob sie auf textexterne Referenzen bezogen werden oder
›erfunden‹ sind: Auch historische Berichte müssen narrativ organi-
siert werden und also dieselbe interne Struktur generieren wie fiktio-
nale Texte.3
Aus der Perspektive der narrativen Organisation eines Textes sind
diese textintern erzeugten Instanzen daher keine Menschen, sondern
Figuren‹.4 Solche Figuren werden erzeugt, indem innerhalb eines
Erzähltextes Handlungen Personen zugerechnet werden. Natürlich
sind Text, Erzählung und Handlung sowie das Verhältnis zwi-
schen ihnen ihrerseits definitionsbedürftige und historisierbare Kon-
zepte: Zwar ist schwer denkbar, wie Handlungszusammenhänge ohne
einen narrativen Rahmen vermittelt werden sollen, dieser narrative
Rahmen muss aber keineswegs in Form eines Textes im engeren
Sinne (das heißt schriftlich fixierter Zeichen) erfolgen. Andere Me-
dien, insbesondere der Film, belegen das unmittelbar. Ebensowohl ist
es denkbar, dass im engeren Sinne literarische Texte, um die es im
Folgenden gehen wird, etwas vermitteln, was nicht zwingend als
Handlung erscheint etwa im Fall von Gedichten, die lediglich
Wahrnehmungen und Reflexionen zum Inhalt haben. Oder aber Texte
bestehen, wie im Fall von Dramen, ausschließlich aus Aussagen und
Dialogen von Figuren, aus denen sich die von Ausnahmen abgese-
hen nicht explizit erzählte‹ – Handlung erschließen lässt.5
Auch Wahrnehmungen und Reflexionen bzw. Aussagen und Dia-
loge müssen aber, wie Handlungen, mindestens einer Figur zugerech-
net werden, selbst wenn diese ungenannt bleibt oder aber mit dem
Autor des Textes identisch zu sein scheint. Man kann vor diesem
Hintergrund sagen, dass eine Figur in Erhl-, Aussage- oder Hand-
3 Die These, dass auch Figuren in historischen Texten textinterne (das heißt rhetorische und
narrative) Konstruktionen sind, ist von Hayden Whites Geschichtstheorie in seinem Buch
Metahistory (1991) angeregt, wird hier aber nicht weiterzuverfolgen sein. Auch die Unter-
scheidung zwischen Geschichtsschreibung (als Faktographie) und Dichtung (als Möglich-
keitsentwurf) leitet sich bekanntlich bereits aus Aristoteles Poetik her.
4 Als Forschungsüberblick und theoretischen Entwurf vgl. Jannidis 2004a.
5 Die drei literarischen Basisgattungen erzählende Prosa, lyrische Dichtung und dramati-
sche Interaktion werden hier weder normativ noch kategorisierend, sondern strukturierend
verstanden. Tatsächlich besteht Literatur zumeist aus Hybriden; umgekehrt sind auch
sogenannte nicht-literarische Texte von narrativen, lyrischen oder dramatischen Bauele-
menten durchzogen, die hier mithin nicht als stabile Genres, sondern als textgenerierende
Strukturelemente betrachtet werden. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird hier, bedingt
durch die weitestgehend narratologisch informierte literaturwissenschaftliche Theorie der
Figur, in erster Line von Figuren in Erzähltexten die Rede sein.
Nicolas Pethes
90
lungszusammenhängen als textstrukturinternes Korrelat zu einer et-
waigen textexternen Person die Verdopplung der Beobachtungsebe-
nen eines Textes mit sich bringt: So, wie man jeden Text als kommu-
nikativen Akt einem (bekannten oder unbekannten) Autor zuschrei-
ben kann, der die Struktur des Textes durch spezifische Beobach-
tungsunterscheidungen erzeugt, wird jeder Akt innerhalb des Textes
einer Figur zugerechnet, die in der gleichen (wenngleich nun fiktio-
nalen, das heißt, bl textintern referentialisierbaren) Art und Weise
zwischen Wahrnehmung und Kommunikation unterscheidet.6 Figuren
sind diesem Verständnis zufolge textgenerierte Instanzen, denen die
Beobachtung bzw. das Handeln in einer textexternen Welt zuge-
schrieben wird und die auf diese Weise strukturanalog zu textexter-
nen Welten sowie den Autoren und Lesern in ihnen verfasst sind.
Diese abstrakte Bestimmung literarischer Figuren wird im Folgen-
den hinsichtlich der aufgeworfenen Problemstellungen systematisch,
vor allem aber auch literaturhistorisch, zu differenzieren sein: zum
einen mit Blick auf die Erscheinungsformen von Figuren auf der
Ebene des inhaltlich Erzählten, das heißt, beglich der verschiede-
nen Charaktere, Typen und Individuen, die die Literatur bevölkern.7
Zum anderen mit Blick auf die Gestaltungsweise dieser Figuren auf
der Ebene der Erzählform, das heißt, bezüglich der Erzählperspektive
sowie der quantitativen und qualitativen Darstellungsmittel, die das
mehr oder weniger einheitliche Bild einer literarischen Figur erzeu-
gen. Schließlich wird an beide Untersuchungsebenen, discours und
récit,8 die Frage nach der Realität literarischer Figuren zu stellen und
im Spiegel der wichtigsten Entwicklungsstufen der abendländischen
Literatur exemplarisch zu vertiefen sein.
Für die Frage nach Form- und Funktionswandel der Figur im Me-
dienwandel kann dieser Rückblick auf die Literaturgeschichte des
Konzepts in doppelter Hinsicht instruktiv sein: Zunächst ist kaum zu
bestreiten, dass die Erscheinungsweisen von Figuren in der abendlän-
dischen Literatur viele Figurenkonzepte in späteren Medienformen
strukturiert und geprägt haben und sei es im Modus des Zitats oder
des Gegenentwurfs. Umgekehrt kann gerade vor dem Hintergrund
einer Analyse textuell konstruierter Figuren die jeweilige Medienspe-
6 Zur Terminologie vgl. Luhmann 1995.
7 Ich beschränke mich hinsichtlich der exemplarischen Veranschaulichung meiner
Argumentation auf den Traditionszusammenhang der europäischen und hier besonders der
deutschsprachigen Literatur.
8 Diese wie alle weiteren im Folgenden gebrauchten narratologischen Fachtermini sind
Gérard Genette (1998) entnommen.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
91
zifik anderer Erscheinungsformen von Figuren differenzierter in den
Blick rücken. Beide Aspekte sollen im Zuge dieses Beitrags integra-
tiv entfaltet werden, das heißt, die literaturhistorischen Entwicklungs-
stufen und gattungspoetologischen Differenzierungen der literari-
schen Figur werden überblickartig und exemplarisch so zu rekon-
struieren sein, dass ihre das Textmedium übersteigende strukturbil-
dende Funktion daraus abgeleitet werden kann.
Typen und Charaktere
Die eingangs getroffene Festlegung, dass literarische Texte kaum
ohne Figuren vorstellbar sind, kann weiter zugespitzt werden, indem
man sagt, dass diese Texte sogar primär von Figuren handeln. Das
belegt auf Anhieb die Vielzahl kanonischer Werke, die schlicht genau
so heißen wie ihre jeweils zentrale Figur: Odyssee, Antigone, Erec,
Hamlet, Don Quijote, Tristram Shandy, Faust, Anna Karenina, Nana,
Molloy, Minetti, Austerlitz. In diesen Fällen denen sich mit der
Ilias, der Divina Commedia, As you like it, den Wahlverwandtschaf-
ten oder À la recherche du temps perdu ohne weiteres Gegenbeispiele
an die Seite stellen ließen sind die genannten Figuren auch Hauptfi-
guren, das heißt, die Helden oder Protagonisten der entsprechen-
den Werke.9 Im Sinne der Angewiesenheit literarischer Texte auf
solche Figuren haben aber auch alle Werke ohne Figurentitel mehr
oder weniger deutlich konturierte Protagonisten. Zudem kommen die
meisten von ihnen nicht nur mit einer solchen Hauptfigur zu Rande
und werfen daher die Frage nach Unterschieden und Beziehungen
zwischen verschiedenen Figuren innerhalb eines Textes auf.
Diesen Differenzen und Relationen widmet sich die Literaturtheo-
rie, seit es sie gibt, und das heißt also seit Aristoteles Poetik, die sich
vornehmlich mit dramatischen Texten beschäftigt. Gemäß der rheto-
rischen Stillehre, die als genera die hohe, die mittlere und niedere
9 Der Begriff Protagonist leitet sich vom griechischen Begriff für den ersten Handelnden
ab und bezeichnete die zunächst einzelne Rolle innerhalb der Tragödie, die dem Chor
gegenübertrat; in der weiteren Entwicklung der attischen Tragödie wurde sie durch die
zweite Rolle, den Antagonisten (also Gegenhandelnden), ergänzt. Erst in Folge der
weiteren Zunahme des Dramenpersonals konnte sich dann die Semantik Hauptperson
etablieren, die heute unabhängig von Gattungsformen und zumeist synonym mit Held
verwendet wird, wenngleich die Geschichte dieses Begriffs auf die mythische Vorstellung
gottähnlicher Heroen verweist und nicht lediglich auf die strukturelle Position der Figur
innerhalb des Erzählzusammenhangs.
Nicolas Pethes
92
Sprachebene kennt, unterscheidet Aristoteles Tragödie und Komödie,
indem er der ersten »bessere«, der zweiten »schlechtere« Charaktere
zuordnet (Aristoteles Poetik, 1448a; 1982, 9).10 Das hat zunächst nur
mit den jeweiligen Erfordernissen an eine tragische Fallhöhe bzw. der
Erzeugung lächerlicher Situationen zu tun, führt in der Folge aber zu
einer dichotomischen Typisierung literarischer Figuren, die von einer
angenommenen Mitte her stets in zwei mögliche Extreme abwei-
chen können: Figuren sind gut oder böse, klug oder dumm, schön
oder hässlich usw. Entscheidend ist, dass sie diese Eigenschaften
gemäß des antiken Dichtungsverständnisses zu Beginn zugesprochen
bekommen und dann im Verlauf der weiteren Geschichte auch nicht
mehr verlieren: So kann Odysseus stets als ›der Listenreiche be-
zeichnet werden, Kreon als der Unerbittliche oder Sokrates (bei
Aristophanes) als seniler Schwätzer.
Die zentrale Funktion derartiger Typen ist bis heute spürbar, wenn
etwa Figurenkonstellationen in der Populärkultur mit dem good
guy/bad guy-Schema operieren. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich,
dass die Figurentypen stets in Relation zueinander stehen: Jeder Held
braucht einen Gegenspieler, jeder Liebende eine Geliebte, jeder
Dumme einen Lehrer, jeder Herr einen Knecht. In solchen zweipoli-
gen Gegenüberstellungen kann man dem jeweiligen Protagonisten
einen Antagonisten entgegenstellen, tatsächlich existieren aber mit-
unter eine Vielzahl weiterer Figuren, angesichts derer sich die mögli-
chen Bezüge unter ihnen multiplizieren.
Der Versuch, die Figuren zu hierarchisieren, indem man etwa von
Haupt- und Nebenfiguren spricht, übersieht trotz einer zumeist schier
quantitativen Evidenz, dass auch vom Rande einer Erhlung große
Wirkungen ausgehen können und kein literarischer Text Personen
benennt und handeln lässt, ohne dass ihnen eine spezifische Funktion
zukäme. Als produktiver erscheint daher der Versuch, eben jene
Funktionen näher zu bestimmen. Das kann dadurch geschehen, dass
man diese Funktionen selbst hypostasiert und die jeweiligen Figuren,
die sie ausführen, nur noch als mehr oder weniger kontingente
Handlungsträger versteht: So unterscheidet der französische Linguist
Julien Greimas zwischen actant und acteur, um in literarischen Tex-
ten immer wiederkehrende Handlungsformen von den jeweils kon-
10 Insbesondere der Roman der Neuzeit wird dann, als Prosagattung und »bürgerliche
Epopöe« (Hegel), Anspruch auf die mittlere Stilebene und das entsprechend durchschnittli-
che Personal erheben.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
93
kreten Handelnden abzugrenzen (Greimas 1971).11 Greimas stützt
sich dabei auf den Versuch des russischen Formalisten Vladimir
Propp, Handlungsrollen in Märchen zu systematisieren und als
Strukturelemente zu verstehen, die bestimmte narrative Schlüssel-
funktionen übernehmen. Auf diese Weise ordnet Propp einer Reihe
von Handlungsschemata Bestehen einer Prüfung, Kampf gegen das
Böse, Rettung vor Gefahr bestimmte Handlungsrollen Held, Ge-
genspieler, Opfer, Helfer usw. zu, anhand derer verschiedene
Märchentexte und -figuren auf wiederkehrende Bauelemente zu-
rückgeführt werden können (Propp 1972). Solche strukturalistischen
oder protostrukturalistischen Figurentheorien weisen eine gewisse
Schnittmenge mit C.G. Jungs Archetypen-Lehre auf, die ja in Mythen
und Träumen ebenfalls keine konkreten Individuen am Werk sieht,
sondern Repräsentanten kollektiver Wünsche und Bedürfnisse.12
Held und Individuum
Allen diesen Ansätzen ist aber gemein, dass sie Figuren als mehr oder
weniger statische und einheitliche Instanzen konzipieren. Sie sind
Typen, das heißt, durch einige wenige Charakterisierungen klar und
zuverlässig bestimmte Handlungsträger, die sich im Lauf einer Ge-
schichte weder ändern noch Alternativen zu ihrer Weltsicht erproben
oder gar psychologisch differenziert werden. Im Sinne der oben er-
wähnten dichotomischen Bestimmung solcher Typen kann man sa-
gen, dass sie sich wie im erwähnten Beispiel vom »listenreichen
Odysseus« – durch eine einzige Bestimmung nahezu vollständig cha-
rakterisieren lassen. Entsprechend hat der amerikanische Literatur-
wissenschaftler E.M. Forster von flachen Charakteren gesprochen,
denen als runde alle diejenigen entgegenstehen, die variabel, ent-
wicklungsfähig und gewissermaßen nicht zuverlässig erwartungskon-
form konzipiert sind (Forster 1949, 74ff).
Diese Gegenüberstellung ist als ihrerseits zu statisch kritisiert wor-
den, weil sie die vielen Zwischenstadien und Übergänge nicht be-
rücksichtige (Rimmon-Kenan 1983, 40ff). Das zugestanden behält sie
aber möglicherweise ihre Berechtigung, wenn man sie historisiert und
fragt, ab wann denn überhaupt die Rundung literarischer Figuren
11 Zur Kritik dieses Modells vgl. Jannidis 2004a, 100f.
12 Vgl. Campbell (1999) sowie in explizitem Anschluss an die Archetypenlehre für die
Schreibpraxis Vogler (1998, 79ff).
Nicolas Pethes
94
beginnt. Forsters Metaphorik bezieht sich nicht umsonst auf den
Zugewinn einer Dimension im Sinne der Entstehung räumlicher Vor-
stellungen, die ja in der Kunstgeschichte auch mehr oder weniger
exakt einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der Malerei
zugeordnet werden kann. Entsprechend ist die Ablösung der stati-
schen Typen durch entwicklungsfähige Charaktere ihrerseits an spe-
zifische geistes-, wissenschafts- und mentalitätsgeschichtliche Rah-
menbedingungen geknüpft, die man für die Geschichte der literari-
schen Figur mit dem Prozess der Säkularisierung des Denkens, dem
Entstehen einer empirischen Anthropologie und der so genannten
Entdeckung des modernen Individuums in Verbindung sehen kann
(vgl. van Dülmen 1997).
Alle diese Tendenzen lassen sich historisch dem Umbruch von
Spätmittelalter und Renaissance zur Neuzeit und Aufklärung und
also, schematisch gesprochen, einem sehr langen 17. Jahrhundert
zuordnen. In dieser Zeit verliert nicht nur das heilsgeschichtliche
Weltbild, demzufolge der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes
vollendet und vollkommen sei, an Kredit. Auch die noch aus der
Antike ererbte humoralpathologische Lehre von der Regulierung von
Gesundheit und Krankheit einerseits, den (vier) verschiedenen Cha-
raktertypen andererseits, durch das Verhältnis der (ebenfalls vier)
Säfte im menschlichen Körper wird durch die Entdeckung des Blut-
kreislaufs, des Muskel- und Nervensystems sowie der Zentralfunktion
des Gehirns zunächst relativiert und dann widerlegt.13
In Folge dieser beiden Entwicklungen wird der Mensch nicht mehr
als fest gefertigter Typ, der als solcher weder eigenverantwortlich
noch unverwechselbar ist, angesehen, sondern als unfertiges Wesen,
dem jeweils spezifische Entscheidungs- und Bestimmungskompeten-
zen zugeschrieben werden können da ja die bisher gültigen externen
(Gott) wie internen (Säfte) Determinanten seines Seins und Wesens
ihre Alleingültigkeit verloren haben. Die Semantik der Individualität
entsteht im 18. Jahrhundert mithin weniger aufgrund einer mehr oder
weniger emphatisch betriebenen Aufklärung des Menschen als auf-
grund der struktur- und semantikgeschichtlichen Notwendigkeit, die
13 Die antike und frühneuzeitliche Medizin definierte Gesundheit als Gleichgewicht der vier
Säfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle sowie Schleim und ordnete dem jeweiligen Über-
wiegen eines Saftes die auch literaturhistorisch man denke etwa an die Dramen Molières
einschlägigen Charaktertypen des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phleg-
matikers zu. Erst die physiologischen Forschungen von William Harvey, Albrecht von
Haller sowie Franz Josef Gall im 17. und 18. Jahrhundert legten dann die Grundlage für das
moderne medizinische Körperbild.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
95
leere Systemstelle der Bestimmung des Menschen zu füllen. In Er-
mangelung dieser Systemstelle wurde sie in den Menschen selbst
verlegt, der damit im Wortsinne autonom gedacht wurde, und in der
Folge der Tatsache, dass sich der Mensch als autonomer zuerst noch
bestimmen muss, entsteht die zeitliche Vorstellung einer Entwick-
lungsfähigkeit bzw. -notwendigkeit jedes einzelnen Menschen zu
einer entsprechend unvorherbestimmbaren und unverwechselbaren
Biographie. Dass an die Stelle des Konzepts gottgegebener Perfektion
irdische Perfektibilität tritt, macht Menschen mithin überhaupt erst
als individuelle und wandelbare Wesen kenntlich. Der jeweilige Cha-
rakter des einzelnen ist in der Folge nicht mehr über ein vorgegebe-
nes und typisiertes Raster zu bestimmen, sondern Resultat des indivi-
duellen Selbstbestimmungsprozesses und mithin offen für Brüche,
Widersprüche und Fehler aller Art.14
Diese hier knapp referierten sozial- und begriffsgeschichtlichen
Zusammenhänge schlagen sich mehr oder weniger unmittelbar lite-
raturhistorisch nieder, und zwar in der Abnahme von flachen und der
Zunahme runder Charaktere die man in diesem modernen (das heißt
nicht mehr humoralpathologischen) Sinn nun von den vormodernen
Typen abgrenzen kann: Wenn, um das vielleicht pgnanteste Bei-
spiel für diese Umstellung aus der deutschen Literaturgeschichte
anzuführen, die Titelfigur aus Goethes Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre sich in ihrem Versuch, am Theater Fuß zu fassen, zunächst
mit der Commedia dell’arte und anschließend mit Shakespeares Dra-
men beschäftigt, so erscheint ihr im Fortgang des Romans weder
befriedigend, noch aber, nach der anfänglichen identifikatorischen
Verkörperung, eine Figur wie Hamlet, die ja noch ganz dem klassi-
schen Typos des Melancholikers nachgebildet ist. Wilhelm Meister
muss diese Figurenmuster überwinden, will er sein vorgebliches Ziel,
»mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, (Goethe 1994
[1795/96], 290) realisieren. Das het mit anderen Worten, dass die
Figur Wilhelm Meister bereits als modernes Individuum konzipiert
ist, dessen innere Entwicklung der Roman erhlt, ohne sie zu einer
wie immer gearteten Vollendung, Einheitlichkeit oder Vollkom-
menheit zu führen.
Diese Aspekte einer literarischen Figur sind uns derart vertraut,
dass die mit ihr einhergehende literarästhetische Revolution kaum
mehr spürbar oder nachvollziehbar ist: Bereits zeitgenössischen Le-
14 Sozial- und semantikgeschichtlich rekonstruiert finden sich diese Zusammenhänge bei
Luhmann (1980 sowie 1982).
Nicolas Pethes
96
sern gilt der Meister (der eben keiner mehr ist) nicht als prototypi-
scher Bildungsroman, weil Goethe hier sein während seiner italieni-
schen Reise gefasstes humanistisches Bildungsideal auf den Roman
projiziert habe. Vielmehr meint Bildung, wie sie dann zeitgleich
auch von Wilhelm von Humboldt im pädagogischen, didaktischen
und institutionellen Sinne gedacht wird, die erwähnte Prozessualisie-
rung jeder einzelnen individuellen Biographie, die nun nicht mehr
über typisierte Wendepunkte (man denke etwa an das Motiv von
Schuld und Strafe in der tragischen oder Verfehlung und Bekehrung
in der biographischen Tradition) sondern über einen vielschichtigen
und offenen Vorgang der Selbstbestimmung durch Fremdbegegnung
gedacht wird.
Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch, dass literarische Figuren
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihr Inneres entdecken, das heißt
im Anschluss an pietistische Programme der Selbstbeobachtung, aber
auch der Betonung der Inkommensurabilität von Gefühlen, deutlich
vom Personal frühneuzeitlicher und barocker Dichtungen abgesetzt
werden, die Affekte ja stets im Einklang mit rhetorischen Aus-
druckslehren und also geprägt durch generalisierbare Codes und nicht
durch individuelles Empfinden kommuniziert hatten. Empfindsamkeit
und Sturm und Drang, um bei der Phaseneinteilung der deutschen
Literaturgeschichte zu bleiben (die darin aber intensiv von der franzö-
sischen Anthropologie in der Nachfolge Rousseaus sowie der engli-
schen Genieästhetik und ihren sentimental journeys und epistolary
novels beeinflusst ist), setzen auf diese Weise die sozialgeschichtliche
Umstellung auf eine Semantik der Individualität in Gestalt neuer,
autonom und entwicklungsfähig gedachter Figuren um und ber-
dern sie natürlich im Gegenzug auch, insofern literarische Figuren die
mit ihnen korrespondierenden anthropologischen Semantiken stets
auch postulieren oder vorwegnehmen können.
In dieser Weise ist bis in die aktuelle Forschungsdiskussion von
der textinterne[n] Anthropologie“ (Jannidis 2005, 24; vgl. auch ders.
2004b) literarischer Figuren die Rede, der Tatsache also, dassMen-
schen in fiktionalen Texten nach bestimmten Vorstellungen über
Körper und Geist, Charakter und Moral, Freiheit und Notwendigkeit,
Männlichkeit und Weiblichkeit etc. geformt werden. Im Sinne dieses
anthropologischen Referenzdiskurses sind Figuren in Texten zwar
nicht tatsächlich Menschen, sie sind aber wie Menschen konzipiert,
und dokumentieren auf diese Weise die verschiedenen Möglichkeiten
anthropologischer Beschreibung. Wenn etwa Johann Karl Wezel
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
97
1776 im Belphegor ein Romanpersonal entwirft, das er in der Einlei-
tung noch einmal deutlich (und das heißt hier bereits: überdeutlich)
anhand der typologischen Charakterlehre einteilt, diese Einteilung im
Fortgang jedoch ad absurdum führt, indem seine Figuren in immer
extremeren und groteskeren Szenarien gezwungen werden, ihre Welt-
sicht zu ändern, dann reflektiert ein solcher Roman den skizzierten
Wandel der Aufklärungsanthropologie ausdrücklich.
Subjekt und Welt
Die weitere Geschichte der Erforschung des Menschen, die nach der
idealistischen Phase zwischen Aufklärung und Romantik im 19. Jahr-
hundert in der empirischen Physiologie und Psychologie weiterge-
trieben wird, aber auch die anthropologischen Kränkungen durch
Evolutionstheorie und Psychoanalyse umfasst, beeinflusst die Er-
scheinungsform literarischer Figuren in Realismus, Naturalismus und
Moderne in der gleichen Weise. Dennoch erfasst ein anthropologie-
historischer Blick auf die Entwicklungsgeschichte der literarischen
Figur nicht alle Dimensionen ihres Wandels in der Moderne.
Neben den mehr oder weniger expliziten Attributionen von Eigen-
schaften und Charakterzügen sind literarische Figuren auch durch
ihre Position und Relation innerhalb des gesamten Erzählkosmos
bestimmt. Darauf hat der ungarische Literaturtheoretiker Georg
Lukács bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht,
als er in seiner Theorie des Romans auf die dramatische Umgewich-
tung, wenn nicht gar völlige Verkehrung, des Verhältnisses zwischen
erzählter Figur und erzählter Welt in der Literaturgeschichte von der
Antike bis zur Moderne hinwies: Denn die Statik und Flachheit
literarischer Figuren bis zum 18. Jahrhundert impliziert ja auch, dass
die entsprechenden Texte selbst wenn sie Aeneis, Parzival oder Der
abentheuerliche Simplicissimus Teutsch heißen noch nicht von
Subjekten im modernen Sinne handeln. Vielmehr überwiegt in diesen
Texten das Gewicht der Welt, in der sich diese Figuren bewegen. Erst
die erwähnte Entdeckung des Inneren von Menschen effnet eine
Alternative zur Dominanz der Außenwelt in antiken, mittelalterlichen
und frühneuzeitlichen Erzählungen. Indem die Sphäre der Emotionen,
Erinnerungen und Assoziationen zunehmend mehr Gewicht innerhalb
literarischer Texte beansprucht, gewinnen die Figuren diejenige
Rundheit‹ – aber auch Tiefe, Komplexität und Wandlungsfähigkeit
Nicolas Pethes
98
die sie bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert prägt bzw. prägen
(Lukács 1994).
Zugleich aber, auch darauf weist Lukács hin, verlieren die Figuren im
Zuge dieser Wendung zum Inneren denjenigen Halt, den die vormo-
derne Welt ihren Bewohnern noch gegeben hatte. Figuren der moder-
nen Literatur spiegeln diejenige »transzendentale Obdachlosigkeit«
(ebd., 32), in die der Prozess derkularisierung im 20. Jahrhundert
mündet. Hinzu kommt, dass der Blick nach innen ja nicht nur Positi-
ves zeitigt, sondern auch die Psychoanalyse wurde bereits erwähnt
Abgründe zutagerdert: Obsessionen, Wahnsinn, und, ironischer-
weise, den Verlust einer stabilen Ich-Instanz.
Die Figuren der Literatur des 20. Jahrhunderts legen ein beredtes
Zeugnis dafür ab: Die Protagonisten bei Proust und Breton, Kafka
und Döblin, Woolf und Joyce, bei Schnitzler, Rilke, Beckett, Borges,
Mann, Camus, Frisch oder Bernhard, sind zwar noch namentlich
benennbar, haben aber den festen Boden der Subjektidentität verlo-
ren, was entweder krisenhaft erfahren oder, im Rahmen postmoderner
Erzählexperimente, etwa bei Paul Auster, als Entlastung vom seman-
tischen Ballast der Aufklärung gefeiert wird auch hier wieder im
Spiegel zeitgenössischer Debatten über den Tod, zumindest aber das
Ende des Subjekts (vgl. Fokkema 1991).
Allerdings sind diese Phänomene keineswegs eine Erfindung des
20. Jahrhunderts, sondern suchen die Literatur heim, seitdem sie von
der Welt auf das Subjekt umfokussiert hat. Um eben die genannte
Epochenschwelle um 1800 bevölkern Doppelgänger die Literatur
z.B. bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe und
stellen damit das eben erst gewonnene Verständnis von der Indivi-
dualität literarischer Figuren in Frage. Auch anhand weiterer Bei-
spiele kann man beobachten, wie diese Figuren gerade im Zuge ihrer
Differenzierung diejenige Qualität verlieren, die ihnen zumindest im
Fall von Protagonisten fraglos zugekommen war: Helden im engeren
Sinne zu sein. Zwar relativiert auch die vormoderne Literatur im
Register des Komödiantischen den Zentralstatus ihrer Protagonisten
durch seine Verstrickungen in selbstgesponnene Verwicklungen. Und
auch im Drama bedeutet Held zu sein nicht etwa, am Ende zu obsie-
gen im Gegenteil. Die Charaktertypologie hatte den Protagonisten
aber mit positiven Eigenschaften wie Mut, Kraft und Gerechtigkeits-
empfinden, oder, in der Komödie, immerhin mit Witz und Schlagfer-
tigkeit versehen.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
99
Bereits an der Wende zum 16. Jahrhundert kommt diese Gestaltung
des Helden als Held ins Schwanken, und zwar sowohl im komö-
diantischen wie im dramatischen Register: Don Quijote, der noch
einmal ausziehen will, um Held eines Ritterromans zu werden, und
sich bereits in einer Welt wieder findet, in der dieses Heldentum kei-
nen Ort mehr hat. Oder Hamlet (und mit ihm auch der Souverän im
deutschen Trauerspiel), der Held einer Tragödie ist, ohne über Tat-
kraft zu verfügen.
Im Anschluss an die Semantik der (bürgerlichen) Individualität
und der Etablierung des Romans als (ebenfalls bürgerlichem und
das heißt: hinsichtlich der Stilebene mittleren) Zentralgenre der
Literatur ist das Auseinanderdriften der Semantiken von Held und
Protagonist (das Neal Stephensons Benennung der Figur Hiro
Protagonist im Roman Snow Crash von 1992 ironisch reflektiert)
unübersehbar: Schon Goethe bezeichnet seinen Wilhelm Meister als
»Armer Hund«, (Goethe 1994 [1795/96], 619) Carl Philipp Moritz
zeichnet ein Jahrzehnt davor ein depraviertes und deprimiertes Bild
seines Titelhelden Anton Reiser, und die weitere Geschichte des Bil-
dungsromans im deutschsprachigen Raum über Tiecks William
Lovell, Kellers Grünen Heinrich und Stifters Nachsommer kennt nur
mehr ihrer selbst ungewisse Figuren, denen das Erzählprinzip der (im
doppelten Sinne) Bildung des eigenen Ich eine Suchbewegung aufer-
legt, deren Leitfaden und Ziel sich als höchst unzuverlässig erweisen.
Die bereits erwähnten Radikalisierungen dieser reflexiven Geste in
der literarischen Moderne um 1900 sowie die postmoderne Subjekt-
kritik leisten das ihre dazu, dass literarische Figuren in den meisten
Fällen das Gegenteil von Helden sind. Wenn Robert Musil sein mo-
numentales und doch fragmentarisches Romanprojekt Der Mann
ohne Eigenschaften nennt, dann spielt er mit diesem Titel auch auf
die Unmöglichkeit an, eine literarische Figur noch im herkömmlichen
Sinne zu charakterisieren. Zwar hat die Literatur des 20. Jahrhun-
derts solche Radikalisierungen nicht standardisiert, sondern ist, zumal
im Anschluss an die Erfahrung von Krieg und Terror, zu weniger
gebrochenen historischen und biographischen Erzählschemata zu-
rückgekehrt. Der Zweifel an konsistenten Figuren blieb aber nicht
zuletzt wegen des prekären Status der Erinnerung an die genannten
Katastrophen bestehen, und mit ihm eine grundsätzliche Skepsis
gegenüber der Figur des positiven Helden. Dieses Konzept wan-
derte in die propagandistische (völkische oder sozialistisch-realisti-
sche) Literatur, vor allem aber in die Populärkultur des Kinos bzw.
Nicolas Pethes
100
des Comics und seiner Superhelden ab,hrend die hohe Literatur
ihre existentiellen Krisen zu dokumentieren beansprucht (vielleicht
aber auch nur Distinktionsgewinn daraus bezieht), wenn sie sich nicht
länger zu solch trivialenDarstellungen verführen lässt. Den Kom-
plexitätsgewinn, der der literarischen Figur im Zuge der modernen
Subjektivitätstheorie zukam, hat sie mithin mit der Preisgabe der
Möglichkeit bezahlt, von eindeutigen Helden zu erzählen.
Darstellung und Perspektive
Die bisherigen Ausführungen haben sich auf die literarische Figur als
inhaltlichen Gegenstand literarischer Narrationen beschränkt. Sie
stehen damit in einer Tradition der Erzähltheorie von Forster über
Propp und Greimas bis Genette, denen in jüngerer Zeit eine reduktio-
nistische Perspektive vorgeworfen wurde: Insofern literarische Texte
nie nur als Handlungsbericht, sondern stets auch als dessen sprachli-
che Gestaltung zu lesen sind, dürfen literarische Figuren nicht nur als
Charaktere betrachtet, sondern müssen hinsichtlich ihrer Charakteri-
sierung analysiert werden.15 So unbestreitbar die anschauliche Viel-
falt und differenzierte Entwicklungsgeschichte literarischer Figuren
auch ist, so erschließt doch erst diese Herangehensweise die eingangs
skizzierte strukturelle Zentralstellung der Figur in literarischen Nar-
rationen, insofern sie nicht nur als Erzählgegenstand, sondern zu-
gleich als Gravitationspunkt des Erzählens selbst betrachtet werden
kann.
Zu diesen narrativen Modi der Charakterisierung gehören zunächst
einmal quantitative Entscheidungen wie z.B. diejenige, ob man den
Lebenslauf einer Figur vollständig wiedergibt (full life circle) ein
Vorhaben, dessen Exorbitanz bereits Sternes Tristram Shandy iro-
nisch konterkariert oder es bei einem elliptischen Verfahren (single
moments) belässt. Die Metapher vom Gravitationspunkt soll aber vor
allem illustrieren, dass Aussagen in Erzähltexten unabhängig von
ihrer expliziten Referenz stets auch auf die Figuren des Texts bezo-
gen werden können. Dieser qualitative Aspekt gilt nicht nur für dieje-
nigen Aussagen, in denen das Personal eines Romans ausdrücklich
durch einen Erzähler charakterisiert wird: »Eduard so nennen wir
einen reichen Baron im besten Mannesalter«. Auch Aussagen fiktiver
15 Vgl. Docherty (1983), Margolin (1983), Koch (1991, 156-197); für die Figurenanalyse in
dramatischen Texten Pfister (1977).
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
101
Figuren übereinander erfüllen dieselbe Funktion: »›Ich weiß, ver-
setzte [Eduards Ehefrau; NP] Charlotte, daß du in zweifelhaften
Fällen gerne wettest oder würfelst‹«. Vor allem aber tragen Aussagen,
die gar nicht beschreibend sind, zur Konturierung eines Figurencha-
rakters bei, vor allem wenn Gedanken, Handlungen oder Äußerungen
von Figuren referiert werden, die bestimmte ihrer Dispositionen of-
fenlegen: »Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Mor-
gen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprächwen-
dungen ganz aus der Fassung, so dass sie zuletzt ausrief: Du willst
gewiß, daß ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber
zugestehen soll‹«.16
Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Verfahren der narrati-
ven Figurencharakterisierung sind: Zunächst einmal ist zwischen
Beschreibungen eines Erzählers und Selbstaussagen von Figuren zu
unterscheiden. Im ersten Fall kann mithilfe der Narratologie präzisiert
werden, wieviel Überblick dem Erzähler zur Verfügung steht: Im
ersten Beispielzitat scheint die Erzählstimme über einen Gesamtüber-
blick über Biographie und Umstände Eduards zu verfügen. Einen
solchen Erzähler nennt man nullfokalisiert (auktorial), weil sein Wis-
sen über die Figuren keinerlei Einschränkungen unterliegt. Er kann
bei Bedarf auch einen Rückblick auf das bisherige (Analepse) oder
einen Vorblick auf künftige Ereignisse (Prolepse) geben oder über
Körperbau, Kleidung und soziale Stellung informieren. In der Lite-
ratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, am prominentesten
bei Thomas Mann, treten zu diesen auktorialen Mitteln Leitmotive
hinzu, die den Auftritt einer Figur wiederholt begleiten und als sym-
bolische Strategie ihrer Charakterisierung begriffen werden können.
Demgegenüber steht im dritten Beispielzitat ein wesentlich aus der
Perspektive einer bestimmten Figur, in diesem Fall Charlotte, be-
richtender Erzähler. Er scheint einen unmittelbaren Einblick in die
Befindlichkeiten dieser Figur zu haben, allerdings um den Preis des
Gesamtüberblicks. Eine solche Erzählerstimme bezeichnet man als
intern fokalisiert (personal). Die Intensität dieser Fokalisierung ist
beliebig zu steigern, bis hin zu dem Grad, an dem die Erzählung die
Gedanken und Sichtweise der Figur selbst erzählt in den verschie-
denen Abstufungen von der erlebten Rede bis zum Bewusstseins-
strom. Insbesondere die Erzählliteratur zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts verzichtet teilweise ganz auf explizite Charakterisierungen und
16 Die drei Beispielzitate stammen aus Goethes Wahlverwandtschaften (1993 [1809], 242,
248, 250.
Nicolas Pethes
102
entwirft Figuren anhand einer protokollartigen Wiedergabe ihrer
Wahrnehmungen. Leutnant Gustl oder Molly Bloom existieren als
literarische Figuren nicht oder nur am Rande unabhängig von ihrer
Selbstdarstellung. Alfred Döblin montiert für die Charakterisierung
von Franz Biberkopf verschiedene Fokalisierungsgrade und kann so
die Außensicht auf einen um soziale Integration bemühten Arbeiter
mit der Innensicht auf psychotische Wahrnehmungsmuster kontrastie-
ren.
Der oben angedeutete Abschied von positiven oder auch nur ein-
heitlichen Figuren in der literarischen Moderne hängt auf diese Weise
unmittelbar mit der Diversifizierung intern fokalisierter Erzähltechni-
ken zusammen. Wie im Falle wörtlicher Aussagen wird die literari-
sche Figur hier nicht explizit, sondern implizit und nicht narrativ,
sondern figural charakterisiert. Der Effekt ist einerseits, dass man als
Leser das Gefühl hat, wesentlich unmittelbarer mit der Figur vertraut
zu werden und den Charakter quasi selbst interpolieren zu können,
anstatt sich auf Aussagen eines mehr oder weniger autoritär auftre-
tenden Erzählers verlassen zu müssen. Zu solchen impliziten Figu-
rencharakterisierungen gehört neben Aussagen der Figuren auch de-
ren spezifischer Ton etwa bestimmte Ideolekte, Dialekte oder son-
stige Eigenheiten. Andererseits geht mit dem Rückzug eines aukto-
rialen Erzählers zugunsten von Figurenrede und interner Fokalisie-
rung ein Vertrauensverlust in die Zuverlässigkeit der entsprechenden
Charakterisierungen einher (vgl. allg. Nünning 1998, sowie speziell
Harvey 1968, 74ff). Das Bild einer Figur, das über eine Serie von
Szenen als Lektüreeffekt emergiert, stützt sich nach dem Zeitalter der
Charaktertypologie auf Aussagen, die auf möglicherweise subjekti-
ven, verzerrten oder gezielt in die Irre führenden Selbst- und Fremd-
einschätzungen beruhen kulminierend in jenem ersten Satz des Ich-
Erzählers von Max Frischs Roman Stiller: »Ich bin nicht Stiller«
(Frisch 1984, 9). Damit wirft die Analyse narrativer Charakterisie-
rungen das Problem der Konsistenz, Plausibilität und Wirklichkeit
von Figuren in literarischen Erzählzusammenhängen auf.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
103
Form und Realität
Die vielschichtigen Modi der Charakterisierung einer literarischen
Figur und die Anbindung ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen
an anthropologische Diskurse erzeugen beim Lesen literarischer
Texte den Eindruck einer Lebendigkeit, der nicht nur im Fall fiktiver
Figuren ungedeckt ist. Auch Texte über historische oder gar noch
lebende Personen erzeugen, sobald diese Personen als Figuren in
einem Text auftreten, eine sprachliche Struktur, der gegenüber das
tatsächliche Sein des oder der Gemeinten gänzlich unabhängig ist.
Lediglich ein im Text genannter Name einer realen Person erzeugt
einen textinternen Verweis auf die textexterne Realität was aller-
dings auch für die Namen von Städten oder historischen Ereignissen
gilt, die als solche benannt werden können, in ihrer textuellen Dar-
stellung aber Bestandteil des Textes und nicht etwa der Wirklichkeit
sind.
Das in der Forschung immer wiederkehrende Eingeständnis, litera-
rische Figuren bestünden aus nichts anderem als aus Buchstaben (vgl.
Stückrath 1992), ist aber ebenfalls fragwürdig. Denn die schiere Ma-
terialität der Buchstaben oder Lautzeichen fällt ja weder mit der nar-
rativen Funktion noch mit dem Vorstellungskomplex einer Figur
zusammen. Diese ergeben sich nicht aus den bloßen Wortzeichen,
sondern sind Effekt einer strukturellen Zurechnung (von Eigenschaf-
ten und Handlungen) sowie Projektionen (des Autors und Lesers
wobei die Frage, ob diese Projektionen von Figurenbildern tatsäch-
lich Vorstellungskomplexe im visuellen Sinn sein müssen, hier nicht
verfolgt werden soll). Literarische Figuren gibt es mithin nur inner-
halb des Textgefüges und im Vollzug von dessen Aktivierung durch
Leser (zu denen auch der Autor gehört).
Ob die Figuren realen Vorbildern nachgeahmt sind oder nicht, ist
aus dieser Perspektive sekundär. Entscheidend für die Figurenkon-
struktion ist nicht, ob Elisabeth bei Schiller oder Napoleon bei Tolstoj
Ähnlichkeit mit den jeweiligen historischen Vorbildern haben oder
nicht selbst wenn es in den beiden Beispielfällen außer Frage steht,
dass in den Texten eindeutig und ohne jede Ironie die englische Kö-
nigin bzw. der französische Kaiser gemeint sind. Prägend für die
Figurenkonstruktion ist vielmehr das strukturelle Netz, das aus den
verschiedenen Charakterisierungselementen innerhalb des Textes
emergiert und die Figur mithin aus einem Ensemble möglicher Ei-
Nicolas Pethes
104
genschaften, Aussagen und Handlungen anhand einer gezielten Aus-
wahl aus diesen Möglichkeiten konkretisiert.17
Figuren sind, anders gesprochen, mediale Formbildungen, das
heißt feste Kopplungen aus einem Arsenal nicht zwingend verbunde-
ner Strukturelemente. Leser eines Romans oder Zuschauer eines
Dramas greifen diese Kopplung auf und ergänzen sie zu einer mehr
oder weniger stimmigen Person, die hinter der Figur zu stehen
scheint. Fotis Jannidis hat die literarische Figur daher als Ergebnis
einer Interferenz zwischen Text und Rezipient bezeichnet, und wenn
wir über literarische Figuren wie Marianne Dashwood, Frédéric
Moreau oder Thomas Buddenbrook sprechen, dann meinen wir weder
eine Person aus Fleisch und Blut noch eine bloße Zeichenserie, son-
dern das »mentale [...] Modell eines Modell-Lesers« (Jannidis 2004a,
11).
Die Frage nach der Realität literarischer Figuren ist damit nicht
abgetan, sondern lediglich verschoben und differenziert: Innerhalb
eines Textes und für den Prozess der Lektüre sind fiktive Figuren
natürlich real, und zwar in dem Sinne, dass ein Leser bestimmte Ei-
genschaften, Handlungen, Aussagen stets einer bestimmten, weil
benennbaren und wiederkehrenden, Figur zuordnet. Aus diesem Zu-
ordnungsprozess emergiert die Figur als strukturierte Form: Jede
implizite oder explizite Information wird zugeordnet und per Interfe-
renz ergänzt. Daraus wird die Lektüre zu jedem Zeitpunkt von einem
Komplex erinnerter Informationen begleitet, die zugleich eine Er-
wartungshaltung gegenüber künftigen Informationen ausbildet. Diese
Erwartung kann durch die nächste Information entweder bestätigt,
das heißt konkretisiert, oder enttäuscht, das heißt differenziert wer-
den. Auf diese Weise können literarische Figuren als prozessual ge-
nerierte Instanz der Zurechnung unterschiedlicher Eigenschaften
beschrieben werden, die ihre Einheit nur dadurch gewinnt, dass ver-
schiedene Zurechnungen auf dieselbe Referenz zielen. Struktur (das
heißt die Instanz der Zurechnung) und Ereignis (das jeweilige nar-
rative Element) konstituieren und modifizieren sich wechselseitig.
Der Realitätseindruck der Figur in literarischen Narrationen basiert
aus dieser Perspektive nicht auf Mimesis, sondern auf Konsistenz:
Eine Figur ist dann als Figur kenntlich, wenn sich alle ihre Gedanken
und Taten zu einem stimmigen Bild fügen bzw. wenn es gerade das
Fehlen einer solchen Stimmigkeit ist, die eine Figur ausmacht (und
17 Auf diese Weise rekonstruiert z.B. auch Roland Barthes (1987) die Zuschreibung eines
Charakters an eine literarische Figur wie Balzacs Sarrasine.
Figurenkonzepte in der literarischen Narration
105
die daher auf der nächst höheren Ebene wiederum in sich stimmig
ist).18 Entscheidend für das Problem der Realität dieser Einheit ist
daher letztlich, dass die Strukturierung einer fiktiven Figur mehr oder
weniger genau dem Umgang mit lebensweltlich realen Personen ent-
spricht: Auch in der sozialen Interaktion konstruieren wir anhand von
Aussagen und Handlungen unseres Gegenübers ein bestimmtes Figu-
renmodell, das in der Folge affirmiert oder modifiziert wird. Das
Kennen des Anderen dessen tatsächliche Möglichkeit in philosophi-
schen Schulen wie dem Solipsismus entsprechend skeptisch gesehen
wird entspricht dem Emergenzmodell einer literarischen Figur.
Umgekehrt bedeutet das: Ein literarischer Text evoziert aufgrund
seiner Struktur ein Wahrnehmungsmuster, das demjenigen der Wirk-
lichkeit entspricht. Daraus abzuleiten, dass auch die Welt ein Text sei
oder ähnliches, ist weder zwingend noch zielführend. Entscheidend
ist, dass literarische Figuren weniger reale Personen nachahmen, als
sie die Präsentations- und Wahrnehmungsweise von Personen auf-
greifen und inszenieren. Darin liegt die Realität einer Figur.
Auch diese Realität stützt sich in der Literaturgeschichte der ver-
gangenen 250 Jahre auf die in der Aufklärung aufkommende Seman-
tik autonomer Individuen. Parallel zum emphatischen Programm
genieästhetischer Souveränität entstehen Erzählkonstruktionen, in-
nerhalb derer fiktiven Figuren eine ebensolche Autonomie zugespro-
chen und die Verfügungsgewalt von Autor bzw. Erzähler über sie
mithin relativiert wird: Schon Christoph Martin Wieland spielt mit
der Gegenüberstellung von Geschichtsschreiber und Romanautor,
wenn sein Erzähler in der Geschichte des Agathon immer wieder
eingesteht, den Schicksalen seines Protagonisten gerne eine andere
Richtung geben zu wollen, sich aber dessen eigenen Entscheidungen
bzw. dem Gang der berichteten Ereignisse beugen zu müssen. Über
die metadiegetischen Herausgeberfiktionen in der Romanliteratur der
Empfindsamkeit und des Sturm und Drang wird der Dialog zwischen
Figur und Autor in der Romantik zum intradiegetischen Topos, so
z.B. in Anselmus Dichtungsversuchen über und mit Serpentina in
E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf. In der literarischen Moderne
werden diese Interferenzen weiter zugespitzt, wenn bei Pirandello
Sechs Personen […] ihren Autor [suchen] oder sich in Flann
O’Briens At Swim to Birds gegen ihn verschwören.
18 Vgl. in diesem Sinne auch allgemein Blumenberg 1969.
Nicolas Pethes
106
Nicht alle diese literarischen Spielarten einer mise en abyme dienen
aber der ironischen Subversion des Literaturmarkts. Es gibt auch
durchaus ernst gemeinte Hinweise auf die Realität fiktionaler Figu-
ren, in der deutschen Nachkriegsliteratur am prominentesten bei Uwe
Johnson, der in seinem vierbändigen Roman Jahrestage »aus dem
Leben von Gesine Cresspahl« erhlt, sich in Kommentaren und In-
terviews aber stets und beharrlich weigerte, diese Titelfigur als fiktiv
anzuerkennen. Johnson gab stattdessen zu Protokoll, er sei dieser
Gesine vor Abfassung des Romans in New York begegnet und habe
von ihr den Auftrag zur Niederschrift des Romans erhalten. Entspre-
chend kommt es im Roman auch zu Dialogen zwischen Autor und
Figur, in denen Johnson immer wieder eingestehen muss, keine Ver-
fügung über das (von ihm aber doch de facto erfundene) Geschehen
zu haben (vgl. Johnson 1985). Einem dokumentarischen Ethos ver-
pflichtet, wird die Kopplung derjenigen narrativen Elemente, aus
denen sich die Figur Gesine Cresspahl in den verschiedenen Roma-
nen Johnsons herausgebildet hat, als so stark vorgeführt, dass sie auch
die weitere Charakterentwicklung und künftige Entscheidungen vorab
zu strukturieren scheint. Dieses strukturelle Eigenleben einer fiktiven
Figur nicht als Marotte eines Autors, sondern als letzte Konsequenz
narrativer Konsistenzerwartungen zu verstehen, lehrt die Geschichte
der literarischen Figur in der europäischen Dichtungstradition.
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108
109
Iris Hermann
Formen der Figur in der Lyrik
Lyrisches Ich und lyrisches Du
Wenn hier von den Formen der Figur in der Lyrik die Rede ist, dann
geht es nicht um rhetorische Figuren, nicht um sogenannte Figuren-
gedichte, auch sind mit ihnen weniger anthropomorphe Gestalten
gemeint, sondern, abstrakter betrachtet, Markierungen und Positionie-
rungen, von denen aus im Gedicht gesprochen wird. Das, was als Ich
spricht, muss von den Lesenden erst noch in ihrer Vorstellung ausge-
füllt werden. Das Ich im Gedicht ist, Kaspar Spinnen (1975) folgend,
als eine Leerdeixis anzunehmen, weil es in erster Linie als zeigendes
operiert. Wenn ein Ich im Gedicht eine in überlieferten Kontexten
hergestellte Rolle übernimmt, innerhalb der es sich im Gedicht arti-
kuliert, spricht man vom Rollengedicht. Weniger schematisch als es
anmuten mag, ist es von dort auch möglich, die von der Rolle ge-
schürte Erwartung zu durchbrechen.
Die Auffassung, mit welcher Art ›Ich‹ man es in der Lyrik zu tun
hat, ist abhängig von den Diskursen, die eine Gesellschaft über Indi-
vidualität und Subjektivität führt. Im Kontext dekonstruktivistischer
und psychoanalytischer Theorien ist nicht mehr davon auszugehen,
dass das Ich zumindest seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert noch
als eine Ganzheit wahrzunehmen ist, vielmehr ist gerade auch in der
Lyrik zu bemerken, dass das Ich in Fragmenten von sich spricht,
denen ein Mantel-Ich (schenstein 1990) womöglich aber dennoch
zu einem Ich-Bewusstein verhilft.
Auch wenn Gedichte vielerorts eine monologische Struktur auf-
weisen, sind dialogisch aufgebaute ebenso häufig anzutreffen. In
einer Du-Figur wird der Ich-Figur ein Resonanzraum eröffnet, der
manches Mal jedoch dazu genutzt wird, im Du sich selbst auf eine
etwas distanziertere Art anzusprechen. Im Dinggedicht ist es schließ-
lich eine dritte Person, die beobachtet. Gattungsübergreifend lassen
sich sogar Funktionen eines Erzählers bemerken.
Iris Hermann
110
Merkmale des lyrischen Sprechens
Mehr als dass sie jene beschreibt, reflektiert Lyrik über Dinge, die
abwesend sind. Sie wählt sich eine Position, von der aus sie spricht
und markiert so den Ort, von dem aus sie redet. Fast allen lyrischen
Produktionen ist gemeinsam, dass man sie als Sprechen auffasst, als
Form eines imaginären Dialogs (Burdorf 1997, 181). Ihre Dialogizi-
tät, wie ausgeformt oder auch wie negiert sie erscheint, stellt sie zwi-
schen ein Ich und ein Du, damit sind die in ihr vorkommenden
Hauptfiguren genannt. Da sie nur die Sprache hat, um das Abwesende
zu evozieren, geht sie mit der Sprache so um, dass sie deren bildneri-
sches Potential in besonders akzentuierter Weise nutzt: Hans
Blumenberg hat diesen Zusammenhang in seinem Ausblick auf eine
Theorie der Unbegrifflichkeit (1997) hervorgehoben. Er betont dort,
welche Sprengkraft Sprache besitzt, die ihre Metaphorizität einsetzt,
um Bilder des Abwesenden entstehen zu lassen. Diese Bilder durch-
laufen dabei einen Prozess der Eidetisierung, um das nicht Vorhan-
dene in der Vorstellung der Lesenden anwesend zu denken. So gese-
hen ist Lyrik angewiesen darauf, dass sie gelesen, von den Lesenden
vorgestellt, d.h. imaginiert wird. Das Gedicht entsteht erst im Kopf
der Lesenden: Es ist sicher die Lyrik, über die die sogenannte Rezep-
tionstheorie1 am meisten zu sagen hat.
Des Weiteren und nicht zuletzt verweist die Onomastik der Lyrik
auf ihre Klanglichkeit: Lyrik kommt von der lyra, ursprünglich sind
das Lyrische und das Musikalische verwandte Dinge und sie bleiben
es fortan. Rhythmus, Takt, Vokal- und Konsonantenklang formen ein
klangliches Gebilde, das den Sprachbildern einen Klang unterlegt.
Laut gesprochen wird diese Dimension präsent. Vor die Semantik
schiebt sich die Lautlichkeit und überlagert sie bis hin zur Unkennt-
lichkeit der Aussage. Dennoch muss man nicht so weit gehen zu sa-
gen, es gebe eine eigene lyrische Sprache, ein eigenes lyrisches Spre-
chen (Schiedermair 2004, 25ff). Der spezielle Blick, der hier ange-
stellt werden soll, benötigt diese eher idealistische und im Kontext
der Erlebnislyrik aufgetauchte Vorstellung nicht. Es geht hier um ein
vergleichsweise nüchternes Betrachten des ›lyrischen Sprechens‹.
Zunächst denkt man dabei an die Funktionseinheiten innerhalb eines
rhetorischen Systems, das heißt an die rhetorischen Figuren. Paul de
Man hat die Bedeutung der Rhetorik immens ausgeweitet, wenn er
1 Siehe dazu: Eco 1998, Ingarden 1968, Iser 1994, Jauß 1979.
Formen der Figur in der Lyrik
111
davon ausgeht, dass alles, was wir für wirklich halten, rhetorisch
verfasst, d.h. sprachlich geriert ist (de Man 1988). Dass eine solche
Auffassung Konsequenzen für die grundsätzliche Betrachtung literar-
ästhetischer Zusammenhänge hat, darüber ist schon seit mehreren
Jahrzehnten nachgedacht worden.2 Die Figuren, von denen hier die
Rede sein soll, werden aber nicht in ihrer Verwendung als rhetorische
Figuren verstanden, sondern so, wie sie im Reallexikon für Litera-
turwissenschaft nahezu kantianisch definiert werden: »Neben Hand-
lung, Raum und Zeit bildet die Figur mit ihrer sinnkonstituierenden
und handlungsprogressiven Funktion einen elementaren Baustein der
fiktiven Welt eines Textes. Die Konzeption der Figur ist dabei je nach
Gattung und Epoche verschieden« (Reallexikon der deutschen Lite-
raturwissenschaft 2000).
Die historische Dimension der Figuren in der Lyrik
Die lateinische figura findet sich im Altfranzösichen figure wieder
und ist im Mittelhochdeutschen als figiûre zu lesen. Sie bezeichnet
die äußerliche Gestalt eines Menschen (womöglich aber auch anderer
Körper). Im hier entfalteten Kontext ist erwähnenswert, dass die Fik-
tion vom Lateinischen fingere abzuleiten ist: bilden. Fiktion und Fi-
gur sind demnach eng verwandt. Fiktion und Imagination denken sich
viel weniger häufig neue Räume aus, als vielmehr sich der Aufgabe
zu stellen, neue Figuren zu bilden und von ihnen ausgehend eine
Handlung voranzutreiben. In der Lyrik, vom Standpunkt einer be-
stimmten Figur aus, dient sie dazu, innere Standpunkte dieser Figur
zu reflektieren.
Ab wann aber hat man der Lyrik als eigener Gattung einen Stel-
lenwert zugesprochen? Während Karlheinz Stierle ihr seit der Antike
diese Rolle zuspricht, ohne dies allerdings weiter auszuführen (1979),
kann man davon ausgehen, dass zumindest zu Beginn des 18. Jahr-
hunderts verschiedene Gedichtarten zu einem lyrischen Gesamtdispo-
sitiv zusammengefasst werden. Als richtungsweisend ist der Aufsatz
von Moses Mendelssohn Von der lyrischen Poesie (1778) zu nennen,
später zudem Goethes Bemerkungen zur Eigenständigkeit der Gat-
2 Siehe dazu insbesondere die Arbeiten von Judith Butler, Hélène Cixous, Jacques Derrida,
Soshana Felman, Werner Hamacher, Anselm Haverkamp, Luce Irigaray, Julia Kristeva,
Philippe Lacoue-Labarthe, W.J.T. Mitchell u.a.
Iris Hermann
112
tung der Lyrik in seinen Noten und Abhandlungen zum besseren Ver-
ständnis des westöstlichen Diwan (1819).
Womöglich ist genealogisch anzunehmen, wie oben auch schon
erwähnt, dass das lyrische Sprechen sich Ausdrucksweisen des Musi-
kalischen zu Nutze macht: Wiederholungsstrukturen, Rhythmik,
Klanglichkeit des sprachlich Hervorgebrachten. Ist aber wirklich
eindeutig zu sagen, ob Menschen zuerst gesprochen oder womöglich
zuerst gesungen haben oder aber, dass sie beides nicht immer unter-
schieden haben? Es bleibt festzuhalten, dass die Lyrik diejenige Gat-
tung ist, die der Musik am nächsten steht, wer wen beeinflusst hat,
wer welche Formen des Artikulierens zuerst erprobt hat, ist nicht
eindeutig festzustellen. Adorno hat in seiner Philosophie der neuen
Musik den Ursprung der Musik, das heißt speziell des Singens, mit
dem Weinen verglichen:
»Wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers
Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hin-
aus. Er ist gestischer Art und nah verwandt dem des Wei-
nens. Es ist die Geste des Lösens. [...] Der Mensch, der
sich verströmen läßt im Weinen und einer Musik, die in
nichts mehr ihm gleich ist, läßt zugleich den Strom dessen
in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter
dem Damm der Dingewelt gestaut war. Als Weinender wie
als Singender geht er in die entfremdete Wirklichkeit ein«
(Adorno 1958, 122f).3
Wenn Adorno bemerkt, dass der Ursprung der Musik über Sinn und
Subjektivität hinausgreife, so gilt dies auch für die hier angestellten
Überlegungen zu Formen der Figuren in der Lyrik. Immer wieder hat
man die Lyrik als subjektivste Form der Literatur betrachtet, am Ende
meiner Ausführungen wird in Anlehnung an die neuere Forschungs-
diskussion jedoch die Einsicht stehen, dass dies ein unzulässiger, weil
nicht entscheidbarer Gedanke ist. Nur weil im Gedicht jemand »Ich«
sagt, ist das noch kein Hinweis auf ein Subjekt, schon gar nicht auf
das eines Autors, einer Autorin. Das wirft aber die grundlegende
Frage auf, welche Funktionen die Figuren in der Lyrik generell er-
füllen.
3 Ähnlich denkt Émile Michel Cioran, der der Musik zudem religiösen Charakter zugesteht:
»Alle wahre Musik entspringt dem Weinen, da sie aus der Sehnsucht nach dem Paradies
hervorgeht« (Cioran 1987, 10).
Formen der Figur in der Lyrik
113
Die Funktion der Figuren in der Lyrik
Die Funktion des lyrischen Ich
Die Figur in einem Gedicht, die am häufigsten vorkommt, ist zwei-
felsohne das Ich. Es ist nur konsequent, wenn die allermeisten Unter-
suchungen über die Figur in der Lyrik das Ich in den Mittelpunkt
stellen. Es sind insbesondere mit Goethes so genannter Erlebnislyrik4
verbundene Beobachtungen, die es der älteren Forschung nahe legten,
im Ich des Gedichtes den Autor zu erblicken.5 Dass dies noch nicht
einmal so veraltet ist, wie stete Warnungen in Proseminaren, sol-
chermaßen zu verfahren, vermuten lassen, zeigt etwa noch Dieter
Lamping (1993).6
Wenn es aber nicht der Autor ist, der seine Erlebnisse im Gedicht
darbietet, wer spricht dann im Gedicht? Wie das Ich in einem Gedicht
gestaltet ist, hängt wesentlich davon ab, welche Ich-Konzeption ihm
zu Grunde liegt. Diese resultiert aus den Auseinandersetzungen mit
den hegemonialen Diskursen der Zeit. So ist es beispielsweise offen-
sichtlich, dass die Barocklyrik in ihren Ich-Figuren kein individuelles
Ich entwirft, sondern ein für eine bestimmte Gruppe von Menschen
repräsentatives. Das repräsentativ gestaltete Ich im Barockgedicht
spielt exemplarisch durch, wie es einer bestimmten Figur, die Ich
sagt, ergangen sein, wie es die Welt erfahren haben könnte, zum Bei-
spiel im Dreißigjährigen Krieg. Frappierend ist aber sicherlich, wie
suggestiv das geschieht. Grundlage dafür ist eine ausgefeilte Körper-
symbolik, die an die sinnliche Erfahrbarkeit der Außenwelt appelliert.
Es geht im lyrischen Diskurs im Wesentlichen um Übertragungs-
phänomene. Ein Ich spricht so, wie ein Ich geredet haben könnte und
4 Literarhistorisch gesehen ist damit die Lyrik gemeint, die von Klopstock bis hin zu
Theodor Storm geschrieben wurde (vgl. Burdorf 1997, 188). Zum Begriff der Erlebnislyrik
siehe Feldt 1990. Der für die Erlebnislyrik programmatische Begriff des Erlebnisses wurde
systematisch durchdacht von Wilhelm Dilthey (1905).
5 Carolin Fischer spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Lejeunes »pacte
autobiographique« vom poetischen Pakt: »Der implizite poetische Pakt ist also die textim-
manente Struktur eines jeden Gedichtes, in dem ein poetisches Ich als Aussagesubjekt und
damit in der Funktion des poeta auftritt. Er führt dazu, die Äußerungen des Ich für Äuße-
rungen des empirischen Autors zu halten« (Fischer 2007, 73).
6 Vor ihm sind dies insbesondere Käthe Hamburger und Heinrich Henel.
Iris Hermann
114
folgt so noch Aristoteles Mimesiskonzeption, der kein Wahrheitsge-
bot, sondern ein Plausibilitätsgedanke zu Grunde liegt.7
Margret Susman hat diesen Gedanken schon 1910 zum ersten Mal
systematisch durchdacht und auf die Frage, wer denn nun dieses Ich
sei, das sich im Gedicht artikuliere, mit der Konzeption eines lyri-
schen Ich geantwortet und damit einen Begriff geprägt, der auch noch
fast 100 Jahre später wie selbstverständlich verwendet wird (Susman
1910).8 Susman hatte dort die Position des Ich in der Lyrik vom rea-
len Ich des Autors bzw. der Autorin streng unterschieden. Das Ich in
der Lyrik sei kein Ich im wirklichen Sinne, sondern Ausdruck und
objektive Form eines Ich.9
Selbst dort, wo konkrete Erlebnisse als poetisches Schwungrad an-
genommen werden können (immer wieder zitiertes Beispiel: Will-
kommen und Abschied von Goethe), ist das lyrische Ich in erster Linie
als eine Instanz zu betrachten, eine Position, von der aus formuliert
wird. Das lyrische Ich markiert die Perspektive eines Ich im lyrischen
Text. Diese Instanz kann dabei, unabhängig von dem Ich, das sie
geschaffen hat, jede nur zu imaginierende Rolle einnehmen. Ist es bei
Goethe in den Römischen Elegien die Rolle des liebenden Mannes, so
wird auch hier deutlich, wie exemplarisch ein solches Ich aufgefasst
werden kann, als Liebender nämlich. Wo im Gedicht ein Ich imagi-
niert wird, das eine bestimmte Rolle einnimmt, eine Maske sozusagen
aufsetzt und die Sprechinstanz in einer mitunter vorgefertigten Weise
inszeniert, womöglich als eine historisch vorgegebene Rolle, ist ein
so genanntes Rollengedicht entstanden. Auch in der zeitgessischen
Lyrik bieten Rollengedichte eine besonders akzentuierte Möglichkeit,
ein Ich zu entwerfen, wie das folgende Beispiel eines aktuellen Ge-
dichtes (2008) von Robert Schindel zeigt:
»Amfortas
Es breitet sich das Körperfremde im Körper aus
7 Zur neueren Mimesisforschung s. Taussig 1997, Helm 2002, Auerbach 2001, Metscher
2004, Gebauer/Wulf 1992.
8 Zwischen 1970 und 1990 begeben sich viele Untersuchungen in das von Susman aufge-
zeigte Fahrwasser: Pestalozzi (1970), Peper (1972), Müller (1979), Gnüg (1983), Sorg
(1984), Kaiser (1988) und Feldt (1990). Vgl. dazu auch Schiedermair 2004, 34.
9 Burdof weist sicher zu Recht darauf hin, dass diese Auffassung heute als zu idealistisch
gedacht zurückzuweisen wäre, betont aber ebenso nachdrücklich, dass diese sorgsame
Differenzierung zwischen empirischem Ich und lyrischem Ich in der Folge nicht mehr
unbeachtet bleiben konnte, wollte man nicht noch idealistischer bei Hegel verweilen, der in
seinen Ästhetik-Vorlesungen davon ausging, dass das Dichter-Ich in sein eigenes Inneres
hinabsteigt und von diesem Sich Bewusstwerden in der Dichtung berichtet.
Formen der Figur in der Lyrik
115
Macht eine Strichpunktexistenz aus meinesgleichen
Wird mich in Allerseelenruhe gar nicht mehr erreichen
Ich seh mich aufgesattelt letztes Mal als Kichergraus
Es greift mein Atemüberschwangeres sich in die
Schmerzensspeichen
Ich pass. Ich ziehe Linien nach, bin abgezappelt
Vom süßen Mutterweib. Ich seh auf Murks und
Gralbleiglas
Indes die Frommen der Natur davongedabbelt
Komm ich im Haufen an. Da bin ich und das wars«
(Schindel 2008, 30).
Das Ich spricht in der Rolle der Amfortasfigur aus Wolfram von
Eschenbach Parzival und ist deutlich als kranker, vor allem aber auch
alternder Gralskönig inszeniert. Die Schreibweise von »Amfortas«
(und nicht »Anfortas«) schließt in diese Rolle die Wagnersche Re-
zeption mit ein. Innerhalb der Rollenkonzeption agiert das Amfortas-
Ich aber mit allen möglichen Freiheiten, es geht in der genannten
Rolle nicht auf, sondern nutzt den Rollenkontext, um innerhalb einer
Altersklage das Rollenvorbild eines der großen Leidenden der Welt-
literatur als Anspielungskontext zu nutzen. Das ist sicher ein Entindi-
vidualisierungskonzept, gleichwohl liegt das Exemplarische des
Textes auf der Hand. So gesehen, sind gerade moderne Rollenge-
dichte in der Lage, die angestrebte Rolle nicht nur zu vergegenwärti-
gen, sondern in Hinblick auf neue, so noch nie gesehene Aspekte zu
erweitern. Hier ist der leidende Gralskönig ein »Kichergraus«, der
sich in großer Selbstironie zu seinem letzten Liebesabenteuer ausrei-
ten sieht und, moderner, als es Wolfram von Eschenbach möglich
war, mit resignativem Gestus zu versehen.10
Ist hier noch eine anthropomorph anmutende Gestalt eines Ich
imaginiert, so zeichnen sich die meisten Gedichte eher durch etwas
anderes aus: Dadurch nämlich, dass sie ein Ich setzen, das funktiona-
ler zu betrachten wäre, d. h. als funktionales Bauelement des Textes.
Um diese Funktionalität näher zu zeigen, ist es notwendig, über die
sprachliche Bedeutung des Ausdrucks Ich nachzudenken. Das Kon-
zept der Deixis bietet die beste Möglichkeit dazu. Deixis stammt vom
griech. »deikmyni«, »ich zeige«. Die moderne Deixisforschung11 hat
10 Siehe dazu Hermann/Schumacher 2007.
11 Während die Deixis ein etabliertes Konzept in der Linguistik darstellt und dort eine breite
Forschungsaktivität entfaltet hat, sind es in der Literaturwissenschaft nur einige wenige
Iris Hermann
116
weniger vom pragmatischen Ansatz eines Charles S. Peirce oder dem
der Logik verpflichteten Ansatz von Bertrand Russell übernommen,
als vielmehr den sprachpsychologisch orientierten Ansatz Bühlers
rezipiert, so wie er ihn 1934 vor seiner erzwungenen Emigration in
den USA in seiner Sprachtheorie niedergelegt hatte.
12 Vor allem
Konrad Ehlich knüpft an Bühler an und formuliert in diesem Kontext
eine Theorie sprachlichen Zeigens. Dieses sprachliche Zeigen ver-
wirklicht sich insbesondere im Gebrauch der Zeigewörter, die in den
meisten Sprechsituationen eine dominierende Rolle spielen. »Die
Funktion der deiktischen Ausdrücke, zu denen ›ich‹ zählt, besteht [...]
auf Seiten des Sprechers in der Neufokussierung und auf Seiten des
Lesers in der Orientierung« (Schiedermair 2004, 82).
Kaspar Spinner entwirft, in Anlehnung an die oben genannten
Konzepte, das Ich im Gedicht als eine Leerdeixis. Das so aufgefasste
Ich ist Ausgangspunkt eines mit ihm verbundenen Zeigens und mar-
kiert so eine Position, die von den Lesenden erst noch ausgefüllt wer-
den muss. Diese rezeptionsästhetische Überlegung verlangt vom Le-
seprozess, das Gedicht in der Perspektive wahrzunehmen, die durch
das lyrische Ich angezeigt wird und dann in einer Art Probehandeln,
die so von ihm gezeigten Raum- und Zeitstrukturen eidetisierend zu
realisieren: »Das Ich im Gedicht ist also unter doppeltem Aspekt zu
sehen: im Sinne der Autoreflexivität des Textes bezogen auf den
innertextlichen Funktionszusammenhang, im Sinne seiner kommuni-
kativen Rolle als Element, das den Rezeptionsvorgang steuert«
(Spinner 1975, 18f).
Das Gedicht gibt mit der Ichfigur seine zentrale Positionierung an,
die Lesenden sind aufgerufen, diese Leerdeixis mit ihren Erfahrun-
gen, Erwartungen und Wahrnehmungen zu füllen. Hans Robert Jauß
geht so weit zu sagen, dass das Gedicht »wie eine Partitur [zu be-
trachten ist], auf die immer erneute Resonanz der Lektüre angelegt,
die der Text zu aktuellem Dasein bringt« (Jauß 1979, 129). Jauß ist
insbesondere dort zuzustimmen, wo der Autor oder die Autorin in
Lesungen ihre Gedichte erklingen lassen, manche sie sogar regelrecht
aufführen. Hier ist es die Präsenz der Stimme, die die Positionierun-
gen des Gedichtes deutlich werden lässt: Die Leerdeixis wird dann
Arbeiten, die versuchen, insbesondere den sprachphilosophischen Ansatz Konrad Bühlers
für die Erforschung der Lyrik nutzbar zu machen, siehe dazu insbesondere Spinner (1975)
und Krusche (2001).
12 In Deutschland wird Bühlers Sprachtheorie erst spät aufgenommen, nachdem er 1938 vor
dem Naziregime in die USA fliehen musste. Sie setzt erst 1965 ein (vgl. Wunderlich 1969,
53).
Formen der Figur in der Lyrik
117
nicht nur von den stumm Lesenden gefüllt, sondern schon von der
Stimme des Autors akustisch wahrnehmbar gemacht.
Das lyrische Ich Margaret Susmans ist von denen, die sie weitge-
hend zustimmend rezipiert haben, weiter ausdifferenziert worden.
Erkenntnistheoretisch motiviert entwirft etwa Ulrich Charpa sein
lyrisches Ich, das er allerdings poetisches Ich nennt, als persona per
quam. So bekommen die Lesenden vorgeführt, was es für ein Subjekt
bedeuten mag, es selbst zu sein (vgl. Charpa 1985, 167).13 Dieter
Burdorf plädiert schließlich dafür, den Begriff des lyrischen Ich fallen
zu lassen und ihn durch die Wendung artikuliertes Ich zu ersetzen.
Von ihm grenzt er das Textsubjekt ab:
»Das Textsubjekt ist ein analytisches Konstrukt, das not-
wendig ist, um dem Gedicht als einem poetischen Text
eine kohärente Bedeutung und einen literarischen Eigen-
wert zuschreiben zu können, der weder in den Aussagen
des artikulierten Ich noch in den außertextlichen Willenbe-
kundungen des empirischen Autors aufgeht. Das Textsub-
jekt ist daher zwischen dem im Text zur Sprache kommen-
den Ich und dem realen Produzenten des Textes anzusie-
deln; es strukturiert die Perspektive des Gedichts und setzt
das Ich, ohne mit ihm identisch zu sein« (Burdorf 1997,
195).
Burdorf räumt aber auch ein, dass es mitunter schwer fällt, ein Ich,
das als einziges im Gedicht vorkommt und nicht als Rollen-Ich iden-
tifizierbar ist, vom Textsubjekt zu unterscheiden. Frühere Genera-
tionen hat es dazu verleitet, dieses Ich auf das empirische Autorsub-
jekt zu beziehen. Das ist gerade auch immer dort der Fall, wo ein
Gedicht in erster Linie poetologisch und selbstreflexiv argumentiert,
wie zum Beispiel das folgende Gedicht von Ingeborg Bachmann, das
lange als Indiz dafür galt, das Ende der Lyrikproduktion der Autorin
anzukündigen, obwohl es nachweisbar nicht ihr letztes Gedicht war
(vgl. Kaulen 1991). Der Anfang lautet:
»Nichts mehr gefällt mir.
Soll ich
13 Ähnlich auch Karlheinz Stierle, der das lyrische Ich als Identifikationsfigur begreift, die
es den Lesenden ermögliche, einen Ich-Entwurf von innen zu erfahren (vgl. Stierle 1979,
522).
Iris Hermann
118
eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen
über so überflüssige Dinge?« (Bachmann 1978, 172f).
Burdorf weist in Anlehnung an Kaulen zu Recht darauf hin, dass es
weit darüber hinaus reicht, die Abkehr Bachmanns von der Lyrik
einzuläuten, als vielmehr eine generelle Überlegung zur Schwierig-
keit, in den späten 1960-Jahren Lyrik zu verfassen, darzustellen.
Das Textsubjekt und das artikulierte Ich scharf trennend, unter-
scheidet Burdorf drei grundlegende Funktionen der Verwendung des
artikulierten Ich: 1. ein radikal subjektives Erlebnis-Ich 2. ein poeto-
logisches Ich und, 3. ein abstraktes, über allgemein menschliche Fra-
gen reflektierendes Ich (Burdorf 1997, 198).
Zumindest noch ein Punkt ist zu bedenken, wenn man das poeti-
sche oder lyrische Ich in den Blick nimmt. Es ist nicht davon auszu-
gehen, dass man, wie das oft geschieht, von einem ganzen, integralen
Ich auszugehen hat. Sehr oft spricht das Ich, das sich im Gedicht
artikuliert, von sich selbst als einzelnen Körperteilen (siehe bspw.
Mörikes Im Frühling). Ein dissoziatives Ich, das sich seiner Stück-
haftigkeit bewusst ist, wie die Psychoanalyse nahe legt14, ist der
häufiger anzutreffende Normalfall des Ich im Gedicht als ein als
Ganzheit vorgestelltes. Renate Böschenstein hat in diesem Zusam-
menhang den Begriff des Mantel-Ich geprägt: »Das Pronomen ›ich
kann also eine Art Mantel-Ich bezeichnen, das verschiedene Ich-Teile
einhüllt, wie auch solche Teile selber. Dazu treten die distinkten Na-
men einzelner, eine gewisse Autonomie gewinnender Teile«
(Böschenstein 1990, 74). Noch wichtiger als diese Begriffsfindung
scheinen mir die bei Böschenstein konzipierten Fragen zu sein, die
sie in Hinblick auf das Ich in lyrischen Texten zu stellen empfiehlt:
»1) Wie verhält sich, was formal als Ich auftritt, zum Ich
als Ganzheit und zu dessen Teilen?
2) Wie ist die Ich-Instanz beschaffen, die vorhanden sein
muss, damit das Ich gesprochen werden kann?
3) Muß die Evokation der Stückhaftigkeit des Ich notwen-
14 Vgl. etwa den Artikel Ich in Das Vokabular der Psychoanalyse (Laplanche/Pontalis
1975).
Formen der Figur in der Lyrik
119
dig eine Zerfallstendenz anzeigen, oder kann sie vielleicht
sogar positive Möglichkeiten nutzen?« (Böschenstein
1990, 74).
Es sind solche Fragen (und womöglich noch andere, von Gedicht zu
Gedicht verschiedene), die es ermöglichen, die Ich-Figur in der Lyrik
möglichst differenziert wahrzunehmen, in seiner Teilestruktur, die ein
Ich hervortreten lässt, das selten eine Person entwerfen, als vielmehr
einen Punkt fixieren möchte, auf den sich die gedanklichen Bewe-
gungen im Gedicht beziehen. Beispiele dafür finden sich nicht nur in
der Moderne, sondern schon bei Sappho (vgl. Böschenstein 1990,
79ff), aber auch im Barock bei Catharina von Greiffenberg:
»Du treuer Augensafft! Wann ich schier gar verschmachte /
In Ohnmacht sink dahin / so spritztu ins Gesicht.
Du bist bey mir / wann ich bin bey mir selber nicht.
Sonst alle Labnuss ich / nur deine nicht / verachte.
[…]
Du trauer = saure flut / mein Leben mir verkürze!
ihr Thränen / trennet mich von diesem jammer Ort!
Als Perlen / Diamant werdt ihr mich zieren dort«
(von Greiffenberg 1967, 54).
Die Tränen nehmen hier eine Sonderstellung ein, sie gewähren dem
Ich ein Wissen von sich selbst, selbst dann, wenn ihm ein Bewusst-
sein seiner selbst fehlt. Sie können das, weil sie allegorisch auf die
göttliche Belohnung im Jenseits verweisen und weil sie zudem als
Reaktion auf seelische Pein eine körperliche Reaktion aktivieren.
Renate Böschenstein weist an dieser Stelle den Tränen die Mantel-
Ich-Funktion zu, d.h. die Fähigkeit, ein fast personal ausgestaltetes
Ich-Bewusstsein aufrechtzuerhalten.
Die vielleicht extremste Position, die das Ich im Gedicht einzuneh-
men in der Lage ist, ist die eines Ich im Angesicht des Todes, wie das
letzte Gedicht Rilkes zeigt:
»Komm du, du letzter, den ich anerkenne,
heilloser Schmerz im leiblichen Geweb:
wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne
in dir; das Holz hat lange widerstrebt,
der Flamme, die du loderst, zuzustimmen,
Iris Hermann
120
nun aber nähr' ich dich und brenn in dir.
Mein hiesig Mildsein wird in deinem Grimmen
ein Grimm der Hölle nicht von hier.
Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg
ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen,
so sicher nirgend Künftiges zu kaufen
um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg.
Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?
Erinnerungen reiß ich nicht herein.
O Leben, Leben: Draußensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt«
(Rilke 1996, 412).
Das Ich ist trotz seiner Todesqual noch eines, das das Reflektieren der
eigenen Befindlichkeit aufrechterhalten kann. Es ist sich aber bis zu
dem Punkt fremd geworden, dass es sich in dieser auf die Empfin-
dung des Schmerzes reduzierten Sicht nicht mehr zu erkennen ver-
mag. Die einzelnen Ich-Teile werden im Verfall erlebt, dennoch, und
das ist das Erstaunliche, vermag selbst ein solchermaßen gestaltetes
Ich an einer Identität festzuhalten, die es ihm erlaubt ›Ich‹ zu demje-
nigen zu sagen, der den Schmerz in diesem extremen Maße erlebt.
Funktionen der zweiten und der dritten Person im Gedicht
Längst nicht so häufig wie das lyrische Ich taucht in manchen Ge-
dichten eine Resonanzstruktur des Ich in Form eines Du auf. Das Ich
steht somit nicht alleine in einer entpersönlichten Welt, sondern es
wendet sich an ein Gegenüber, das allerdings, anders als in anderen
literarischen Gattungen, auch als Emanationen des reflektierenden Ich
betrachtet werden kann. Brigitta Coenen-Mennemeier hat das von ihr
als Pendant zum lyrischen Ich so bezeichnete lyrische Du als »Inkar-
nation der Alterität« verstanden, und es in seiner Funktion des (text-
externen15 oder textinternen) Adressaten, als grundsätzlich offen be-
schrieben.
Das bedeutet, dass es sehr unterschiedliche Ausprägungen anneh-
men, bis hin als Teil des Inneren des Ich fungieren kann (vgl.
15 Um den soll es hier allerdings weniger gehen, da so der Status des Textes hin zur Außen-
welt überschritten wird. Gegenstand ist die Form der Figur in der Lyrik, also innerhalb
ihres Imaginationsraums.
Formen der Figur in der Lyrik
121
Coenen-Mennemeier 2004, 11f). Im Folgenden sollen diese beiden
grundsätzlichen Typen des lyrischen Du beschrieben werden.
Das lyrische Du als Sprechen zu einem textinternen Adressaten
In vielen Fällen spricht das lyrische Ich mit dem Du einen potenti-
ellen Leser des Gesagten an. Insbesondere in der Vanitas-Lyrik des
Barock sind Gedichte entstanden, die sich im Du an Ich und Leser /
Leserin wenden: »Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erde
heißt es etwa in Gryphius Sonett Eitelkeit, das an jeden einzelnen
Menschen appelliert, sich mit der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit
des Menschen auseinanderzusetzen. Im weiteren Verlauf des Ge-
dichtes wird aus dem Pronomen Du ein uns und wir, zuletzt der
Mensch. Das Du hat hier die Funktion, das Erkannte zu verallgemei-
nern, zu allegorisieren, wie das bekannte Abendlied von Matthias
Claudius verdeutlicht:
»Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn«
(Claudius 1783, 57f).
Die Adressatenfunktion des Gedichtes ermöglicht hier, die Menschen
im Allgemeinen anzusprechen, wen immer auch Claudius im Blick
gehabt haben mag. Es wird manches Mal mehr als deutlich, dass der
Adressatenbezug dazu benutzt werden kann, dem Gedicht eine Di-
daktik mitzugeben. Diese Funktion wird von Schiller gerne genutzt,
aber auch in so enigmatischen Gedichten wie Goethes Gedicht Selige
Sehnsucht finden sich in der Ansprache moralistisch wirkende Funk-
tionen:
»Und so lang du das nicht hast,
Dieses: stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde«
(Goethe 1994, 24f).
Iris Hermann
122
Eine solche Aufklärungsfunktion bis hin zur Propaganda findet sich
in gesteigerter Form auch bei Bertolt Brecht, vor allem in seinem
Gedicht Gegen Verführung, das mit dem Vers beginnt: »Lasst Euch
nicht verführen!« (Brecht 1982, 157). Gewählt wird dafür der Impe-
rativ, die Funktion ist die Aufklärung der Massen, das politische Ziel
die Desillusionierung der leeren Versprechen.
Auch wenn Gottfried Benn 1951 in seiner Rede Probleme der Ly-
rik insbesondere den monologischen Charakter der modernen Lyrik
betont hat, kann davon so generell nicht die Rede sein. Einen viel
beachteten Einspruch gegen solch falsche Pauschalisierung verein-
zelter Beobachtung stellt zum Beispiel Paul Celans Dankesrede zum
Erhalt des Büchnerpreises (1958) dar, die in erster Linie poetologisch
argumentierende Meridianrede. In ihr geht Celan von einer grundle-
genden Dialogizität des Gedichtes aus, so umkämpft und schwierig
sie sich auch gestalten möge. Seine Lyrik entspricht dem von ihm
hier Dargelegten genau, fast immer wendet sich dort das lyrische Ich
an ein Du, nicht zuletzt dann, wenn es sexuell konnotiert ist (vgl.
dazu Hermann 2006, 261ff). Verbunden ist damit zudem eine Anrede
der Toten an die Überlebenden, eine Tradition, die sich etwa auch bei
Villon findet (im Lied der Gehenkten, vgl. Coenen-Mennemeier
2004, 54f), in ähnlicher Form wenden sich bei Nelly Sachs auch die
Überlebenden an eine nicht näher als Kollektiv definierte Gemein-
schaft:
»Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne,
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt«
(Sachs 1961, 50f).
Es wird an dieser Stelle deutlich, dass die Shoah und ihre Auswir-
kungen eine ganz eigene Funktion, Du oder Euch zu sagen, hervorge-
bracht hat. Es ist deutlich zu sehen, dass die Anreden sich prekär
gestalten, so als müsse erst geklärt werden, an welches Du die Ich-
Instanz sich richtet: an ein Du, das das Schicksal teilt oder an ein
solches, das dieses Schicksal verschuldet hat: Von den Tätern aber ist
doch zumeist in der ›Er-Form‹ die Rede, eine direkte Anrede ist nor-
malerweise kaum möglich.
In manchen Fällen führt die Einführung des Du dazu, dem Gedicht
einen intertextuellen Kontext mitzugeben. Das ist dort explizit der
Formen der Figur in der Lyrik
123
Fall, wo ein Gedicht eine Widmung trägt und diese Widmung einem
Kollegen, einer Kollegin gilt und dessen Werk sozusagen hineinragen
lässt in das eigene Gedicht.16 Auch dort fällt es wohl schwer, das Du
mit der empirischen Person, die sich hinter der Widmung versteckt,
gleichzusetzen. Es ist methodisch auf jeden Fall neutraler, das sol-
chermaßen angesprochene Du im Werkkontext und nicht vorschnell
und unreflektiert als persönlichen Konnex zu begreifen. Reizvoll ist
die Du-Figur auf jeden Fall deshalb, weil sie wiederum das Ich kontu-
riert. Eine entscheidende Größe ist dabei, welchen Intimitätsgrad Ich
und Du entwickeln, wie sehr sie aufeinander hin entworfen sind, ja ob
sie sogar, wie das bei Goethes Buch Suleika aus dem Westöstlichen
Diwan der Fall ist, in einer Wechselrede sprechen, die beide Stand-
punkte gegeneinander führt. In ähnlicher Weise lässt sich dies auch
andernorts in der Goethezeit als Kompositionsmöglichkeit bemerken,
so etwa auch in Karoline von Günderrodes Gedicht Wandel und
Treue.
Eine der am häufigsten verwendeten Figurenausprägungen des ly-
rischen Du sind göttliche Figuren. Ein christlicher Hintergrund ist gar
nicht nötig, um sich die Vielzahl der göttlichen und himmlischen
Anrufungen vorzustellen, die in der Lyrik insgesamt verwendet wer-
den. Zwei Beispiele mögen genügen, um diese Vielfalt zu illustrieren.
Der Abstand, den das lyrische Ich zu dem Gott spürt, von dem es sich
dennoch oder gerade seine Erlösung erhofft, könnte nicht größer sein:
»Aus tiefster Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohren kehr zu mir
Und meiner Bitt sie offen.
Denn so du willst das sehen an,
Was Sünd und Unrecht ist getan,
Wer kann, Herr, vor Dir bleiben?«
(Luther 1953, 229).
In Luthers Rezeption des 130. Psalms wendet sich das Ich an Gott in
einer ausweglosen Situation. So übergroß die Du-Figur Gottes er-
scheint, so vehement erfolgt der Anruf. In solchen Anrufungen an
eine transzendentale Instanz kommt der deutlichste Abstand zwischen
16 Ein Beispiel ist das Gedicht Einweißen in Wundwurzel von Robert Schindel (2005), das
er Sabine Gruber gewidmet hat, deren erster Roman Aushäusige im Gedicht Schindels an
programmatisch wichtiger Stelle einen Resonanzboden findet.
Iris Hermann
124
Ich und Du im Gedicht zum Ausdruck. Das ist auch dort der Fall, wo
von einem positiven Gottesbild nicht mehr die Rede sein kann, etwa
in Paul Celans Tenebrae:
»Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
Gegriffen schon, Herr,
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
Bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah«
(Celan 2000, 163).
Auch hier ist die Du-Figur eine göttliche Figur, aber die Wir-Figuren
haben sich an dessen Stelle gesetzt: Mit dem immer wieder formu-
lierten Anruf ist keine Hochachtung verbunden, sondern die Auffor-
derung, zum Wir zu beten. Beide, das Wir und der Herr, stehen auf
einer Stufe, denn beide sind Opfer blutigen Mordens. So führt der
Formen der Figur in der Lyrik
125
Anruf an die göttliche Instanz zu einer nur wenig verborgenen Theo-
dizeeproblematik: Ein Gott, der die Shoah geschehen ließ, muss sich
nun gefallen lassen, von den Menschen, die dieses Martyrium erdul-
den mussten, welches dem des Menschensohnes in nichts nachstand,
auf eine Stufe gestellt zu werden: Menschliches Wir und göttliches
Du erleben die gleiche Ohnmacht. Das göttliche Du hat an Autorität
eingebüßt, seine Transzendenz verloren.
Das lyrische Du als Selbstadressieren des lyrischen Ich
Länger schon als in der Prosa, ist es in der Lyrik üblich, dass das Ich
die Rede an sich selbst richtet und dafür das Pronomen Du benutzt.
Die Adressatenfunktion richtet sich an ein eigenes Inneres, etabliert
also mitnichten eine personal andere Identität, sondern erweitert die
Facetten des Ich um viele Möglichkeiten. Im lyrischen Du ist somit
die Funktion verborgen, der Ich-Instanz eine Möglichkeit der Selbst-
reflexion zu gestatten. Dies ist vor allem dort der Fall, wo solche
Selbstbefragungen einen großen Raum einnehmen wie etwa bei
Baudelaire und Rimbaud. Damit ist manches Mal eine Aufspaltung
verbunden, Rimbauds berühmtes »Je est une autre« ist ein kompri-
mierter Ausdruck dessen, was in seiner Lyrik grundsätzlich diskutiert
wird: Entwürfe eines Ich, das sich ebenso aus zusammen- wie aus
entgegengesetzten Teilen gefügt erlebt. Möglich ist dabei aber auch,
dass sich durch solche Personifizierungen ganz grundsätzliche Di-
chotomien allegorisierend darstellen lassen.
Im Kontext der Klassischen Moderne ist etwa bei Georg Trakl zu
beobachten, dass das in seinen Gedichten verwendete Ich nahezu
immer als Du angeredet wird. So erscheint dieses als Ich zu identifi-
zierende Du viel distanzierter, als wenn es sich unproblematisch als
Ich anreden ließe. Die inneren Beobachtungen werden so in einen
Imaginationsrahmen gestellt, der es ermöglicht, auch im Kontext mit
Dingen und Tieren, die Melancholie, die dem Traklschen Werk eigen
ist, auszuleuchten. Als Du angesprochen, lässt sich das Ich zudem
aufspalten (vgl. Böschenstein 1990). Zudem kann die Du-Figur im
Gedicht auch dazu verwendet werden, eine persönlichere Form dafür
zu finden, als ›man‹ zu sagen.
Auch wenn es relativ selten der Fall ist, gibt es Gedichte, in denen
die dritte Person überwiegt, bzw. auch alleine vorkommt. In vielen
Balladen, Lehrgedichten (Albertsen 1967), Tiergedichten, Naturge-
dichten (G.E. Grimm 1984) hat die dritte Person unterschiedliche
Iris Hermann
126
Funktionen zu erfüllen. In der Ballade, die erzählend verfährt, taucht
in der Regel ein Erzähler in der dritten Person auf, eine solche Ver-
wendung ist gattungsübergreifend zu betrachten: Die Erzähler in
Ballade und Novelle ähneln einander, beide erzählen von einem auf-
fälligen Ereignis mit großer emotionaler Beteiligung.
Die ausschließliche Verwendung von der dritten Person in einem
Gedicht wirkt leicht eintönig und ist vor allem im sogenannten Ding-
gedicht (W.G. Müller 1995) der Fall. Den Terminus hatte 1926 Kurt
Oppert geprägt, und als Funktion des Dinggedichtes die episch-ob-
jektive Beschreibung eines Seienden herausgestellt. Die berühmtesten
Dinggedichte stammen von Rilke, der in einigen seiner Neuen Ge-
dichte von 1907/08 Gedichte diesen Typus vorlegt, der nach ihm fast
komplett verschwindet. Vor Rilke sind es insbesondere Mörike (Auf
eine Lampe) und Conrad Ferdinand Meyer (Der römische Brunnen),
die Dinggedichte geschrieben haben. Dinggedichte ermöglichen es,
die geschilderten Dinge mit großer Symbolik aufzuladen, darin liegt
ihr (mitunter monotoner) Reiz.
Von Rilke stammt das womöglich berühmteste Tiergedicht: Der
Panther. An diesem Beispiel, das in jedem Lesebuch steht, wird deut-
lich, wie sehr jemand in der Lage sein kann, sich in ein Drittes hin-
einzuversetzen. Menschliche und tierische Wahrnehmung werden so
eng zusammengeführt, dass sie sich weniger unterscheiden als viel-
mehr gegenseitig kommentieren und so erhält das Panthergedicht den
Charakter einer Parabel. Auch hier weist die Verwendung der dritten
Person Parallelen auf zu ihrer Nutzung in einer Parabel o.ä. Prosa-
texten. Es ist nicht Objektivität, die mit der Verwendung der dritten
Person in der Lyrik erreicht werden soll. Besonders Rilkes Gedichte
zeigen auf, dass die dritte Person eine subjektive Sicht auf diese
Dinge oder auch Menschen nicht ausschließt. Dieter Burdorf sieht
hierin Parallelen zur erlebten Rede in der Prosa (Burdorf 1997, 212).
Formen der Figur in der Lyrik
127
Die sprachliche Realisierung von Ich und Du im Gedicht
Die beiden Hauptfiguren lyrischen Sprechens sind natürlich nur
sprachlich vorhanden, es ist die sprachliche Verwendung allein, die
ein Ich und ein Du modelliert. Es kommt darauf an, die sprachlichen
Mittel daraufhin zu untersuchen, wie sie eine Ich-Position, bzw. eine
Du-Position markieren. Burdorf unterscheidet in diesem Kontext die
folgenden sprachlichen Mittel: Eigennamen, Anredeformeln, Impera-
tive, Wunsch- oder auch Fragesätze, in erster Linie aber die Personal-
pronomina und die zu ihnen gehörigen Possessivpronomina.
In diesem Kontext sei noch einmal auf Kaspar Spinner verwiesen,
der angelehnt an Karl Bühlers Sprachtheorie darauf aufmerksam
macht, dass das Pronomen Ich keinen derartigen Inhalt meint, son-
dern vielmehr innerhalb einer Redesituation auf den jeweiligen Spre-
cher verweist (Spinner 1975, 12). Hier ließe sich auch an Wittgen-
stein denken, der im ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen
zu bedenken gibt: »›Ich‹ benennt keine Person, ›hier‹ keinen Ort,
›dieses‹ ist kein Name. Aber sie stehen mit Namen in Zusammen-
hang. Namen werden mittels ihrer erklärt« (Wittgenstein 2001, 921).
Womit korrespondieren die Formen der Figuren
in der Lyrik?
Wie es sich bei Wittgenstein schon andeutet, korrespondieren die
Formen der Figuren in der Lyrik mit grundsätzlicheren philosophi-
schen Überlegungen zu Ich und Du, ohne dass sich allerdings zwei-
felsfrei sagen ließe, welcher Art diese Korrespondenzen genau sind.
Es lässt sich aber feststellen, dass eine Theorie über Lyrik immer
auch theoretische Aussagen über Individualität, Subjektivität, über
Ich- und Du-Entwürfe, impliziert. Davon ausgehend, dass die Spra-
che nicht auf eine hinter der Sprache vorhandene Wirklichkeit refe-
riert, sondern die Sprache lediglich die Illusion einer hinter ihr lie-
genden Wirklichkeit erzeugt, betont Paul de Man die rhetorische
Struktur der Sprache und bestimmt in diesem Kontext die Prosopo-
pöie als die der Lyrik zu Grunde liegende Rhetorik. Die Prosopopöie
ist die rhetorische Figur, die Abwesenden und Toten eine Stimme
verleihen kann (de Man 1993, 141). So gesehen, vermittelt Lyrik die
Illusion, hinter ihrer Sprache, hinter ihrem Sprechen, verberge sich
ein Subjekt. Die Prosopopöie kann zudem auch als die Funktion be-
Iris Hermann
128
trachtet werden, die es den Lesenden ermöglicht, sich unter dem Ge-
sagten eine Person vorzustellen, manchmal so lebendig, dass deren
illusionärer Charakter in Vergessenheit tritt (Menke 1993).
Wie anthropomorph also ist das lyrische Ich zu denken? Lässt sich
jenseits einer fest gefügten Subjektivität eine Individualität im Ge-
dicht denken? Renate Böschenstein bezeichnet mit der Metapher vom
Mantel-Ich die fragile und nur vorübergehend Einheit herstellende
Ummantelung verschiedenster Fragmente. Anselm Haverkamp denkt
Individualität in der Lyrik im Sinne einer »kryptischen Subjektivität«,
und damit letztlich nicht als Figur, sondern als Spur im Sinne von
Levinas (Levinas 1983). Was bedeutet dies im hier entfalteten Kon-
text der Figur in der Lyrik? Haverkamp geht von einer melancholi-
schen Ich-Figur aus, die eine Trauerarbeit im Sinne Freuds und
Benjamins zu bewältigen habe. Diese Figur stelle eine Subjektivität
her, die darauf beruht, dass sie sich als fingierende herstellt:
»Als melancholisches [...] trägt es das Stigma einer bloß
›fiktiven Einzigartigkeit‹, einer im Akt des Fingierens her-
gestellten Subjektivität, die über ihre ›Dezentrierung
ebenso notwendig sich hinwegtäuscht, wie sie sie darstellt
und in der Darstellung thematisch macht. Der ›individu-
elle‹ Ausdruck, mit anderen Worten, den sie zu produzie-
ren vorgibt, verstellt zwangsläufig, was er postuliert. Er
reduziert zum individuellen ›Moment‹, was als ›Ausdruck‹
Moment des Individuellen sein soll« (Haverkamp 1988,
355).
Was diese Subjektivität allerdings ausmacht, ist ihre Kryptik, d.h., die
Kommunikation dessen im Gedicht, wovon unproblematisch nicht
mehr die Rede sein kann. Für Haverkamp bedeutet das, gezeigt etwa
an Hölderlins letzter Hymne Mnemosyne, dass die Sprache sich nicht
jenseits vom Subjekt aufhält, sondern an seiner Stelle redet. Wo diese
melancholische Sprache sich artikuliert, betrauert sie den Tod der von
ihr vorgestellten Figuren und so letztlich deren Scheitern. Lesen, auch
das Hineinversetzen in diese Figuren, ist dann die Einsicht in ihre
Unlesbarkeit. Das ist für Haverkamp die grundlegende Signatur des
Anthropomorphismus der Figuren in der Lyrik mit und nach Hölder-
lin: ihre Melancholie.
Formen der Figur in der Lyrik
129
»Was die Dichter stiften im Anthropomorphismus der lyri-
schen Stimme, ist was nach aller Enttäuschung bleibet im
Zeichen. Was Hölderlin ›jenseits des Subjekts‹ führt mit-
hin, ist die Ent-täuschung (oder De-konstruktion) des
Menschen als Echo, der lyrischen Melancholie als Anthro-
pomorphismus« (Haverkamp 1988, 382).
Haverkamp hat hier die Einsichten der Linguistik, dass die Figur eher
einen Ort des Sprechens markiert, als eine wirklich ausgestaltete an-
thropomorphe Figur imaginiert, einerseits ernst genommen, indem er
diesen Ort in einem dekonstruktivistischen Kontext als höchst unsi-
cheren beschreibt, andererseits umgeht er sie, indem er noch einmal
fragt, was die Stimme (für ihn durchaus synonym für das lyrische Ich
gebraucht) trotz ihres unsicheren Status in der Lyrik generell kenn-
zeichnet. Weniger philosophisch, als vielmehr angebunden an ein
neueres Medium, das des Chat nämlich, führt Axel Krommer das
lyrische Ich mit dem virtuellen Ich des Chats zusammen.
»Der an die Autoreflexivität gekoppelten Fiktionalität des
lyrischen Ich entspricht in diesem Kontext die Virtualität
der Netzidentität, deren Bezugssystem nur durch die medi-
enimmanente Textbühne des Chats garantiert wird. Diese
strukturelle Gemeinsamkeit impliziert, dass nicht nur das
lyrische Ich, sondern auch das virtuelle Ich als Leerdeixis
aufzufassen ist [...]. Und mit dem Hinweis auf die Simula-
tion einer fremden bzw. ›anderen‹ Blickrichtung ist nicht
nur eine wichtige Funktion des lyrischen Ich, sondern
gleichzeitig auch ein elementarer Wesenszug des virtuellen
Ich genannt« (Krommer 2002, 94f).
Welche figuralen Besonderheiten in im Internet publizierter Lyrik zu
beobachten sind, wäre eine nachdenkenswerte weitere Aufgabe.
Iris Hermann
130
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133
Christoph Jacke
Figurenkonzepte in der Popmusik
Popmusik ist als ständig neu erzeugtes Resultat des massenkommuni-
kativen Prozesses ihrer Produktion, Distribution, Rezeption und
Weiterverarbeitung zu beobachten. Dabei bedienen sich die Akteure
aller Stufen des Prozesses der vier verschiedenen Komponenten von
Medien: Kommunikationsinstrumente, Medientechnologien, sozial-
systemische Organisationen und Medienangebote. Popmusik ist ein
gesellschaftlicher Teilbereich und ebenso ein Teilbereich populärer
Kultur, die hier als derjenige kommerzialisierte, gesellschaftliche
Bereich verstanden wird, der Themen industriell produziert und mas-
senmedial vermittelt, die durch zahlenmäßig überwiegende Bevölke-
rungsgruppen mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet werden.
Im Prozess Popmusik sind Figuren und Personen auf zwei sich
wechselseitig beeinflussenden Ebenen zu analysieren: Textuelle Figu-
ren in den Texten der Popsongs und Personen-Figuren, die als P-
sentatoren und Interpreten auftreten, kurzum die Popmusiker als
Handlungsträger des oben genannten Bereichs der Popmusik. Diese
Popmusiker werden in nicht immer klar zwischen Fiktion und Reali-
tät zu trennenden Geweben von Geschichten, Images und Mythen
konstruiert und können zu Prominenten und Stars avancieren. Die
beiden Figurentypen der Popmusik, also Figuren in den Lyrics und
Personen-Figuren in den Geschichten der Popmusik, werden auf der
Rezeptionsstufe unterschiedlich rekonstruiert in Form von Konsum
seitens der Fans, der wiederum durchaus kreativ zur Produktion neuer
Medienangebote führen kann. Fest gehalten werden kann, dass Pop-
musik ohne diese beiden Figurentypen nur sehr schwierig kommuni-
zierbar wäre und sie aufmerksamkeitsökonomisch die Anker und
Knotenpunkte der popmusikalischen Texte her- und darstellen.
Christoph Jacke
134
Allgemeine Merkmale des medialen Dispositivs
»Pop defined this way thus provides a kind of map of a
changing society just as it maps our own lives, helping
give emotional shape to our memories of childhood,
friendship, love affairs, life changes. And pop becomes too
a resource, a social storehouse from which musicians of all
sorts draw and quote and sample« (Frith 2001, 180).
Popmusik ist ubiquitär. Ebenso weit verbreitet sind unterschiedliche
Auffassungen und Definitionen von Popmusik oder ursprünglich
Populärer Musik. Popmusik wird im Folgenden als Teilbereich von
Populärer Kultur oder kurz Popkultur verstanden. Diese soll wie-
derum als derjenige kommerzialisierte, gesellschaftliche Bereich
definiert werden, der Themen industriell produziert und massenme-
dial vermittelt, die durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungs-
gruppen egal, welcher Schicht oder Klasse zugehörig mit Ver-
gnügen genutzt und weiterverarbeitet werden (vgl. Jacke 2004, 21),
bis hin zur Produktion neuer Medienangebote. Die Akteure der Pop-
kultur stehen unter einem ganz besonderen Innovations- und Zeit-
druck. Das gilt sowohl auf der Produktions- und Distributions- als
auch auf der Rezeptions- und Weiterverarbeitungsebene des massen-
medialen Kommunikationsprozesses. Handelnde der Popkultur zei-
gen sich besonders einfallsreich in Sachen Aufmerksamkeitsökono-
mie vom Mainstream und der von ihm benötigten Dissidenz, also
dem permanenten, prozessualen Gegenüber zwischen Innovation und
Tradition angetrieben. Sowohl die Kommodifizierung der Themen,
Gegenstände und Akteure der Popkultur als auch die Strategien und
Taktiken der alltäglichen Produktion und Rezeption von Kommuni-
kationsangeboten machen den Bereich der Popkultur für die heutigen
Motiv-, Markt- und Werbeforscher so überaus reizvoll:
»Globalization is producing two contradictory effects,
sameness and difference that is, a sense that the world is
becoming similar as it shrinks under the pressure of time-
space compression, but also that it is characterized by an
increasing awareness of difference« (Storey 2003, 114f).
Popkultur dient als Landkarte siehe das Zitat zum Eingang dieses
Kapitels von Simon Frith Popkultur ist ein Seismograph gesell-
Figurenkonzepte in der Popmusik
135
schaftlicher Entwicklungen (vgl. Jacke 2006). Die Handelnden in der
Popkultur operationalisieren diese Attraktion von Differenz in Form
von ständigen Identitätskonstruktionen, die zwischen Anpassung und
Abweichung mäandern. Diese Identitätsarbeiten auf individueller und
sozialer Ebene bereiten den Beteiligten offensichtlich Vergnügen,
Distinktion wird in der Popkultur ständig versprochen. Und hat man
sie gewonnen, gewinnt man auch noch emotionale Genugtuung dazu.
Man unterhält sich.
Unterhaltung soll wiederum als zentraler Fokus der massenmedia-
len Popkultur verstanden werden. Ganz ähnlich definiert der Kom-
munikationssoziologe Joachim Westerbarkey Unterhaltung als
»communication light, […] zwanglose Partizipation« (2003, 13), als
»[…] Schmiermittel für Kommunikationen aller Art und […] gleich-
sam als Katalysator« (ebd., 14). Unterhaltung katalysiert und inte-
griert, weil sie den Sammelpunkt für die Flucht vor der Langeweile
darstellt. Auf der Flucht vor dieser Langeweile verschafft man sich
Entspannung durch Spannung, Ablenkung durch Hinlenkung, Schär-
fung des Verstands durch ostentative Zerstreuung. Vergnügen kann
an jede Handlung gekoppelt sein, ist kein isoliertes Empfinden, son-
dern eine Eigenschaft dieser Handlungen gegen die Langeweile, die
einen Mehrwert an Genuss und Erkenntnis leisten helfen kann, aber
nicht muss. Die »ausstrahlende Eigenschaft« (Shusterman 2006, 90)
von Vergnügen weist bereits auf die Bedeutung der Mitteilung und
Teilhabe, der Kommunikation von Vergnügen hin, die es, auch in der
Popkultur, erst sozial lohnenswert gestaltet und die den Einzelnen
nicht (nur) monadenhaft vor dem Medium isoliert, sondern auch im-
mer wieder in Gruppen einbindet:
»Wenngleich jeder von uns, der eine Kunstausstellung,
einen Film oder ein Rock-Konzert besucht, ästhetischen
Genuss innerhalb seines eigenen Bewusstseins erfährt,
widerspricht dies dem geteilten Charakter unserer Freude
ebenso wenig wie der Tatsache, dass unsere Freude durch
das Gefühl, dass sie geteilt wird, wächst. Ästhetische Er-
fahrung wird durch das Gefühl, etwas Bedeutsames und
Wertvolles zu teilen, intensiviert, und dies beinhaltet das
Gefühl geteilter Freuden« (Shusterman 2006, 90).
Die durchaus aktive Rezeption, Nutzung und Weiterverarbeitung von
Medienangeboten mit sozial-kommunikativ abgeglichenem Vergnü-
Christoph Jacke
136
gen kann demnach als popkulturell verstanden werden.1 Diese Pop-
kultur als Unterhaltung2 ist nun nicht irgendein diffuses Feld, sondern
mittlerweile eine durchorganisierte, institutionalisierte und professio-
nalisierte Unterhaltungsindustrie, nicht erst seit der Partnervermitt-
lung im Internet, sondern spätestens seit ihrer elektronisch-massen-
medialen Verankerung zu den ersten Blütezeiten Hollywoods Ende
des 19. Jahrhunderts. So sind die einzelnen kommerzialisierten Berei-
che der Unterhaltungsindustrien samt der Popkulturindustrie ange-
treten, um Kapital aus der grunddynamischen Flucht vor Langeweile
zu schlagen.
Den Nukleus der Popkultur bildet noch immer die Popmusik.
Daneben können im kulturellen Geschehen auch andere Teilbereiche
beobachtet werden, auf die die oben genannte Definition ebenso zu-
trifft und die sich mit der Popmusik koppeln: Literatur, Kunst, Com-
puterspiele, Design oder Sport sind nur einige der für die Popkultur-
industrien wichtigen Felder. Aus dem ›Mutter‹-Dispositiv Popkultur
schält sich für die anschließenden Ausführungen hier also das eigent-
liche Dispositiv der Popmusik heraus, auf das ähnliche Kriterien wie
auf die Popkultur zutreffen. Auch Popmusik bewegt sich innerhalb
der paradoxen Struktur zwischen Zerstreuung und Ernst3 in ihrer
Produktion, Distribution, Rezeption/Nutzung und Weiterverarbei-
tung.4 Teilt man sensu Siegfried J. Schmidt den massenmedialen
Vermittlungsprozess analytisch in die genannten, sich gegenseitig
bedingenden Bereiche ein, dann gibt es für alle Dimensionen jeweils
in Rollen handelnde Individuen (Akteure), die ebenfalls durchaus
wechselseitig (ob nun direkt oder indirekt) aufeinander einwirken.
Ein übergreifender Blick auf Popmusik und Medien5 ist vonnöten, um
Einseitigkeiten zu vermeiden, vor denen auch schon der Musikwis-
senschaftler Dietrich Helms gewarnt hat:
1 Vgl. zu produktivem Vergnügen Fiske 1990, 49-68 und generell zu Formen des Vergnü-
gens in der Geschichte der Massenkultur Maase 2007.
2 Die oftmals verwirrende Doppeldeutigkeit von Unterhaltung als interpersonaler Kommu-
nikation und Vergnügen fällt beim Begriff der Popkultur allerdings weg (vgl. dazu
Westerbarkey 2003).
3 Hans-Otto Hügel diskutiert diese Ambivalenz seit Jahren ausführlich mit Bezug auf die
Ästhetik von Unterhaltung und Populärer Kultur (vgl. etwa Hügel 2007).
4 Ich schlage hier das Präfix ›Weiter‹ vor, um den Unterschied zur Rezeption von
Medienangeboten noch deutlicher zu machen. Vgl. allgemein Schmidt 1994, 2002 und
aktuell Schmidt/Zurstiege 2007, 63-70, vgl. für den Bereich von Popkultur Jacke 2004.
5 Vgl. dazu ausführlich Jacke 2008a und Jacke 2009.
Figurenkonzepte in der Popmusik
137
»Der Fokus der Popularmusikforschung hat sich von Be-
ginn an statt auf die Frage nach der Aussage eines Stücks
auf die Frage nach seiner Bedeutung für den Rezipienten
konzentriert. Die Untersuchung des Verhaltens von
Musikern und Hörern sowie der Systeme der wechselseiti-
gen Verhaltensorientierung wird zunehmend wichtiger«
(Helms 2003, 225).
Nach Phasen der Konzentration auf die ›Werke‹ der Popmusik wurde
insbesondere mit der Entwicklung einer Popmusikpsychologie und
der Integration von Ansätzen der angloamerikanischen Cultural Stu-
dies die Betonung sozial- und geisteswissenschaftlicher Herange-
hensweisen auf Rezeption und Nutzung deutlich. Währenddessen, so
stellte der schon erwähnte Popmusiksoziologe Simon Frith (2001)
fest, wurde Popmusik ebenso häufig über Verkaufszahlen oder Chart-
Platzierungen definiert. Letztlich verführt der weite Begriff von Pop,
gerade weil er uns so bekannt erscheint, vorschnell zu Konzepten, die
Frith als »slipper (ebd., 168) bezeichnet. Seine an anderen Stellen
(1996, 2003, 2007) geforderte Integration von Musikproduktion und -
nutzung in theoretische Konzepte sowie praktische Ausbildungen
wird in den Überlegungen von Schmidt (aus medienwissenschaftli-
cher Perspektive) und Helms (aus musikwissenschaftlicher Perspek-
tive) geleistet. Helms versteht Pop als System, welches sich aufgrund
der zentralen Differenz Individuation/Proliferation ständig reprodu-
ziert:
»Abgrenzung und Vereinnahmung, Vereinzelung und
Vermassung, Anpassung und Protest, Individuation und
Proliferation. Nur durch diese Differenz erhält Pop seine
Dynamik, bzw. theoriekonformer: seine Temporalität, die
ihn zu einem selbstreferenziellen und autopoietischen
System macht« (Helms 2008, 78).
Ob aus einer orthodoxen systemtheoretischen Perspektive Pop als
System unserer Mediengesellschaft zu fassen ist, sei hier offen gelas-
sen.6 Wichtiger ist die Konsequenz aus den Überlegungen von
Schmidt, Frith und Helms: Der Bereich Popkultur mit dem Nukleus
Popmusik ist äußerst komplex und dennoch auch strukturiert, zumal,
wenn man ihn als an Medien gekoppelten Bereich beobachtet. Und
6 Vgl. zu dieser Diskussion Helms 2003, 2008 und die Beiträge in Huck/Zorn 2007.
Christoph Jacke
138
genau damit tauchen auch die Probleme für Figurenkonzepte auf, die
man sich mit solch umfassenden Beobachtungsrastern einhandelt.
Intermediale Voraussetzungen der Figur im Medium
»Popsongs taugen nicht als empirische Basis für die sys-
temtheoretische Beschreibung des Systems. Nein: Pop ist
das System, Musik ein mögliches Medium« (Helms 2008,
77).
Versteht man Pop als massenmedial gesteuerten Bereich oder als auf
Kommunikationen basierendes System, dann wird deutlich, dass
Popmusik aus weit mehr als ›nur‹ Songs oder Fans besteht und dass
dieser Bereich sich ständig wandelt. Popmusik wird von Produktion
bis Weiterverarbeitung durch ganz unterschiedliche Kommunika-
tionsinstrumente, Medientechnologien, Organisationen und letztlich
Medienangebote konstruiert. Es reicht daher nicht aus, sich ›nur‹
z.B. literaturwissenschaftlich auf die Texte der Popmusik, die Pop-
songs, zu konzentrieren, um die Konstruktionen von Figuren zu beob-
achten. Die Songtexte, die Lyrics, haben einen wichtigen Einfluss auf
die Bedeutung von Popmusik, das hat auch Simon Frith (1987) ent-
schieden eingeräumt. Dennoch sind gerade in der Popmusik weitere
Texte und Kontexte mindestens genauso wichtig, wenn es um Identi-
täts- und Image-Konstruktionen geht. Ramona Curry hat etwa in ihrer
wegweisenden Studie zum kulturellen Zeichen ›Madonna‹ (1999)
darauf hingewiesen, dass Madonna ein inter- bzw. sogar transtex-
tuelles Phänomen sei, ein auf einzelnen Medientexten wie Lyrics,
Clips, Fotos, Werbung, Konzerte, Schallplatten, Interviews etc. auf-
bauendes »Gesamtstarbild« (Curry 1999, 181). Ähnlich kontextuali-
sierend argumentiert Hans J. Wulff (1999) in Bezug auf Mu-
sik(video)clips, der zudem die Reflexivität von popmusikalischen
Phänomenen herausstreicht.
Die vielfältigen Ebenen, die Paradoxien und die produktive Kreis-
schließung des inter- und transmedialen Prozesses Popmusik be-
schreibt Helms sehr treffend, weswegen er hier noch einmal ausführ-
licher zitiert wird:
»Man stellt seine Individualität dar, indem man die
neuesten Platten kauft und bisher unbekannte Musiker ent-
deckt und dann für die Verbreitung des eigenen Gesch-
Figurenkonzepte in der Popmusik
139
macks sorgt: indem man seine Musik möglichst laut spielt,
oder auf Parties die Funktion des DJs übernimmt, indem
man Mix-CDs zusammenstellt und seine Freunde am
eigenen Geschmack teilhaben lässt. Die Funktionalisierung
von Songs in anderen sozialen Systemen als Medium der
Darstellung von Differenz und Individualität wirkt auch
auf das System Pop zurück, indem es Hörer dazu veran-
lasst, vor allem den Mitteilungen von Musikern Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, die ›Distinktionsgewinne‹ verspre-
chen, weil sie sich selbst deutlich von anderen Musikern
und anderen Songs unterscheiden. Diese ›Distinktionsver-
sprechen‹ wiederum befördern die Proliferation der Songs,
wodurch sie nach einer bestimmten Zeit und einem bes-
timmten Verbreitungsgrad wiederum an Wert für die
Inividuation verlieren, so dass neue Sounds produziert
werden müssen. Auch auf der Hörerseite löst sich das
Paradoxon der Differenz von Individuation und Prolifer-
ation durch die Koppelung mit anderen Systemen in die
typische Temporalität des Systems Pop auf« (Helms 2008,
85f).
Auf allen Ebenen des massenmedialen Kommunikationsprozesses
Popmusik finden Bezugnahmen und Vernetzungen und sei es durch
Ablehnung statt, es gilt prinzipiell das gleiche wie es die Soziolo-
gen Stefanie Würtz und Roland Eckert für das Feld modischer Kom-
munikation beobachtet haben: Der Bereich ist ein »[…] Zeichensys-
tem auf Zeit. Die Produktion, Reproduktion und Konsumtion von
nonverbalen Zeichen diffundieren in den Weltmedien. Es entsteht ein
sich ständig wandelndes Esperanto der Zeichen« (Würtz/Eckert 1998,
189). Diese nonverbale und verbale Zeichenvermittlung über kom-
munikative Handlungen auf den genannten Dimensionen kann für
Popmusik und Medien für folgende Komponenten beobachtet wer-
den:7
1. Kommunikationsinstrumente: Sprachen, Gesten, Noten, Töne,
Geräusche, Bilder etc.
2. Medientechnologien: Fernseh-, Video, DVD-, CD-, Internettech-
nologien etc.
7 Dabei verwende ich den im Umfeld von Siegfried J. Schmidt immer wieder diskutierten
Medienkompaktbegriff (vgl. Schmidt 2002 und aktuell Schmidt/Zurstiege 2007: 63-70).
Christoph Jacke
140
3. Organisationen: institutionelle Einrichtungen wie Plattenfirmen,
Promotion-Agenturen, Redaktionen, Verlage, Rundfunkanstalten.
4. Medienangebote: Clips, Singles, CDs, DVDs, Downloads,
Streams und auch Artikel über Popmusik.
Figuren, darauf wird im weiteren Verlauf noch genauer einzugehen
sein, sind sowohl in den Bereichen der Popmusik als auch in Pop-
songs zu beobachten. Vor allen Dingen jenseits der puren Lyrics und
ihrer Lesarten sind diese Figuren in Songs und Musik oftmals nicht
isoliert zu beobachten, sondern sie treten im Verbund der gerade
genannten vier Ebenen zu einander sowie im Verbund der verschie-
denen Ausprägungen der jeweiligen Komponente auf. Schmidt und
Zurstiege bezeichnen die Knotenpunkte solcher Verbünde von Me-
dienangeboten als »Mediensyndrome« (2007, 62). An welchem Punkt
und auf welcher Ebene man auch ansetzt, Figuren scheinen zentral
und selbst intermediale/transmediale bzw. intertextuelle/transtextuelle
Schnittpunkte in und von Popmusik zu sein.
Figuren darauf wird im vierten Abschnitt noch genauer einzuge-
hen sein können als Knotenpunkte von Popmusik und Popkultur
symptomatisch auf Entwicklungen hin gelesen werden. Wenn also
Wulff die reflexive Bezugnahmen als typisch für Popkultur (hier
Rockmusik und Musik(video)clips) nennt (vgl. 1999, 268-270), wenn
Schmidt/Zurstiege u.a. Latenzbeobachtung, Reflexivität und Interme-
dialität als Konstanten der Medienevolution erläutern (vgl. 2000, 106-
110), dann könnten diese auch als Konstanten der Popmusik einge-
setzt werden: Die oben genannten Ebenen beobachten sich über ihre
Akteure ständig und wissen um dieses Beobachtetwerden, wodurch
sich ihr Verhalten und Handeln an die Beobachtungskontexte anpasst.
Die Akteure und vor allem die Angebote der Popmusik beziehen sich
zunehmend auf sich selbst, so zitiert z.B. Madonna sich wiederholt
selbst, mal parodistisch, mal emanzipatorisch.8 Zudem nutzen die
Akteure verschiedene Medien zur Atrikulation: So wird Madonna
erst durch den Verbund von Downloads, Homepages, CDs, DVDs,
Konzerte etc. zu der Figur Madonna oder auch zum Gesamtstarbild
oder Gesamtpopkunstwerk.
Dieses primäre Syndrom Madonna wird zudem zum Thema der
Medien, vor allem des Journalismus, wodurch die Komplexität der
8 Dies hat Curry 1999 treffend beschrieben, nun müssten ihre Gedanken auf 2008
ausgeweitet werden, denn insbesondere Madonnas neues Album Hard Candy kann in Optik
und Akustik als eine einzige Selbstzitation gewertet werden.
Figurenkonzepte in der Popmusik
141
»Formen massenmedialen Erzählens« (Leschke/Venus 2007, 15)
weiter erhöht wird:
»Hier [im Musikjournalismus, C.J.] wird nicht mit Sound
(dem Medium), sondern über Sound (als Relation) im Me-
dium Sprache kommuniziert: Es wird Musikgeschichte
gemacht, Stammbäume werden gezüchtet, Traditionslinien
gezogen und Rangfolgen aufgestellt, es werden Verwand-
tschaften und Gegnerschaften konstruiert, Nähe und Ferne
festgestellt« (Helms 2003, 212).
Neben der Verlinkung unterschiedlicher Texte geht es im Rahmen
massenattraktiver Medienproduktion, wie Leschke und Venus in
Bezug auf Computerspiele festgestellt haben, »um den Austausch und
die Integration von Formen« (Leschke/Venus 2007, 8f). Insbesondere
im Bereich der Popmusik sorgen die beschriebenen Entwicklungen
für Chaos und Ordnung gleichermaßen, um noch einmal Helms zu
bemühen:
»Das System hat durch die vielen beteiligten Ver-
breitungsmedien sprachliche Medien, musikalische
Medien, Bildmedien ein enormes Potential an Kom-
plexität, so dass sich trotz millionenfach produzierter
Identitäten Individuation und Proliferation nach wie vor
nicht ausschließen und das, obwohl einmal produzierte
Identitäten durch die ›speichernde‹ Funktion der Ver-
breitungsmedien im System ständig present bleiben«
(Helms 2008, 79).
Diese grundlegenderen Beobachtungen führen dazu soviel kann als
Zwischenergebnis festgehalten werden , dass man auf der einen
Seite für den jeweils konkret zu untersuchenden Fall genau beachten
muss, was man entlang welcher Einteilung analysieren will und wel-
che Ebenen man vernachlässigt. Auf der anderen Seite geschieht eine
solche Untersuchung auf der Grundlage des hier genannten Rasters,
welches vor allem verschiedene Untersuchungen leichter koppeln und
rahmen lässt. Im Bereich der Popmusik werden Medien verwendet,
die zumeist von anderen Medien beeinflusst sind, was deren Technik
genauso wie deren Ästhetik betrifft.
Christoph Jacke
142
Ein Beispiel: Die Clips des Regisseurs Michel Gondry haben andere
Clips beeinflusst, und zwar seine eigenen wie auch fremde. Ebenso
haben Gondrys Ästhetiken (das Spielzeughafte, Handgemachte, leicht
Absurde, Surreale etc.) seine eigenen Kinofilme und die von anderen
Regisseuren tangiert. Gondry selbst wiederum hat zwischen spiel-
hafter, experimenteller Visualisierung von Popsongs etwa der Chemi-
cal Brothers (Kunst) und beauftragten Werbeclips (Werbung) chan-
giert, und so transferieren auch die Images von Gondry, Chemical
Brothers, Daft Punk, Björk und Levi’s, so dass sich bereits in persona
Gondry die Bereiche co-evolutiv ver- und entwickeln. Und auf allen
diesen medialen Plattformen konstituieren sich in Produktion, Distri-
bution, Rezeption/Nutzung und Weiterverarbeitung Figuren in und
von Popmusik.
Zentrale Dimensionen der Figurenkonzeption
im Einzelmedium
Im Zusammenhang mit der Konzeption von Figuren in der Popmusik
haben wir es mit zwei grundsätzlichen Problemen zu tun, die ich das
mediale und das figurale Problem nennen möchte. Das mediale Pro-
blem erscheint, wenn wir danach fragen, wo im weiten Feld der Pop-
musik Figuren in Erscheinung treten. Figuren sind in der Popmusik
Bestandteil von Erzählungen verschiedener Art, die durch ganz unter-
schiedliche Medientechnologien angeboten werden: Popmusik kann
über Ton, Wort und Bild in nahezu allen audiovisuellen Medientech-
nologien (CD, DVD, mp3, Vinyl, Radiosendung, Fernsehsendung,
Stream) offeriert werden. Zudem können Medienangebote über Pop-
musik, etwa journalistisch, dokumentarisch oder als Werbung, ge-
macht werden. Hier gilt es, den konkreten Einzelfall vor dementspre-
chenden Fragestellungen zu berücksichtigen. Erst daraus kann sich
ergeben, auf welcher medialen Ebene eine Figur der Popmusik her-
und dargestellt wird.
Das figurale Problem betrifft die Formen der Figur selbst: Hier
sind Text-Figuren von Personen-Figuren zu unterscheiden; erstere
werden in den Lyrics, also den Songtexten, beschrieben, zweitere
treten als Popmusiker auf, der die Texte vorträgt. Beide Typen, also
die Figuren, die auf Basis von Poptexten entstehen und die Personen-
Figuren, die Poptexte präsentieren sind wiederum nicht eindeutig
voneinander zu trennen, denn das Star-Image der Popmusiker wird zu
Figurenkonzepte in der Popmusik
143
großen Anteilen auch durch ihre Texte konstituiert. So lassen sich auf
der Ebene der Songtexte sowie auf der Ebene der Präsentatoren un-
terschiedliche Typen von Text-Figuren und Personen-Figuren finden,
auf die im folgenden Kapitel noch einmal genauer eingegangen wird.
Da Popmusik sich diverser Medien bedient, um produziert, distri-
buiert, rezepiert, genutzt und weiterverarbeitet zu werden, und die
verschiedenen Komponenten des jeweiligen Einzelmediums berück-
sichtigt werden müssen, soll die mediale Ebene hier nicht ausführli-
cher und jenseits von konkreten Beispielen (geht es also etwa um die
Rezeption eines Songs auf einer CD von Madonna oder um die Pro-
duktion eines Clips von Portishead und dessen Präsentation auf
Youtube?) bearbeitet werden. Einige grundsätzliche Überlegungen
zum figuralen Problem sollen dahingegen in aller Kürze erläutert
werden, da sie sowohl für die Bedeutung der Figur innerhalb der
Konstruktion von Medienangeboten (konstruktiv-funktional) als auch
für die Gestaltung, Positionierung und Verteilung der Figuren in der
Popmusik (kompositorisch) entscheidend sind.
»Für die Wahrnehmung ist die wichtigste Unterscheidung die von
Figur und Grund«, beschreiben Schmidt und Zurstiege (2007, 26) den
Beginn der Erkenntnis. So zeichnen sich auch Figuren in der Popmu-
sik ab, indem sie sich vom Grund unterscheiden. Dieses tun sie nicht
willkürlich, sondern sozial orientiert und popkulturell gerahmt:
»Erst in und durch Kommunikation, die kulturell geprägt
ist und in jedem Vollzug das Kulturprogramm einer
Gesellschaft vollzieht und bestätigt, kann ein Mensch seine
Individualität und Identität entwickeln und zugleich gemäß
den sozialen Orientierungen seiner Kultur gesellschafts-
fähig handeln« (Schmidt/Zurstiege 2007, 42).
Individualität und Identität kann in diesem Zusammenhang in der
Popmusik nur die Gruppe der Präsentatoren, der Popmusiker ausbil-
den.9 Figuren in den Texten von Popsongs, den Lyriken der Popmu-
sik, können m.E. generell ebenso analysiert werden, wie es die Lite-
raturwissenschaften in verschiedenen Ausprägungen der Textanalyse
etabliert haben und diskutieren,10 wobei hier der Einbezug von Figu-
renkonzepten etwa zur narrativen Kommunikation, wie in dem aus-
9 Vgl. grundlegend zu Identitätskonstruktionen Kaufman 2005 und zu Medienidentitäten
Krotz 2003.
10 Vgl. statt anderer die Beiträge in Arnold/Detering 1999.
Christoph Jacke
144
führlichen Modell von Fotis Jannidis (2004) erarbeitet und vorge-
stellt, sinnvoll erscheint und es, das hat etwa Frith (z.B. 1987) immer
wieder betont, auch um die Performanz der Texte geht.
Wenn man zunächst auf der Seite der Popmusikproduktion nach
Figuren sucht, dann werden diese in den Songtexten und in den For-
men ihrer Präsentation angeboten. Die Popmusiker selbst werden
durch die Texte der Medien partiell zu fiktiven Figuren, und zwar
nicht nur in der Schrift, sondern auch in Bild und Ton. Diese Präsen-
tation erfolgt auf der Ebene der medialisierten und persönlichen Prä-
sentation, also durch den Popmusiker, der sich in den Medien oder
auch live auf der Bühne präsentiert. Gleichzeitig dürfen die Aufar-
beitungen, die mediatisierten Weiterverarbeitungen des Popmusikers
z.B. im Musikjournalismus, durch PR und Werbung nicht vergessen
werden. Zwischen diesen Präsentationsschritten entwickelt sich die
intendierte Konstruktion der Images von Popmusikern.11
Diese kommunikativen Komplexitätsreduktionen sind für die Kon-
stitution von Figuren in der Popmusik entscheidend, da die Beteilig-
ten am massenmedialen Prozess Popmusik Images als »Ersatz für
verbürgte Erfahrungen« (Schmidt 2003, 54f) benötigen, wobei
Schmidt mit verbürgt offensichtlich persönlich überprüfte Erfahrun-
gen meint, also den ›reality check‹ durch face-to-face-Kommunika-
tion. Das Image als Figur vereinfacht die Konstruktion des Popmusi-
kers aufseiten der Rezipienten. Im Hinblick auf diese Imagekonstruk-
tionen spielen dann übrigens beide Figurentypen, also die textuell und
die personell erzeugten, sowie ihre Wechselwirkungen, eine wichtige
Rolle. Hier werden dann die Reaktionen der Rezipienten und Weiter-
verarbeitenden wichtig, denn das Image muss ja Erfolg bei den Jour-
nalisten haben, um populär zu werden, was im Begriff der Popmusik
bereits angelegt ist.12
Fassen wir bis hierher zusammen: Figuren werden im Bereich der
Popmusik als Figuren in den Texten von Songs und als Personen-
11 Schmidt (2003) definiert Images als die auf der professionellen Produktionsseite der
Medien intendiert entworfenen Bilder von Personen, Unternehmen etc. Die Vorstellungen
und Bilder im persönlichen Bereich nennt er Schemata und Stereotypen. Diese Einteilung
ist diskutabel, hilft aber auf dem Gebiet der Popmusik zwischen medialer Produktionsseite
und persönlicher Rezeptionsseite klar zu trennen. Bei Popmusikern entstehen so synchron
und diachron letztlich kontinuierliche Images, die private, privat-öffentliche und öffentliche
Geschichten bündeln (vgl. für Fernseh- und Filmstars Faulstich/Korte/Lowry/Strobel 1997).
12 Auch für den Bereich der Imageforschung zeigt sich der seismographische Charakter der
Popkultur und Popmusik. Vgl. Jacke 2006, 2008b. Vgl. zu Images als Konstruktionen
wünschenswerter Wirklichkeiten Merten 1999, 213-256, Merten/Westerbarkey 1994 und
Herbst 2003.
Figurenkonzepte in der Popmusik
145
Figuren beobachtbar, die die Texte und Klänge von Songs präsentie-
ren. Während die Figuren in Songtexten fiktional sein können (nah
am Konzept der literarischen Figur), sich aber oftmals offensichtlich
autobiographisch auf die Präsentatoren beziehen, erscheinen die
Popmusiker zunächst recht real (nah am Konzept der Person). Da sie
aber selbst zumeist medial vermittelt sind und ihre Images als opera-
tive Fiktionen zu virtuellen Personalisierungen werden, trifft auf
mtliche Figuren der Popmusik das Problem zu, welches Jannidis
allgemein für Figurenkonzepte zu Beginn seiner Studie skizziert:
»Es fehlt eine einheitliche Beschreibung des Unter-
suchungsgegenstandes. Für die einen ist die Figur eine
quasi reale Entität,r die anderen ein Objekt in einer fik-
tionalen Welt, für die dritten nur der Knotenpunkt eines
textuellen Verweisnetzes« (Jannidis 2004, 3).
Figuren und Personen der Popmusik verdeutlichen das Erodieren
zwischen fiktionaler Figur und realer Person, zwischen Fiktion und
Realität.
»Figuren lassen sich weder als bloße textuelle Bezüge
noch als direkte Wiedergabe von realen Personen auffas-
sen, aber ganz offensichtlich haben sie von beidem etwas.
Dieses ›Etwas‹ genauer zu bestimmen, ist das eigentliche
Problem« (Jannidis 2004, 172).
In ihrer Wahrnehmung und Informationsverarbeitung scheinen sich
Figuren und Personen laut Jannidis kaum zu unterscheiden. Be-
stimmte Informationen über die Text-Figur durch denden Songtext
und über die Person-Figur des Popmusikers durch seine massenme-
diale Präsentationtragen auf sehr unterschiedliche Art und Weise zur
Figurenkonstruktion bei. In sich wechselseitig beeinflussende Ge-
schichten sind beide verwickelt, und zwar sowohl im Verweissystem
Songtext als auch im sozio-ökonomisch determinierten Produktions-
system Popmusik. Deswegen ist Jannidis Forderung nach einer Kon-
textualisierung der Texte (2004, 216) mehr als angebracht. Jannidis
kurze Arbeitsdefinition von Figur zu Beginn seiner Überlegungen
lautet:
»Eine minimale Arbeitsdefinition von ›Figur‹ kann nach
diesen Überlegungen also lauten: menschliche oder in ge-
Christoph Jacke
146
wisser Hinsicht (z.B. handlungsfähig, spricht, hat Inten-
tionen und andere Innenzustände) menschenähnliche Ges-
talt in einem fiktionalen Werk« (Jannidis 2004, 119).
Im Verbundsystem der Popmusik gehen die Songs und ihre Interpre-
ten folglich in nicht mehr klar zwischen Fiktion und Realität zu tren-
nenden Images auf, so dass eben auch die Personen der Akteure figu-
rale Qualitäten aufweisen und die fiktiven Figuren stark an personale
Konzeptionen gebunden sind. Sowohl durch Songtexte als auch durch
die mediale Präsentation von Personen-Figuren in Form des Musikers
können Themen personalisiert und Personen thematisiert werden; es
findet also ein ständiges Crossover statt.13
Diese Wechselwirkungen müssen bei der Figurenanalyse auf allen
Ebenen des massenmedialen Vermittlungsprozesses berücksichtigt
werden. Letztlich besteht ein Popsong eben weder nur aus den Song-
texten noch aus den Klängen noch der Präsentation des Interpreten.
Die Perfomanz der Popsongs, die oftmals in den Analysen wenig
beachtet wurde, betrifft sowohl die Stimme als auch den Akzent und
die Situation des Präsentatoren, der wiederum durch sein Image ge-
kennzeichnet ist, welches durch die Songtexte, die Klänge, die In-
strumente, seine Stimme, die Mode etc. geprägt wird. Wir sehen, dass
sich die Figurentypen der Popmusik durch viele Fragmente konstitu-
ieren, die zu einem Image zusammengefügt werden können. Die von
Henriette Heidbrink (2005) für den postmodernen Film herausgear-
beitete Einzelteilhaftigkeit, Fragmentarisierung und Bruchhaftigkeit
kann genauso für das Konglomerat aus Fragmenten der Figuren der
Popmusik herausgearbeitet werden.14 Dennoch, das macht ja ihr
13 Bei der Analyse der Entwicklung solcher Phänomene sind kommunikationswissenschaft-
liche Modelle mittlerer Reichweite wie Agenda Setting, Themenkarrieren, Nachrichten-
werte etc. sehr nützlich. Vgl. dazu allgemein Schmidt/Zurstiege 2007 und zur Themenkar-
riere von Popmusikern exemplarisch Jacke 1998.
14 Heidbrink bezieht sich auf die in der Postmoderne-Diskussion gängigen Figurenmerk-
male für den postmodernen Film, nämlich Fragmentierung, Hybridbildung, Selbstreflexi-
vität, Ironisierung, Subjektlosigkeit, Verlust von Echtheit, Einheit, Ordnung und Richtung,
bzw. Gerichtetheit, Intertextualität, Spektakel, Ästhetisierung, Selbstreferentialität und
Anti-Konventionalität (2005, 163), die sich sicherlich auch bei Figuren der (postmodernen)
Popmusik finden lassen. Wulff (1999) hat ganz ähnliche Merkmale für Musik(video)clips
festgestellt. Vgl. auch die inspirierende Gegenüberstellung von Jochen Venus (2005) zu
Figuren in Erzählungen und Computerspielen, die unbedingt in Zusammenhang mit Figu-
ren der Popmusik gebracht werden sollte: »Hinsichtlich der Handlungsträgerschaft sind in
Spielen faktische Personen auf eigentümliche Weise an der fiktionalen Handlungsträger-
schaft beteiligt, während die Handlungsträger in Erzählungen vollständig imaginär sind.
[Hervorhebung im Original, C.J.]« (Venus 2007, 305). Und schließlich sahen schon Neu-
Figurenkonzepte in der Popmusik
147
Faszinosum aus, werden Figuren als Einheit gelesen. Die Belastbar-
keit ihrer Images erscheint umso höher, je bekannter die Figur ist:
Michael Jacksons Image ist zwar zerbrochen, seine Fans hat er immer
noch; Alexander Klaws könnte sich derartige Ausfälle sicher nicht
leisten.
Medientypische Musterbildungen und Formen
Vernachlässigt man auch hier das mediale Problem, da man anson-
sten die Spezifika sämtlicher popmusikalischer Medientechnologien
für die jeweilige Figurenkonstruktion bearbeiten müsste, was den
Rahmen sprengen würde, gelangt man wiederum zum figuralen Pro-
blem: Untersucht man Text-Figuren in den Songtexten oder die Prä-
sentatoren oder Interpreten als Personen-Figuren oder gar deren Ver-
bund in Form von mehrdimensional kreierten Images?
In den Texten von Songs tauchen sämtliche von Jannidis für die
narrative Kommunikation identifizierten Figuren-Typen ebenfalls
auf: Hauptfigur, Nebenfigur, Protagonist, Held etc. (vgl. Jannidis
2004, 102-105). Dazu kommt, dass diese Typen zumal, wenn sie in
Form des lyrischen oder autobiographischen Ichs zu beobachten sind
Wandlungen und Entwicklungen unterliegen. Auch hier gilt es wie-
der, den Einzelfall zu berücksichtigen und es ist schwierig, Gruppie-
rungen außerhalb der bereits von Jannidis genannten herauszufinden.
Augenfällig ist in vielen Songtexten überdies die vermeintliche di-
rekte, oftmals auffordernde Ansprache der Zuhörenden, etwa in poli-
tischen Songs. An dieser Stelle wären zukünftige Kopplungen von
literatur-, medienkultur- und musikwissenschaftlichen Untersuchun-
gen wünschenswert.15
mann-Braun/Schmidt (1999, 16) in Anlehnung an John Fiske die fragmentarischen Bilder-
zusammenstellungen in Musikclips als Befreiung von etablierten gesellschaftlichen Dar-
stellungsräumen.
15 Wie ergiebig könnte eine umfassende synchrone und diachrone Betrachtung etwa der
Figur und Person XY aus der Welt der Popmusik sein, wenn man Borgstedts (2007) Image-
Analyse (aus musikwissenschaftlicher Perspektive) mit dem wirtschaftswissenschaftlichen
Verfahren von Engh (2006) mit den eigenen medienkulturwissenschaftlichen Überlegungen
(Jacke 2004, 2007) und den literaturwissenschaftlichen Ansätzen von Jannidis (2004) in
Form eines gemeinsamen Forschungsprojekts verbinden würde. Gegenüber der Situation
vor zehn Jahren (vgl. Jacke 1998) ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Wissen-
schaftsraum eine Menge an Studien erschienen, nun gilt es, diese zu systematisieren und
vor allem zu kombinieren.
Christoph Jacke
148
In den Geschichten der Popmusik, ihren Images und Mythen, erken-
nen wir ganz ähnliche Text- oder Personen-Figuren. Wenn man diese
im Lichte ihrer eigenen Entwicklung zwischen Popmusik und Medien
beobachtet, so lassen sich schnell drei Gruppierungen ausfindig ma-
chen, die immer wieder auftreten und bei übergreifenden empirischen
Analysen ausfindig gemacht werden können: unbekannte Popmusi-
ker, prominente Popmusiker und (bekannte und beliebte) Pop(musik)-
stars. Daneben gibt es mittlerweile hoch populär Star-Simulatio-
nen, also Figuren oder Personen, die künstlich erstellt und mit hoher
Intensität in das Mediensystem implementiert werden. Aus diesen
können sich natürlich im weiteren Verlauf sehr wohl Prominente oder
Stars der Popmusik entwickeln, zunächst wird aber von der Produkti-
ons- und Distributionsseite nur so getan, also ob sie es schonren,
um dieses ›als-ob‹ in Form der Popmusikstargenese zu kommerziali-
sieren und zu popularisieren. Hier lässt sich besonders deutlich die
Konfusion von Figur und Person erkennen, um deren Trennung sich
Jannidis so bemüht, wenn er seine Dreiteilung der Analyse von Figu-
reninformationen vorstellt:
»Unter dem mimetischen Aspekt wird der Beitrag einer
Figureninformation zum Eindruck einer ›Person‹ unter-
sucht, unter dem thematischen Aspekt der Beitrag einer
Figureninformation zum Thema des Textes oder zu einer
Idee und unter dem synthetischen Aspekt wird das Ge-
machtsein der Figur als artifizielles Konstrukt analysiert«
(Jannidis 2004, 229).
Der synthetische Aspekt des ›Gemachtseins‹ könnte also die Star-
Simulationen zu Figuren per excellence werden lassen. Genau wegen
dieser Schwierigkeit der Einordnung von Popmusikern möchte ich
hier die oben genannte Einteilung in Text- und Personen-Figuren
aufrechterhalten. ›Gemachte‹, artifizielle Konstrukte, sind etwa aus
marktwirtschaftlicher oder medialer Perspektive auch die Sex Pistols
oder Madonna, denn letztlich ist jeder Popmusik-Prominente oder -
Star auf die eine oder andere Art artifiziell. Hier sollte der Mythos der
Authentizität gegenüber der vermeintlichen Künstlichkeit zumindest
auf der Produktionsseite von Popmusik entmystifiziert werden.16
Wenn man also Handelnde der Popmusik, wie oben skizziert, eintei-
len möchte und diese dann auf den sichtbarsten sowie medial und
16 Vgl. einführend dazu Böhm 2000, Jacke 2008b und Rauch 2006.
Figurenkonzepte in der Popmusik
149
ökonomisch erfolgreichsten Typ eingrenzen will, die Popmusikstars,
dann lassen sich innerhalb dieses Typus drei Untergruppen feststel-
len.17
Modi der rezeptiven Bezugnahme
Die Einordnung der Typen von Figuren und Personen-Figuren in der
Popmusik und ihrer medialen Darstellung ist, wie schon öfters betont,
eine von sehr vielen Faktoren abhängige Modellierung. Im popmusi-
kalischen Alltag kann der Erfolg oder die Attitüde von den mehrdi-
mensional beeinflussten Figuren der Popmusik nicht gänzlich kalku-
liert werden. Letztlich entscheiden die Rezipienten und insbesondere
deren Extremgruppe der Fans über den Erfolg, und das nicht nur über
gebührenpflichtiges Voting in Entscheidungssimulationen wie den
Casting-Formaten.
Der Forschungsbereich Popmusik und die Stufen seines massen-
kommunikativen Prozesses sind in toto nur in aufwendigen multime-
thodischen Forschungsdesigns zu leisten, so etwa in Kombinationen
aus Musik-, Image-, Medien- und Rezipientenanalysen.
18 Wie von
Jannidis konstatiert wird, weist auch die Erzähltheorie hier große
Lücken auf:
»Zum psychologischen Phänomen der Identifikation kann
die Erzähltheorie nichts beitragen, aber sie kann Hy-
pothesen bilden, welche Aspekte der Figur die Einstellung
des Lesers zur Figur bestimmen« (Jannidis 2004, 242).
Gleichzeitig hat sich die Identifizierung mit Text-Figuren und Perso-
nen-Figuren popularisierter Welten vom Roman bis zum Popsong
»unaufhörlich weiterentwickelt« (Kaufmann 2005, 171).19
17 Zu einem tabellarischen Typologisierungsvorschlag vgl. Jacke 2004, 270-300, Jacke
2007 und Jacke 2008b, 260-263.
18 In Bezug auf das Rezeptionsverhalten von Fans Populärer Kultur (hier Musik, Sport und
TV-Serie) hat sich die Kulturwissenschaftlerin Mohini Krischke-Ramaswamy (2006, 2008)
um einen multiperpektivischen Ansatz bemüht.
19 Dazu Jannidis mit Verweis auf die Studien von Achim Barsch (1997): »Die Romane
[Heftchenromane, C.J.] werden hauptsächlich wegen der Möglichkeit einer emotionalen
Erregung und Identifikation mit den Hauptfiguren gelesen« (Jannidis 2004, 26, Fußnote
20). Ähnliches lässt sich in Bezug auf Popmusik feststellen, um noch einmal an Jannidis
anzuschließen und seine Beobachtungen für Literatur und narrative Texte auf Popmusik
auszuweiten, indem man unter Leser auch Lesende der Texte und Kontexte von Popmusik
Christoph Jacke
150
In den vergangenen Jahren haben vor allem zahlreiche Überlegungen
der Cultural Studies zu Fans von Popkultur und Popmusik großen
Einfluss auf die Rezeptionsanalysen von Popmusik gehabt (vgl. Fiske
1992, Grossberg 1992, Jenkins 1992). Henry Jenkins (1992) etwa hat
in seiner ethnographischen Studie zehn kreative Arten der Weiterve-
rabeitung von Medienangeboten seitens verschiedener Fan-Gruppen
gefunden: Rekontextualisierung, Zeitausdehnung, Charakter-Refo-
kussierung, moralische Verdrehung, Genre-Wechsel, Crossover, Cha-
rakter-Verortung, Personalisierung, Emotionalisierung, Erotisierung.
Nicht jeder Fan ist allerdings ein solch produktiver oder sogar sub-
versiver Bricoleur, wie es vor allem viele der Fan-Studien der Cultu-
ral Studies vermuten lassen. John Storey (2003) weist ausdrücklich
daraufhin, dass nicht jeder Rezipient souverän weiterverarbeitend mit
Medienangeboten umgeht:
»Consumption, therefore, is always an encounter between
the materiality of a cultural commodity and the cultural
formation of a consumer, which takes place in a particular
context. Whether the outcome is manipulation or resist-
ance, or a complicated mixture of the two, is a question
which cannot be answered in advance of the actual en-
counter« (Storey 2003, 112).
In der Person des Fans treffen also Produzent und Konsument zu-
sammen. Deswegen erscheinen Fans als kollektiv organisierte Ex-
trem-Konsumenten im Bereich der Popmusik als polarisierte und
polarisierende Konsumgesellschaft besonders beobachtungswürdig.
Fans gibt es auf allen Feldern der Medienrezeption, besonders häufig,
vielfältig und extrem sind sie im Bereich der Popmusik zu beobach-
ten. Popmusik wird somit zum Übungsfeld für alle Arten der Kom-
munikation (vgl. Frith 2003, 2007) und somit des sozialen Handelns:
»So entsteht aus der Differenz von Individuation und Pro-
liferation eine fiktive Welt: eine Parallelzeit der Unterhal-
tung, in der zwar Lebenszeit verbraucht wird, die jedoch
durch ihre Geschlossenheit keine Anschlüsse an den Alltag
versteht: »Für den Leser und das Lesen spielen Figuren eine besondere Rolle. Leser be-
wundern und verabscheuen Figuren, sie fühlen mit ihnen und sie imitieren sie im wirkli-
chen Leben. Insbesondere die letzten beiden Prozesse sind als Aspekte und Folgen der
›Identifikation‹ beschrieben worden« (Jannidis 2004, 229).
Figurenkonzepte in der Popmusik
151
erfordert […]. Es entsteht eine Parallelwelt des Spiels mit
Individualität mit einer Individualität, die durch ihre
Verbreitung und durch die vielfachen Koppelungs-
möglichkeiten an andere soziale wie auch an psychische
Systeme immer unverbindlich getestet werden kann. Wenn
man nach einem ›Sonderproblem‹ der Gesellschaft sucht,
dass das Funktionssystem Pop lösen hilft […], müsste man
hier suchen: In den Möglichkeiten der spielerischen Erpro-
bung von Identität« (Helms 2008, 89).
Allerdings hat dieses Feld durchaus seinen Ernst im Spiel20 und bleibt
heute durch die Institutionalisierung, Professionalisierung, Kommer-
zialisierung und Medialisierung nicht mehr frei von Folgen, wie
manch unerfahrener Hobby-Musiker, der plötzlich ins Rampenlicht
trat oder manch Casting-Show-Teilnehmer als Personen-Figur schon
leidlich erfahren musste.
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155
Christian Imminger
Der Zeitungsleser ist auch nur eine Figur
Zum Figurenkonzept der Presse
Diskussionen um eine fortschreitende Personalisierung von Nach-
richten sind seit Jahren eine feste Konstante in der Debatte um die
Presse. Und tatsächlich werden entsprechende Tendenzen beobachtet,
ohne freilich diese wiederum aus sich selbst heraus erklären zu kön-
nen: Warum räumen selbst vormals als seriös geltende Medien dem
so verharmlosend genannten human touch einen immer höheren
Stellenwert ein? Die Medienkonkurrenz alleine kann es jedenfalls
nicht sein, will man nicht der weit verbreiteten Missinterpretation
aufsitzen, diese erschöpfe sich vor allem darin, das auf der ersten
Seite zu haben, was der Mitbewerber auch dort stehen hat.
Vielmehr ist zu vermuten, dass noch ein anderer Mechanismus
greift als ein so schlicht gefasster marktwirtschaftlicher, eine Logik,
die tiefer gehen muss als die des Kiosk’. Phänomene wie die des
›Promis‹ jedenfalls sind nur schwerlich aus einer Situation der
Knappheit heraus zu erklären, im Gegenteil: Wie im Folgenden zu
zeigen sein wird, sind sie welche eines Überschusses, der zudem
umso schneller verbrennt, je mehr es auf ihn ankommt. Dieser au-
tokatalytische Prozess, einmal in Gang gekommen, muss zwangsläu-
fig in der Paradoxie enden: Es ist in diesem Zusammenhang egal,
über wen berichtet wird, solange überhaupt berichtet wird es geht
lediglich um ein Schema, eine Figur. Besser: Es handelt sich ledig-
lich um das vermutlich immer schneller getaktete Oszillieren zwi-
schen einem figurativen Grundschema und dessen je spezifischer
Anreicherung mit Merkmalen einer Person. Diese Grundunterschei-
dung ist es, zwischen der sich auch im Bereich der Presse wenn schon
nicht alles, so doch ziemlich viel abspielt, weswegen dieser Text als
Plädoyer verstanden werden will, sie überhaupt erst einmal zu treffen.
Christian Imminger
156
Person versus Figur
Wurde in der Literaturwissenschaft lange Zeit über das Modell einer
Art außertextlichen Existenz einer Figur, die in der Vorstellung des
Lesers in eine Lebenswelt überführt und damit Person wird, disku-
tiert, so steht eine solche Debatte für den Bereich der Presse noch aus,
wenngleich diese dort freilich unter umgekehrten Vorzeichen zu füh-
ren wäre: Wie selbstverständlich bei allem mittlerweile längst etab-
lierten Misstrauen gegenüber den Massenmedien wird dort immer
noch von einem weitgehend zwischen Darstellungs- und dargestellter
Welt identischen Figuren- bzw. Personenkonzept ausgegangen, bezie-
hungsweise besser: das Konzept der Figur kommt eigentlich gar nicht
vor.1
Das mag nun nicht besonders verwundern, stellt ein solches Ver-
schleifen unterschiedlicher Realitätsebenen doch gewissermaßen die
Arbeitsgrundlage aller Medien dar, und doch ist dies natürlich eine
nicht minder diskussionswürdige Vorstellung wie die eingangs er-
wähnte.2 Denn ohne Zweifel sind intuitiv zuallererst Personen die
zumindest als solche wahrgenommenen Akteure jedweden sozialen
Systems, ohne jeden weiteren Zweifel aber müssen sie bestimmte
Schemata des Medialen erfüllen, um dort überhaupt erst als solche
festgestellt, transportiert und in der Folge dann auch bestenfalls als
solche rezipiert zu werden.3 Wohlgemerkt als Personen, obgleich sie
diesen Status auf dem Weg dorthin eigentlich längst verloren haben.
Um nun zu rekonstruieren, was auf diesem Weg passiert, scheint
die Etablierung eines Figurenkonzepts bzw. erst einmal die Einfüh-
rung der Unterscheidung zwischen Figur und Person auch für den
Bereich der nachrichtlichen Medien, in diesem Fall der Presse, ein
1 Was für den vorliegenden Text bedeutet, lediglich eine erste, skizzenhafte Annäherung
liefern zu können hoffentlich aber wenigstens eine, die zumindest anklingen lässt, wie
hoch der Ertrag eines ausdifferenzierten Figurenkonzepts für den Bereich der Presse sein
könnte.
2 Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich soll hier keiner wie auch immer
gearteten, im außermedialen angesiedelten, ontologischen Realität das Wort geredet wer-
den. Und dass Medien heutzutage mindestens unter dem Verdacht der Manipulation stehen,
wenn nicht gar dem, die Konstrukteure unserer Wirklichkeit zu sein, ändert auch grund-
sätzlich nichts am Funktions- und Rezeptionsmodus, ja: kann daran gar nichts ändern (vgl.
Luhmann 1996, 9f). Ebenso kann die Arbeitsgrundlage der Medien nicht die des wissen-
schaftlichen Systems sein, bzw.: diese Arbeitsgrundlage gilt es dann in den Blick zu neh-
men.
3 Eigentlich eine Banalität, die sich im Alltag in Bezeichnungen wie ›Medienkanzler‹ und
›Medienstar‹ widerspiegelt.
Figurenkonzepte in der Presse
157
recht ertragreiches Unterfangen zu sein. Auch, um solche Phänomene
wie das der Personalisierung, die seit längerem durch die Medien-,
Politik- und Kommunikationswissenschaft geistern, genauer in den
Blick zu nehmen.
Es liegt wohl in der Natur der Verfasstheit medialer Systeme, dass
sie keine Subjekte, sondern nurmehr Objekte kennen, selbst dann,
wenn wie in der Folge auch zu streifen sein wird auf der Seite der
Produzenten auch so etwas wie Autorenkonstrukte zunehmend eine
Rolle zu spielen scheinen. Beide, die ›Akteure‹ als Repräsentanten
einer vom Rezipienten zu konstruierenden Lebenswelt als auch die
›Auktoren‹, die von dieser Zeugnis zu geben vorgeben, sollen im
Folgenden erst einmal als Figur gefasst und damit überhaupt erst
fassbar gemacht werden.
Rahmenbedingungen
Wird der Begriff Presse heutzutage gerne synonym für sämtliche
Nachrichten erzeugende, verarbeitende oder teilweise auch verbrei-
tende Medien verwendet, so soll sich in diesem Text auf dessen Ur-
sprung bzw. die Ursprungsgattung beschränkt werden, also journalis-
tische Printmedien wie Tages- oder Wochenzeitung und Publikums-
Zeitschriften. Das heißt zuallererst einmal, dass die je präsentierten
Nachrichten regelmäßig und per Rotationsdruck auf Papier und dann
an den Rezipienten gebracht werden, was banal erscheint, aber auf
die möglichen Formationen von Figur Auswirkungen hat: Selbst die
journalistischen Internet-Angebote, seien sie nun Ableger bestehen-
der Printtitel oder eigenständiger Natur, basieren im Wesentlichen
(noch) auf Texten und Bildern (auch wenn das Bewegtbildangebot
momentan zunimmt)4 und importieren oder reproduzieren damit
größtenteils die bereits aus dem Printbereich bekannten Figuren-Kon-
figurationen.
In einer vorläufigen Annäherung, sozusagen im Anflug von oben,
können dabei bereits drei wesentlich unterschiedene Figurentypen
ausgemacht werden, von denen die beiden ersteren dem diesem Text
4 Momentan aber noch weit hinter dem eigentlich technisch Möglichen zurückbleibend:
Solange die von der IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von
Werbeträgern) festgestellten Klickzahlen die einzige Währung im Netz darstellen, ist aus
Sicht des Anbieters eine Bildergalerie einem Video alleine schon aus ökonomischen Grün-
den vorzuziehen.
Christian Imminger
158
vorschwebenden Figurenkonzept, das innerhalb dieses Beitrags skiz-
ziert werden soll, überhaupt erst den Boden bereiten:
1. Die figurative Grundstruktur eines kompletten Nachrichtenange-
bots, also einer kompletten Zeitung, Zeitschrift oder zumindest
einer kompletten Zeitungs- bzw. Zeitschriftenseite (Layout).
2. Die Grundfiguren journalistischer Darstellungsroutinen in Bild
und Text, vom pyramidalen Aufbau einer Meldung über den ei-
nes Nachrichtenfotos bis hin zu auch aus außerjournalistischen
Kontexten bekannten rhetorischen Figuren.
3. Figuren im engeren Sinne als Objekte der journalistischen
Darstellung, Handlungs- bzw. Nachrichtenträger.
Der erste Punkt mag nun verwundern, doch eigentlich verwunderlich
ist eher der Tatbestand, dass immer noch so getan wird, als hätten
Form bzw. Gestalt (figura) und Inhalt einer Zeitung nichts miteinan-
der zu tun. Dabei liegen die allgemeinen formalen Bedingtheiten des
Mediums noch auf der Hand: Nehmen in den letzten Jahren Bilder
und Infografiken zwar zu, so ist das Angebot der Printmedien immer
noch größtenteils textbasiert bzw. besteht, wie erwähnt, aus einer
Kombination aus Text und Bildelementen, die zumindest im Falle des
gedruckten Nachrichtenangebots auf einem klar begrenzten Tableau
präsentiert werden. Jenseits dieser Selbstverständlichkeiten existieren
aber auch auf der Ebene einzelner Vertreter eines Mediums unter-
schiedliche Konzepte, Form und Inhalt in Relation zu setzen. Selbst
in einer sehr weit gefassten Definition macht Form also einen Unter-
schied.
»Form includes the things that are traditionally labelled
layout and design and typography; but it also includes
habits of illustration, genres of reportage, and schemes of
departmentalization. Form is everything a newspaper does
to present the look of the news« (Barnhurst/Nerone zit.
nach Wilke 2008, 367).
Dieser je spezifische »look of the news« betrifft auch die Integration
bzw. Präsentation von Figuren, ja: bringt diese oft erst hervor. So
operiert der Boulevard in der Regel mit vielen bzw. großen Bildern,
Fotomontagen u.ä. (fast jede im Text erwähnte Figur wird auch abge-
bildet), während der so genannte Qualitätsjournalismus bei allen
Lockerungsübungen hier noch zurückhaltender agiert, sodass nicht
Figurenkonzepte in der Presse
159
jede Figur abgebildet werden kann und dies im Sinne einer Seriosität
suggerierenden, ruhigeren Seitengestaltung gar nicht erwünscht ist.
Dazu kommen noch zahlreiche Mischformen wie die mancher in den
letzten Jahren relaunchter Zeitungen, die längere Textspalten nicht
selten durch Zitate auflockern, denen ein freigestelltes Bild des Zi-
tierten beigestellt wird. Dafür werden allerdings oft die üblichen Po-
litikerköpfe aus dem Stehsatz verwendet, weswegen wiederum nicht
selten ein Zitat gewählt wird, zu dem das passende Bild im Stehsatz
vorhanden ist.
Festgehalten werden soll an dieser Stelle jedenfalls erst einmal,
dass für einen Zugriff auf ein wie auch immer im einzelnen geartetes
Figurenkonzept neben den generellen formästhetischen Merkmalen
der Presse auch die je spezifische Ausprägung eines einzelnen Presse-
segments (überregional, regional, Boulevard etc.) und schließlich die
eines der jeweiligen Vertreter aus diesem Segment eine Rolle zu
spielen vermag.
Um einiges konkreter geht es unterhalb dieser Ebene, also auf der
des jeweiligen Textes bzw. Bildes zu (2), auf der journalistische Dar-
stellungs-Routinen zum Tragen kommen: Grundsätzlich lässt sich für
den Text sagen, dass die Ausdifferenzierung figurativer Schemata je
nach journalistischer Darstellungsform variiert, also etwa von der
einfachen Meldung bzw. Nachricht über den Bericht hin zum Feature
und der Reportage stetig zunimmt. Das hat natürlich etwas mit den
jeweils zur Verfügung stehenden Textlängen, aber auch mit den je-
weiligen Funktionen des Textes und damit auch den darin vorkom-
menden Figuren zu tun. Die Rolle und das Konzept der Figur hängt
also davon ab, inwieweit auch in Anbetracht von presse- bzw. per-
sönlichkeitsrechtlichen Faktoren eine ausdifferenzierte Darstellung
von Handlungsträgern oder Quellen möglich bzw. relevant ist. Fährt
ein 18-Jähriger, der nicht in irgendeiner Form (und sei sie noch so
hanebüchen konstruiert) als Person der Zeitgeschichte gilt, tragi-
scherweise gegen einen Baum und stirbt, so wird bekanntlich in der
Regel lediglich vermeldet, dass ›ein 18-Jähriger‹ gegen den Baum
gefahren und gestorben sei. Die Person wird also auf das Minimum
an Eigenschaften reduziert, die eine Veröffentlichung legitimieren, in
diesem Fall: Sie ist gestorben.
Andererseits kann etwas ›aus Berlin verlauten‹ oder ›die Behörden
teilen mit‹, es kann aber auch geschildert werden, wie das
Präsidiumsmitglied beim Rotwein genüsslich das Gesicht verziehend
den Vorsitzenden zum Abschuss freigibt oder der schmerbäuchige
Christian Imminger
160
Polizeichef einen Einsatz vergeigt die Tiefenschärfe der figuralen
Darstellung kann also durchaus politische Implikationen haben.5 Das
Spektrum reicht hier vom bereits erwähnten pyramidalen Aufbau
einer einfachen Meldung, wie er, eigentlich aus Zeiten des Bleisatzes
stammend, heute immer noch gelehrt wird6 und über die behmten
W-Fragen hinaus wenig enthält, bis hin zu bisweilen die Grenze zum
Fiktional-Literarischen überschreitenden Reportagen.7
Was nun den Bildbereich anbelangt, so werden dort dargestellte
Personen was bereits auf eine mögliche Definition eines enger ge-
fassten Figurenbegriffs verweist meist in einem Funktionszusam-
menhang abgebildet (also etwa der Metzgermeister hinter seinen
Würsten, die Bundeskanzlerin wiederum am Rednerpult oder Kabi-
nettstisch). Das mag den Nachrichtenwert eines Fotos, das aussieht
wie das Foto vom Vortag, eigentlich schmälern und langweilig, ja
fast absurd erscheinen lassen8, dem Rezipienten aber ohne Zweifel
eine schnelle Einordnung bzw. Orientierung erleichtern9 und mithin
ein Indiz für die Trennung der Person von ihrer jeweiligen funktio-
nalen Zuordnung darstellen. Schließlich könnten beispielsweise auch
Privat- bzw. Nahaufnahmen statt den stets immergleichen Kontext
herstellenden (Halb)Totalen verwendet werden, was allerdings meist
nur bei größeren Interviews oder Porträts geschieht.
In diesem Bereich ist denn auch interessanterweise eine Strategie
zu beobachten, die sich mit Aufkommen des CMYK-Drucks erst
herauskristallisiert hat: Porträtdarstellungen werden v.a. in der über-
regionalen Presse oftmals wieder in schwarz-weiß abgebildet,
5 Auch hier muss wieder unterschieden werden: Welcher Grad der Ausdifferenzierung
gewählt wird, hängt nicht nur von irgendwelchen Nachrichtenfaktoren, sondern auch von
dem jeweiligen Medium (Boulevard etc.) und oft genug vernachlässigt auch von dessen
Ressourcen ab.
6 Wie etwa im Klassiker der Journalistenausbildung von Walther La Roche (2006), die
bereits in der 18. Auflage erschienen ist: Dabei war dieser Grundaufbau von Nachrichten
lediglich der produktionstechnischen Maßgabe geschuldet, dass sich, falls nötig, am ein-
fachsten vom Textende her kürzen ließ.
7 Davon abzugrenzen natürlich: Der sogenannte Borderline-Journalismus, der in der Regel
gerade auf literarische Stilmittel verzichtet, um seine Fiktionalität zu verschleiern.
8 Zumal in Zeiten, von denen behauptet werden darf, dass das Merkmal der ›Zeugenschaft‹
von Fotos zumindest erodiert ist, eine indexikalische Funktion des Fotos mindestens
bezweifelt werden kann.
9 Was natürlich nicht nur ein Phänomen der Presse, sondern noch mehr eines der einem
regelrechten Bilderzwang unterworfenen Fernsehnachrichten ist, wo bisweilen Archivauf-
nahmen, sind sie nur belanglos d.h. austauschbar genug, unter einen Beitrag gelegt werden:
Die Kanzlerin steigt aus einem Auto aus.
Figurenkonzepte in der Presse
161
manchmal sogar durch Zeichnungen ersetzt,10 um diese vom klassi-
schen und mittlerweile farbigen Pressefoto abzuheben und das so
Dargestellte explizit aus dem oben erwähnten Funktionszusammen-
hang zu nehmen, den Deutungsraum mittels einer an Kunst orientier-
ten Darstellungsweise auszuweiten. Solcherart wird dann signalisiert,
dass es hier um den Menschen gehen soll, also wenigstens: die Per-
son.11
Damit scheint zunächst das Kontinuum zwischen Figur und Per-
son umrissen. Die hier avisierten Objekte der Darstellung (3) beste-
hen also aus figurativen Grundschemata, die mal mehr, mal weniger
ausdifferenziert, mit mal mehr, mal weniger persönlichen Merkmalen
angereichert präsentiert werden.12 Zwar ist es gerade im Bereich der
Presse möglich, Nachrichten auch ohne eine solche (und sei es noch
die auf die minimalsten Eigenschaften reduzierte) Figur zu vermel-
den, allerdings greifen dann die Darstellungsroutinen der nächsthöhe-
ren Ebene (2). So wird zum Beispiel, wie in den meisten Meldungs-
spalten im Übermaß anzutreffen, die (dann bloß rhetorische) Figur
der Personalisierung bemüht.13 Ganz ohne scheint es also nicht zu
gehen.
Import, Export
Selbst die als Vorläufer der modernen Presse fungierenden, noch
handschriftlich verfassten so genannten Fuggerzeitungen, die auf-
grund der Interessenlage ihrer Adressaten vor allem an ökonomisch
relevanten Gegebenheiten orientiert waren, kommen naturgemäß um
den ›Kaufmann‹ nicht herum (vgl. Stöber 2005, 36f). Und wenig
später kommen schon andere Figuren hinzu, sind die Sensationsblät-
ter das Medium der Stunde, und unter den Schlagwörtern wie ›new‹,
›erschröcklich‹ und ›wunderbar‹ wird von Erscheinungen des Teufels
(wohl eine der berühmtesten Figuren bzw. der Widersacher schlecht-
10 Siehe etwa Interviewseite im SZ-Wochenende, Porträt auf der Meinungsseite in der FAS.
11 Ein angesichts der medientechnischen Entwicklung nur auf den ersten Blick paradoxes
Phänomen, vgl. Fußnote 17.
12 Wenn in der Folge von ›persönlichen Merkmalen‹ bzw. ›Merkmalen der Person‹ oder
›personalem Überschuss‹ die Rede ist, so sagt das natürlich nichts über die Entsprechung
zur jeweiligen, außerhalb des Mediensystems eventuell tatsächlich existierenden Person
aus. Wahrheit ist, dass wissen wir spätestens seit Luhmann, nicht der Code, nach dem die
Medien operieren.
13 Statt eines Sprechers des Weißen Hauses mahnt dann ›Washington‹.
Christian Imminger
162
hin), Hexen und Verbrechern berichtet, dazwischen aber auch, »wie
die kaiserliche Majestät […] auf dem Lechfeld gelagert hat« (vgl.
ebd., 43) heuterde man dazu wohl Boulevard-Berichterstattung
sagen.
Jedenfalls liegt nahe, dass neben den Topoi (nochmals: der Teufel)
auch die Darstellungsformen der religiösen Literatur, neben am An-
fang religiösen Themen bald auch deren (wiederum auf antike Vor-
läufer zurückgreifende) Schemata übernommen wurden: Mit dem
Dreißigjährigen Krieg, der neben Tod und Vernichtung auch einen
ungeheuren Aufschwung der Massenpresse mit sich brachte, wurde
eingeleitet, was spätestens mit den Napoleonischen Volkskriegen in
der Presse einen vorläufigen Höhepunkt fand: das Grundprinzip von
Protagonist und Antagonist. Weber spricht in diesem Zusammenhang
von einem »Bedürfnis nach ›defensiver Orientierung‹« (Weber zit. n.
Stöber 2005, 75) ein Bedürfnis, von dem anzunehmen ist, dass es
auch heute noch (und sei es auch ohne Krieg, lediglich in einer als
unverstanden und damit feindselig wahrgenommenen Welt) vorhan-
den ist.14
Allerdings unterliegt die Orientierungsfunktion von Figurenreper-
toires in der Presse zugleich einem schleichenden Bedeutungsverlust:
Zwar scheint die Grundkonstellation identisch zu sein, nur entfaltet
etwa das bei aller Ähnlichkeit der Mittel in der Presse geschilderte
Scheitern der Minderheitsfraktionen im Bundestag nicht im Entfern-
testen eine ähnliche Katharsis wie in der Tragödie. Es ist also eine.15
Analog dazu muss wohl auch der Import bildnerisch-künstlerischer
Darstellungsformen gedacht werden: Herrschte zunächst lediglich
Text vor, der bei der (ohnehin spärlich eingesetzten) Zeichnung von
Personen auf die Beschreibungsroutinen der Literatur zurückgreifen
musste,16 wurde durch die Einführung etwa des Stichs (importiert aus
14 »Diese Torheit der Gegenwart [die ›Zeitungssucht‹; C.I.] scheint noch durch die vergan-
gene Zeit des 30jährigen deutschen Krieges eine Zunahme erfahren zu haben, wo täglich
über Durchzüge von Soldaten, über Belagerungen und Eroberungen von Städten, über
Niederlagen und Siege Neuigkeiten gebracht wurden […]«, so Ahasver Fritsch in seiner
zeitungskundlichen Abhandlung aus dem Jahre 1676 (Stöber 2005, 74f).
15 So wäre vorausgesetzt, es handelt sich beim Schema Pro- bzw. Antagonist tatsächlich
um ein historisch so eingeschliffenes wie vermutet interessant zu untersuchen, inwieweit
der in unserer Mediendemokratie so mäßig geschätzte ›Kompromiss‹ eben wegen des
Unterlaufens eingängiger Oppositionsschemata und der damit einhergehenden ›geringeren‹
Orientierungsleistung den Beobachter zwangsläufig wenig befriedigen muss.
16 »Die Muster, insbesondere auch die sprachlichen Muster, die das neue Medium einsetzt,
lehnen sich zunächst an die der alten Medien an. Der Prozess der Emanzipation von den
Figurenkonzepte in der Presse
163
der bildenden Kunst) zum ersten Mal so etwas wie Anschlussfähig-
keit durch Anschaulichkeit generiert. Dass dies in der Folge durch
das im medialen Vergleich mit dokumentarischem Wert aufgeladene
Foto ersetzt wurde, erscheint zwangsläufig. Dass heute in Zeiten
des digitalen Bildersturms wieder Illustration, Graphik und Zeich-
nung an Stellenwert gewinnen, allerdings auch.17
Akteure, Auktoren
Wie die oben erwähnte Tendenz bereits andeutet, geht der Figuren-
gebrauch in der Presse über rein strukturell-funktionalistische Motive
hinaus, mögen sie auch noch so bestimmend sein. Man kann viel-
leicht sagen: Die Figur als Aktant ist für das jeweilige Medium nur
insofern interessant, als dass diese zwei fundamentale Eigenschaften
mit sich bringt: Anschlussfähigkeit und Authentizität. Für ersteres
stehen zu einem großen Teil aus anderen Medien importierte Grund-
schemata, die relativ konstant zu sein scheinen. Beim zweiten Punkt
aber genügen diese schon nicht mehr, hat man es doch interessanter-
weise mit einer deutlichen Verschiebung hin zu immer persönlicheren
Konstrukten zu tun, mit anderen Worten: Es muss ein bisschen men-
scheln. Und zwar sowohl auf der Ebene des Dargestellten als auch
auf der der Darsteller: Reichte früher die Zeitung an sich als Bürge
aus, so schob sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr der ein-
zelne Autor in den Vordergrund.18
Als ebenso interessanter wie logischer Zwischenschritt scheint an
dieser Stelle erwähnenswert, dass die sogenannten moralischen Wo-
chenschriften eine im (damaligen) Sinne klare, moralisch-aufkläreri-
sche Positionierung und publizistische Haltung einnahmen und diese
vermittels eines je personalisierten Titels zum Ausdruck brachten. Es
berichteten dann nicht etwa irgendwelche Zeitungen an irgendeinem
Vorbildern kann dann u.U. sehr lange dauern und in kleinen Schritten erfolgen«, so Burger
zur Frühgeschichte der Presse (2005, 32f).
17 Und das nicht nur was den oben erwähnten Einsatz von schwarz-weiß-Bildern, Zeichnun-
gen etc. bei Porträts u.ä. angeht, sondern durchaus auch generell: In Zeiten der durch das
Internet neuerlich verschärften Medien(kanal)konkurrenz versuchen sich nicht wenige
Printtitel durch eine eher graphische denn fotorealistische Orientierung abzuheben, vgl. nur
die Gewinner beim jährlichen European Newspaper Award (www.newspaperaward.org).
18 Mag dies im 19. Jahrhundert auch andere Gründe gehabt, mögen Autoren wie Heine auch
aus ökonomischen Motiven, Verleger wie Cotta auch auf den Namen seiner aus dem litera-
rischen Feld rekrutierten Autoren geschaut oder gebaut haben bzw.: mögen beide Systeme
in jener historischen Situation auch einfach noch nicht ausdifferenziert gewesen sein.
Christian Imminger
164
Ort, sondern ›Der Freydenker‹, ›Der Patriot‹, ›Der Redliche‹, ›Die
vernünftigen Tadlerinnen‹ oder auch ›Der Mann ohne Vorurteil‹
(Schiewe 2004, 138). Dass dieses Konzept der bloß rhetorischen
Figur der Personalisierung aufging, zeigen die zahlreichen Leser-
briefe, die ebenso klar adressiert etwa an den »Herren Patrioten« bei
der Redaktion eingingen (Stöber 2005, 89).
Exemplarisch für die jüngste Entwicklung (und eigentlich zunächst
als ein Rückschritt gegenüber der Presse etwa der Weimarer Repu-
blik) mag der Spiegel stehen, der anfänglich von einem außerhalb des
Impressums nicht genannten, an anglo-amerikanischen news-magazi-
nes orientierten Autorenkollektiv bestückt wurde. Heute allerdings
findet man in dem Nachrichtenmagazin bekanntlich nicht nur Auto-
renzeilen zu jedem Artikel, sondern (wie selbst in wohl sämtlichen
Lokalteilen der Republik) auch welche in Ich-Form die nächste
Stufe auf dem Weg hin zu einer personalisierten Zeugenschaft: Man
erfährt in solcherart gebauten Artikeln (schon lange nicht mehr nur
Reportagen) nicht nur etwas über den dargestellten Sachverhalt, son-
dern auch die ihn darstellende Instanz. Und weil man etwas erfährt
über diese Person, ist man so wird spekuliert auch eher geneigt zu
glauben, was sie erfahren hat. Der Autor ist somit nicht mehr nur
Produzent seiner Zeilen, sondern auch seiner selbst: als Figur, die,
von Anteilen, welche selbst beigesteuert werden und auf Persönlich-
keit schließen lassen, erst eigentlich zum Leben erweckt wird.19
Schier zwangsläufig erscheint in dieser Logik (auch ungeachtet
aller vermeintlicher ökonomischer Vorteile für die Verleger), dass
mittlerweile der sogenannte Leser-Reporter am vorläufigen Ende
dieser Authentizitäts-Spirale steht, denn wer könnte authentischer
berichten als einer wie ich, der Leser? Zu Ende gedacht steht freilich
auch hier eine Paradoxie: Letzten Endes glaube ich irgendwann nur
noch mir selbst, sich selbst zu glauben subvertierte allerdings zu-
gleich auch die Funktion des Mediums, da sich der Neuigkeitswert
naturgemäß in Grenzen hielte. Es gibt da also welche.
Nun darf man unterstellen, dass jedes Medium um die Gefahren
der Selbstauflösung weiß,20 und in der in so genannten liberalen
Gesellschaften angesiedelten Presse gibt es zumindest ein entschei-
19 Nochmals: Diese Anteile, die der Autor zur Plausibilisierung bzw. Personalisierung
seiner selbst solcherart einschießt, müssen gar nichts, aber auch nichts mit der natürlichen
Person des Journalisten zu tun haben. Im Gegenteil: ist er ein guter, ist er nur am Gelin-
gen bzw. der Anschlussfähigkeit seiner Konstruktion interessiert.
20 Auch wenn momentan einige Tendenzen im Bereich der Printmedien vielleicht eine
andere Schlussfolgerung nahe legen, vgl. dazu Habermas 2008, 123ff.
Figurenkonzepte in der Presse
165
dendes Regulativ: das marktwirtschaftliche nämlich. Seit jeher auf
der prekären Schnittstelle zwischen publizistischer und ökonomischer
Vernunft angesiedelt,21 wurden auch in Bezug auf das Figurenkon-
zept Routinen entwickelt, die sich als äußerst stabil erwiesen haben:
die also Abnehmer fanden. So hätte sich wohl kaum so etwas wie das
Star-System Hollywoods ohne die Presse (insbesondere die Illustrier-
ten) etablieren können, und mag man auch einräumen, dass die Filme
unabhängig davon gute oder schlechte sind sie wären es dann zu-
mindest ohne Stars. Man kann trotzdem nicht sagen: Die Presse nährt
sich parasitär am Film, denn auch umgekehrt verfängt das Bild kaum.
Man kann allerdings sagen, dass die Presse nicht nur Darstellungs-
schemata, sondern im speziellen Fall darüber hinaus noch ein paar
Darsteller importiert und dann als Figuren (Stars) rekonstruiert und
mit je spezifisch personalem Überschuss angereichert hat, um genau
dadurch eine Art Alleinstellungsmerkmal zu behaupten (was erstaun-
licherweise gelingt).22
Ähnlich verhält es sich mit der Figur des Experten, den das Publi-
kum, erst einmal als ein solcher eingeführt und egal ob für den euro-
päischen Hochadel oder den Nahostkonflikt zuständig, solcherart
konditioniert nicht mehr missen möchte.23 Und den natürlich nur das
Mediensystem vorzuhalten- bzw. in die einzelnen Haushalte zu lie-
fern vermag. Dazu gehört aber auch in einer Art dialektischem Um-
schlag selbst noch die von der Presse sozusagen als Anti-Experten-
meinung inszenierte und regelmäßig präsentierte Form der Publi-
kumsbefragung (›Interview am Straßenrand‹, ›Die aktuelle Umfrage‹
u.ä.), weil selegiert, in Form gebracht. Beide, sowohl der bekannte
Experte als auch der bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Vertreter
von Volkes Stimme, folgen bestimmten figurativen Grundanforde-
rungen des Mediums und werden doch oder gerade dadurch als je
individuelle Person (etwa mit Porträt-Foto) präsentiert. Zwar kommt
es in diesem Fall in der Regel weitaus weniger als etwa beim Star auf
21 Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hier einmal ausgenommen, wobei diese von den
Alliierten geschaffene Sonderform mittlerweile nicht nur Konkurrenz bekommen, sondern
auf diese auch auf das altbekannte Muster der Konvergenz reagiert hat.
22 Die Figur des Stars erlebt und erleidet ja meist dieselben Geschichten, wer mit wem wo
gesehen wurde, welche Drogen nun schon wieder zum Absturz geführt haben diese
werden allerdings als je persönliche Schicksale rezipiert.
23 Im besten Fall transformieren einen dann die Medien zu einer Marke wie etwa Scholl-
Latour (von Print kommend mittlerweile buchstäblich auf allen Kanälen präsent), den kaum
einer mehr versteht und bei dessen Genuschel man sich dennoch aufgehoben fühlt nicht
mehr aufgrund dessen, was er sagt, sondern nur noch aufgrund der Tatsache, dass er etwas
sagt und damit wohl Welt erklärt sie ist also noch erklärbar...
Christian Imminger
166
personale Überschüsse an, ohne mindestens einen diesbezüglichen
Vorschuss aber kommen beide Figuren nicht aus.
Ganz anders dagegen der bereits erwähnte Leserreporter, der ironi-
scherweise nicht in erster Linie als Huber-Maier-Schmitz rezipiert
wird, sondern eben als Leserreporter, also als ein jeder von uns, der
zufälligerweise zur rechten Zeit am rechten Ort und bspw. ein Handy-
foto oder auch -filmchen zu machen in der Lage war. Egal, ob der
Name genannt oder nur von einer Amateuraufnahme gesprochen
wird: Das, was für Authentizität bürgen soll, ist ausgerechnet ein
Merkmal der Anonymität, ist reine Figur: die der zufälligen Zeugen-
schaft nämlich. Mag auch, wie im Fall des Anfang 2009 im Hudson
notgewasserten Passagier-Jets, für einen Tag ein gewisser Janis
Krums weltweite Berühmtheit erlangt haben, so geschah das nicht
etwa aufgrund der Tatsache, dass er der erste war, der die spektaku-
läre Notlandung getwittert hat, sondern aufgrund der Tatsache, dass
er sie getwittert hat: Es war der damals noch relativ neue Vertriebs-
weg bzw. Medienkanal, der eine fast schon naiv anmutende Auf-
merksamkeit erregte.24
An dieser Stelle sei denn auch darauf hingewiesen, dass der Ein-
fluss durch medientechnische Innovationen auf das herkömmliche
mediale Angebot nicht geleugnet werden soll. So ist etwa zu vermu-
ten, dass es immer noch genügend (Chef)redakteure gibt, die mit
Blick auf den Online-Tracker Geschichten in Print heben, die dort
aufgrund der unterschiedlichen Rezeptionsgewohnheiten und auch
unterschiedlichen Nutzergruppen (in Online und Print) buchstäblich
fehl am Platze scheinen. Das aber sind nur Randerscheinungen eines
wesentlich tiefer gehenden Phänomens, dem sich kein gesellschaftli-
ches (Sub)System zu entziehen vermag: dem einer umfassenden Be-
schleunigung nämlich, einer Beschleunigung, die nicht schlicht als
eine technikinduzierte, sondern vielmehr als eine endogene, in die
moderne Gesellschaft eingeschriebene, aufzufassen ist (vgl. exempla-
risch dazu Rosa 2005), sodass Internet oder Twitter also lediglich
Katalysatoren darstellen.25
24 Vgl. dazu: »Airbus-Unglück auf Twitter: Da ist ein Flugzeug im Hudson River. Ver-
rückt« (spiegel-online 2009).
25 Trotzdem eine Wechselwirkung, die natürlich in ihrer Wirkmächtigkeit kaum zu
unterschätzen und die in den Medien selbst zum ersten Mal nach dem Amoklauf von
Winnenden halbwegs reflektiert worden ist; vgl. etwa: http://www.faz.net/s/RubF44DB-
96803344C01A48C93EDADCB0551/Doc~E26358A12687940DF84CB71806A5CED25~
ATpl~Ecommon~Scontent.html (16.03.2009).
Figurenkonzepte in der Presse
167
Jedenfalls ist momentan noch unentschieden, wohin angesichts der
damit einhergehenden Medienkonkurrenz die Entwicklung geht, fan-
gen doch beispielsweise immer mehr Journalisten an, sich auf recht
volkstümliche Weise (und zum Teil ironischerweise unter Pseudo-
nym) in diversen Blogs auszulassen und die elektronische Graswur-
zelrevolution als vermeintliches Geschäftsmodell zu entdecken.26
Andererseits wird wieder vermehrt über journalistische Qualität
was damit auch immer im einzelnen gemeint ist als vermeintlich
einziges Heilmittel gegen die Krise geredet.27 So oder so: Figuren
spielen in dieser Zukunft eine große Rolle.
Varianz, Redundanz, Akzeptanz
Teilt man die Auffassung, dass als eine fundamentale Grundlage
wenn schon nicht der Wahrnehmung schlechthin, so doch der media-
len Bezugnahme, das Verhältnis von Redundanz und Varianz zu nen-
nen ist,28 so muss sich darin auch das Figur- bzw. Person-Schema
einfügen lassen. Und natürlich kann die Figur erst einmal auf Seiten
der Redundanz, dem Akt des Wiedererkennens verortet werden, und
das, was wir wiederum Person genannt haben, auf der der Varianz.
Dies gilt aber nicht uneingeschränkt und stellt nur eine grobe An-
näherung dar. Während als grundlegender Nachrichtenwert stets eine
(zumindest innerhalb des Mediums als solche wahrgenommene) fak-
tische Verschiebung gegenüber dem letztberichteten Zeitpunkt ange-
nommen werden kann (aus der Information A wird die Information
A+), so wird dieses ›Mehr an Information innerhalb des Spektrums
26 Wahrscheinlich, um mit prominenten Bloggern, die ebenfalls nicht unter Klarnamen
schreiben (wie etwa Don Alphonso), gleichzuziehen eine eigentlich widersinnige, wahr-
scheinlich nur kurze Zeit andauernde Maßnahme, in der die in Online-Plattformen ange-
zweifelte Kredibilität des hauptberuflichen (Print-)Journalisten ausgerechnet durch Anony-
mität wieder herzustellen bzw. Hemmschwellen der Kontaktaufnahme in Foren u.ä. abzu-
senken versucht wird. Die Möglichkeit: Sich in einem anderen Vertriebskanal auf eine
reine Figur reduzieren, mittels von null startender persönlicher Anreicherung quasi neu
erfinden zu können.
27 Zum Beispiel und ausgerechnet vom Vorstandvorsitzenden der Springer AG, Mathias
Döpfner; vgl. etwa DER SPIEGEL 10/2009 (bzw. online unter http://www.spiegel.de/-
spiegel/print/d-64385843.html) oder auf dem Monaco Media Forum 2009 im Gespräch mit
der erfolgreichen Blog-Betreiberin Ariana Huffington (siehe: http://www.youtube.com/-
watch?v=ar6pCxwtUBk). Die Zielrichtung ist klar: Argumente für Paid Content zu finden.
28 Vgl. dazu exemplarisch Luhmann (1995, 37): »Dank ihres neurophysiologischen Unter-
baus ist Wahrnehmung endogen unruhig. Sie ist, wenn Bewusstsein überhaupt tätig ist,
ständig dabei. Das ergibt eine einzigartige Kombination von Redundanz und Information.«
Christian Imminger
168
der Nachrichtenmedien allerdings je unterschiedlich gewonnen: Wird
eine Novelle des Datenschutzgesetzes im Bundestag debattiert, so ist
davon auszugehen, dass in der Berichterstattung darüber lediglich auf
die auf ein Minimum reduzierten Figurenschemata der Oppositions-
bzw. Regierungsvertreter zurückgegriffen wird (und nicht etwa das
Dekolleté der Regierungschefin). Umgekehrt wiederum zeitigte die-
ses Dekolleté bei einem politisch-sachlich relativ unbedeutenden
Besuch einer deutschen Kanzlerin in der Osloer Oper geradezu ab-
surde mediale Phantasien.29 Vielleicht kann man also zunächst einmal
sagen: Figuren als Handlungsträger werden umso mehr auf ihr
Grundschema reduziert, je abstrakter der eigentlich zu berichtende
Sachverhalt, und umgehrt.30
Und dieses ›Umgekehrt‹ ist gerade das Problem: Die hier unter-
stellte publizistische Faustregel, dass bei komplexen Fragestellungen
auf ein umso klarer umrissenes, auf seine Grundzüge reduziertes
Figurenschema zurückgegriffen werden muss, greift natürlich nur so
lange, solange komplexe Fragestellungen überhaupt angegangen
werden. Zugespitzt formuliert: Mögen die Medien seit jeher stets
auch mit dem Mittel der Auslassung operiert haben, so gibt es durch-
aus Indizien dafür, dass mittlerweile teilweise (und wieder: je nach
dem Segment, das bedient wird) bereits der Bereich der Unterlassung
erreicht ist.31 Geht man etwa mit Crouch davon aus, dass sich die
Nachrichten(sprache) im steten Wechselspiel von Angebot und Nach-
frage immer mehr von der Lebenswelt derer entfernt, die eigentlich
die Nachrichten- bzw. die Sprachträger sind, muss diese Komplexi-
tätsreduktion zwangsläufig mit etwas anderem angereichert werden.32
Vielleicht ja: personalem Überschuss.33
29 Vgl. dazu nur die Berichterstattung der Bild-Zeitung bzw. von www.bild.de: „Angie
Royal!“ (23.07.2008).
30 Mit allen Abweichungen in den verschiedenen, eingangs erwähnten Pressegattungen.
31 Kritische Anmerkungen dazu, mal mehr, mal weniger normativ, lassen sich zuhauf
finden. An dieser Stelle sei nur darauf verwiesen, dass alleine der Abbau von Ressourcen,
der seit der ersten großen Zeitungskrise der Republik (2001) dazu führte, dass in vielen
Redaktionen »die Untergrenze erreicht« (Röper 2008) ist, zwangsläufig auch Auswirkun-
gen auf den journalistischen Output haben muss wie auch immer man geneigt ist, im
einzelnen Qualität zu definieren (vgl. ebd.).
32 Wobei Crouch v.a. die Bereiche der Politik und der Wirtschaft als die unsere Lebenswelt
dominierenden im Auge hat (vgl. Crouch 2008, 66f). Insofern könnte man auch behaupten,
dass nicht etwa die Nachrichtensprache sich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft entfernt,
sondern sich der Fokus allmählich mehr hin zum so genannten Menschlichen, mehr in
Richtung Yellow Press verschoben hat. Und gewiss gibt es Indizien nicht nur für eine
inhaltliche, sondern auch eine wie eingangs gezeigt ästhetische Konvergenz zwischen
Figurenkonzepte in der Presse
169
Es überrascht jedenfalls wenig, dass momentan eines der erfolgreich-
sten Figurenkonzepte überhaupt das des Prominenten ist: Eine Figur,
deren personales Pendant (im Gegensatz zum Star oder Experten) in
der Regel so gut wie keine außermedialen Qualitäten mehr aufweisen
muss, außer denen, sich (zumeist) freiwillig und sogar mit einigem
Nachdruck in die Verwertungsschleife der Medien begeben zu haben
und gewillt zu sein, nach deren Regeln zu spielen. Eine Figur auch,
die gerade weil sie das eigentliche Ereignis darstellt, zu jenem Effekt
führt, mithilfe eines immer größeren personalen Überschusses operie-
ren zu müssen um den Preis freilich, dass dieser umso schneller
aufgebraucht wird.
Denn wird wie gezeigt über diesen Varianz generiert, so sorgt der
dem System innewohnende Innovationsdruck in der Regel für eine
geringere Halbwertszeit der je konkreten, personalisierten Figur, je
stärker ebendiese Personalisierung fortgeschritten was für die Me-
dien kein Problem, aufmerksamkeitsökonomisch sogar Bedingung
ihrer Möglichkeit ist, für einzelne Individuen (und das bleiben sie ja
dann doch) aber natürlich weniger angenehm sein kann.34 Oder an-
ders formuliert: »Den heutigen Toren des globalen Fernsehdorfs be-
schützt niemand« (Eco 2007, 82). Im Gegenteil: Er erhielte ansonsten
nicht einmal Zutritt.
So verwundert es jedenfalls wenig, dass kaum mehr eine Rolle
spielt, wer Deutschlands Superstar war oder ist, eben weil es eine so
seriöser und der Boulevard-Presse. Dessen ungeachtet aber bleibt festzuhalten: Über Poli-
tik, Wirtschaft, Wissenschaft wird weiter berichtet nur eben anders.
33 Andererseits darf hierbei auch noch ein anderer Faktor unterstellt werden: Indem sich im
Zuge einer deutlichen Entideologisierung von Politik bzw. der Umcodierung des Schemas
Regierung/Opposition in Regierung/Ersatzregierung (oder gar: Verwaltung/Ersatzverwal-
tung) politische Akteure figurativ annähern, also austauschbarer werden, muss eine Auf-
wertung personaler Faktoren der einzelnen Akteure schier zwangsläufig erfolgen man
betrachte nur etwa den medialen Aufstieg Karl-Theodor zu Guttenbergs im Jahre 2009.
Oder, das ganze auf die Spitze treibend: das gleichzeitige Phänomen Horst Schlämmer, der
Kunstfigur des Komikers Hape Kerkeling, die nur scheinbar paradoxerweise gerade als
Person funktioniert.
34 Exemplarisch dazu etwa Britney Spears, die zuerst erfolgreich das Figurenkonzept der
unschuldigen Pop-Lolita erfüllte, für dieses Konzept nach einigen Wendungen alsbald aber
unbrauchbar wurde (vgl. Buhr 2007, 50). Demgegenüber wäre zu diskutieren, inwieweit
das Konzept des »virtuellen Stars«, wie es Thomas T. Tabbert entwirft, überhaupt funktio-
nieren könnte: Mag personaler Überschuss in beiden Fällen, also auch beim ›realen‹ Star
bzw. Promi, mindestens teilweise »programmiert« sein, so entfällt im Falle der Cyber-
Berühmtheit zumindest so etwas wie die Aura der Authentizität (vgl. Tabbert in
Selke/Dittler 2009, 94ff).
Christian Imminger
170
große Rolle spielt. Hier verwirklicht sich erst eigentlich, was
Horkheimer und Adorno schon dem Star zugeschrieben haben:
»Nur dadurch, dass die Individuen gar keine sind, sondern
bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allge-
meinen, ist es möglich, sie bruchlos in die Allgemeinheit
zurückzunehmen« (Horkheimer/Adorno 2003 [1969],
164).
Zusammenfassend und als eine Art vorläufige Bilanz lässt sich viel-
leicht sagen, dass im Spannungsfeld zwischen Figur und Person die
figurativen Grundschemata je im Dienste der Orientierung, An-
schlussfähigkeit und Unterhaltung35 stehen (Redundanz), die persona-
len Überschüsse wiederum Aufmerksamkeit, Authentizität und
ebenfalls Unterhaltung36 (Varianz) gewährleisten sollen. Dass das
Unterhaltungselement auf beiden Seiten vorkommt, kann nun wie-
derum kein Zufall sein. Denn mag der Unterhaltungsanteil auch an-
steigen, er täte es dann zumindest zwangsläufig, weil im System von
Anfang an als Gratifikation mitangelegt: Als eigentlicher Mehrwert
einer Kommunikation, der auf Seiten des Rezipienten in der je selbst
bestätigten, weil erfolgreich vollzogenen, eigenen Anschlussfähigkeit
liegt; wenn man so will der persönlichen (Re-)Aktualisierung von
und Teilhabe an Welt und jedenfalls nicht in einer wie auch immer
gearteten Erkenntnis dessen, was sie denn etwa im Innersten zusam-
menhält. Der Zeitungsleser ist so besehen natürlich auch erstmal nur
eine Figur.37 Allerdings eine, auf die aufgebaut werden kann, ebenso,
wie er selbst es tut, weil er ansonsten wahrscheinlich gar keiner wäre.
35 Als der befriedigende Akt des Wiedererkennens.
36 Als der befriedigende Akt des Überraschtseins.
37 Allerdings eine im bewussten Gegensatz zur bloß empirischen Aggregation seiner ver-
meintlichen Eigenschaften, Vorlieben etc., wie sie etwa mittels Reader Scans, Umfragen
u.ä. erstellt wird.
Figurenkonzepte in der Presse
171
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172
173
IV. Bild
174
175
Norbert M. Schmitz
Die soziale Attraktivität des medialen Wandels
der Figur zwischen Kunst- und Filmgeschichte
Im Folgenden soll die Entwicklung der menschlichen Figur in der
neuzeitlichen Bildkultur im Kontext der Entwicklung illusionistischer
und individualisierender Darstellungspraxen im Kontext des Medi-
enwandels bzw. der Transformation der Figur in neue mediale Kon-
texte, insbesondere am Beispiel der Entstehung der Zentralperspek-
tive in der Renaissancemalerei und des Classical Style im Kino unter-
sucht werden. Die Medienformen sind dabei nicht allein neutrales
Gefäß der Figurendarstellung, sondern beide finden in der sozialen
Figuration des Zivilisationsprozesses ihr gemeinsames Drittes. Das
Paradox der Prominenz der menschlichen Figur und ihrer Unterord-
nung im nivellierenden homogenen Systemraum des zentralperspekti-
vischen Bildes korrespondiert mit der Entwicklung des neuzeitlichen
Individuums als Ergebnis sozialer Verdichtung im Sinne der Figura-
tionssoziologie (Abschnitt 1). Entsprechend verweist das Verschwin-
den des klassischen Menschenbildes in der modernen Malerei na-
mentlich der abstrakten Avantgarde nicht auf ein Ende des Subjekts,
sondern zeigt wie die zentrale gesellschaftliche Funktion der symbo-
lischen Darstellung des sich wandelnden Subjekts allein noch durch
die Komplexität der industriellen Medien erfüllt werden kann (Ab-
schnitt 2). Die aktuelle Gleichzeitigkeit und formale Vielfalt unter-
schiedlichster Modi der Figurendarstellung in der Gegenwart entspre-
chen einer zunehmend selbstverständlichen differenzierten Praxis
multipler Subjekte (Abschnitt 3).
Norbert M. Schmitz
176
Figurendarstellung in der neuzeitlichen Zivilisation
In vormodernen Künstlernachlässen finden sich häufig nur zwei -
cher, die offensichtlich für einen guten Teil der in der Malerei ver-
wendeten Stoffe ausreichten: die Bibel und die Metamorphosen
Ovids, die denn auch gerne als ›Malerbibel‹ bezeichnet wurden.
Abb. 1: Marcantonio Franceschini: Die Verwandlung des toten Adonis,
1692-1700.
Die klassische Schrift des epikureisch gesonnenen Dichters aus der
Regierungszeit des Kaisers Augustus schildert bekanntlich einen
ununterbrochenen Formenwandel, in der Regel Strafe oder Lohn der
Götter für das Treiben der Sterblichen und oft genug Ausgleich für
die menschlichen Opfer himmlischer Allmacht. Der Dichter war we-
gen seines libertinären Lebenswandels durch die um Erneuerung alt-
römischer Tugend bemühte kaiserliche Propaganda ins Tomesche
Exil verbannt worden und buhlte um Rehabilitation und Heimkehr in
die Hauptstadt. Das Opus ist also mehr als eine oft freizügige und
effektvolle zeitgemäße Deutung der überlieferten antiken Mytholo-
gie. Vielmehr geht es um die Permanenz des Wandels im Geiste py-
thagoräischer Esoterik, d.h. sie ist Gleichnis einer dynamischen Kos-
mologie und Philosophie des Wandels. Das fast unübersehbare Figu-
renkabinett, die erschreckenden, anheimelnden, anziehenden oder
abstoßenden Einzelschicksale sind sinnhafter Ausdruck eines Prin-
zips: Alles ist ständiger Veränderung unterworfen.
Figurenkonzepte in der Kunst
177
Ovid schrieb seine erotisierende Poesie in der beginnenden römischen
Kaiserzeit, Jahrhunderte nach dem Wirken Hesiods oder Homers, und
problematisierte die Zuverlässigkeit solcher Überlieferungen. Doch
trotz allen Zweifels bleibt für den Lyriker der permanente Wandel der
Figur, der Verlust an Sicherheit und Stabilität Essenz seiner Auffas-
sung vom Menschen und so ist ihm jede Figurendarstellung und da-
mit die Subjektkonstitution der neuzeitlichen Gesellschaft, wie sie in
der römischen Zivilisation ein erstes Vorspiel hatte, eine Metamor-
phose.
Keine zweite Dichtung hatte neben der Bibel jedenfalls so sehr das
Figurenrepertoire der neuzeitlichen Kunst geprägt wie die Ovids.
Insofern kann seine Ästhetik des Wandels in Permanenz auch Leit-
motiv für eine Erörterung der Genese der Figur in der neuzeitlichen
Kunst und ihrer medialen Repräsentation sein. Gegenstand des Fol-
genden ist eine eher medien- und kulturwissenschaftliche Perspektive
auf einen ansonsten in der Kunstgeschichte breit und lang anhaltend
diskutierten Prozess: die Ausbildung einer menschlichen Figur in
Abhängigkeit von ihren medial determinierten Darstellungsformen
einerseits und ihrer Funktion hinsichtlich der Explikation wie Kon-
struktion eben jenes neuzeitlichen und zuletzt modernen Subjekts, das
sie ja gerade darzustellen trachtet. Dabei ist eine doppelte Ontologie
von Figur und Medium zu vermeiden.
Nicht nur die Gegenstände, auch deren Begriffe sind bekanntlich
selten klar zu definieren und entwickeln sich in wechselseitigem Be-
zug. Dies gilt auch für den der Figur. So bleibt der viel benutzte Be-
griff in der kunstwissenschaftlichen Diskussion eher vielschichtig.
Die Bedeutung reicht dabei vom nahe liegenden Gebrauch als Be-
zeichnung der Darstellung menschlicher Gestalten über die allgemei-
nere Bezeichnung formaler Figuren innerhalb eines Gestaltungsfeldes
bis hin zur Kennzeichnung formal-abstrakter Figuren zwischen anti-
ker Geometrie und einer allgemeinen Formenlehre im Geiste der
abstrakten Kunst.1 Dieses Spannungsfeld kann aber selbst wieder als
Indikator allgemeiner Prozesse im Sinne einer dynamischen Mor-
phologie bildnerischer Form verstanden werden.2
Auch im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte findet sich
kein eigener Eintrag, einzig einer zur Geschichte der Figurine (Wirth
1 Die rhetorische Figur einschließlich eines weniger gebräuchlichen Sinnes einer festen
Form innerhalb der Bildrhetorik sei hier nur erwähnt. Eine etablierte Wissenschaft der
Bildrhetorik steht ohnehin weiter aus (Warncke 1987, 131ff und Heinen 1996, insb. 20ff).
2 Vgl. die Ausführungen von Rainer Leschke in diesem Band.
Norbert M. Schmitz
178
1987, 943).3 In der Konsequenz kann und soll ein eigentlicher Defini-
tionsversuch der Figur aus kunstwissenschaftlicher Perspektive hier
nicht geleistet werden, vielmehr geht es im Sinne dieses Bandes zu
Fragen einer Medienmorphologie ausschließlich um die Rolle der
Personendarstellung in der neuzeitlichen Kunst im Kontext medialen
Wandels. Die Frage dieser ikonologischen Untersuchung ist also, wie
sich die Figur durch den Medienwandel verändert, bzw. wie letzterer
selber Folge neuer Anforderungen an die Repräsentationsmöglich-
keiten der menschlichen Figur ist. Der Autor geht davon aus, dass
keine der beiden Größen, Figur und ihre mediale Repräsentation,
unabhängig von einem übergreifenden Wandel zivilisatorischer Ent-
wicklungen zu verstehen ist, also keine den Schauplatz der neuzeitli-
chen Zivilisation gewissermaßen als deus ex machina betritt. Und so
wird im Folgenden wenigstens so viel vom Wandel der medialen
Repräsentation wie von der Figur selbst die Rede sein.
Es geht also um die mehr der weniger illusionistische Darstellung
der Figur in zweidimensionalen Bildmedien in dem Sinne, wie sie in
der Sprachpraxis der Kunstwissenschaften als Differenz von figurati-
ver und nonfigurativer Darstellung üblich ist. Das heißt, andere sich
durchaus hiermit überschneidende Figurbegriffe, wie z.B. eine ab-
strakte Dreiecksfigur oder eine figura serpentinata, sind hier nicht
gemeint. Wenn ich mich zudem nur auf die menschliche Figur be-
ziehe, ist dies sicherlich eine Einschränkung gegenüber anderen In-
halten gegenständlicher Kunst, wenngleich der weitere Gang der
Argumentation zeigen wird, dass eben die Menschendarstellung nicht
einfach Gegenstand, sondern zentraler Fokus neuzeitlicher Bildge-
schichte ist.
Wenngleich etwa bei den Überlegungen zur Architektur metho-
disch einige Ausdifferenzierungen vorzunehmen wären, impliziert der
folgende Ansatz allerdings die prinzipielle Verwandtschaft von Ent-
wicklungen, etwa zwischen in der Architektur eingebundener Kathe-
dralplastik einerseits und autonomer Freiplastik der Frührenaissance
und der Entwicklung von Figuren auf byzantinischen Mosaiken und
3 Bezeichnend ist allerdings, dass in verwandten Artikeln wie etwa zur Figurentafel von
Friedrich Kobler und Karl-August Wirth oder zur Figurine von Jost Hermand der Begriff
›Figur‹ ähnlich wie in diesem Aufsatz gebraucht wird. Einzig der Artikel zum Figurenge-
dicht von Hellmut Rosenfeld impliziert dem spezifischen Gegenstand geschuldet eine
weitere Auffassung des Begriffs, die z.B. auch die ›abstrakte Figur‹ einschließt.
Figurenkonzepte in der Kunst
179
der italienischen Malerei des Quattro- und Cinquecento andererseits.
Allein fehlt hier der Platz dem weiter nachzugehen.4
Nun findet der Begriff Figur auch jenseits der Darstellung von
Menschen und Tieren etwa in der Beschreibung abstrakter Figuren
bzw. Figurationen Verwendung, und ebenso ist er bei der Diskussion
des Figur-Grundverhältnisses in der Wahrnehmungspsychologie
selbstverständlicher Bestandteil kunst- und medienwissenschaftlicher
Diskurse.5 Wenngleich diese vielfältigen Fäden hier nicht weiter
aufgenommen werden, ließen auch diese sich leichthin an das Thema
der menschlichen Figurendarstellung rückbinden. Inwiefern zeichnen
sich beispielsweise auch abstrakte Figuren der modernen Kunst, bei
aller theoretischen Rückbindung an die Ideenlehre Platons oder die
Mathematik, doch auch durch die fast notwendig vermenschlichende
Lektüre seitens der Rezipienten aus? El Lissitzky hat dies in seinem
berühmten Kinderbuch von der Geschichte zweier Quadrate vielleicht
unfreiwillig zur Anschauung gebracht (vgl. Lissitzky 1922, 134ff).
Abb. 2: El Lissitzky: Suprematistische Erzählung von zwei Quadraten in 6
Konstruktionen.
Ähnliches gilt für die Anthropologie der Gestaltwahrnehmung, die
beim sozialen Lebewesen Homo sapiens bis in die Besonderheiten
der neuronalen Dispositionen immer schon vorrangig auf die Wahr-
nehmung des Gegenübers, der menschlichen Figur geeicht zu sein
scheint. Doch auch dies würde den Rahmen dieses Beitrages spren-
gen.6
4 Wohl immer noch lesenswert hierzu: Über Idealismus und Realismus in der gotischen
Skulptur und Malerei von Max Dvorák (1924).
5 Zu Implikationen eines kunsttheoretischen Modernismus siehe Gestaltpsychologie und
künstlerische Form von Rudolf Arnheim (1992).
6 Populär hierzu Das Gesicht von Daniel McNeill (2001).
Norbert M. Schmitz
180
Die zentrale Frage dieses Aufsatzes ist, ob ein Wandel der Darstel-
lungsformen der menschlichen Natur, wie er in der Entwicklung der
neuzeitlichen Zivilisation vor allem an zwei historischen Punkten
epochal verortet werden kann, nämlich der Entwicklung der Zentral-
perspektive in der frühen Renaissance und dem Aufgeben derselben
in der Kunst des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts, einen Einfluss
auf die Form des medialen Wandels selbst hat, oder ob sich dessen
Ausrichtung, also die symbolische Form der Zentralperspektive im
Sinne Panofskys, unabhängig von den Darstellungspraxen der
menschlichen Figur entwickelt. Konkret: Sind etwa die Figuren in
Giottos Fresken wie alle anderen Weltobjekte in seinen Bildern nur
beliebiger Inhalt eines übergeordneten Gestaltungssystems oder ist
dessen Entwicklung Produkt einer neuen Figurendarstellung? Muss
man also die Genese der menschlichen Figur gegenüber den Techni-
ken ihrer medialen Abbildung autonom verstehen und ist umgekehrt
medialer Wandel prinzipiell vom Schicksal dieses Darstellungsinhal-
tes unabhängig?7 Und wie verhält sich alles dies zu einer Repräsen-
tationskrise der Moderne‹, in der ohnehin jede Repräsentation, also
erst recht die vornehmste der menschlichen Figur, problematisch
geworden ist (vgl. Böhm 1985, 113ff)?
Dem Kunsthistoriker der Moderne sind solche Fragen jedenfalls
vertraut, verstehen sich doch viele Künstler der frühen Abstraktion in
unterschiedlichster Ausprägung als Schöpfer autonomer Bildwelten,
in denen die Eigenständigkeit des Mediums der Malerei gegenüber
dem Menschen, sei es als Darstellungsinhalt, sei es im Rahmen seines
natürlichen Wahrnehmungsapparates, behauptet wird.8 Ebenso kennt
aber schon die klassische Avantgarde ein Unbehagen am Verschwin-
den des Menschen aus der Kunst, so wenn Oskar Schlemmer am
Bauhaus das gerade erst abgeschaffte Aktzeichnen wieder einführt
und um einen Kurs zum Thema Der Mensch ernzt (vgl. Schmitz
1999). Doch zum Verständnis dieser Provokation bedarf es eines
weiten Bogens bis zurück zur Entstehung des neuzeitlichen Figuren-
bildes im ausgehenden Mittelalter.
7 Die hier implizite Epochalisierung darf natürlich nicht ontologisierend missverstanden
werden, sie unterstellt aber eine Spezifik und Kontinuität neuzeitlicher Kunst, wie sie an
anderer Stelle die Genese der Geschichte der Bild- und Kunsttheorie Hans Beltings (1990)
begründet.
8 Auf die notwendig »anthropomorphische« Lektüre jedes Bildes weist schon Bazon Brock
(1990, 312) hin.
Figurenkonzepte in der Kunst
181
Das Paradox der neuzeitlichen Figurendarstellung
Was kennzeichnet nun grundlegend die neue Positionierung der Figur
zu Beginn der Renaissance? Auf der Oberfläche wird sie nach Wert
und Form gegenüber allen anderen Gegenständen nivelliert, das heißt,
auch der ehedem vornehmste Gegenstand, einschließlich der Schilde-
rung Gottes und der Heiligen, wird den gleichen Darstellungsmodi
untergeordnet wie alles sonstige auch. Das Gesetz perspektivischer
Verkürzung gilt in Mantegnas Der heilige Jacob auf dem Weg zur
Richtstätte aus der Mitte des 15. Jahrhunderts gleichermaßen für eine
banale Zinne auf einem Turm wie für das Antlitz des Herren (Abb.
3).
Abb. 3: Andrea Mantegna: Der heilige Jacob auf dem Weg zur Richt-
stätte, um 1455.
Das menschliche Maß, vermeintlich doch der Richtwert des Renais-
sance-Humanismus, zieht sich ganz in die Subjektivität des Betrach-
ters bzw. des Künstlers, d.h. seinen Augenpunkt, zurück, der gegen-
über den Bedeutungen des Inhaltes, gar seinen Versuchungen gleich
einem mechanischen Apparat indifferent zu werden scheint, so wie
eben Dürers Blick im berühmten Holzschnitt aus dem Traktat über
die Malerei, wenn er schamlos und gleichgültig direkt auf das Ge-
schlecht des liegenden Weibes schaut.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die mittelalterliche
Darstellungspraxis. Hier wurde die selbst flächig aufgefasste Figur in
Norbert M. Schmitz
182
einen symbolisch determinierten Raum eingebunden. Bekanntes Bei-
spiel ist der byzantinische Goldgrund, dessen räumliche Determinan-
ten allein vom religiösen Kontext abhingen. Es konnten allerdings
auch sehr pragmatische Funktionen adäquat repräsentiert werden,
ohne das eine mathematisch-rationale Systematisierung der Darstel-
lungsfläche nötig war, wie wir von den neuerlich in der Forschung
viel beachteten mittelalterlichen Landkarten wissen, die keinesfalls
die phänomenalen Proportionen der geographischen Realität abbil-
deten und dennoch beste Orientierung boten. Sie stellten mit ihrem
System eingezeichneter Entfernungsangaben in Tagesreisen etc. eine
relativ verlässliche Quelle für den Benutzer, sei er Handelsreisender
oder Pilger, dar. Wenn zudem die heilige Stadt Jerusalem in der Mitte
der Karte als symbolisches und reales Zentrum platziert wurde, ka-
men religiöse und funktionale Bestimmung zusammen. Aber gerade
diese pragmatische Dimension ist entscheidend für das Verhältnis
von historischer Bildlichkeit und ihrer Funktionr die Stellung der
Figur als symbolischer Verhandlung der Positionierung des Indivi-
duums in einer sozialen Figuration. Sybille Krämer bemerkt:
»Im Gebrauch von Karten zeigt das Bildliche seine opera-
tive Dimension. Visualisierung macht nicht nur über-
schaubar […], sondern auch handhabbar und beherrschbar.
Diese operative Funktion vereint Kartografie, Diagram-
matik und Schriftbildlichkeit« (Krämer 2007, 77).
Es käme allerdings einem ahistorischen Kunstästhetizismus gleich,
dies nicht auch für den Wandel der Figurendarstellung zu veranschla-
gen. Entscheidend ist, wie bei so vielen anderen Phänomenen neu-
zeitlicher Kultur, nicht eine bestimmte Kulturtechnik, sondern deren
Universalisierung innerhalb eines vereinheitlichten sozialen Sy-
stems.9
Wenngleich es für die Kunsthistorik eine Selbstverständlichkeit ist,
sei hier noch einmal festgehalten: Der mittelalterliche Bildraum ist
alles andere als eine nur schlicht-dekorative Fläche und darf folge-
richtig auch nicht mit der radikal zweidimensional gedachten Fläche
konkreter Kunst verwechselt werden. So kann auch die Darstellung
der Figuren nicht allein dekorativ verstanden werden, sondern sie
unterlag unterschiedlichsten Funktionen von der Bedeutungsperspek-
9 Eben das scheint mir eher als seine ›Protestantismusthesen‹ die eigentliche These Webers
(vgl. Peukert 1989).
Figurenkonzepte in der Kunst
183
tive als Repräsentation religiöser und politischer Hierarchien bis hin
zu narrativ effizienten Formen der Abbildung von Prozessen in der
Zeit wie der Heilsgeschichte oder den Heiligenlegenden.10 Dabei
verbanden sich oft mehrere Bedeutungsebenen, die den symbolischen
Raum ordneten. Erwähnt sei nur die Doppelcodierung in den Typolo-
gien, bei denen die Positionierung der Personage einerseits der Dar-
stellung des heiligen Geschehens diente, anderseits dessen heilsge-
schichtliche Bedeutung durch Analogisierung verschiedener Narra-
tionen durch Korrespondenzen in der räumliche Anordnung sichtbar
machte.
Zweifellos kam es schon lange vor der Ausbildung der Zentralper-
spektive zu naturalistischen Darstellungsformen im Detail, allein
blieben sie bezogen auf jeden größeren illusionistischen räumlichen
Zusammenhang isoliert.11
So war im Großen und Ganzen von Positionierung einer Figur im
romanischen Wandfries oder auf einer karolingischen Buchseite bis
hin zur Bauplastik der Kathedrale die Figur integrierter Bestandteil
eines flächigen bzw. räumlichen Gefüges, dessen Struktur konkreten
symbolischen Ordnungen geschuldet war und nicht einer universalen
gegenstandsunabhängigen Matrix, wie sie die Zentralperspektive
10 Dies ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen wendet sich die Bemerkung kritisch
gegen Versuche, die klassische Stilkritik eines Riegl und Wölfflins als kunstwissenschaftli-
che Methode des beginnenden Modernismus Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auf die
Medienwissenschaft anzuwenden, zum anderen gegen ein ahistorisches Verständnis von
Bildwissenschaft, das anthropologische Universalia der Wahrnehmung zum Beispiel im
Verhältnis von räumlicher Illusion und zweidimensionaler Fläche, wie sie fraglos Refle-
xionspunkte der klassischen Moderne waren, auf unterschiedlichste Epochen überträgt. Die
Medien des industriellen und postindustriellen Zeitalters sind durch die Rolle der Fotogra-
fie nicht ohne das Raumverständnis der Zentralperspektive zu denken, jede Aufhebung
derselben impliziert diese noch in ihrer Negation. Letzten Endes gab schon der Klassiker
Hauser (vgl. 1958) erste Anregungen hierzu. Problematisch hingegen sind neuerer Ansätze
wie z.B. die Aumonts (1989). Eine deutsche Zusammenfassung seiner Thesen bietet der
Autor unter dem Titel: Projektor und Pinsel Zum Verhältnis von Malerei und Film
(1992).
11 Noch deutlicher wird dies in der Plastik, wo der so genannte ›gotische Realismus‹ der
Einzelfigur diese durchaus in einem rein architektonisch determinierten symbolischen
Raum zurückband. Allein sollte die Plastik in der gesamten europäischen Kunst nur selten
ihre Rückbindung an den architektonischen Kontext und seine symbolische bzw. rhetori-
sche Funktion verlieren. Die Autonomie der Freiplastik in der Renaissance trat bald wieder
hinter dem Anspruch der barocken Gesamtinszenierung für die kirchliche und weltliche
Repräsentation zurück. Nun könnte man auf die zentralperspektivische Anordnung baro-
cker Schauarchitektur verweisen, doch angesichts der vielfältigen Problematik, die die
Übertragung von Darstellungspraxen von flächigen auf räumliche Medien birgt, möchte ich
mich hier auf die Figurendarstellung in Malerei und Graphik beschränken.
Norbert M. Schmitz
184
darstellt. Es handelt sich also nie um den konkreten psycho-physi-
schen Renaissanceraum Panofskys und schon gar nicht jenen Illu-
sionsraum, dessen historische Genese Gombrich beschreibt (1978).
Und dies entspricht der sozialen Realität des Einzelnen in der mittel-
alterlichen Gesellschaft, seiner unverrückbaren Position innerhalb
eines hierarchisch festen Gefüges einerseits, seinem affektgeleiteten
und augenblicksorientierten Handeln in unterschiedlichsten Situatio-
nen, ohne Anspruch und Erwartung diese zu integrieren andererseits.
Johan Huizinga hat dieses dem modernen Menschen unnachvollzieh-
bare Schwanken zwischen größter Frömmigkeit und eruptiver Bruta-
lität als charakteristisch für den Herbst des Mittelalters beschrieben
(vgl. Huizinga 1987).
Die umfänglichen kunstgeschichtlichen Prozesse bedürfen hier nur
der Andeutung und der Versuch einer kunstwissenschaftlichen Deu-
tung dieses die Fachgeschichte prägenden Phänomens würde den
Rahmen dieses Aufsatzes sprengen bzw. die Möglichkeiten des Au-
tors überschreiten und ist für die zentrale These dieser Überlegungen
auch nicht wesentlich. Denn wie auch immer diese komplexen Aus-
bildungen aufgefasst werden, herrscht doch Einigkeit darüber, dass
die frühneuzeitliche Kunst gleichermaßen die Entwicklung einer
vereinheitlichenden Zentralperspektive kennzeichnet, wie die Entste-
hung einer im eigentlichen Sinne individuellen Figurendarstellung,
und diese ist offensichtlich nicht ohne die Entstehung des frühneu-
zeitlichen Subjekts zu denken.12
Das Paradox besteht also eben darin, dass gerade die Ausbildung
einer individualisierten und naturalistischen Figurendarstellung als
prominentem Ergebnis frühneuzeitlicher Kunst mit der Nivellierung
der Figurendarstellung unter einem vereinheitlichenden und ihr ge-
genüber gleichgültigen System verbunden ist.
Die gegenläufige Tendenz zur Verallgemeinerung und Individuali-
sierung in der Renaissance zeigt sich schon im Grundproblem des
Konfliktes zwischen wissenschaftlicher Objektivierung der Perspek-
tivkonstruktion und der Nobilitierung einer individuellen Künstler-
persönlichkeit. Bernd Busch führt aus:
»Die eigenartige geschichtliche Ambivalenz der perspekti-
vischen Welt-Anschauung gründet in zwei ihr wirksamen,
12 Dies gilt selbst für deren negative Deutung als Element kultureller Repression, die zur
Ausblendung bzw. Unterdrückung alternativer Darstellungssysteme führt, siehe beispiels-
weise Der Mythos der Perspektive von Karl Clausberg (1996).
Figurenkonzepte in der Kunst
185
gegenläufigen Tendenzen: der Nobilitierung der künstleri-
schen Arbeit einerseits und dem Gedanken der Mimesis,
den die Renaissance als imitatio naturae wieder aufnahm,
andererseits. Die vorübergehende Einheit von Naturnach-
ahmung und Naturüberwindung in der Verbindlichkeit a
priori gültiger oder empirisch begründeter Gesetzlichkeiten
während der Frührenaissance zerfiel unter den zwei Ein-
flüssen: der Perfektionierung des Abbildes, die schließlich
im Ikonoklasmus der Fotografie gipfeln sollte, und dem
neuen Wahrheitsanspruch der Kunst als menschlicher
Schöpfung, der immer weniger als Naturwahrnehmung zu
fassen war« (Busch 1989, 88).
Tatsächlich entsteht hier in einem vom konkreten Gegenstand und
jeder überlieferten Hierarchie völlig unabhängigen universalen Dar-
stellungssystem eine neue Form figurativer Dominanz. Vergegen-
wärtigen wir uns, wie Panofsky 1924/25 in seinem berühmten Auf-
satz Die Perspektive als symbolische Form die historischen Konstel-
lationen der Entstehung der Zentralperspektive (Panofsky 1974, 99ff)
beschreibt. Der Kunsthistoriker zeigt im Vergleich mit anderen Per-
spektivformen der Antike wie des alten Orients und den internen
Differenzierungen innerhalb der Perspektivkunst der neuzeitlichen
Malerei, dass diese selbst historisch wandelbare symbolische Formen
für ganz bestimmte modern gesagt soziale und kulturell be-
stimmte Dispositive darstellen:13
»Von der Struktur des psychophysiologischen Raumes ab-
strahiert die exakt-perspektivische Konstruktion [der Re-
naissance] grundsätzlich: Es ist nicht nur ihr Ergebnis,
sondern geradezu ihre Bestimmung, jene Homogenität und
Unendlichkeit, von der das unmittelbare Erlebnis des
Raumes nichts weiß, in der Darstellung desselben zu ver-
wirklichen den psychophysiologischen Raum gleichsam
in den mathematischen umzuwandeln. [...] Allein wenn
Perspektive kein Wertmoment ist, so ist sie doch ein Stil-
moment, ja mehr noch: sie darf, um Ernst Cassirers glück-
lich geprägten Terminus auch für die Kunstgeschichte
13 Der Begriff wird hier allerdings mehr in einem historisch-dynamischen Sinne gebraucht
als bei Foucault. Zur Kritik Bourdieus an dem Diskurstheoretiker vgl. Das literarische Feld
von Joseph Jurt (1995).
Norbert M. Schmitz
186
nutzbar zu machen, als eine jener symbolischen Formen
bezeichnet werden, durch die ein geistiger Bedeutungsin-
halt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und die-
sem Zeichen innerlich zugeeignet wird; und es ist in die-
sem Sinne für die einzelnen Kunstepochen und Kunstgebi-
ete wesensbedeutsam, nicht nur ob sie Perspektive haben,
sondern auch welche Perspektive sie haben« (Panofsky
1974, 108).
Was ist nun aber der symbolische Gehalt bzw. die Bedeutung für die
Figur, wenn das Darstellungssystem diese ja einem homogenen Bild-
raum unterordnet (Hoffmann 1966)? Kay Kirchmann beschreibt die
Aufhebung qualitativer Differenzen in der Abbildung unterschied-
lichster Darstellungsgegenstände drastisch:
»Die Homogenität des Systemraums [ein Begriff
Panofskys; NMS] impliziert zugleich die Nivellierung aller
Wesensunterschiede der durch ihn erfaßten Gegebenhei-
ten. Dies betrifft die derart repräsentierten Körper nicht
minder als ihre räumlichen Relationen zueinander, ihr
Vor-, Neben- und Hintereinander. Die räumliche Differenz
zwischen den Körpern der antiken Kunst nur als Leere,
als Nichts vorstellbar wird nunmehr einbezogen in den-
selben Systemraum, unterliegt demmlichen, in sich völ-
lig homogenen (Berechnungs-) Maßstab« (Kirchmann
1998, 280f).
Figurenkonzepte in der Kunst
187
Die Figur wird als Bedeutungsträger, kaum dass sie als eigenständige
Figur, etwa im Zinsgroschen des Masaccio Autonomie erlangt, ganz
und gar einer abstrakten Raummatrix untergeordnet, d.h. ein seman-
tisch namentlich mit religiösem Inhalt überdeterminierter Raum wird
einer unterdeterminierten und durchrationalisierten Syntax unterwor-
fen.
Abb. 4: Masaccio: Der Zinsgroschen, 1426.
Natürlich soll hier nicht dem positivistischen Modell der Säkularisie-
rung der Renaissancekunst im Geiste des 19. Jahrhunderts das Wort
geredet werden. Dieses kann weder die religiösen noch die komposi-
tionellen, gelegentlich auch dekorativen Rückbindungen der Figur auf
den konkreten materiellen Raum des Bildes sämtlich erklären. So
wird gerade die perfekte Raumillusion Grundlage einer fortgeschrit-
tenen suggestiven Vergegenwärtigung eines Übernatürlichen‹, sei es
als spätgotisch-göttliches Licht in der altniederländischen Malerei14
(Abb. 5) oder als theatralische Inszenierung der Himmelfahrt in Re-
naissance und Barock (Abb. 6).15
14 Zur neuplatonischen Lichtmetaphysik im Spätmittelalter vgl. Abt Sugar von St.-Denis
von Erwin Panofsky (1939).
15 Für Max Dvorák ist dies gerade ein grundlegender Antrieb für den Naturalismus der
Barockkunst (vgl. Dvorák 1928, 82). Neuerdings wird dies als genuine ›Archäologie‹
moderner Simulationstechnologien und -ästhetiken wieder aufgegriffen (vgl. Grau 2003).
Norbert M. Schmitz
188
Abb. 5: Jan van Eyck (um 1390-1441): Die Madonna in der Kirche, um
1425.
Abb. 6: Tizian: Assunta Die Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau (1516).
Figurenkonzepte in der Kunst
189
Entscheidend ist allerdings der generelle Unterschied, dass solche
illusionistische Sichtbarkeit z.B. der Einbindung in einen architek-
tonischen oder dekorativen Rahmen wie etwa in den Grotesken auf
Renaissancemöbeln immer innerhalb eines Ordnungssystems statt-
findet, innerhalb dessen die zentralperspektivische Anschauung letzt-
lich verbindliches Ordnungssystem bleibt.16
Ähnliches gilt für solche unsichtbaren Fügungen wie z.B. die
Dreieckskompositionen der Raffaelischen Madonnen, mit denen die
Avantgarde gerne das eigentlich Künstlerische identifizierte; das
klare formale Gerüst verbleibt innerhalb eines vollständigen
Illusionsraumes. Zudem kann innerhalb eines zentralperspektivischen
Bildes wiederum jede andere Perspektivform als Artefakt abgebildet
werden, z.B. eine chinesische Lacktruhe mit Parallelperspektive er-
scheint in einem Rokokogemälde ganz in dessen zentralperspektivi-
scher Ordnung aufgehoben. Auch überkommene Formen, also über-
lieferte falsche Perspektiven sind nur Gegenstand innerhalb eines
vollkommen dominanten medialen Dispositivs, z.B. eines Stuhls auf
dem berühmten Foto von der „letzten suprematistischen Ausstellung“
Malewitschs.
Wenngleich also die Zentralperspektive von höchster Allgemein-
heit und vermeintlicher Indifferenz gegenüber ihrem Inhalt ist, bildet
sie zugleich die Voraussetzung spezifischer Individualisierung in der
Personendarstellung. Vergegenwärtigen wir uns: Der abstrakte Sy-
stemraum als mathematisch berechenbare Größe ist unabhängig von
jedem konkreten Ort, so wie die Meridiane unabhängig von der je-
weiligen geographischen Position, welche sie bezeichnen, immer
gleichförmig erstellt werden.
Man kann dies noch bei einem vordergründig nicht sonderlich
perspektivbetonten Genre feststellen, dem Portrait. Immerhin sollte
Jahrhunderte später ja gerade in diesem Bereich in Gestalt der Por-
traitfotografie erstmalig das Ende der Vorherrschaft vorindustrieller
Bildmedien eingeläutet werden. Von Anfang an war das Individual-
portrait fast unzertrennbar mit dem zentralperspektivischen Raum
verbunden.17 Auch wo die Büste des oder der Dargestellten vor einem
16 Diese geschickte Einbindung formaler Kompositionen in eine annehmbare Illusion
übersahen formalistische Interpreten klassischer Kunst seit den Tagen der Stilkritik (vgl.
Wölfflin 1948).
17 Man kann dies sehr schön an der klassischen Mogulmalerei studieren, wenn dort der
Einzug individualisierter Herrscherportraits im Gefolge der vor allem durch die Jesuiten
vermittelten europäischen Einflüsse, fast untrennbar mit dem Aufkommen der Zentralper-
Norbert M. Schmitz
190
dunklen bzw. nicht weiter ausgeführten, d.h. perspektivisch neutralen
Hintergrund erscheint, unterliegt das menschliche Gesicht einer kla-
ren perspektivischen Konstruktion, die auch den nicht weiter diffe-
renzierten Hintergrund perspektivisch determiniert.18 Ein Detail, wie
etwa der Geschäftsbrief eines Kaufmanns oder die Hand einer Dame,
die ganze vorne verloren in den Bildraum ragt, exemplifizieren nur
dieses Phänomen in artifizieller Art und Weise (Abb. 7).
Abb. 7: Albrecht Dürer: Bildnis Bernhard von Resten, 1522.
spektive verbunden ist, die sich dann letztlich aber nicht durchsetzen konnte (vgl. Welch
1978).
18 Natürlich gab es auch hier vielfache Übergangsformen, etwa eines durchaus
dreidimensionalen Kopfes vor einem flächig-symbolischen Hintergrund. Interessant bleibt
aus heutiger Sicht allerdings, dass der ganz und gar am zentralperspektivischen Blick
geschulte Betrachter unserer Tage geneigt ist, einen byzantinischen Goldgrund als Realität
eines ›goldenen Zimmers‹ zu deuten.
Figurenkonzepte in der Kunst
191
Der Manierist Parmigianino sollte dieses Prinzip in einer so spiegel-
verzerrten wie korrekten Perspektive in seinem berühmten Selbstpor-
trait auf die Spitze treiben (Abb. 8).
Abb. 8: Parmigianino: Selbstportrait im Konvexspiegel, 1523.
Die Figurendarstellung wird seit der Renaissance jedenfalls individu-
ell, kulminierend in der Entwicklung des individuellen Portraits. Wir
sehen eben in den Bildern des Bartholomäus Bryn an Tracht und im
Habitus einen Kölner Patrizier, gelegentlich auch die besondere
Amtswürde, aber eben immer auch das Individuum (Abb. 9). Wes-
halb reicht nun aber die pure Repräsentanz der sozialen Funktion
nicht aus?
Abb. 9: Bartholomäus Bryn der Ältere: Arnold von Brauweiler (*1468 in
Köln, †1552 in Köln) Kaufmann, Ratsherr und Bürgermeister im Köln der
frühen Neuzeit.
Norbert M. Schmitz
192
Die Soziologie der neuzeitliche Figurendarstellung
Bezogen auf die neuzeitliche Figurendarstellung blieb die Entwick-
lung paradox, d.h., gerade die äußerste Nivellierung ermöglicht die
größte Individualität. Diese ist Ergebnis einer spezifischen Sozialität
der Neuzeit. Kirchmann bemerkt hierzu wiederum:
»Schon Panofsky weist darauf hin, daß das dafür notwen-
dige Konzept einer allen Erscheinungen gleichwertig
überlagerten Drittinstanz nicht auf den ästhetischen Raum
zu beschränken ist. [...] Der perspektivisch geordnete Bild-
raum der Renaissance ist die besonders sinnfällige Manife-
station des interdependenten Sozialraums der Neuzeit«
(Kirchmann 1998, 280f).
Und eben der Sozialraum der neuzeitlichen Figur ist selbst die Figur,
die hier zur Darstellung gebracht wird. Nicht zufällig nennt Norbert
Elias seinen Ansatz auch Figurationssoziologie. Aus zivilisations-
theoretischer Sicht ist Figur nie isoliert zu denken, sondern nur als
soziale Konstruktion. So verbreitet die Thesen der Figurationssozio-
logie heute auch sein mögen, seien sie aus gegebenem Anlass noch
einmal kurz charakterisiert und mit einer ikonologischen Perspektive
verbunden. Letztere befragt bekanntlich jede Form auch nach ihrem
Dokumentsinn, ein Begriff, der hier sehr weit aufgefasst wird, weiter
jedenfalls, als es die klassische Formulierung Panofskys nahe legt
(ausführlicher: Schmitz 2000, 79ff). Konkret heißt dies also, wir müs-
sen nach dem zunächst vormedialen Wandel im Menschenbild, hier
also in der sozialen Zurichtung des Einzelnen bzw. der gesellschaftli-
chen Form, die ihn als Individuum überhaupt erst ermöglicht, fragen,
wenn wir den symbolischen Gehalt auch solch allgemeiner Formen
wie eben der Zentralperspektive verstehen wollen. Elias versteht
»unter Figuration [] das sich wandelnde Muster, das
Menschen […] als Ganzes miteinander bilden, also nicht
nur mit ihrem Intellekt, sondern mit ihrer ganzen Person,
ihrem ganzen Tun und Lassen in ihrer Beziehung zueinan-
der. [...] Die Interdependenz der Spieler, die Vorausset-
zung dafür, dass sie eine spezifische Figuration bilden, ist
nicht nur ihre Interdependenz als Verbündete, sondern
auch […] Gegner [das ist allerdings nur als Prozess zu ver-
Figurenkonzepte in der Kunst
193
stehen; NMS]. Im Zentrum der wechselnden Figurationen
oder, anders ausgedrückt, des Figurationsprozesses steht
ein fluktuierendes Spannungsgleichgewicht, das Hin- und
Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen, bald
mehr der anderen Seite zuneigt. Fluktuierende Machtbal-
ancen gehören zu den Struktureigentümlichkeiten jedes
Figurationsstromes« (Elias 1970, 142f, Hervorhebungen
gestrichen).
Dies bedeutet aber auch, dass nicht nur Menschen in dezidiert kol-
lektiv orientierten Gesellschaften, sondern auch die Konstruktion
eines autonomen Individuums, mithin das neuzeitliche Subjekt nur
als Produkt einer sich wandelnden, bei Elias komplexer werdenden
sozialen Formation zu verstehen sind. Elias bezeichnet eben dies als
eine Figuration, das ist das
»Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen aufeinan-
der [...] als Figuration auf einander ausgerichteter, von ein-
ander abhängiger Menschen. [...] Menschen kommen [...]
nur als Pluralitäten, nur in Figurationen vor« (Elias 1968,
LXVII, Hervorhebungen gestrichen).
Für den Sozialhistoriker ist es geradezu eine strukturlogische Not-
wendigkeit, dass mit den befriedeten und ökonomisch integrierten
größeren Sozialverbänden, wie er sie exemplarisch an der Entstehung
des französischen Staatsgebildes entwickelt, durch die zunehmende
Verknüpfung immer größerer Personengruppen, z.B. in der Ausbil-
dung der höfischen Gesellschaft, eine immer stärkere Interdependenz
aller ihrer Teilnehmer mit spezifischen Konsequenzen für deren so-
ziale Psyche verbunden ist. Es bedarf hier keiner Diskussion, ob Elias
die unterschiedlichen Strömungen im Herbst des Mittelalters, die
eben zur besonderen Sozialität der neuzeitlichen Zivilisation führten,
angemessen berücksichtigt. Auch dass sein Modell Entwicklungen
wie die Entstehung bürgerlicher Sozialformen in den frühkapitalisti-
schen Städten zu wenig berücksichtigt, ist für diese Überlegungen
unerheblich und kann problemlos in sein Modell integriert werden.
Entscheidend ist, dass es, getragen von den rein quantitativen Voraus-
setzungen wie Bevölkerungswachstum, Ausbildung der Höfe und
Verstädterung, langfristig zur Ausbildung eines immer komplexer
werdenden interdependenten Sozialgeflechtes kommt, welches für
Norbert M. Schmitz
194
das gerade erst geborene Individuum eine paradoxe Herausforde-
rung darstellte: Es war einerseits in seinen äußerlichen Handlungs-
möglichkeiten bis hin zu seinen inneren Wertorientierungen, den
internalisierten Sitten und Normen gegenüber dem mittelalterlichen
Menschen mehr denn je zuvor determiniert. Aus dem äußeren wurde
bestenfalls ein innerer Zwang. Anderseits brachte die neue Ordnung
eine Vielzahl von neuen Verhaltensoptionen, Freiräumen und Ge-
staltungsmöglichkeiten, die bis dahin unbekannt gewesen waren. Die
neuzeitliche ›Freiheit‹ war auch eine subtile Fesselung der Indivi-
duen. Sie erlaubte ein hohes Maß von Wahlmöglichkeiten und Frei-
heiten und führte doch zu zunehmenden Verpflichtungen der Selbst-
organisation und selbstverantwortlichen Handelns.
Diese Autonomisierung des Individuums bedingte allerdings eine
erneute Belastung jeglicher Option individuellen Verhaltens, da diese
immer umfänglicher werdenden, kaum noch zu überschauenden
Handlungsketten mitunter schwerwiegende Konsequenzen innerhalb
einer zunehmend undurchsichtigen sozialen Figuration generierte.
Gegenüber dem überlieferten Fortschrittsmodell der Renaissance, wie
es namentlich die positivistische Kunstgeschichte des 19. Jahrhun-
derts entwarf, zeigt sich die nun entstehende herausragende Form der
Menschendarstellung, insbesondere der prominenten Stellung des
nunmehr gängig werdenden Individualportraits, als problematisch.
Das neue Figurenbild ist nicht schlicht Spiegel einer Emanzipation
des Individuums, denn seiner Prominenz widerspricht seine Nivellie-
rung im zentralperspektivischen System, das heißt, seine Gleichset-
zung mit allen anderen möglichen Objekten in der Ordnung des Bil-
des. Diese Ambivalenz korrespondiert mit der von Elias beschriebe-
nen prekären Position des Renaissancemenschen, der nunmehr einen
Widerspruch zwischen seiner inneren Selbstverwirklichung und sei-
nen Pflichten vor der Welt empfindet.
Montaignes Essays erzählen von der Zerrissenheit zwischen dem
Wunsch nach privatistischem Rückzug und der Verpflichtung und
den Chancen eines äußeren Handelns als mit dem Innersten nicht
Identisches (vgl. Strobinski 1993). Der in sich gekehrten Selbstbeob-
achtung des Philosophen steht das energische Tun des Bürgermeisters
gegenüber. Dieser Konflikt kann nur bedingt als die unmittelbare
Fortführung der Entgegensetzung von diesseitig sündiger und jensei-
tig heilsorientierter Lebensausrichtung des mittelalterlichen Men-
schen verstanden werden, denn dieser bedarf für keine der beiden
Ausrichtungen einer Profilierung seiner Individualität, weil das
Figurenkonzepte in der Kunst
195
Schicksal seiner Seele im göttlichen Schöpfungsplan ja schon lange
vor der Zeit bestimmt war (vgl. Weber 1947). Unbenommen dessen
ist die Ausbildung des neuzeitlichen Individuums ohne diese Tradi-
tion nicht zu denken.
19 Wichtigste Aufgabe des modernen Indivi-
duums wird die Selbstschöpfung seiner Person, um diese zugleich
wieder in ein adäquates Verhältnis zu einer Vielzahl von sozialen
Anforderungen zu stellen, eine Pflicht, vor der zuletzt kein Gott
schützt.
Das Paradox der Entstehung moderner Subjektivität als Ergebnis
immer enger werdender sozialer Verflechtung entspricht dem eigen-
willigen Verhältnis von Figur und Perspektivsystem, der Nivellierung
des Menschen im mathematisch geordneten Systemraum und seiner
deutlichen Präsenz als vornehmster Gegenstand der Renaissance-
kunst.
Die Figur in der Raum-/Zeitperspektive
des Classical Style
Dekonstruktion der perspektivischen Figur
und die Darstellungspraxen der Gegenwart
Was ist nun am Ende dieser Entwicklung zumindest in den bildenden
Künsten zu sehen, d.h. in der Ästhetik der Avantgarde des 19. und 20.
Jahrhunderts, wenn in der Hochkunst das Individualportrait wenig-
stens in seiner naturalistischen Variante wieder aufgelöst wird? Ex-
emplarisch kann man dies an der Genese des kubistischen Portraits
sehen, da dieses nicht allein einen Oberflächenillusionismus etwa
zugunsten der symbolischen Gestaltung tieferer Wesenheiten des
Individuums negierte, sondern den Charakter des Individualportraits
überhaupt in Frage stellte. Denn zuletzt wurde, wenigstens wenn wir
den namhaften Deutungen der Kunst Braques und Picassos durch
Kahnweiler folgen wollen, hier der Anspruch auf individuelle Perso-
nendarstellung zugunsten einer Reflexion der Wahrnehmung über-
haupt aufgegeben. Dies gilt für die unterschiedlichsten Strömungen
19 Letztlich bestimmten wohl auch die Verschiebungen zwischen diesen Horizonten den
kollektiven Charakter der Menschen an der Wende vom ausgehenden Mittelalter zur frühen
Neuzeit, bzw. ermöglichen es dem heutigen Betrachter solche ›Gestimmtheiten‹ nachzu-
vollziehen (vgl. Huizinga 1987).
Norbert M. Schmitz
196
dieser Revolution. Insgesamt zersplitterte das Portrait in der moder-
nen Kunst. Von allerlei romantischer und antiromantischer Program-
matik begleitet, wurden alle möglichen Fluchtpunkte des Modernis-
mus erreicht: das Wesen hinter der zufälligen Erscheinung, das Bild-
nis als Anlass der Wahrnehmung oder die Dekonstruktion des Indivi-
duums im Geiste des Maschinenzeitalters im Konstruktivismus. Bis
heute ist der Pathos der Kunst und Kunstkritik von dieser Aufhebung
des Subjekts bestimmt.
Dem entspricht eine verbreitete kultur- und kunstwissenschaftliche
Interpretation: Nicht selten wurde und wird das Ende der Perspektive
mit der veränderten Wahrnehmungspraxis des modernen Menschen
im Kontext des Lebens im industrialisierten großstädtischen Raum
verstanden. Die Befragung der physiologischen Bedingungen und die
Dekonstruktion einer naiven Abbildungstheorie des menschlichen
Sinnesapparates durch die Naturwissenschaften spätestens seit dem
19. Jahrhundert scheinen dieser Dekonstruktion auch eine empiri-
sche Legitimität zu verleihen (vgl. Crary 1992). Auch Benjamins
Filmästhetik versteht die Einübung in die Montagetechnik des Films
als Adaption dieser neuen Erfahrungswelt durch die Massen (vgl.
Benjamin 1963/1977, 32ff). Folgerichtig entspräche das Verschwin-
den der zentralperspektivischen Ordnung der modernen Kunst einer
veränderten sozialen Figuration, innerhalb derer angesichts der zer-
splitterten Anforderungen des modernen Lebens einer mindestens
poly- wenn nicht aperspektivischen Darstellungspraxis den multi-
funktionalen und fluktuierenden Rollenensembles der industriellen
und postindustriellen Erfahrungswelt entspräche, so wie sie exempla-
risch von den künstlerischen Avantgarden spätestes seit dem ausge-
henden 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Dem Verschwinden des
geschlossenen Subjekts in der gesellschaftlichen Praxis wie in deren
Selbstreflexion entspräche der faktische Verlust der Prominenz, gele-
gentlich gar das gänzliche Verschwinden der Figurendarstellung in
den Künsten der Gegenwart.
Dem ist allerdings zu widersprechen, denn aus medienwissen-
schaftlicher Sicht hat die zentralperspektivische Darstellungsform
nichts von ihrer Dominanz verloren, allein ist sie aus den hochkultu-
rellen Praxen des Kunstsystems in die Massenkultur ausgewandert.
Die Dominanz einer ja letztlich zentralperspektivisch determinierten
Fotografie in der Alltagskultur ist hierfür bezeichnend und wenn
mittlerweile biometrische Daten in der Passfotografie verpflichtend
Figurenkonzepte in der Kunst
197
werden, bestätigen sie nur den in der Renaissance entwickelten mess-
baren Raum als geeigneten Ordnungsprinzip auch in der Gegenwart.
Allerdings wurde die Zentralperspektive vielfach modifiziert und
erweitert. Am einflussreichsten und spektakulärsten wohl durch den
Film. Zunächst ist im filmischen Bild in seiner konventionellen Form
im üblichen Standard des Classical Style vordergründig der einheitli-
che Bildraum der Renaissance aufgegeben, wie er noch die adynami-
sche Theaterperspektive des frühen Kinos kennzeichnete.20 Schon
Eisenstein beschrieb seine rapide Schnitttechnik im Vergleich mit den
Eifelturmbildern Delaunays als eine Art kubistisches Konzept (vgl.
Eisenstein 1980, 247f). Was auch ein Benjamin hier wohl vom
Eindruck des russischen Montagekinos seiner Zeit überwältigt über-
sah, ist allerdings der Umstand, dass es gerade die Leistung der
découpage classique ist, die Splitter der wilden Abfolge unter-
schiedlichster Einstellungen, ein festes System räumlich integrierter
Blickachsen und Proportionsregeln, auf einer höheren Stufe wieder in
einen zentralperspektivischen Raum zu überführen, der dem Be-
trachter selbstverständlichen Halt und Überblick ermöglicht. Natür-
lich sind, abgesehen vom einzelnen Filmfoto, angesichts der so
Panofsky »Dynamisierung des Raums und der Verräumlichung der
Zeit« – die Koordinaten des Raumes und der Zeit nicht mehr eindeu-
tig messbar wie innerhalb eines Renaissanceensembles (Panofsky
1999, 25). In der bewegten Fotografie der Brüder Lumieré können
wir ja die Bewegungen der Figuren vor der Kamera mit der mechani-
schen Exaktheit einer Uhr messen.
Ähnliches gilt für die Aktionen der Protagonisten in einem kon-
ventionellen Film innerhalb einer Einstellung. Das Vergehen der Zeit
über dem Einstellungs- und namentlich dem Szenenwechsel bleibt
aber im Ungefähren und ist oft nur über entsprechende Signifikanten
von einer Uhr an der Wand, über erzählerische Hinweise bis hin zum
Tages- und Nachtlicht zu bestimmen. Dennoch unterliegt auch hier
das Geschehen einem auf illusionistischer Konsequenz angelegten
relationalen System, in dem die Objekte und Handlungen in Raum
und Zeit einem imaginären Illusionsraum entsprechen, der nicht we-
niger streng geordnet ist als der perspektivische Bildraum der Renais-
sance. Am Beispiel: Wie selbstverständlich wird jede Figur im Clas-
sical Style je nach Darstellungsfunktion in fotografische Teile zer-
20 Zur Formengeschichte des ›Classical Style‹ vgl. Classical Hollywood Cinema: Narratio-
nal Principles and Procedures von David Bordwell (1986) und: Das Filmmedium. Zur
Begründung einer allgemeinen Filmtheorie von Walter Dadek (1968).
Norbert M. Schmitz
198
stückelt und je nach Bedarf im zeitlichen Kontinuum der Erzählung
sichtbar oder unsichtbar gemacht. Jede Perspektive, jede Positionie-
rung innerhalb des dramatischen Ablaufes ist für den Betrachter pro-
blemlos wieder in die feste Struktur eines Gesamtverlaufes der Nar-
rationckhrbar. Denn tatsächlich bewegt sich der Zuschauer auch
durch diese Illusion in einem nach Raum und Zeit klar gegliederten
Koordinatensystem, dessen innere Stringenz er so zwanglos mit sei-
ner Alltagserfahrung abgleichen kann, wie einst die Florentiner Bür-
gerschaft die Perspektiven Brunelleschis mit der realen räumlichen
Situation auf den öffentlichen Plätzen ihrer Stadt. Dies entspricht
ungefähr dem, was Gilles Deleuze als Bewegungsbild beschreibt.21
Ich möchte deshalb beim Classical Style von einer illusionistischen
Zeit/Raumperspektive als Erweiterung der klassischen Zentralper-
spektive in der Zeit sprechen. Offensichtlich sind auch die vorder-
gründig fragmentierten Darstellungsmodi der Figuren in der
Zeit/Raumperspektive der ›découpage classique‹ nur Ausdruck einer
weiteren Stufe der Integration immer größerer Komplexität in einem
geordneten und letztlich berechenbaren Zusammenhang, welcher der
ebenfalls komplexer und differenzierter werdenden Lebenspraxis der
Individuen entspricht. Die Zeit/Raumperspektive der Renaissance ist
der geeignete Ort für die komplexe Figur auch in der dynamischen
Kultur des industriellen und postindustriellen Zeitalters.
Die angedeuteten Unschärfen, etwa die leichte Fragmentierung der
Personendarstellung auch innerhalb eines konventionellen Films
oder essayistisch gesagt, Lockerungen der Darstellungspraxis ver-
weisen wiederum auf ein allgemeines zivilisatorisches Phänomen.
Wenn Elias von einer immer strengeren Reglementierung und Koor-
dinierung des sozialen Lebens im Zuge des neuzeitlichen Zivilisation-
sprozesses spricht, kann dieser auf der Oberfläche bei Ausreifung des
Systems in ein scheinbares Gegenteil kippen. So kennen wir im
Rahmen der Entwicklung der Höflichkeitsformen eine über Jahrhun-
derte anhaltende Tendenz zu immer feiner und umständlicher wer-
denden Formen des Umgangs, die dann namentlich seit den 1920er-
Jahren des letzten Jahrhunderts einer scheinbaren Lockerung unter-
liegen. Ähnliches lässt sich bei der Entwicklung der Sexualität beob-
21 Allerdings bleibt dies bis heute Standart filmischer Erzählung, während das Zeitbild als
Gegensatz hierzu wohl eher eine ästhetische Praxis des Kunstkinos zwischen italienischem
Neorealismus und Angelopoulos beschreibt. Tatsächlich handelt es sich unbenommen des
Erkenntniswertes der zentralen Unterscheidung hier wohl eher um eine Kunstfilmästhetik,
denn um eine Formengeschichte des Kinos (vgl. Deleuze 1989).
Figurenkonzepte in der Kunst
199
achten, die nach dem Höhepunkt viktorianischer und wilhelminischer
Prüderie und Verdrängung des Eros unter gewaltigen Kleidermengen
im 20. Jahrhundert durch die Entwicklung vom Reformkleid zum
Minirock zu einer scheinbaren Befreiung führt.22 Tatsächlich zeigen
solche Umschläge aber nur an, wie weit die soziale Formierung des
Individuums gewissermaßen in das Innere jeder Person, in den psy-
chosozialen Haushalt jedes Einzelnen gewandert ist, so dass es des
Stützkorsetts äußerer Formen kaum mehr bedarf.
Ein ähnlicher Umschlag von einer streng reglementierten Ordnung
zu einer offeneren, aber nicht minder stringent und zweckrational
geordneten Darstellungsform liegt nun hinsichtlich der Wahrneh-
mungskompetenz des modernen Menschen vor. Gerade weil mit der
Ausbreitung der industriellen Massenmedien, begleitet von einer
gesellschaftlichen Universalisierung relativ hoher Bildungs- und
Kommunikationsstandards, die Fähigkeit zum geordneten Blick im
Sinne eines rational orientierten Rasters gewachsen ist, können die
symbolischen Formen auf der Oberfläche offener und vor allem kom-
plexer werden. Zudem können unterschiedlichste Darstellungsformen
innerhalb eines geschlossenen Systems rezipiert werden.
Der linear-zeitliche und komplex-zentralperspektivische Raum des
filmischen Bildes erlaubte nunmehr nicht nur die gewachsene Dyna-
mik des modernen Lebens durch die Einbindung einer explizit zeitli-
chen Dimension zu integrieren, sondern selbst aperspektvische Dar-
stellungsmodi wie etwa ein dekontextuelles Affektbild problemlos
einem Wahrnehmungskontinuum unterzuordnen. Natürlich handelt es
sich hier um kulturell einzuübende Praxen. 1939 konnte die Zersplit-
terung der Figur des Citizen Kane durch den künstlerisch ambitio-
nierten Orson Welles noch als nahezu unverständlich aufgefasst wer-
den. Für den heutigen Rezipienten ist die lineare Rekonstruktion die-
ser Biografie aber kein Problem.
Insofern stellt die fragmentierte Darstellung der Figur im Classi-
cal Style nicht die Aufhebung des geordneten zentralperspektivischen
Figurenbildes dar, sondern zeigt, wie eine höhere Komplexität etwa
der Wahrnehmung, aber auch der unterschiedlichen Rollenanforde-
rungen des Individuums in der industriellen und postindustriellen
Lebenswelt heute für das Individuum Alltag geworden ist. Die frag-
mentierte Figurendarstellung in den Massenmedien der Gegenwart
22 Eine ausgezeichnete Modegeschichte, welche die symbolischen Formen der Kleidung
jenseits einschlägig naiver Fortschrittsmodelle analysiert, bietet Anzug und Eros. Eine
Geschichte der modernen Kleidung von Anne Holländer (1994).
Norbert M. Schmitz
200
ist also nur die Integration komplexerer Anteile des modernen Sub-
jekts in seiner Repräsentation auf einer höheren Ebene.
Für Edgar Allan Poe, der in seiner Erzählung Der Massenmensch
beschrieb, wie ein Ich-Erzähler einen mysteriösen Fremden im Ge-
wühl der Großstadt verfolgt, wirkte die Erscheinung dieses Unein-
holbaren noch bedrohlich. Alles an ihm bleibt Geheimnis und unver-
ständlich.
»Rastlos durchstreift er Tag und Nacht die Stadt, immer
auf der Suche nach Menschenmassen, denen er sich
rauschartig hingibt. Die Intention seines Handelns, sowie
das Geheimnis seiner Person bleiben im Verborgenen«.23
150 Jahre später nennt der Philosoph Josef Früchtl in seinem Aufsatz
zur Stadt als Denkbild der Post/Moderne diese spezifische Lebenser-
fahrung einer Alltag gewordenen Überkomplexität treffend »Gestei-
gerte Ambivalenz« (Früchtl 1998, 103).
»Während in der Moderne die Überwindung der Entzwei-
ung und der Auflösung des Ichs in der Versöhnung für
notwendig gehalten wurde, sehen die Vertreter der Post-
moderne in der Unversöhnbarkeit von Konflikten nichts
Negatives, sondern erhoffen sich eine Steigerung der Viel-
falt von Lebensformen und Optionen« (ebd.).
So ist für die Genese der Wahrnehmungsformen der Moderne also
weniger die Irritation der Wahrnehmung im großstädtisch-durch-
technisierten Raum, wie sie die Kunst der klassischen Moderne
prägte, ausschlaggebend, sondern deren rasche Adaption an die ge-
änderten Verhältnisse24 bis hin zur Selbstverständlichkeit, mit der
23 Unveröffentlichter Brief bezüglich der Diplomarbeit von Hendrik Völker an der
Muthesius-Kunsthochschule Kiel 2008.
24 Allerdings sind um das hier mehrfach gebrauchte Beispiel noch einmal fortzuführen
die notwendigen Karten komplexer geworden. Über das reale Straßensystem legen sich die
vielfältigen und je nach Situation unterschiedlich heranzuziehenden Systeme der öffentli-
chen Verkehrsmittel, die Straßenführungssysteme, der imaginären Räume des öffentlichen
und privaten Lebens etc., Orientierungsformen die nur im Falle des Nichtfunktionierens
überhaupt auffällig werden, wie das Kanalisations- und Telefonsystem und so weiter und so
weiter. Das moderne Individuum nutzt diese Systeme gleichermaßen in seiner klassisch
zentralperspektivisch-illusionistischen Darstellung etwa aus der Vogelperspektive von
Google Earth oder als Abstraktion mit räumlichen Verzerrungen wie dem legendären
Londoner Undergroundplan, der einerseits durchaus die Prinzipien der klassischen Karto-
Figurenkonzepte in der Kunst
201
diese neue Lebenswelt heute von jedermann rezipiert, durchschritten
und genutzt wird.25
Das bisher Gesagte lässt sich als Antwort auf die eingangs gestellte
zentrale Frage nach dem Verhältnis von Figurendarstellung und Me-
dienwandel wie folgt zusammenfassen: Figurendarstellung und me-
dialer Wandel finden im zivilisatorischen Prozess ihre gemeinsame
Matrix, ohne dass hier so etwas wie eine Ursprungszuweisung eines
Faktors vorgeschlagen werden muss. In einem solchen interdepen-
denten Prozess handelt es sich ohnehin nur um zwei Faktorenkreise
innerhalb einer wesentlich komplexeren Figuration. Allerdings ent-
stehen hier Medienaffinitäten, das heißt Medienwandel, Ausdifferen-
zierung, aber auch gelegentlich Neuentwicklung und Absterben sind
Ergebnis der besonderen Affinität bzw. Distanz bestimmter Medien
und ihrer technischen Möglichkeiten zu bestimmten historischen
Konstellationen.
Aus medienwissenschaftlicher Perspektive und nur um diese geht
es hier stellen die Modi der Figurenverwendung gewissermaßen
eine Achse zwischen medialem Wandel und neuzeitlicher Subjektivität
dar. Welche Relevanz hat nun die historische Genese von Figuren für
die weitere und gegenwärtige Praxis der Figurenverwendung in der
Bildkommunikation unserer Tage jenseits der Paradigmen des Kunst-
systems im engeren Sinne?
grafie fortschreibt, in mancherlei Hinsicht aber Prinzipien vorneuzeitlicher Kartografie
wieder aufnimmt. So entsprechen die Abstände zwischen den einzelnen U-Bahnhöfen nicht
unbedingt den wirklichen Distanzen bzw. der komplizierten Streckenführung unter der
Erde. Der grafischen Übersichtlichkeit halber sind sie nach Bedarf in ein größeres Über-
blicksschema gepresst. Allerdings gewährleisten sie durch ihre Klarheit die Orientierung
für jeden Fahrtverlauf und den sicheren Bahnwechsel zu jedem Ziel. Obgleich jeder Ver-
kehrsteilnehmer hiervon weiß, gewinnt dieser schematisierte Plan gewissermaßen Realität
im Bewusstsein seiner Benutzer. Ich möchte hier von einem ›funktionalen Illusionismus‹
sprechen.
25 Letztlich bleibt hier Baudelaires berühmter Text zum ›vie moderne‹ weiterhin wegwei-
send (Baudelaire 1989).
Norbert M. Schmitz
202
Medienentwicklung und Kunstsystem:
Der Alltag der Figur
Nun ließen sich leicht Einwände gegenüber dem hier entwickelten
Gedankengang in der Art entwickeln, dass heute in den unterschied-
lichsten Feldern nicht nur der Hochkultur, sondern auch der Medien
nichtnarrative, nonlineare oder aperspektivische etc. Darstellungs-
formen immer häufiger auftauchen. Nicht nur den Videoclip, na-
mentlich Werbung in Film und Printmedien, kennzeichnet häufig ein
starker Bruch mit überkommenen Darstellungspraxen einschließlich
des Classical Style.26 Entscheidend ist aber, dass diese auf den Fall
bezogen funktional gelesen werden können, d.h., ihre Form selbst hat
keinen neutral universalen, sondern eine dem gegebenen Anlass ge-
schuldeten Erwartungshorizont auch an die Form (vgl.
Varnedoe/Gopnik 1990, 8ff).27
Nun sind solche Phänomene, ähnlich etwa wie der Gebrauch von
abstrakten Zeichen im Straßenverkehr oder die abstrahierenden For-
men innerhalb des Bildes in der modernen Naturwissenschaft, gerne
zur Legitimation der These vom Verschwinden des Menschen aus
dem Bilde herangezogen worden (z.B. Gaßner/Kersten 1990, 71f; zur
Kritik vgl. auch: Schmitz 1993, 331ff). Die neuen amimetischen Dar-
stellungspraxen entsprächen somit einem veränderten Weltbild, für
dessen Komplexität und Abstraktion sie die angemessenen Formen
entwickelten. Unbenommen der Frage, ob beispielsweise die mo-
derne Physik oder Neurobiologie überhaupt darstellbar ist, handelt es
sich hier m.E. schon bezüglich der ganz gewöhnlichen Alltagspraxis
der Gegenwart um einen Fehlschluss, denn diese Position übersieht
deren grundlegende Komplexität.
Der visuelle Alltag kennt jedenfalls ein ganzes Ensemble und ge-
legentlich Panoptikum unterschiedlichster Formen der Figurendar-
stellung vom klassischen Filmhelden zum Hochzeitsportrait im Fa-
milienalbum, von der Mangafigur zum Sportarten-Logo, vom Kitsch-
portrait in Öl bis hin zum Strichmännlein.
Man kann die heute übliche Existenz unterschiedlicher Modi der
Figurendarstellung nicht als Ergebnis einer historischen Entwicklung
verstehen, in der traditionelle Formen noch ein spätes Nachleben
zeitigen, bis sie von moderneren, in der Hochkunst und namentlich
26 Mittlerweile wandert dies selbst schon in die Lehrbücher ein (vgl. Urban 1994).
27 Eine eigenwillige Auflösung dieser Unterscheidung bietet bekanntlich Sonntag (1989).
Figurenkonzepte in der Kunst
203
den Avantgarden entwickelten gewissermaßen gesetzmäßig abgelöst
werden. Der Rest wäre dann residualer Kitsch. Gegenüber diesem
eindimensionalen Entwicklungsmodell steht die Beobachtung der
andauernden Funktionalität unterschiedlichster Modi der Figurendar-
stellung innerhalb und außerhalb des Kunstsystems. Bei der visuellen
Massenkultur unserer Tage handelt es sich um ein funktional ausdif-
ferenziertes System, das für unterschiedliche Erwartungshorizonte
seitens der Rezipienten unterschiedliche Darstellungsformen bereit-
hält, unter denen allerdings dem Classical Style ein hierarchisches
Primat zukommt. Deshalb steht heute anstelle eines bestimmten Ty-
pus der Figurenrepräsentation ein Ensemble von alternativen Figu-
rendarstellungstypen für unterschiedliche Anlässe, die allerdings
nach gesellschaftlicher Wertung hierarchisch geordnet sind. Der
relativ formkonservativen‹ Repräsentation einer geschlossenen und
psychologisch differenzierten, gewissermaßen ganzen Figur kommt in
der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit immer noch das Primat zu.
Mag der Zuschauer bei dem Portrait eines Starletts in privaten Sen-
dern wie Viva oder MTV jeden noch so unkonventionellen Regel-
bruch billigen, so gilt diese offene Erwartungshaltung bei der filmi-
schen Präsentation eines Kanzlerduells im Fernsehen kaum. Die Fi-
gur eines ernst zu nehmenden Politikers braucht verbindliche Formen
auch der visuellen Darstellung, die wiederum Signum eines kommu-
nikativen Einverständnisses über die Legitimität der gebotenen In-
formation über ihn darstellt. Schlicht: Allein die Regeln des Classical
Style erlauben ein Fernsehduell so zu repräsentieren, dass der Zu-
schauer das Gefühl hat, über das Dargestellte angemessen urteilen zu
können.
Wenn konventionell gestaltete Medienformate wie etwa die klassi-
schen Nachrichtensendungen heute nachweislich in Kreisen des jün-
geren Publikums auf schwindendes Interesse stoßen, zeugt dies eher
von einer allgemeinen Ablehnung bestimmter Verbindlichkeiten ge-
sellschaftlicher Kommunikation bzw. allgemeinen Nachlassens der
Bindungskraft gesellschaftlicher Normen über die angemessene
staatsbürgerliche Aufmerksamkeit für das Politische, als von man-
gelnder Akzeptanz des klassischen Medienformates.
Sicherlich gut gemeinte Versuche der Anpassung politischer In-
formation an bestimmte Formen der Jugendkultur zwischen Starkult
und Clipästhetik werden hier kaum Abhilfe schaffen. Bestenfalls sind
solche oft panischen Anbiederungsversuche zum pragmatischen
Scheitern verurteilt, wie der Wahlkämpfer Westerwelle seinerzeit mit
Norbert M. Schmitz
204
seinen zeitgeistigen Inszenierungen eines Spaßwahlkampfes bitter
erfahren musste, oder schlimmstenfalls beschleunigen sie die endgül-
tige Verwandlung des Politischen in einen Effekt der Unterhaltungs-
industrie.
Eine Figur wie die des Medienstars und früheren japanischen Mi-
nisterpräsidenten Koizumi taugt kaum als Gegenbeweis, denn die viel
zitierten jugendlichen, namentlich weiblichen Anhänger haben eben
keine politische Figur gewählt, sondern einem vermeintlichen Popstar
ein politisches Amt zugesprochen.
Doch zurück zum Alltag der Kommunikation: Heute haben wir es
also mit einer Vielzahl möglicher formaler Darstellungspraxen zu
tun, die auch die Form der Figurenrepräsentation determinieren. So
steht der erfolgreiche formale Bruch mit den Regeln des Classical
Style in Pulp Fiction neben dem Triumph desselben in Titanic. Zu-
dem stehen sich in beiden auch ganz unterschiedliche Figurentypen
gegenüber. Auffällig ist allerdings, dass auch der Reiz der Helden
Tarantinos nur unter der Vorgabe der Dekonstruktion traditioneller
und klischeehafter Figuren möglich ist, eine Referenz, die um der
lustvollen Lektüre des Films willen spielerisch beherrscht werden
muss. Mit den Protagonisten eines Filmes wie Hiroschima mon
amour von Alain Resnais können sie allerdings kaum verglichen
werden.
Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der der Rezipient den Bruch
unterschiedlicher Gestaltungspraxen zu integrieren beherrscht, zeigt
die andauernde Dominanz zeitlich-linearer und räumlich zentralper-
spektivischer Formen. So wie es dem Renaissancekünstler möglich
war, z.B. eine parallelperspektivische Darstellung zentralperspekti-
visch korrekt wiederzugeben, so wie jede Fotografie einer Chinoise-
rie diese ›doppelte Perspektivordnung‹ gewissermaßen automatisch
generiert, so können auch in den industriellen Massenmedien unter-
schiedlichste Darstellungspraxen wie selbstverständlich in einen kon-
tinuierlichen Rahmen eingebunden werden. Die Clipästhetik avant la
lettre der legendären Duschszene in Hitchcocks Psycho negiert die
découpage classique des Films keinesfalls, sondern bestätigt diese in
ihrer funktional legitimierten Differenz, denn sie pointiert ja nur den
emotionsgeladenen Höhepunkt in der Kontinuität der Geschichte, ein
Affektbild in der Zeit.
Das Primat des Classical Style im Sinne einer Glaubwürdigkeitser-
wartung des Publikums sst sich am oben genannten Beispiel leicht
demonstrieren. Während die Protagonisten in Titanic alle Erwartun-
Figurenkonzepte in der Kunst
205
gen konventioneller Dramaturgie in Inhalt und Form erfüllen, schei-
nen sich die Figuren in Pulp Fiction aufzulösen. Wenn das begei-
sterte Publikum allerdings die Stars beider Filme backstage feiern
will, sei es bei Berichten von der Produktion oder der glamourösen
Verleihung der Preise auf den Festivals, erwartet es doch wieder den
Classical Style, der heute vielleicht mehr noch als die Fotografie
Indikator für die Realitäts- bzw. Authentizitätserwartung des Publi-
kums ist. In dieser differenzierten Fähigkeit der Wahrnehmung, die
durchaus klassische Glaubwürdigkeitsregeln und Authentifizierungs-
strategien zu rdigen weiß, diese aber rein funktional bei bestimm-
ten Anlässen erwartet und je nach Bedarf ganz andere Formen für
unterschiedliche Situationen ebenso goutiert, zeigt sich tatsächlich ein
signifikanter Wandel, der die Dekonstruktionen der klassischen Mo-
derne nun zum Teil der Alltagswahrnehmung werden lässt.
Das Publikum ist also auch in der Massenkultur selbstreflexiv ge-
worden. Die reflexiv durchschauten Formen der Medienangebote
können aber zugleich wieder ›unmittelbar‹ und ›naiv‹ rezipiert wer-
den, eben als legitime Formen in einer differenzierten Umwelt. In
diesem Sinne gibt es keine einheitliche Regel der Figurendarstellung
in den visuellen Massenmedien, sondern eine Vielzahl von Formen,
die einzig durch ihre differente Verwendung aufeinander bezogen
werden können.
Das hat nun alles wenig mit einer ontologischen Frage nach der
Möglichkeit authentischer Realitäts- oder Figurendarstellung zu tun,
wie sie seit der frühen Moderne das große Thema der bildenden
Kunst geworden ist, die eben deren prinzipielle Unmöglichkeit bzw.
Manipulierbarkeit schon längst nachgewiesen hat, sondern mit einer
gesellschaftlichen Konvention, d.h. einer sozialen Übereinkunft über
legitime und nicht-legitime Formen der Darstellung auf einer fortge-
schrittenen Stufe zivilisatorischer Zurichtung der Wahrnehmung.
Die Repräsentationsformen der Moderne kennzeichnet ja gerade
die Fähigkeit, unterschiedliche und funktional ausdifferenzierte For-
men aufeinander beziehbar zu machen, anstatt sie wechselseitig aus-
zuschließen.28 So bemerkenswert die Integrationsfähigkeit der Vielfalt
unterschiedlichster Reize und Anforderungen in der modernen Le-
benswelt durch das moderne Individuum ist, so bemerkenswert ist
28 Die gefälligen Bilderstadtpläne wie sie an jedem Touristenort verkauft werden, können
hier als amüsantes Beispiel dafür gelten, wie unterschiedliche Darstellungssysteme mitein-
ander verbunden werden.
Norbert M. Schmitz
206
seine Fähigkeit, unterschiedlichste Darstellungsmodi zu integrieren
und aufeinander zu beziehen.
Im Mittelpunkt dieses komplexen Koordinatensystems steht aller-
dings nach wie vor das Subjekt in seiner Repräsentation als Figur.
Das moderne Individuum erkennt sich in solch unterschiedlichen
Repräsentationsformen wie als Konsument in den rhetorischen Figu-
ren der Werbung, als Mitglied eines sozialen Verbandes in seinem
Fotoalbum, als Subjekt emotionaler Ansprüche in den Affekten des
Hollywoodfilmes oder als rechtliches Subjekt beim Einwohnermelde-
amt in seinem Passbild wieder, ohne eine dieser Identitäten als Wi-
derspruch zu den Anderen zu empfinden. Und ebenso kann es die
unterschiedlichen Darstellungsmodi seiner oder die anderer Subjekte
selbstverständlich diesen unterschiedlichen Hinsichten bzw. Anforde-
rungen zuordnen.
Die Figurendarstellung musste im Fortschreiten zivilisatorischer
Prozesse also komplexer werden. Doch ein grundsätzlicher qualitati-
ver Bruch mit der Dynamik der neuzeitlichen Zivilisation lässt sich
nicht feststellen. Die funktionale Ausdifferenzierung betrifft so glei-
chermaßen die Gesellschaft selbst wie die Formen ihrer Repräsenta-
tion. Diese zu integrieren ist weiterhin Aufgabe des Subjektes und als
solches bedarf es seiner figurativen Repräsentation als Ort einer
symbolischen Verhandlung dieser Aufgabe.29
Nun ist es natürlich nicht so, dass die menschliche Figur in der
Hochkunst der Gegenwart keine Rolle mehr spielte. Erinnert sei nur
an die hohe Wertschätzung, die mittlerweile solche Maler des Men-
schen im 20. Jahrhundert wie Edward Hopper (Abb. 10), Lucian
Freud oder Francis Bacon (Abb. 11, 12) erfahren. Ähnliches gilt
zweifelsfrei auch für die romantischen Gegenentwürfe wie die Prä-
sentationen des realen Körpers in der Performance (Abb. 13) oder die
Wiederentdeckung des Körpers par technischer Reproduktion bei
Bruce Naumann (Abb. 14). Die regelmäßige Konjunktur einer wie-
dererstehenden figurativen Malerei ist selbst geradezu Regel der
Kunst- und Kunstmarktentwicklung geworden. Und dennoch kann
man fragen, ob die symbolische Orientierung der Individuen heute
noch in einem vergleichbaren Maße mit ihrer Darstellung in der bil-
denden Kunst zusammenhängt wie etwa in der Renaissance und dem
Barock. Dass hierbei die Hochkunst kaum noch eine Rolle spielt, hat
29 Insofern müsste Willets schöne Alliteration zu Sedlmayrs Modernitätskritik von einer
Explosion der Mitte um eine zivilisationstheoretische Behauptung ergänzt werden: Reinte-
gration der Mitte (vgl. Willett 1981).
Figurenkonzepte in der Kunst
207
wohl eher einen medialen Grund. Es hängt wohl vor allem damit
zusammen, dass klassische Medien wie die Malerei heute kaum noch
imstande sind, den vielfältigen Aufgaben der visuellen Kommunika-
tion in modernen Funktionsgesellschaften zu entsprechen. Als ästhe-
tisches Leitmodell ist das klassische Figurenportrait, wie wir es seit
dem ausgehenden Spätmittelalter kennen, zweifellos durch die Expe-
rimente der Avantgarde dekonstruiert worden. Zugleich zeigt es, al-
lerdings transformiert in die Erzählformen der modernen Medien,
seine andauernde gesellschaftliche Funktionalität.
Abb. 10: Edward Hopper: Room in New York (1932).
Abb. 11: Lucian Freud: Doppelportrait mit Hund Eli (1995).
Norbert M. Schmitz
208
Abb. 12: Francis Bacon: Study from the human body (1949).
Abb. 13: Ulrike Rosenbach: Reflexionen über die Geburt der Venus
(1976/78).
Figurenkonzepte in der Kunst
209
Abb. 14: Bruce Nauman: Bruce Naumann in a studio version of green
light (ca. 1970).
Offensichtlich geriet die Malerei, namentlich die so flexible Ölmale-
rei über Jahrhunderte neuzeitlicher Entwicklung eines der Leitme-
dien visueller Kultur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
vor allem deshalb ins Abseits, weil sie aufgrund ihrer medialen Dis-
position den anwachsenden Komplexitäten nicht gerecht wurde. Die
Avantgarde erkannte dies und entgegnete mit der Problematisierung
der Repräsentationsformen und gelangte so oft genug zur selbstrefle-
xiven Darstellung der Unangemessenheit derselben an die gegebenen
Umstände. Diese Problematisierung schloss die Dekonstruktion der
menschlichen Figur als Darstellungsgegenstand nur folgerichtig ein,
eine Negation, die nicht zuletzt auch das künstlerische Subjekt selbst
betraf.
Nicht selten war diese radikale Kritik eher Ausdruck eines Unbe-
hagens an der modernen Funktionsgesellschaft und ihren sozialen
Konsequenzen. Es ist kein Zufall, dass häufig gerade die radikalsten
Vertreter der Moderne inhaltlich fast sämtlich romantische Gegenfi-
guren zum bürgerlichen Menschen des industriellen Zeitalters be-
schworen. Entweder man verbannte die Figur, und das heißt konkret
den gewachsenen Druck auf den psychosozialen Haushalt des moder-
nen Individuums, ganz aus dem Bild und ersetzte das Subjekt gewis-
sermaßen durch eine vorsoziale Natur, wie zum Beispiel in der ro-
Norbert M. Schmitz
210
mantischen Landschaftsmalerei, oder man beschwor ein vormodernes
Subjekt als Gegenentwurf, wie bei den Symbolisten. Das gilt von
Delacroix über die Expressionisten bis hin zur Revivasthetik der
Neuen Wilden. Offensichtlich taugten aber solche Entwürfe wenig für
die allgemeine soziale Praxis, die wiederum in den darstellerischen
Möglichkeiten der modernen technisch-industriellen Medien die an-
gemessenen Formen für eine zeitgemäße visuelle Kommunikation
fand. Nur deren qualitative und quantitative Vielschichtigkeit erlaubte
es, die Figur in jener Komplexität abzubilden, die sie im Rahmen der
gewachsenen zivilisatorischen Voraussetzungen kennzeichnete.
Das Verschwinden des Menschen in den Bildern eines Malewitschs
oder das Zuendebringen der Kunst selbst bei Duchamp verweist also
weniger auf das Verschwinden der menschlichen Figur als darstel-
lungswürdigen Gegenstand, als auf die Unfähigkeit der traditionellen
Kunstmedien, die gewachsenen Anforderungen einer zeitgemäßen
Figurendarstellung im Sinne der symbolischen Orientierung sozialer
Praxis zu bewältigen.
Immerhin entwickelten und entwickeln die Hochkünste gewisser-
maßen als Bewegung zum Ende ihres kulturellen Primats noch eine
Vielzahl von Formen, die heute selbstverständlicher Bestandteil der
allgemeinen Medienkultur geworden sind. Und eben letzteres lässt
die Massenmedien das in der Elitekultur der Hochkunst entwickelte
Figurenrepertoire beispielsweise an romantischen Helden auf wohl
noch lange Zeit auch für die Massenkultur zwischen Film, Fernsehen
und Computergame attraktiv erscheinen, allerdings nicht nur in pa-
thologischen Ausnahmefällen als Ersatz einer komplexen Repräsen-
tation des ganzen Subjekts in der Vielzahl seiner zu bedienenden
Rollenmuster, sondern auch als lustbesetzte Figur in einem kompen-
satorischen Rollenspiel.30 Die Figuren des Kinos bleiben roman-
tisch.31
30 Eben hier liegt das Problem einer Ästhetik jenseits der ›Grenze zwischen Kunst und
Leben‹ wie die des Wiener Aktionismus.
31 Z.B. die Einflüsse der noch gegenständlichen Bilderwelt der frühen Moderne auf das so
genannte ›Kunstkino‹ z.B. eines Bergmann, vgl. Symbolismus und die Kunst der Jahrhun-
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Abb. 6: Tizian (1516): Assunta Die Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau Vene-
dig, S. Maria Gloriosa dei Frari. Aus: http://www.kunstkopie.de/kunst/ti-
zian_eigentl_tiziano_vercel/assunta_.jpg (03.09.08).
Abb. 7: Dürer, Albrecht (1522): Bildnis Bernhard von Resten. Dresden Gemäl-
degalerie. Aus: Waetzold, Wilhelm (1936): Dürer und seine Zeit. München,
Abb. 45.
Abb. 8: Parmeganono (1923): Selbstportrait im Konvexspiegel. Wien, Kunsthi-
storisches Museum. Aus: http://home.arcor.de/berzelmayr/parmigianino.jpg
(11.08.08).
Abb. 9: Bryn der Ältere, Bartholomäus (1535): Arnold von Brauweiler. Aus:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/
thumb/c/c6/Bartholom%C3%A4us_Bruyn_d._%C3%84._007.jpg/594px-
Bartholom%C3%A4us_Bruyn_d._%C3%84._007.jpg (11.08.08).
Abb. 10: Hopper, Edward: Room in New York (1932). Aus: Beck, Hubert
(1992): Edward Hopper. Hamburg, Abb. 28.
Abb 11: Freud, Lucian: Doppelportrait mit Hund Eli (1995). Aus: http://www.-
rcf.usc.edu/~alderett/images/freud_1_400.jpg (11.08.08).
Abb. 12: Bacon, Francis: Study from the human body (1949). Aus:
http://www.ngv.vic.gov.au/european/em_ipa00249.html (29.09.2009).
Abb. 13: Rosenbach, Ulrike: Reflexionen über die Geburt der Venus. Perfor-
mance 15 Min. Farbe/Ton (1976/78). Aus: Gruber, Bettina; Vedder, Maria
(1983): Kunst und Video: Internationale Entwicklung u. Künstler. Köln, S.
188.
Abb. 14: Bruce Naumann: Bruce Naumann in a studio version of green light (ca.
1970). Aus: Halbreich, Kathy; Benezra, Neal; Schimmel, Paul (1994): Bruce
Naumann: Exhibition Catalogue and Catalogue Raisonne. Minneapolis, S.
182.
215
Jörn Glasenapp
Figurenkonzepte in der Fotografie
Der vorliegende Beitrag geht von folgender Prämisse aus: Das Ver-
hältnis der Fotografie zur Figur ist ein gestörtes. Denn letztere ist
fiktiv und damit ontologisch unerreichbar für ein Medium, welches
wie kein anderes auf diese unsere, das heißt die ›wirkliche‹, Welt
verwiesen ist. Zuweilen indes, als inszenierte Fotografie, gibt sie sich
fiktionstauglich. Dann lässt sie uns tatsächlich Figuren sehen.
Keine Figuren
»Wir sprechen, im Gegensatz zu einer weit verbreiteten
Konvention, von dramatischer Figur, nicht von Person
oder Charakter, und wir tun dies, um einer ebenfalls weit
verbreiteten Tendenz, dramatische Figuren wie Personen
oder Charaktere des realen Lebens zu diskutieren, schon
terminologisch entgegenzuwirken und so die ontologische
Differenz zwischen fiktiven Figuren und realen Charakte-
ren zu betonen. Die Konnotationen des Worts Figur, die
auf intentional Gemachtes, Konstrukthaftes, Artifizielles
verweisen und nicht die Vorstellung von Autonomie, son-
dern von Funktionalität wecken (man denke etwa an die
Figur im Schachspiel), kommen dieser unserer Absicht ge-
rade entgegen« (Pfister 1988, 221).
So heißt es in der längst klassisch gewordenen Studie Das Drama
von Manfred Pfister, dessen Behauptung, die Fiktionalit müsse als
conditio sine qua non der literarischen Figur gelten, in den Philolo-
gien Gang und Gäbe ist. Dies bestätigt unter anderem ein Blick in die
einschlägigen Lexika und Sachwörterbücher, die die Figur beispiels-
weise als »jede in der Dichtung, bes. Epik und Drama, auftretende
fiktive Person« (Wilpert 1989, 298) oder aber als eine »durch einen
Jörn Glasenapp
216
fiktionalen Text dargestellte Gestalt« (Eder 2007, 238) definieren.
Entsprechend wären Flauberts Madame Bovary, Shakespeares
Hamlet, Goethes Werther oder Miltons Satan allesamt Figuren, nicht
aber Joachim Fests Hitler.
Dass es, schaut man etwas genauer hin, nicht ganz so einfach ist,
wissen wir natürlich längst spätestens, seitdem uns Hayden White
darauf aufmerksam gemacht hat, dass »auch Klio dichtet«, das heißt,
dass jedes historische Faktum (und damit auch jede historische Per-
son), sobald es von der Geschichtsschreibung erfasst wird, eine fik-
tionale Überformung erfährt (vgl. White 1991 sowie ders. 1994).
Insofern wäre es durchaus denkbar und möglicherweise auch sinn-
voll, von Fests Hitler als einer Figur zu sprechen. Doch wie verhält es
sich mit Heinrich Hoffmanns Hitler, jenem Hitler also, den wir auf
den Aufnahmen seines ›Leibfotografen‹ sehen (Abb. 1)? Ist auch er
eine Figur? Halten wir uns an den üblichen Sprachgebrauch, so ist er
es definitiv nicht: Wir betrachten schlicht Hitler auf den Fotos und
nicht die Figur Hitler. Und zwar tun wir dies, weil uns bewusst ist,
dass das Verhältnis der Fotografie zur Fiktion (und damit zur Figur)
ein anderes ist, als das der Sprache. Es ist, um es kurz zu machen,
gestört bzw., noch drastischer, gar nicht vorhanden, was daran liegt,
dass die Fotografie als Medium fiktionsuntauglich ist, ihr eine, wie es
bei Roger Scruton heißt, »fictional incompetence« (Scruton 1980/81,
588) eigen ist.
Abb. 1: Heinrich Hoffmann: Adolf Hitler.
Was sich für manchen möglicherweise wie eine gewagte These anhö-
ren mag, ist keine zumindest dann nicht, wenn man, wie dies ge-
wöhnlich geschieht, fiktionale Welten als in sich geschlossene Uni-
versen begreift, die mit der Welt, in der wir leben, ontologisch nichts
Figurenkonzepte in der Fotografie
217
gemein haben und sich deswegen auch nicht fotografieren lassen.
Schließlich ist die Fotografie von dieser unserer Welt. Mit ihr ist
sie indexikalisch verbunden (vgl. hierzu insbesondere Dubois 1998,
aber auch Riedel 2002 und Glasenapp 2008a, 23-27), mit ihr muss sie
folglich vorlieb nehmen, nur sie kann sie abbilden. Das bedeutet, dass
sie die Welt genau genommen nicht ›vermehren‹ und ihr im eigentli-
chen Sinne des Wortes nichts hinzufügen, das heißt, keine andere
Welt an die Seite stellen, kann, wie dies ein Gemälde oder ein Roman
tut. Mit Recht wurde die Fotografie deswegen auch als tautologisch
bezeichnet, von Roland Barthes (1990, 31; 1989, 13) etwa, vor allen
Dingen aber von Karl Pawek. »Das Photo«, so heißt es in dessen
Abhandlung Das Bild aus der Maschine, »ist eben tautologisch, es
war alles schon da, was es zeigt« (Pawek 1968, 83). Und genau aus
diesem Grunde zeigt es niemals Figuren, sondern allenfalls Men-
schen. Es sollte uns demnach nicht überraschen, dass der Begriff
Figur im fototheoretischen Diskurs so gut wie keine Rolle spielt und
dass es nicht eine einzige Studie zu Henri Cartier-Bresson, zu
Weegee, zu Diana Arbus oder aber zu Sebastião Salgado gibt, die
sich der Figurenkonzeption des jeweiligen Fotografen annimmt.
Heißt das also, dass wir den Versuch, uns dem im Titel dieses
Beitrages angezeigten Thema zu nähern, abbrechen können, noch
bevor wir ihn richtig begonnen haben? Nein nur sollten wir bei
unseren Bemühungen unser Augenmerk auf jene Fotografen richten,
die ihren Bildern, sei es durch die Inszenierung oder aber die Inte-
xion,1 einen, wenn man so will, fiktionalen Anstrich verleihen, sie in
den Augen des Betrachters also erscheinen lassen, als entstammten
sie einer Welt jenseits der unserigen einer Welt, in der es Figuren
gibt. Mit anderen Worten: Wir tun gut daran, uns an Vertreter der so
genannten inszenierten Fotografie zu halten, einem Genre, dessen
Wurzeln bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen,
welches sich aber insbesondere in den letzten beiden Dekaden erin-
nert sei hier nur an die spektakulären Erfolge Cindy Shermans und
Jeff Walls als eine der wichtigsten Ausdrucksformen künstlerischer
Fotografie etabliert hat.
Ihr Gegenstand wird, vereinfacht gesagt, nicht vorgefunden, son-
dern vom Fotografen arrangiert, der, indem er nicht vom materiell
Vorhandenen, sondern von der Idee ausgeht, die er im Leerraum des
Bildkaders umsetzt, gleichsam von oben nach unten bzw. idealistisch
1 Mit Intexion meine ich die Einflechtung eines visuellen Kommunikates in den Interak-
tionsprozess durch den jeweiligen Bildorator (vgl. auch Knape 2005, 142-143).
Jörn Glasenapp
218
operiert (vgl. hierzu auch Panofsky 1999, 53). Aus diesem Grund ist
es durchaus nachzuvollziehen, dass sich Fritz Franz Vogel in seinem
Überblick über die inszenierte Fotografie schwer dabei tut, letztere
als vollgültig indexikalisches Zeichen zu begreifen. »Auch wenn«, so
führt Vogel aus,
»in der semiologischen Taxonomie von Charles Sanders
Peirce Fotografien üblicherweise als Indexe bezeichnet
werden, und damit Spuren, Abdrücken oder medizinischen
Symptomen gleichgestellt sind, so sind inszenierte Foto-
grafien davon doch ein Stück entfernt, weil sie konstruiert
sind und alles, was in der Kamera sichtbar wird, vorher
zum Abbilden in Szene gesetzt wurde. Somit entsprechen
die inszenierten Fotografien eher den auf ein leeres Blatt
aufgezeichneten Bildern, Karten und Plänen, oder den aus
dem rohen Stein gehauenen Figuren« (Vogel 2006, 19).2
Keine Frage: Dem inszenierenden Fotografen fehlt letztlich das, was
Siegfried Kracauer in seiner materialen und hochgradig normativen
Theorie des Films die »fotografische Einstellung« nennt (Kracauer
1985, 38-44). Schließlich spielt er die Leistungsspezifika des Medi-
ums, welche sich unter anderem in seiner Affinität zur ungestellten
Realität und somit auch zum Zufälligen manifestieren (vgl. ebd., 44-
47; vgl. zudem Arnheim 1999, 178), nicht aus ja, er verleugnet sie
geradezu. Ein frühes Beispiel für eine solche Leugnung wäre etwa die
1861 entstandene Aufnahme The Lady of Shalott des englischen Fo-
tografen Henry Peach Robinson (Abb. 2), die hinsichtlich des Ver-
hältnisses von Fotografie auf der einen und Fiktion bzw. Figur auf der
anderen Seite als höchst einschlägig bezeichnet zu werden verdient.
Schauen wir sie uns also einmal etwas genauer an.
2 »Salomonisch«, so fährt Vogel fort, »könnte man argumentieren, dass es in der Fotografie
zwei Aspekte gibt, den technischen und den inhaltlichen. Technisch entspricht die insze-
nierte Fotografie dem Index (weil es sich bei der Bilderzeugung um einen rein photochemi-
schen Prozess handelt), inhaltlich jedoch dem Ikon (weil hier ästhetische Normen erzeugt
und reflektiert werden)« (Vogel 2006, 19).
Figurenkonzepte in der Fotografie
219
Abb. 2: Henry Peach Robinson: The Lady of Shalott.
Inszenierte Fotografie 1: Henry Peach Robinson
Hält man sich an die Begrifflichkeit der Intermedialitätsforschung, so
haben wir es bei Robinsons Foto mit einem klassischen Medienwech-
sel zu tun, das heißt, einer »Transformation eines medienspezifisch
fixierten Produkts bzw. Produkt-Substrats in ein anderes, konventio-
nell als distinkt wahrgenommenes Medium«, bei der »nur letzteres
[...] materiell präsent [ist]« (Rajewsky 2002, 19). Objekt der Trans-
formation ist in diesem Falle, wie der Titel des Fotos bereits unmiss-
verständlich zu erkennen gibt, ein Werk der Literatur, und zwar eines
der bekanntesten englischen Gedichte überhaupt: die Ballade The
Lady of Shalott von Alfred Lord Tennyson. 1832 geschrieben und
1833 im Druck erschienen, rückt sie das Thema der eingeschlosse-
nen, letztlich vergeblich auf den Geliebten wartenden Frau in den
Fokus, verleiht ihm aber eine offenkundige Wendung ins Poetologi-
sche. Im Zentrum des Textes steht die titelgebende Dame von Shalott,
die, einsam auf einer Flussinsel lebend, Tag und Nacht »[a] magic
web with colours gay« (Tennyson 1973, 1185) webt, wobei sie die
Wirklichkeit allein im Spiegel als »[s]hadows of the world« (ebd.,
1186) an sich vorüberziehen sieht. Erst als in letzterem der prächtig
geschmückte, gen Camelot reitende Ritter Lancelot erscheint, lässt sie
von ihrer Webarbeit ab und blickt ihm nach, worauf der Spiegel zer-
bricht. Herausgerissen aus ihrer Welt, besteigt die Dame darauf ein
Boot, legt sich in ihm nieder und lässt sich, ein Klagelied anstim-
mend, nach Camelot treiben. Als das Boot dort ankommt, ist die Pro-
tagonistin tot.
Jörn Glasenapp
220
Tennysons Gedicht wurde bereits zu Lebzeiten des Autors aufs Höch-
ste bewundert. Darüber hinaus regte es eine ganze Reihe von Malern
zur Auseinandersetzung mit ihm an, allen voran einige der
Präraffaeliten bzw. der ihnen nahe stehenden Künstler,3 die sich bei
der Wahl des Sujets zumeist auf die im Boot Dahintreibende kapri-
zierten. Dies tat auch Robinson, dessen durch und durch arrangiertes,
zudem auf der Montage zweier Negative fußendes Bild unschwer
erkennen lässt, warum er neben Oscar Gustave Rejlander als Vater
der Kunstfotografie gehandelt wird, einer Fotografie also, die osten-
tativ im Fahrwasser der Malerei operierte, um den ›mechanischen‹
Charakter des fotografischen Verfahrens in den Hintergrund treten zu
lassen bzw. vergessen zu machen (vgl. hierzu ausführlich Glasenapp
2006).
Freilich ist es ebendieser ›mechanische‹ Charakter, der Robinsons
Foto im hier verhandelten Kontext so interessant macht, präsentiert es
seinen Schöpfer doch implizit als jemanden, dem offenbar das Un-
mögliche gelungen ist: der ontologische Sprung in die fiktionale Welt
des Tennysonschen Gedichtes und die Begegnung mit dessen Prota-
gonistin, einer Figur. Und so führt das bei der Betrachtung eines Fo-
tos nur schwer auszublendende Wissen um die Tatsache, dass der
Fotograf »[i]mmer [...] ein Teil der Situation [ist], die er abbildet«
(Arnheim 1999, 173f), geradezu notwendig dazu, dass wir uns einen
viktorianisch gekleideten Mann mit Kamera vorstellen, der in der
mittelalterlichen Artus-Welt der Ballade gerade zu dem Zeitpunkt am
Ufer des Flusses steht, als die bemitleidenswerte Lady vorbei treibt.
Keine Frage: Ganz im Gegensatz zu den zahlreichen sujetidentischen
Gemälden, deren Entstehen das ›Da-gewesen-sein‹ der Maler ja nicht
voraussetzt, eignet dem hier zur Diskussion stehenden Bild eine gute
Portion unfreiwillige Komik, und zwar aufgrund der Tatsache, dass
es in ihm zu einer spektakulären ontologischen Vermischung der
Welten kommt.
Warum diese Vermischung bei einem Film, der ja bekanntlich aus
einer Serie von Bildern besteht und damit dieselbe »ontische Brücke«
(Pawek 1963, 58) wie diese zur Wirklichkeit unterhält, nicht irritieren
würde, lässt sich mit Christian Metz und dessen Beobachtung erklä-
ren, dass im Gegensatz zur Starre des Fotos das stete Voranschreiten
des Films bzw. das Vorbeiziehen der Bilder unsere »Aufmerksamkeit
auf Kosten der Verbindung, die zwischen jedem Bild und seinem
3 Zu nennen wären hier unter anderem William Holman Hunt, John William Waterhouse,
John Atkinson Grimshaw sowie Arthur Hughes.
Figurenkonzepte in der Fotografie
221
Referenten besteht, erregt, auf Kosten der Indexikalität also, die zwar
erhalten bleibt, aber weniger spürbar ist« (Metz 2003, 217). Während
der Film dafür sorgt, dass die Logik seiner Entstehung uns nicht be-
wusst wird und die »ontische Brücke« aus unserem Blick gerät, ist
das Foto insofern »hartnäckiger« und »eigensinniger« (ebd.), als es
uns nur schwer seine Genese, den Akt seiner Hervorbringung verges-
sen lässt. Metz zufolge ist auch dies ein Grund dafür, dass sich im
Alltagsbewusstsein eine klare Funktionsaufteilung von Film und Fo-
tografie herausgebildet hat, dass ersterer »vor allem Fiktion [evo-
ziert]«, letztere hingegen »hauptsächlich auf Dokumentation ausge-
richtet [ist]« (ebd., 216). Vielleicht sollten wir uns deshalb bei unse-
rer Suche nach Figuren in der Fotografie nicht zuletzt an Vertreter der
inszenierenden Fotografie halten, deren Bilder eine wie auch immer
geartete kinematographische Aura aufweisen. Keine schlechte Wahl
wäre hier sicherlich der Amerikaner Gregory Crewdson, wobei uns
als Anschauungsbeispiel eine Aufnahme aus dessen 2002 entstande-
nen Fotozyklus Dream House (Abb. 3) dienen soll.
Inszenierte Fotografie 2: Gregory Crewdson
Das querformatige Foto, welches keinen Titel trägt, präsentiert uns
das Innere eines Schlafzimmers, dessen einigermaßen veraltet wir-
kendes Interieur es dürfte größtenteils aus den 1970er-Jahren stam-
men an das eines Motel-Doppelzimmers denken lässt. Zwei Perso-
nen erkennen wir: eine zwischen dreißig und vierzig Jahren alte Frau
in weißem Nachthemd, die, prominent im Bildvordergrund platziert
und vom Licht der einen Nachttischlampe beschienen, auf der Bett-
kante sitzt und entrückt zu Boden blickt, sowie ein, wie es scheint,
jüngerer Mann, der hinter ihr in weißen Boxershorts (letztlich sind es
nur sie, die auf das männliche Geschlecht der Figur schließen lassen)
auf dem Bett liegt, wobei seine Schulterpartie und sein Kopf durch
den Körper der Frau verdeckt sind. Ob wir es mit einer im Morgen-
grauen oder kurz nach Sonnenuntergang spielenden Szene zu tun
haben, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.
Ist damit das, was wir mit Barthes die denotative Botschaft des
Bildes nennen würden (vgl. Barthes 1990, pass.), zu einem guten Teil
erfasst, so lässt schon deren bloße Beschreibung (die selbstredend nie
bloße Beschreibung sein kann) unmissverständlich offenkundig wer-
den, dass es Crewdson um das Arrangement einer Situation ging, die
Jörn Glasenapp
222
auf der Konnotationsebene überaus reichhaltig ist und im Bewusst-
sein des Betrachters sogleich einige der im kulturellen Repertoire fest
verankerten Abfolge- und Geschehensskripte aufruft. So könnte er
beispielsweise an ein geheimes Treffen denken: Eine verheiratete
Frau hat in einem Motel eine Nacht mit ihrem jüngeren Liebhaber
verbracht und bereut nun ihr Fremdgehen. Zu einer solchen Lesart
würde wahrscheinlich vor allem jener filmversierte Betrachter tendie-
ren, der nicht nur erkennt, dass die Frau von der Schauspielerin
Julianne Moore verkörpert wird, sondern der zudem weiß, dass
Moore in dem wenige Jahre zuvor gedrehten und von Crewdson im
Übrigen sehr geschätzten Episodenfilm Magnolia (1999, Regie:
Paul Thomas Anderson) eine untreue Ehefrau spielte, die ob ihrer
Gewissensbisse verzweifelt.4
Abb. 3: Gregory Crewdson: Ohne Titel.
Derart kinematographisch ›aufgeladen‹, verwandelt sich die Auf-
nahme gleichsam zur intermedialen Echokammer, wodurch sich der
Eindruck, man hätte es mit einem Standfoto aus einem Film zu tun,
entschieden verstärkt ein Eindruck, den freilich das Gros der
Crewdsonschen Werke macht, die ihr Schöpfer kurzerhand als »sin-
gle frame movies« (zit. n. Berg 2005, 16) apostrophiert, worin ihm
die Forschung ohne Einschränkung beipflichtet. Ihr zufolge verdichte
4 Nicht zuletzt die Tatsache, dass neben Moore auch noch die Magnolia-Darsteller Philip
Seymour Hoffman und William H. Macy an Crewdsons Bilderzyklus mitgewirkt haben,
deutet darauf hin, dass Andersons Film für Dream House einen zentralen Referenzpunkt
bildet.
Figurenkonzepte in der Fotografie
223
der filmbegeisterte Amerikaner, dessen im freudianischen Sinne un-
heimlich wirkende Welten immer wieder mit denen David Lynchs
verglichen werden, die »filmische Erzähllogik bis zu dem Punkt, an
dem ein einziges Foto potenziell die narrative Breite eines gesamten
Spielfilms repräsentiert« (Berg et al. 2005, 6).5
Doch zurück zur hier zur Diskussion stehenden Aufnahme. Diese
könnte neben der oben vorgestellten natürlich noch unendlich viele
weitere Lesarten provozieren, was sich der Spezifik der medialen
Form des fotografischen Bildes verdankt, das, einem wie auch immer
gearteten Zusammenhang entnommen, stets hochgradig polysem ist.
»Diskontinuität bringt immer Vieldeutigkeit hervor« (Berger 2000,
91), erklärt ganz in diesem Sinne John Berger, der die Fotografie
aufgrund ihres Augenblicks- bzw. Fragmentcharakters als genau ge-
nommen ›sinnlos‹ begreift, denn »Sinn wird in dem entdeckt, was
verbindet, und kann ohne Entwicklung nicht bestehen. Ohne eine
Geschichte, ohne eine Entfaltung gibt es keinen Sinn« (ebd., 89).
Dieser sei im Fall der Fotografie als bloße Zutat seitens des sinnbe-
dürftigen Rezipienten zu verstehen, der, aktiviert durch den medien-
spezifischen Unbestimmtheitsbetrag der Fotografie, das aus dem
zeitlichen Kontinuum herausgerissene Teilstück rekontextualisiert,
indem er es mit einem temporalen Vorher und Nachher versieht. »Ein
photographierter Augenblick«, so Berger, »kann nur insofern Sinn
erlangen, als der Betrachter eine Dauer hineinliest, die über ihn hi-
nausführt. Wenn wir eine Photographie sinnvoll finden, leihen wir ihr
eine Vergangenheit und eine Zukunft« (ebd.).6
Man versteht, warum Berger von der Fotografie als einer ›anderen
Art zu erzählen‹ spricht und ein Fotograf wie Crewdson, dem es in
5 Angemerkt sei, dass Crewdsons Arbeiten zuweilen einen Aufwand erfordern, der so
mancher Filmproduktion zu Ehren gereichen würde. Die Mitarbeiterliste des Fotografen ist
entsprechend lang, umfasst Make-up Artists und Kostümdesigner ebenso wie Beleuchter
und Special-Effects-Fachleute und wirkt im Katalog der Crewdson-Retrospektive von
2005/2006 wie der Abspann eines abendfüllenden Spielfilms. Kein Wunder, dass es kaum
ein Kritiker, der über Crewdson schreibt, versäumt, auf das Making of der Bilder einzuge-
hen, welches sich unter anderem in den Buchveröffentlichungen des Fotografen extensiv
dokumentiert findet. Letzterer präsentiert sich uns unmissverständlich als ein seine Visio-
nen umsetzender Autoren-Regisseur, und so ist es nur konsequent, dass nicht er, sondern
Rick Sands, sein ursprünglich vom Film kommender Director of Photography, die Kamera
betätigt.
6 Mit der semantischen Defizienz der Fotografie haben sich neben Berger zahlreiche
fototheoretisch interessierte Denker auseinandergesetzt, unter anderem Bertolt Brecht,
Susan Sontag, Neil Postman, Max Kozloff, John Tagg, Allan Sekula, Roland Barthes und
Philippe Dubois. Ihre Positionen habe ich an anderer Stelle vorgestellt und diskutiert (vgl.
Glasenapp 2008a, 28-35).
Jörn Glasenapp
224
seinen Werken in besonderem Maße um die Verrätselung US-ameri-
kanischer Alltagsrealität zu tun ist, diese ›andere Art‹ so sehr zu
schätzen weiß.
»All photographs are unresolved. Unlike other narrative
forms, a photo is mute and frozen in time. There is no be-
fore and no after. The events remain a mystery« (zit. n.
Chang 2002),
so der Amerikaner, dessen Aufnahmen gleich in zweifacher Hinsicht
als Entnahmen aus einem zeitlichen Kontinuum zu begreifen sind:
auf der ›realen‹ Ebene ihrer Entstehung als visuelle Dokumentation
des Ergebnisses der zum Teil enormen Inszenierungsbemühungen des
Fotografen und seines vielköpfigen Teams (der Aufbau der Sets, das
Schminken der Darsteller etc., denen nach der Aufnahme der Abbau,
das Abschminken etc. folgen) und auf fiktionaler Ebene als Festhal-
ten der sichtbaren Aspekte einer Situation, die Teil eines Handlungs-
ganges ist, den es genau genommen natürlich überhaupt nicht gibt,
dessen Existenz der Betrachter aber voraussetzt bzw. den er selbst der
fotografisch konservierten Situation unterlegt. Oder anders gewendet:
Erst nachdem die Situation den Betrachter dazu animiert hat, von der
Existenz einer Handlung auszugehen bzw. diese zu imaginieren, kann
sie von ihm als Fragment dieser Handlung wahrgenommen werden.
Einmal mehr bestätigt sich somit die gern übersehene Tatsache, dass
es bei der als narrativ bezeichneten Fotografie und Crewdson ist
zweifelsohne einer ihrer zentralen Vertreter allein der Betrachter ist,
der für das narrative Element Sorge trägt.7
Leicht verständlich ist, dass die Aktivierung des Rezipienten auch
die Figuren und ihre Charakterisierung betrifft, unter der wir, grob
gesagt, all jene formalen Techniken der Informationsvergabe verste-
hen, mittels derer die Figuren präsentiert werden (vgl. Pfister 1982,
240f). Dass das Repertoire dieser Techniken bei der Fotografie, der,
wie es bei Christoph Türcke treffend heißt, »Meisterin der Oberflä-
che« (Türcke 2002, 194), vergleichsweise eingeschränkt ist, ist vor
allen Dingen ihrer Stummheit geschuldet, die beispielsweise dazu
führt, dass dem Medium figurale Charakterisierungstechniken das
heißt solche, bei denen eine Figur als Sender der Information fun-
7 Zur narrativen Fotografie als Untergattung der inszenierten Fotografie vgl. Vogel 2006,
28-29.
Figurenkonzepte in der Fotografie
225
giert8 allein in außersprachlicher Form zur Verfügung stehen (zu
denken wäre hier an Aspekte wie Physiognomie, Mimik, Gestik,
Statur, Kleidung, Interieur etc.). Es dominiert bei der figuralen Figu-
rencharakterisierung im Foto demzufolge der Modus des die Aktivität
des Rezipienten fordernden showing, zulasten des eher ›passivierend‹
wirkenden telling. Am Beispiel argumentiert: Wo uns im Film
Fremd- und Eigenkommentare die auf der Bettkante sitzende Frau
›erklären‹ könnten vorstellbar wäre etwa ein Monolog, in dem diese
ihren Ehebruch bereut , sind wir im Falle von Crewdsons Foto aus-
schließlich auf die visuelle Oberfläche als Informationsspenderin
angewiesen. Der Spekulation ist damit Tür und Tor geöffnet, und dies
bereits beim ›Lesen‹ der Mimik. Denn wer wollte entscheiden, ob der
Blick der Frau als entrückt, lethargisch, versonnen, deprimiert, ver-
stört oder verzweifelt zu bezeichnen ist?
Vor allem Berger hat sich mit diesem zentralen Problemkomplex
der Fotointerpretation befasst und sich dabei einer Aufnahme als
Anschauungsbeispiel bedient, welche einen lächelnden Mann mit
einem Pferd zeigt (Abb. 4). Das Bild, führt Berger aus, »paßt zu jeder
Geschichte, die man sich einfallen ließe« (Berger 2000, 87), und so
könnte der von ihm vorgeschlagene Lesartenkatalog der Aufnahme
denn auch potenziell unendlich erweitert werden:
»Der letzte Reiter. (Sein Lächeln bekommt etwas Sehn-
süchtiges.) Der Mann, der Bauernhöfe in Brand steckte.
(Sein Lächeln bekommt etwas Bedrohliches.) Vor dem
Zweitausend-Meilen-Treck. (Sein Lächeln wird ein wenig
besorgt.) Nach dem Zweitausend-Meilen-Treck. (Sein -
cheln hat etwas von stolzer Bescheidenheit.) […]« (ebd.,
86).
Bergers Beispiel, das entfernt an Kuleschows Montage-Experiment
erinnert, lässt sehr schön deutlich werden, welch eminente Macht der
Sprache bei der semantischen ›Verankerung‹ der Fotografie (vgl.
hierzu Barthes 1990, 34ff) zukommt und wie grundsätzlich opportu-
nistisch sich letztere gegenüber der extradiegetischen Sinnzuführung
(vgl. hierzu auch Glasenapp 2008b, pass.) verhält: Das Foto zeigt
stets das, was man ihm zu zeigen aufträgt. Es »ist für alles zu haben«
(Sekula 2000, 125), wie Allan Sekula im Einklang mit Berger erklärt,
8 Zur Unterscheidung von explizit- und implizit-figuraler sowie explizit- und implizit-
auktorialer Figurencharakterisierung vgl. Pfister 1982, 250-264.
Jörn Glasenapp
226
der die sprachliche ›Verankerung‹ »Der letzte Reiter«, »Der Mann,
der Bauernhöfe in Brand steckte« etc. zur explizit-auktorialen Figu-
rencharakterisierung nutzt.
Abb. 4: Unbekannter Fotograf: Mann mit Pferd.
Dies tut Crewdson ausdrücklich nicht. Seine Aufnahme trägt keinen
Titel; in dieser Hinsicht entbehrt sie also einer explizit-auktorialen
Figurencharakterisierung, und doch tritt sie dem Betrachter, zumin-
dest wenn er sie im vom Künstler vorgegebenen Intexionsgefüge
rezipiert, in auktorialer Hinsicht nicht gänzlich ›unverankert‹ entge-
gen. Schließlich ist sie Teil eines Bilderzyklus mit dem Namen
Dream House. Dessen Auftakt wird durch eine Aufnahme gebildet,
auf der wir ein großes Einfamilienhaus sehen, welches mancher als
ein sprichwörtliches Traumhaus bezeichnen würde. Was folgt, sind
allerdings Bilder, die das semantische Feld ›Traum‹ in gänzlich ande-
rer Hinsicht als in Richtung Wunscherfüllung ausloten, indem sie uns
mit einer (alp-)traumhaft verrückten Wirklichkeit konfrontieren und
uns, schlicht formuliert, ›irgendwie derangiert‹ wirkende Figuren in
›irgendwie seltsamen‹ Situationen präsentieren. Selbstredend begün-
stigt ein solches framing gewisse Lesarten des zur Diskussion stehen-
den Bildes. Ob man aufgrund dessen allerdings von einer implizit-
auktorialen Charakterisierung der Figuren sprechen sollte, scheint
eher fraglich. Zu vage erscheinen die Informationen, die uns der
Kontext über die Figuren gibt. Insgesamt ändert er nichts daran, dass
letztere, was ihre Konzeption anbelangt, als hochgradig offen be-
zeichnet werden müssen.
Figurenkonzepte in der Fotografie
227
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Abb. 2: Henry Peach Robinson: "The Lady of Shalott", http://lindashires.com/
[Zugriff: 3.9.2009].
Abb. 3: Gregory Crewdson: Ohne Titel, aus: Stephan Berg (Hg.): Gregory
Crewdson 1985-2005. Ostfildern-Ruit, ohne Seitenzahl (Plate 58).
Abb. 4: Unbekannter Fotograf: Mann mit Pferd, aus: John Berger und Jean Mohr:
Eine andere Art zu erzählen, Frankfurt am Main 2000 (11982), S. 85.
229
Jens Meinrenken
Figurenkonzepte im Comic
Von allen Disney-Figuren scheint die Duck-Fa-
milie biologisch und moralisch am besten aus-
gestattet, die Weltherrschaft zu übernehmen.
Niemand sonst ist so weiß und mächtig wie sie.
(David Kunzle)1
What did I imagine my characters were doing
between the panels? For the first time I realize
how deep and complex the creating of comic
book stories really is. (Carl Barks)2
Figuren im Comic zeichnen sich durch ihr vielgestaltiges Erschei-
nungsbild aus. Ausgehend von der künstlerischen Reflexion des Co-
mics als modernes Massenmedium möchte der folgende Beitrag die
tiefer liegenden Sinnschichten des Figurenwandels im Comic unter-
suchen (Abschnitt 1). Nicht die Differenzierung und Auflistung der
verschieden Figurentypen im Comic ist für diesen Ansatz entschei-
dend sondern dessen universelle Darstellungsprinzipien. Im An-
schluss an die Künstlermythen der Antike konzentriert sich der Co-
mic auf die Gestalt und Formen der Figur, die selbstbewusst die eige-
nen medialen Bedingungen reflektiert und produktiv erweitert. Die-
sem »Eigensinn der Figur« (Abschnitt 2) steht eine Vielzahl paralle-
ler Welten und Multiversen gegenüber, die auf eine grundsätzliche
»Universalität und Kosmologie der Figur im Comic« verweisen (Ab-
schnitt 3). Der serielle Charakter des Mediums offenbart in dieser
dimensionalen Vervielfältigung seine eigentliche Identität und Phy-
siognomie.
Der Schlussteil des Beitrags widmet sich der aktiven Rolle der
»Figuren als Akteure und Schauspieler im Comic« (Abschnitt 4). Die
1 Kunzle 1990, 19.
2 Ault 2000, 123.
Jens Meinrenken
230
Wandlungsfähigkeit der Figuren gewinnt durch den Vergleich mit
dem Theater dramaturgische Züge und ist zugleich Teil einer mon-
strösen und kreatürlichen Aneignung der Welt. Die Mutationen der
Micky Maus und die Flexibilität des Comichelden Plastic Man sind in
diesem Sinne Verkörperungen eines umfassenden Figurenbegriffs,
dessen morphologische Bedeutungsebenen schon längst von Erich
Auerbach exemplarisch formuliert worden sind.
Figürliche Masse und groteske Transformationen
Die Allmacht der Figuren im Comic scheint unendlich. Sie steht im
krassen Gegensatz zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem
erzählerischen und psychologischen Potential dieser Figurenwelt.
Vornehmlich gelten Figuren im Comic als stereotype und eindimen-
sionale Verkörperungen einer massenmedialen Populärkultur.3 Eine
differenzierte und zugleich systematische Analyse der unterschiedli-
chen Bedeutungs- und Erscheinungsweisen von Comicfiguren steht
noch aus und dies trotz des ikonischen Status, den Gestalten wie
Donald Duck, Micky Mouse oder Superman im kulturellen Gedächt-
nis des 20. Jahrhunderts erreicht haben.
Zunächst fällt das immense Repertoire an Figuren ins Auge, die
den Comic bevölkern. Allein die Heerscharen von Superhelden in den
Comic-Universen von DC und Marvel könnten die These bestätigen,
dass es sich beim Comic um ein ausgesprochen modernes und ideo-
logisch wirkungsvolles Massenmedium handelt. Ähnlich wie es
Walter Benjamins Überlegungen zur propagandistischen Macht des
Films gezeigt haben, wird die (figürliche) Masse vom Comic in das
Raster der eigenen Bildwelten gepresst als selbstreflexiver Spiegel
der medialen und technischen Bedingungen.
Einen möglichen Kommentar zu dieser These bietet ein Gemälde
der spanischen Künstlergruppe Equipo Crónica aus dem Jahr 1966
mit dem Titel Concentración (La cantidad se transforma en calidad)
(Tomàs 2005, 125).4 In neun Panels sieht man eine ständig wach-
sende Menschenmenge, die schließlich das gesamte letzte Bildfeld
3 Beispielhaft Hinkel (1974). Hinkel betont ausdrücklich die Bedeutung der optischen
Präsenz von Comicfiguren zur Darstellung von Stereotypen. Seine stark auf Äußerlichkei-
ten fixierten Beobachtungen führen allerdings zu einer einseitigen typologischen Sicht-
weise auf die Formen- und Figurenvielfalt im Comic.
4 Ein erste Verortung des Bildes im Kontext von Kunst und Comic erfolgt bei Zimmermann
1970, 98f.
Figurenkonzepte im Comic
231
ausfüllt. Die individuelle Gestalt einzelner Figuren ist verschleiert.
Die Ballung der Figuren transformiert sich zu einer übergeordneten,
gestalterischen Figuration, deren anonymer Charakter durch die feh-
lende Farbigkeit noch verstärkt wird. Der Titel des Bildes wurde
direkt aus Benjamins Kunstwerk-Aufsatz übernommen:
»Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles ge-
wohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeborenen
hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen
(…)« (Benjamin I, 2, 464f).
Auffällig ist die Nähe des Gemäldes zur Formen- und Figurensprache
des Comics, die in anderen Arbeiten von Equipo Crónica ebenfalls zu
beobachten ist. So zeigt die Grafik ¡América, América! von 1965 in
einem Raster von fünf mal vier Feldern das gleichbleibende Gesicht
der Micky Maus, allein das achtzehnte Panel wird durch die Explo-
sion einer Atombombe ausgefüllt (vgl. Tomàs 2005, 120). Über den
aktuellen politischen Bezug beider Bilder hinaus lässt sich hier eine
grundlegende Beschäftigung mit der ikonischen und sozialen Bedeu-
tung von Comics und deren Figuren erkennen, die für die Auseinan-
dersetzung der bildenden Kunst mit dem Medium Comic symptoma-
tisch ist. Durch den Verzicht auf einen übergeordneten narrativen
Zusammenhang und die Verwendung typischer stilistischer Elemente
des Comics rückt die Figur in den eigentlichen Fokus der Darstel-
lung.
Nicht mehr die massenhafte Verbreitung und Reproduktion, die
den Comic als oberflächliches Medium der Moderne brandmarkt, ist
das vordergründige Thema einer solchen künstlerischen Operation,
sondern dessen überbordender Reichtum in der Erfindung eigener
Figuren und Bildwelten.5 Die globale Verbreitung und Wirkung von
Comicfiguren hat Walter Benjamin anhand der Zeichentrickfilme von
Micky Maus früh erkannt. In der ersten Fassung des Kunstwerk-Auf-
satzes heißt es:
»In die alte heraklitische Wahrheit die Wachenden haben
ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine für sich
5 Ein besonders eindrucksvoller Beleg für die geradezu enzyklopädische Aneignung dieser
Figurenvielfalt durch die Kunst ist Errós „Comicscape“ von 1971 (vgl. Nakas 2004, 110f).
Dagegen konzentrieren sich die Malereien von Mel Ramos auf die akzentuierte und iso-
lierte Darstellung einzelner Comichelden (vgl. Nakas 2004, 17f u. 113).
Jens Meinrenken
232
hat der Film eine Bresche geschlagen. Und zwar viel
weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der
Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erd-
umkreisenden Micky-Maus« (Benjamin I, 2, 462).6
Weitaus prosaischer beschreibt Jens Eder in der Einleitung zu seinem
Buch Die Figur im Film den merkwürdigen Umstand, dass mit dem
Wachstum der menschlichen Bevölkerung auch das Personal fiktiver
Figuren in den verschiedenen Medien ansteigt (vgl. Eder 2008, 12).
Für die Analyse der Figurenkonzepte im Comic enthalten diese
Äußerungen über das Phänomen der Masse hinaus einen wichtigen
Gedanken. Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Realität treffen sich
im Wesen der Figur. Für Benjamin verkörpert die Micky Maus das
Komische und Grauenhafte in einer Person und folgt damit einer
Tradition des Grotesken, die sich in der Entwicklung des Comics
vielfach wiederfindet. Sie ebnet den Weg für ein Figurenkonzept,
dessen Stärke in der Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit ihrer
mannigfaltigen Charaktere begründet ist. Die »therapeutische Spren-
gung des Unbewußten«, die Walter Benjamin den amerikanischen
Groteskfilmen und den Filmen Disneys zuschreibt (vgl. Benjamin I,
2, 462) transformiert sich im Comic zu einer explosiven Veränderung
der Figuren selbst, die auf die Gestalt des Mediums zurückschlägt. So
begegnet uns in Comics wie M.S. Bastians Päng eine verunstaltete
Micky Maus, deren deformierter Körper keinem sequentiellen Hand-
lungsrahmen mehr gehorcht und bewusst die gestalterischen Mög-
lichkeiten des Comics über die Grenzen der Narration und der Reali-
tät hinaustreibt. Die literarischen Vorlagen Charles Bukowskis wer-
den von M.S. Bastian regelrecht zerschnitten und zerstümmelt, wie es
Christian Gasser im Vorwort zu Päng formuliert, um sie zu neuarti-
gen Text-Bild-Konstellationen zusammenzukleben (vgl. M.S. Bastian
1995, 3). Eine Technik des Cut-Up und Fold-In, die direkt mit den
Körpern der dargestellten Figuren interagiert.
6 Zum ›Traumcharakter‹ der Micky Maus siehe weiter Benjamins Text Erfahrung und
Armut (vgl. Benjamin II, 1, 213-219, insb. 218). Eine ausführliche Interpretation der Äuße-
rungen Benjamins über Micky Maus bei Leslie Esther 2002, 80-122.
Figurenkonzepte im Comic
233
Vom Eigensinn der Figur im Comic
Walter Benjamins Überlegungen zur Zerstreuung und Sammlung der
Masse vor einem Kunstwerk bis hin zur totalen Versenkung, d.h.
Identifikation mit dem Dargestellten hat die ideologiekritische, päd-
agogische und medienwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Co-
mic in einem bisher nicht verarbeiteten Maße geprägt. Dies gilt für
die Betrachtung von Figuren in einer besonderen Form. Comicfiguren
werden größtenteils als (Zerr-)Spiegel der eigenen menschlichen
Identität des Lesers interpretiert, die durch die Reduktion und Ab-
straktion der Darstellung ihr comictypisches Aussehen erhalten (vgl.
McCloud 1995, 32-67; Packard 2006, 121-158).
Wie Stephan Packard in seiner Analyse von McCloud darlegt, ist
dessen Definition des Cartoons an Beispiele gebunden, »in denen sich
entweder zwei Figuren gegenüberstehen oder eine Figur dem Leser
aus der Comicebene heraus ins Auge blickt« (Packard 2006, 127).
Bei beiden Autoren kommt dem Gesicht eine tragende Rolle im Pro-
zess der Interaktion zu, wobei Packard das mimetische Wechselver-
hältnis zum Betrachter auf die vollständige Gestalt der Figur über-
trägt. Deren Gestik, Mimik und Motorik zwingt den Leser zum
»Aufruf der korrespondierenden körperlichen Imagination
in der eigenen Körperwahrnehmung; selbst dort, wo er ihr
nicht real nachgibt, identifiziert er die entsprechenden
Handlungen der Comicfigur mit Bewegungsvorstellungen
aus seiner Selbstpräsentation« (Packard 2006, 133).
Gegen diese Theorien der Identifikation argumentiert Ole Frahm in
seinem Aufsatz über Poetik im Comic, indem er den Identitätswech-
sel auf die Ebene der Figuren verlegt.7 In dieser Logik ist nicht das
gleich bleibende und cartoonhafte Aussehen einer Comicfigur ent-
scheidend, sondern deren Möglichkeit, die eigene Identität und den
7 In der Kritik Ole Frahms begreifen diese Theorien »die Figuren im Comic als Masken, die
sich die Leser in ihrem Bewusstsein aufsetzen, nicht nur um Comics zu lesen, sondern um
die ganze Welt zu verstehen« (Frahm 2007, 75). Zur komplexen Bedeutung des Motivs der
Maske im Comic vgl. Frahms Monographie über Art Spiegelmans Maus (vgl. Frahm 2006,
19-90).
Jens Meinrenken
234
sozialen Habitus zu verändern. An die Stelle der äußeren Stagnation
tritt die innere Konstruktion der stehenden Figur.8
Diese Sichtweise betont den kreativen und charakterlichen Eigen-
sinn vieler Comicfiguren. Die Geschichte des Comics ist durchzogen
von Beispielen, in denen sich die Figur gegen ihren Schöpfer auflehnt
und am liebsten selbst den Stift in die Hand nehmen möchte. Eine
künstlerische Art der Selbstreflexion, die sich der Comic mit dem
Animationsfilm teilt (vgl. Siebert 2005). Ein klassisches Beispiel für
den Protest einer Comicfigur gegen die formalen Grenzen und zeich-
nerischen Rahmenbedingungen des eigenen Mediums findet sich in
Winsor McCays Comic Strip Little Sammy Sneeze. Jener Junge, der
immer niesen muss (He just simply couldn’t stop it) und nie weiß,
wann es soweit ist (He never knew when it was coming). Am 24.
September 1905 gelingt es ihm schließlich mit einem gewaltigen
›CHOW‹ den Panelrahmen zu zerbrechen (Abb. 1).
Abb. 1: Winsor McCay. Little Sammy sneeze. Zeitungsstrip
vom 24. September 1905.
Dessen Reste türmen sich wie eine zerbrochene Fensterscheibe vor
seinem Körper. Das Panel bleibt so nicht bloßer Rahmen, sondern ist
zugleich eine Bildfläche, die sich wie eine transparente Fenster-
scheibe zwischen den Blick des Betrachters und der Comicfigur
schiebt. In einem anderen Beispiel zieht die Figur am Panelrahmen
wie an einer Schnur, um so befreit, Kriegsanleihen kaufen zu gehen
(vgl. Knigge 2004, 154). Doch die Interaktion zwischen Schöpfer und
Figur verläuft für beide Seiten nicht immer so friedlich, wie es die
oben genannten Beispiele suggerieren. Neben der noch harmlosen
8 Dietrich Grünewald definiert die stehende Figur als »Akteur einer Serie, der sich in den
einzelnen Episoden nicht oder nur minimal verändert (auf Aussehen, Charakter, Hand-
lungsmuster usw. bezogen)« (Grünewald 1991, 114).
Figurenkonzepte im Comic
235
Beschwerde einer Figur bei ihrem Zeichner, dass er seine Signatur
nicht unachtsam in der Gegend herumliegen lassen soll (vgl. Zehnder
1996, 229), gibt es auch verbale Auseinandersetzungen, die in hand-
festen Streitigkeiten enden. So zum Beispiel in Hergés zweiseitigem
Comic Strip Der bestrafte Zeichner (Her 1999, 159-160). Darf die
Figur im ersten Panel noch seelenruhig auf ihren Skiern durch die
Gegend kurven, knallt sie schließlich im zweiten Panel an den linken
Bildrahmen. Wutentbrannt und sichtlich gekennzeichnet von den
Folgen des schmerzhaften Unfalls, klingelt sie im nächsten Panel bei
ihrem Zeichner an der Haustür. Das letzte Panel zeigt die Folgen der
Begegnung. Hergé liegt mitsamt seinem Inventar auf dem Boden,
genauso ramponiert wie seine Figur, die ihn nicht nur beschimpft,
sondern auch mit dem Gehstock vermöbelt hat.
Neben der reichlich vertrackten, symbiotischen Beziehung zwi-
schen Zeichner und Figur, die in allen genannten Beispielen themati-
siert wird mit dem Leser als lachenden Dritten im Bunde , ist es
das Spiel mit der Linie, das diese Darstellungen als kunsttheoretische
Vexierbilder auszeichnet. Im Nachdenken über die vielgestaltige
Materialität der gezogenen Linie, präsentiert sich diese in metalli-
scher Härte (Hergé) oder als brüchiges Gestell (Winsor McCay).
Letztlich ist es der flexible und doppelbödige Charakter der Linie, der
jegliches Spiel mit den physikalischen Aggregatzuständen der For-
men und Figuren im Comic zusammenbindet. Noch einmal Winsor
McCay, diesmal mit einer Seite aus Little Nemo in Slumberland vom
8. November 1908 (vgl. Canemaker 2005, 114). Nemo, Flip und
Impie besuchen eine Bäckerei, dessen Räume mit riesigem Gebäck
gefüllt sind. Jedes Mal wenn Nemo sich eins aussucht, verschwindet
dieses. Stück für Stück löst sich auch der Raum auf, die Figuren stür-
zen ins leere Nichts, nur Nemo kann sich noch an der unteren Panel-
linie mit den Armen festhalten. Er rappelt sich wieder auf, um
schließlich in der teigigen Substanz von Panel 17 zu versinken, kurz
bevor im nächsten und letzten Panel aus seinem Traum wieder auf-
wacht.
Das Spiel mit der ästhetischen Grenze des Bildes und dem
perspektivischen Schwindel einer gegenstandslosen Welt trägt deutli-
che Züge des Theaters in sich. Die Reduzierung des Raums zu einer
weißen Fläche drängt Nemo an den unteren Bühnenrand des Panels,
wobei er zugleich mit dem imaginären Leser wie mit einem Zu-
schauer dialogisch interagiert. Eine solche Inszenierung enthält noch
Reste eines bewegten Zeichenstils, den Alexander Roob in seiner
Jens Meinrenken
236
Theorie des Bildromans aushrlich beschreibt (vgl. Roob 1997, 11-
42). Demnach empfiehlt William Hogarth dem Schauspieler sich dem
Studium der Linien zu widmen:
»Da die ganze Schönheit auf beständiger Veränderung
beruht, so muß dies auch für schöne theatralische
Bewegungen gelten« (Hogarth 2008, 205; Roob 1997, 16).
Die Linie als eigene Figur, so ließe sich die Entwicklung des Bildro-
mans von Hogarth über Rodolphe Töpffer bis Wilhelm Busch zu-
sammenfassen.9 Allerdings ist von der gesetzlosen Linie Töpffers,
von der Friedrich Theodor Vischer einst so schwärmte (vgl. Lange-
meyer u.a. 1985, 63), im modernen Comic nur noch wenig zu spüren.
Panel und Figur scheinen in einer streng relationalen Beziehung zu
stehen. Dies wird besonders deutlich, wenn Winsor McCay in seiner
Serie Little Nemo in Slumberland die Proportionen von Figur und
Panel wie durch einen Zauberspiegel gleichermaßen dehnt und streckt
(vgl. Canemaker 2005, 110).
Die Linie bestimmt den Grund der Figur. In diesem Sinne ist der
Comic Teil abendländischer Künstlermythen, die seit der griechi-
schen Antike unser Nachdenken über den Status und die Gestalt des
Bildes prägen10. Plinius beschreibt im 35. Buch seiner Naturalis
Historiae nicht nur den Ursprung von Malerei und Skulptur am ge-
zeichneten, d.h. linearen Umriss der menschlichen Form (vgl. Plinius
1997, 23 und 115), sondern er lässt die Linie im Künstlerstreit von
Apelles und Protogenes als trennende und zugleich verbindende In-
stanz in Erscheinung treten (vgl. Plinius 1997, 67ff). Die Linie mar-
kiert nicht nur die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, sie
zerteilt und gliedert die Bildfläche, sie konturiert ihre Formen, um die
anatomische Gestalt des Bildes selbst als einen organischen plasti-
schen Körper und als morphologische Figur zu begreifen.
9 Im Medium des Zeichentricks haben vor allem Emile Cohl (Fantasmagorie) und Osvaldo
Cavandoli (La Linia) die Verwandlung der Linie zur Figur zu ihrem Thema gemacht. Im
Bereich der Karikatur und Kunst finden sich diverse Beispiele, die anhand figürlicher
Linien und der Anatomie von Buchstaben das körperliche Verhältnis von Bild und Schrift
reflektieren. Diese Wechselbeziehung lässt sich bereits auf dem Teppich von Bayeux
beobachten, später an Figurenalphabeten wie das des Meisters E.S. oder im 20. Jahrhundert
bei dem von Kurt Schwitters illustriertem Märchen Die Scheuche, dessen figurale Typogra-
phie durch El Lissitzkys berühmtes Kinderbuch Geschichte zweier Quadrate angeregt
wurde (vgl. Rattemeyer 1990, 135).
10 Zur konkreten Darstellung verschiedener Künstlermythen im Comic vgl. Meinrenken
2010a.
Figurenkonzepte im Comic
237
In diesem Sinne pflegen Comicfiguren einen regen und zum Teil
aggressiven Austausch mit den engen Bildgrenzen, die sie umgeben.
Aufgrund der Wandelbarkeit und Durchlässigkeit des Bildes besitzen
Comicfiguren außerhalb ihrer medialen Präsentation eine Intimität
und Realität, die sich durch den Zeichenstift nicht einebnen lässt. Es
bleibt ein Rest Unsichtbarkeit figürlicher Identität, die über den Co-
mic hinaus existiert.
Universalität und Kosmologie der Figur im Comic
Was den Comic als erzählerische und poetische Form auszeichnet
sind nicht so sehr seine austauschbaren medialen Eigenschaften, son-
dern sein historisches und hochkulturelles Bewusstsein im Umgang
mit Bild und Text. Hierin liegt der paradoxe Anachronismus des Co-
mics begründet, der zugleich altmodisch und zukunftsweisend in
seinen Bildwelten agiert. Im Zentrum dieser spannungsreichen Dia-
lektik steht die Figur, die als magnetischer Pol alle denkbaren Mög-
lichkeiten figürlicher Darstellung zwischen High and Low auf sich
zieht. Dies gilt vor allem für den menschlichen Körper, wie es Will
Eisner in seinem Buch Mit Bildern erzählen. Comics & Sequential
Art eindringlich betont:
»Das bei weitem universellste Bildzeichen, mit dem der
Bilderzähler umgehen muß, ist die menschliche Form. In
dem grenzenlosen Bildinventar unserer Erfahrungswelt ist
der menschliche Körper das am eingehendsten studierte
und daher vertrauteste Element« (Eisner 1995, 102).
Noch universeller denkt Scott McCloud die Welt des Comics, wenn
er dessen digitale Zukunft als unendliche Leinwand definiert (vgl.
McCloud 2001, 204-245).
»Es wird niemals einen Computerbildschirm geben, der so
groß ist wie Europa. Aber man kann sich einen Comic vor-
stellen, der diese Größe besitzt und den der Blick durch
den Monitor Meter für Meter abtastet« (McCloud 2001,
226)
Jens Meinrenken
238
heißt es in einer geradezu emblematischen Verdichtung bisheriger
und zukünftiger Visionen des Comics.11 Das Panel zeigt das Alter
Ego Scott McClouds, der in meditativer Haltung auf einem einfachen
Computermonitor sitzt. Im Hintergrund eine Karte Europas. Der
Bildschirm präsentiert einen Ausschnitt des Teppichs von Bayeux,
der sich als fortlaufendes Band über die gesamte Doppelseite er-
streckt. Erst in der Verbindung mit dem gerade zitierten Text in der
dazugehörigen Sprechblase entfaltet das Panel seine volle visuelle
Argumentation. Der Teppich von Bayeux wird hier nicht nur als mit-
telalterlicher Vorläufer der heutigen Comics gewertet. Seine symboli-
sche Form als digitaler Bildstreifen auf einem Monitor verweist auf
einen mathematischen Zusammenhang.
Mit Hilfe eines unbeschriebenen Papierstreifens hatte der englische
Mathematiker Alan Turing 1936 eine Technik ersonnen, wie durch
das Eintragen von Nullen und Einsen alle berechenbaren Funktionen
dargestellt werden können ähnlich wie auf der Bildfläche des Mo-
nitors bei McCloud in Form von diskreten, d.h. schrittweise ablau-
fenden Zuständen. Wie Horst Bredekamp gezeigt hat (vgl. Brede-
kamp 1993, 100-102), überführt Turings Tape die manieristische
Bildkonzeption des Gehirns als weiße Leinwand in ein modernes
Denkbild.12 Bekanntermaßen lieferte Turings Tape das Grunddesign
für die binäre Rechenmaschine des Computers (Heintz 1993, 63-106),
dessen Nullen und Einsen in der Bildsymbolik McClouds als ge-
schlossenes und geöffnetes Auge in Form einer geschweiften Acht
bis zum mathematischen Symbol eines Unendlichkeitszeichen visua-
lisiert werden. Der längliche Streifen des Turingschen Tapes wird in
dieser Folge zum Ideal einer unendlichen Leinwand des digitalen
Comics mit dem Teppich von Bayeux als ideellen Träger vergange-
ner und zugleich zukünftiger Bilderzählungen.
Bereits in seinem Buch Comics richtig lesen hat Scott McCloud
eine globale Vorstellung von der Welt der Comics entwickelt, die
ganz bewusst die universale Ausstrahlung mittelalterlicher Visions-
bilder in eine moderne Kosmologie überführt mit der menschlichen
Figur als Mittelpunkt der ttlichen Schöpfung (vgl. McCloud 1995,
222). Vor einem riesigen Globus, der fast die gesamte Panelhöhe
ausfüllt, sitzt rechts in der Ecke an seinem Zeichentisch das Alter Ego
Scott McClouds auf einem Bürostuhl. »Dies ist die Welt des Comics,
wie ich sie verstehe«, klingt es aus seinem Mund. In Anlehnung an
11 Vgl. Meinrenken 2010b.
12 Zur Tradition der weißen Leinwand in der Kunstgeschichte vgl. Monika Wagner 2004.
Figurenkonzepte im Comic
239
das klassische Rastersystem von Längen- und Breitengraden sind die
einzelnen Felder des Globus gefüllt mit Piktogrammen, die im Detail
jene Gesichter, Figuren und Gegenstände zitieren, die McCloud als
exemplarisches Bildvokabular auf den übrigen Seiten seines Comic-
buchs benutzt. Der enorme Größenunterschied zwischen dem über-
dimensionalen Globus und der kleinen Figur in der unteren rechten
Ecke verdeutlicht nicht nur den Bedeutungsmaßstab, den der Autor
den möglichen Proportionen dieser Comicwelt beimisst. Die gesamte
Darstellung spiegelt in ihrer groben Form berühmte Miniaturen zu
Hildegard von Bingens Liber Divinorum Operum aus dem Lucca
Kodex wieder, die als einige der wohl bekanntesten Visionsbilder in
die Kunstgeschichte des Mittelalters eingegangen sind. Hier sitzt die
Figur Hildegards in der linken unteren Ecke ihres Skriptoriums, er-
füllt von der farbigen Pracht der göttlichen Schau. Anstelle des Glo-
bus erstrahlt hier noch das kreisförmige Rad des natürlichen Kosmos,
dessen Zentrum den adamitischen Menschen präsentiert (vgl. Heieck
1998, Tafel IV und V). Scott McCloud tauscht in seiner Darstellung
nicht nur die Bildseite mit Hildegard. Zugunsten einer stärker säkula-
ren Vision vollzieht er durch die Kugelform seines Globus die Revo-
lution der kopernikanischen Wende und taucht seine Himmelsschau
von der Welt des Comics in ein wissenschaftlich kosmologisches
Gewand, dessen Firmament vom Sternenglanz des Universums getra-
gen wird.
Die Allmacht Gottes ist in diesem Bild-Universum nur noch ver-
deckt präsent und dennoch verweist sie auf die eingangs betonte All-
macht der Figuren im Comic. Benjamins Vorstellung einer »erdum-
kreisenden Micky-Maus« und Scott McClouds Vision eines flächen-
deckenden Comic-Globus finden in den Spiegelfantastereien des
Marc-Antoine Mathieu ihre dynamische Entsprechung. So segelt sein
Protagonist Julius Corentin Acquefacques als Papierflieger in dem
Comicheft Die 2.333. Dimension um diverse Planeten, deren Bild-
welten nicht nur die eigene Geschichte in Globenform präsentieren
(Mathieu 2004, 34-45), sondern auch bekannte Werke anderer fran-
zösischer Comiczeichner wie Das Fieber des Stadtplaners
(Schuiten/Peters 1991) und Die Fliege (Trondheim 1998).
Die grenzenlose Vorstellungskraft des Comics wird hier zum Leit-
motiv der Darstellung (vgl. Mathieu 2004, 44) und ist zugleich an
eine mediale Reflexion über die raumzeitlichen Bedingungen von
Traum und Wirklichkeit gebunden (vgl. Meinrenken 2010c). Der
Versuch der Figuren, die eigenen Panelgrenzen zu sprengen, um die
Jens Meinrenken
240
Kästchenwelt des Comics zu überwinden, wird als trügerische Ein-
bildung entlarvt (vgl. Mathieu 2004, 37). Neben literarischen Einflüs-
sen sind es die optischen Effekte der Trompe-l’œil-Malerei, die von
Mathieu in das Medium Comic übertragen werden mit dem Ziel, den
Illusions- und Perspektivcharakter des Bildes trickreich zu dekon-
struieren. An die Stelle der kohärenten Repräsentation tritt eine ma-
thematische und künstlerische Sicht auf die Welt, die in der Existenz
eines würfelnden Gottes (Leinen 2007, 257) und der Darstellung von
Paralleluniversen ihren physikalischen Höhepunkt findet. (Mathieu
2004, 43). Wie James Kakalios in Physik der Superhelden feststellt,
»könnte die Vorstellung einer unendlichen Anzahl von Parallelwelten
eines der merkwürdigsten Beispiele für die korrekte Wiedergabe phy-
sikalischer Ideen in Comics sein!« (Kakalios 2006, 308).
Vor allem im Genre der Superhelden hat die Idee von Parallel-
universen und Multiversen eine breite Tradition und ist immer auch
ein Spiel mit den besonderen Kräften einzelner Figuren, ihrem Ausse-
hen und dem Wechsel ihrer Identität. Damit verknüpft sind die Mög-
lichkeit von Zeitreisen (Kakalios 2006, 320-327) und die Fähigkeit
des Helden, den Ablauf von Raum und Zeit eigenhändig zu kontrol-
lieren eine Faszination, die medienübergreifend Comic, Film und
Computerspiel vereint (vgl. Meinrenken 2007). Einen Sonderfall
paralleler Welten stellen Comics dar, in denen Superhelden ihrer
mehrfachen Identität persönlich begegnen. So in der legendären Ge-
schichte Flash of Two Worlds!, die September 1961 in der Ausgabe
The Flash #123 zuerst publiziert wurde (Abb. 2).
Abb. 2: Cover von The Flash #123. September 1961.
Figurenkonzepte im Comic
241
Dort tritt der alte Flash Jay Garrick aus der Ära des Golden Age dem
neuen Flash Barry Allen aus der Ära des Silver Age direkt gegen-
über.13 Die geheime Identität von Superhelden Bruce Wayne alias
Batman oder Clark Kent alias Superman wird hier zum Vexierbild
über die Kohärenz von Welt und Figur. Dopplung und Verviellti-
gung identischer Figuren im Comic verweisen dabei auf dessen seri-
ellen Charakter. Das Prinzip der Wiederholung im Comic findet in
solchen Beispielen ihre medienspezifische Ausprägung und zeigt
zugleich deren Differenz: Die Kostümierung von Superhelden ist ei-
nem unauslöschbaren Zwang der Modernisierung unterworfen, um
die Lebendigkeit und Aktualität der Figuren zu bewahren.
Figuren als Akteure und Schauspieler im Comic
Alle diese Beispiele von Will Eisner bis James Kakalios zeigen, dass
die Figurenkonzepte im Comic an spezifische Vorstellungen von der
gestalterischen Universalität des Menschen und der Welt gebunden
sind, die ihn umgibt. Eine solche Sichtweise unterstreicht die aktive
Rolle der Comicfiguren als Handlungsträger, wie sie vor allem
Dietrich Grünewald in seinen Texten herausgearbeitet hat:
»So ist die Bildgeschichte dem Theater wie dem Licht-
Theater, dem Film, ähnlich. In ihrem Zentrum stehen die
Akteure, die sich in einer visuell präsentierten ›Bühne‹
bewegen und das Geschehen tragen. Akteur in der
Bildgeschichte sind Menschen, Tiere, vermenschlichte
(anthropomorphe) Tierfiguren, Phantasiefiguren«
(Grünewald 1991, 30).
Die Auffassung des Comics als Prinzip Bildgeschichte (vgl.
Grünewald 1991, 13) deckt sich mit der generellen Verortung der
erzählerischen Dimension in den Künsten (vgl. Lämmert 1999). Be-
reits die Bildfolgen Hogarths (vgl. Grünewald 2000, 18-27) und
Chodowieckis (vgl. Sackmann 2004, 7-11) begründen im starken
Austausch mit dem Theater und den Dramen des 18. Jahrhunderts
eine satirische, theatralische Tradition der Bildgeschichte, deren Ak-
teure aus heutiger Sicht durch ihre exaltierte körperliche Performanz
ins Auge stechen. Eine solche barocke Gestik und mimische Aus-
13 Wiederabgedruckt in DiDio (2005, 5-30).
Jens Meinrenken
242
druckskraft ist im modernen Comic eher selten zu finden. Eine be-
zeichnende Ausnahme, die dramatische Pose des Shakespeareschen
Theaters mit dem rauen Charme einer modernen Großstadt zu verei-
nen, stellt Will Eisners Bilderfolge Hamlet auf dem Dach dar (Eisner
1995, 114-123). Das existentielle Schicksal des Protagonisten in der
Figur eines Indianers entfaltet sich über eine bewusst betonte Körper-
sprache, die durch die anonyme Atmosphäre der Kulisse noch gestei-
gert wird. Fremdsein und die Fremdartigkeit der urbanen Umgebung
durchziehen als soziale und emotionale Faktoren zahlreiche Comics
von Will Eisner. Hier werden sie zum Prüfstein einer Literatur in
Bildern, die das Erzählen im Comic über den sequentiellen Rahmen
hinaus als Charakter- und Ausdruckskunst begreift.14
Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass sich seit
dem 16. Jahrhundert mit dem Begriff des theatrum mundi eine uni-
versale Weltbetrachtung etabliert hat, die das irdische und himmli-
sche Geschehen als einen Schauplatz versteht. Wie die oben darge-
legten Ausführungen demonstrieren, wurde diese Sicht vom Comic
um ein Vielfaches multipliziert. Aus dessen Perspektive entpuppen
sich die verschiedenen Welten des Comics als buntes Kaleidoskop
universeller Darstellungsprinzipien, die neben der menschlichen Fi-
gur den Zug des Monströsen und Übernatürlichen nicht verbergen
können. Wenn Andreas C. Knigge das Vorwort seines Buches Alles
über Comics mit dem Satz beginnt: »Das Universum der Comics wird
von eigenartigen Kreaturen bewohnt« (Knigge 2004), dann verweist
er damit auf die dunkle Macht des Comics, originäre Figuren zu
kreieren, die von Medien wie dem Film oder der Literatur nicht ohne
weiteres usurpiert werden können.
Im Stile dieser Denkrichtung beschreibt Christian Gasser die Ent-
wicklung des Comics als eine Reihe von Mutationen in seinem Text
Mutantenkosmos. Von Mickey Mouse zur Explomaus (Gasser 2000, 5-
18). Hier wird die Comicfigur zum Symbol für die Wandlungsfähig-
keit des eigenen Mediums. Erich Auerbachs grundlegende Studie
Figura zur komplexen Historie des Figurenbegriffs offenbart die
antiken Spuren dieser Auffassung (Auerbach 1967, 55-92).15 Aus
dem griechischen Wort für Schema entwickelt sich im Lateinischen
das Wort figura:
14 Zur Rolle des Theaters bei Will Eisner vgl. Platthaus 2006.
15 Zur Bedeutung von Auerbachs Untersuchung für einen fiktiven und performativen
Figurenbegriff vgl. die Einleitung im Sammelband De Figura (Brandstetter/Peters 2002, 7-
11).
Figurenkonzepte im Comic
243
»Wenn man also im großen sagen kann, dass figura im
lateinischen Sprachgebrauch für σχήµα eintritt, so ist doch
damit die Kraft des Wortes, potestas verbi, nicht erschöpft:
figura ist weiter, nicht nur zuweilen plastischer, sondern
auch beweglicher, stärker ausstrahlend als σχήµα. Freilich
ist auch dieses noch dynamischer als unser Fremdwort
›Schema‹; heißen doch bei Aristoteles die mimischen
Gesten der Menschen, insbesondere der Schauspieler
σχήµατα; die Bedeutung der bewegten Form ist σχήµα
keineswegs fremd; aber figura hat dieses Element der
Bewegung und Verwandlung viel weiter entwickelt«
(Auerbach 1967, 57).
Auerbach skizziert damit eine Entwicklungsgeschichte des Figuren-
begriffs, die ihre stärksten und bildhaftesten Momente in der Bedeu-
tung des Gestaltwandelns besitzt, was der Autor anhand einiger Zitate
aus Ovids Metamorphosen eindrucksvoll belegt (vgl. Auerbach 1967,
61). Auerbach legt den Grundstein für eine Morphologie der Figuren,
deren Wirkung von großer medienwissenschaftlicher Relevanz ist
und im Comic eine eigene Gestalt gefunden hat. Knapp zwei Jahre
nach der Publikation des Figura-Aufsatzes erscheint August 1941 die
erste Nummer von Police Comics mit der Figur des Plastic Man aus
der Feder von Jack Cole. Aufgrund eines Säureunfalls ist Plastic Man
in der Lage seinen Körper beliebig zu dehnen und die Gestalt aller
möglichen Formen und Figuren anzunehmen. Wenn man nach
Stephan Packard an den meisten Comics sehen kann, »dass Körper
disproportional verzerrt werden« (Packard 2006, 95), dann ist dies ein
Beleg für die abschließende These, dass in der Figur des Plastic Man
die gestalterischen und figürlichen Expansionsmöglichkeiten des
Comics vollends zur Deckung kommen.
Abb. 3: Anfang von Plastic Man in Police Comics #1. August 1941.
Jens Meinrenken
244
Er durchquert mit seinem aalähnlichen Körper nicht nur mühelos die
Abfolge verschiedener Panels (vgl. Spiegelman 2001, 38-39), be-
lauscht als abstraktes Gemälde im Museum unbemerkt Gangster beim
Planen ihres nächsten Coups (vgl. Spiegelman 2001, 16) oder reitet
ein wildes Pferd zu, dessen textueller Körper sich allein aus den
Buchstaben C.R.I.M.E zusammensetzt (vgl. Cole 2000, 176). Bereits
die erste Seite aus Police Comics No.1 verdichtet die verschiedenen
figürlichen Erscheinungsformen des Plastic Man zu einer anatomi-
schen Gesamtkomposition (Abb. 3). Abstraktion, Konkretion und
Figuration im Comic treten so in einer Figur zusammen. Ein flexible-
res Figurenkonzept des Comics lässt sich kaum denken.
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247
V. Audiovisuelle und interaktive Medien
248
249
Henriette Heidbrink
Formen der Filmfigur
Da das Besondere der Figuren im Film in Abgrenzung zu den Figu-
renkonzepten anderer Medien besteht in ihrer seh- und hörbaren,
dynamischen Verfasstheit. Daher wird in diesem Beitrag vor allem
die mediale Vielfalt der filmischen Figur betont: So lassen sich Figu-
ren problemlos als anthropologisch, kulturell, sozial, ästhetisch,
mental sowie emotional wirksame Attraktoren profilieren. Dabei
werden einerseits Ansätze thematisiert, die Figuren primär als Hand-
lungsträger begreifen, die in der Rezeption ›identifizierende‹ sowie
›distanzierende‹ Bezüge herausfordern. Andererseits wird betont,
dass die funktionalen Dimensionen von Filmfiguren sich keineswegs
auf die Erzeugung von Subjekteffekten reduzieren lassen, denn die
potenziell auf sie gerichteten rezeptiven Bezüge, werden durch die
Figur-Grund-Relation determiniert, das heißt, es geht um das Ver-
hältnis der Figurenkonzeption zum narrativ-dramatisch, ludisch oder
deskriptiv strukturierten Kontext. Vor diesem Hintergrund werden
figurale Entitäten als telische oder paratelische Attraktoren vorge-
stellt. Zudem wird exemplarisch erläutert, wie Figuren zu filmischen
Spielfiguren werden können, was wiederum Auswirkungen auf ihre
funktionale Einbettung in den Film und auf die Rezeption nach sich
zieht.
Henriette Heidbrink
250
Ästhetik, Technik und Pragmatik des Films
Filmfiguren stehen als bewegliche, hör- und sehbare Leinwandattrak-
tionen im Brennpunkt der rezeptiven Wahrnehmung. Über ihre viel-
fältigen Konzeptionen lassen sich bei den Zuschauern mannigfaltige
Vorstellungen, Gefühle, Intuitionen und Wünsche erzeugen. Anhand
der projizierten Körper und der durch das Publikum imaginierten
Psychen entfaltet sich das Erzählgeschehen und dieses bietet wie-
derum vielfältige Beobachtungsoptionen: Figuren pendeln zwischen
Dynamik und Stagnation, Entfaltung und Verfall, sie erreichen uner-
reichbare Höhen und stürzen in ungekannte Abgründe. Die theoreti-
schen Konzeptionen von Filmfiguren kaprizieren sich zumeist auf
drei Phasen:
1. Die Produktion, Kreation oder Materialisierung umfasst den
technisch-praktischen Entstehungsprozess der Figur von der
sprachlichen Konzeptualisierung im Drehbuch bis hin zu ihrer
audiovisuellen Verfasstheit im medialen Material.
2. Die zeichenhafte Materialität der Figursst sich als Projektion
des spezifischen Arrangements der medial fixierten Bilder,
Klänge und Texte im Zeitverlauf beobachten.
3. Auf Basis der selektiv-synthetischen Wahrnehmungs-, Beobach-
tungs-, Analyse- und Interpretationsprozesse der Zuschauer, de-
ren Synthese gemeinhin als Rezeption bezeichnet wird, die wie-
derum an den zeitlichen Verlauf der Präsentation gebunden ist,
entstehen in psychischen Systemen individuelle Beschreibungen
und hochkomplexe Vorstellungen von Figuren mitsamt der dazu-
gehörigen mentalsomatischen Effekte beim einzelnen Zuschauer
(vgl. Eder 2008).
Prinzipiell stehen alle Betrachtungen zu Filmfiguren gleichgültig
auf welche der genannten drei Phasen Bezug genommen wird in
Bezug zu den spezifischen Merkmalen des kinematografischen Prä-
sentationsdispositivs, mit dessen Hilfe die Figuren erzeugt werden.
Das betrifft insbesondere die Produktion und Materialisation der Fi-
gur, die konkret an die Möglichkeiten und Grenzen des Films bzw.
des Kinos gebunden sind.
Technisch entstehen Figuren des Kinofilms durch die Projektion
auf eine Leinwand und das Abspielen von Ton, der sich als Licht-
oder Magnettonspur auf dem Film oder einem externen Trägerme-
Formen der Filmfigur
251
dium befindet.1 Folglich bieten sich vor allem zwei formale Optionen
an, um beim Publikum die Vorstellung einer Filmfigur zu erzeugen:
die visuell wahrnehmbare Projektion von Zeichenkörpern auf eine
Leinwand oder die Darbietung akustischer Klangkörper, die sich
bspw. als Stimme der Figur selbst oder als Stimme eines Erzählers
entpuppen, der von einer Figur erzählt.2
Jede Filmfigur wird weiterhin durch die klassischen Strategien der
filmischen Darstellung gekennzeichnet, die auf eben jener Sichtbar-
keit der Bildzeichen und der Hörbarkeit von Stimmen, Klängen und
Geräuschen basieren. So werden Figuren im Film bekanntermaßen
durch Darsteller verrpert, die ihnen ihren Körper und ihre Stimme
leihen.3 Dabei hängt die mutmaßliche Qualität einer Filmfigur stark
von den individuellen Beobachtungen der schauspielerischen Leis-
tung durch die jeweiligen Rezipienten ab, die beurteilen, ob Motive
und Intentionen mehr oder weniger plausibel, glaubhaft und überzeu-
gend präsentiert wurden.
Gesichter und Körper
Das Besondere in Abgrenzung zu den Figuren anderer Medien
zieht die filmische Erzählfigur denn auch aus ihrer seh- und hörbaren,
dynamischen Körperlichkeit. Im Gegensatz zu literarischen Darstel-
lungen, die stets an sprachliche Beschreibungen gebunden sind, oder
Hörspielen, denen keine Bewegtbilder zur Verfügung stehen, und
dem Theater, das an den Bühnenraum gebunden bleibt, das in der
Regel aufwendige Tricktechnik und Special Effects entbehrt und nur
den wenigsten Zuschauern den Blick auf das visuelle Minenspiel der
1 Die Darstellungen auf der Bildwand entstehen entweder durch die Projektion von Filmen
durch Projektoren oder durch das Abrufen digitaler Bilder aus einem Speichermedium. Die
Einführung des Tonfilms im Jahr 1926 erforderte eine konstante Abspielgeschwindigkeit
der Bilder, um die Synchronizität mit dem Ton zu gewährleisten, die bekanntlich auf 24
Bilder pro Sekunde festgelegt wurde.
2 Laut Jean-Louis Baudry erlangen die gebotenen akustischen und visuellen Reize ihre
besondere Fokussierung vor allem durch ihre Kombination (vgl. Baudry 1975).
3 Figuren, die durch Schauspieler verkörpert werden, verweisen im Gegensatz zu künst-
lich erzeugten Figuren aus Trick- und Animationsfilmen (vgl. Eder 2007) stets auch auf
einen Pool aus filmexternen Informationen. Diese können betont werden, indem der Bezug
zu einer Starperson in den narrativen Vordergrund gerückt wird. Zu der Figur Tess (gespielt
von Julia Roberts) in Oceans’s Twelve (2004), die Julia Roberts so ähnlich sieht, dass sie
diese beim Bankraub doubeln soll, siehe Venus 2007, 320. Zum Verhältnis von der Figur,
Schauspieler, Rolle und Star siehe auch Wulff 1996.
Henriette Heidbrink
252
Darsteller erlaubt, ist es im Kino möglich, körperliche und mimische
Verfasstheiten von Filmfiguren unmittelbar in Echtzeit zu beobach-
ten. Der ungarische Filmkritiker Bela Balázs betonte 1924 insbeson-
dere die Wirkkraft des mimischen Ausdrucks von Figuren im Film:
»Die Mimik der anderen betrachtend und begreifend, erta-
sten wir nicht nur unsere gegenseitigen Gefühle, wir erler-
nen sie auch. Die Geste ist nicht nur ein Produkt des Af-
fekts, sondern auch seine Erweckerin« (Balázs 1998a,
230).
Er proklamierte, dass die Sprache der Mimik viel persönlicher sei als
die Sprache der Worte (ebd., 229).4 In der Filmtheorie haben im An-
schluss an Balázs vor allem Gilles Deleuze und Jacques Aumont den
Stellenwert des Gesichts hervorgehoben: Für Deleuze ist das »Af-
fektbild« eine Großaufnahme und selbige eben ein Gesicht (vgl. De-
leuze 1989, 123). Dabei handele es sich jedoch nicht um eine bloße
Vergrößerung, sondern gleich um eine Art Emanzipation vom Körper
und den narrativen Strukturen des Films. Die Großaufnahme bringe
eine »absolute Veränderung«, die den Bildinhalt seiner raumzeitli-
chen Gebundenheit enthebe (ebd., 134). Bei Aumont wird das Ge-
sicht zu einem vielseitigen Mittel der Kommunikation, das einen
zentralen Stellenwert in den dramatischen und narrativen Strukturen
des (Stumm-)Films einnimmt (vgl. Aumont 1992).
Ed Tan vertritt wiederum die These, dass das Erkennen von Ge-
fühlen auf einer kulturübergreifenden Codierung der Grundemotionen
beruhe; dabei hänge der Einsatz der Grundemotionen in reiner Form
oder als Mischformen vom Genre ab: Insbesondere im Mainstream-
Film seien die Grundformen tendenziell in Reinform vertreten, wäh-
rend das »parametrische Kino« (vgl. Bordwell 1985) Nahaufnahmen
und emotionale Gesichtsausdrücke vermeide und dadurch die Inter-
pretationslust des Publikums schüre (vgl. Tan 2005).5
Neben ihrem Gesicht fungiert der Körper einer Figur als Lein-
wandattraktion, auf die in der Filmtheorie durchaus facettenreich
Bezug genommen wurde und wird. Zweifellos bieten Filme reichhal-
tige Beiträge zu den individuellen und kulturellen Konstruktionen
4 An anderer Stelle führt Balász die Vorzüge der Wortkultur aus (vgl. ebd., 228).
5 Die neuere Forschung zum Gesicht im Film birgt vielfältige Positionen, siehe dazu u.a.:
Barck/Beilenhoff 2004, Wolfgang Barck/Löffler 2005, Davis 2003, Elsaesser/Hagener
2007, Planting 1999, Tan 2005.
Formen der Filmfigur
253
von Körperbildern, Körperschemata, somatischen Stereotypen und
Identitäten.6 Theoretisch werden die Leinwandkörper wiederholt als
Bindeglied zu den Körpern in den Kinosesseln konzipiert. Dabei sind
die Differenzen zwischen der Präsenz eines Körpers (vgl. bspw. De-
leuze 1991, 259f), den medienspezifischen Möglichkeiten und Kon-
ventionen seiner Repräsentation und dem, was durch die Beobach-
tung durch das Publikum aus beiden entsteht, vielfältig betont, diffe-
renziert aber auch verwischt worden. Was psychoanalytische, empiri-
sche, ästhetische und semiotische Ansätze jedoch vereint, ist der
Wille, die Korrespondenz zwischen den Leinwandfiguren und den
Zuschauern zu theoretisieren (vgl. Meteling 2006, 262).
So begreift bspw. Bärbel Tischleder die Verfassung des Körpers in
Abhängigkeit zu unterschiedlichen Körperbildtheorien (vgl. Tischle-
der 2001, 49) und vertritt die These, dass vor allem Filme durch die
Darstellung körperlicher Attraktionen (bspw. Schmerzen) die Mög-
lichkeit bieten, das somatische Erleben von Figuren nach- und mitzu-
empfinden (vgl. ebd., 78).
»[…] auch wenn wir Körper auf der Leinwand sehen, […]
interagieren diese mit unserem leiblichen Körpergedächt-
nis. Im Kino hat das eigene Körperbild eine vermittelnde
Funktion, die es ermöglicht, die haptische Beschaffenheit,
Temperatur oder das Gewicht einer visuell und akustisch
wahrgenommenen Körper- und Dingwelt leiblich nachzu-
vollziehen« (vgl. ebd.).
Während Tischleders Begriff des »Körpergedächtnis«7 auf der An-
nahme beruht, dass sich die Schemata vergangener Körpererfahrun-
gen in selbigem sedimentieren (vgl. ebd., 60), geht die Forschung zu
den Spiegelneuronen davon aus, dass die Beobachtungen einer Be-
wegungshandlung das Gehirn derart unmittelbar stimulieren, als
würde die Handlung eigens aktiv ausgeführt (vgl. Tan 2009). Die
Beobachtung der Entwicklung vom ›Filmtext‹ zum ›Kinoereignis‹,
die theoretisch an der Schnittstelle von Psychoanalyse, Strukturalis-
6 Vgl. u.a. Felix 1998, 2002; Geiger/Rinke et al. 2006, Heller/Blüher 1999, Meteling 2006,
Nessel 2008, Nessel/Pauleit 2008, Tischleder 2001.
7 Tischleder entwickelt ihre Thesen aus der feministischen Theorie Judith Butlers und den
psychoanalytisch-philosophisch orientierten Ansätzen von Jacques Lacan, Julia Kristeva,
Didier Anzieu und Paul Schilder.
Henriette Heidbrink
254
mus, Semiotik und ›postsemiotischen Theorien‹, bspw. Steven
Shaviro, ansetzt, wird seit dem Beginn der 1990er-Jahre diskutiert.8
Auf Basis anthropologischer Determinanten sind insbesondere
Darstellungen von Sexualität und Gewalt relativ sichere Garanten für
zumindest kurzfristige Aufmerksamkeit des Publikums. Als kulturell
determinierte Attraktoren wären wiederum diverse Formen von men-
talsomatischer Virtuosität zu nennen, bspw. Tanz, Sport, Artistik,
Kunst, Musik. Aber auch die Darstellungen von ganz alltäglichen
Routinehandlungen wie etwa Rauchen, Trinken oder schlichtem Ge-
hen können einen spezifischen Reiz ausüben, indem sie in anspre-
chendem Ambiente und mit außerordentlicher Grazilität, Coolness,
Erotik, Souveränität etc. versehen werden.
Mit der Zeit haben sich spezifische narrativ eingebettete Gesichts-
und Körperdynamiken herausgebildet, die mit den etablierten Genres
korrespondieren; sie sind in typische thematische Zusammenhänge,
Plots und Situationen eingebettet, die spezifische Faszinationskerne
entfalten, die wiederum mit typischen Mise-en-scène-, Mise-en-ca-
dre-, Mise-en-chaîne-Techniken entsprechend in Szene gesetzt wer-
den. So vollziehen Figuren je nach Genre Handlungen, deren beson-
dere Attraktion häufig daraus resultiert, dass es sich um die Bewälti-
gung besonderer Krisen, Probleme und Herausforderungen handelt,
die wiederum spezielle Fertigkeiten, extrem gute Nerven, eine hohe
Dynamik oder herausragende Kreativität und Ausdauer erfordern.
Folglich weichen die Bewegungsakte von Filmfiguren häufig vom
erwarteten Normalmaß ab und sind besonders professionell (bspw. im
Heist-Movie), spektakulär (u.a. in Action- und Tanzfilmen) oder auch
extrem dilettantisch (Slapstick).9
Neben Situationen, die bemerkenswerte Herausforderungen bergen
und dadurch sensationelles Handeln hervorrufen, besticht der Film
auch durch die Möglichkeit, alltägliche somatische Intimität und
psychomentale Intensität in facettenreichen Darstellungen zur Beo-
bachtung frei zu geben. So erlauben es die Leinwandprojektionen
dem Publikum, alltäglichen Routinen der Körperhygiene, -pflege
oder der körperlichen Ertüchtigung ebenso beizuwohnen wie extre-
men mentalsomatische Be- und Entlastungsprozessen.
8 Siehe dazu aktuell: Nessel 2008, Nessel/Pauleit et al. 2008.
9 Die Bewegungsspektakel von Tanz- und Kampffilmen werden häufig als Ausbildungs-,
Lern- und Trainingsgeschichten bspw. in Billy Elliott (2000) und Kill Bill (2003) insze-
niert, um die Anstrengungen und Fortschritte deutlich dokumentieren zu können. Zur
Professionalität von Handlungen im Heist Movie siehe Venus 2007, zu spektakulären
»Special Moves« siehe Sorg 2007, 347f.
Formen der Filmfigur
255
Intermediale Wurzeln der Filmfigur
Die Evolution medialer Formen integriert Konventionen, die sich in
anderen medialen Kontexten bereits etabliert haben: So rekurriert der
Film im Bereich seiner narrativ-dramatischen Strukturen auf literari-
sche Erzählformen sowie szenisch-dramatische Darstellungsformen
des Theaters und der Oper. In der Anfangszeit des neuen Mediums
Film wurde auf die Routinen der Bühnenkünste, der Fotografie und
der bildenden Kunst zurückgegriffen. Mittlerweile haben sich längst
stabile und eigenständige Konventionen des Filmmediums entwickelt
und differenziert, so dass Innovationen neben der technischen Ent-
wicklung vor allem auch durch den intermedialen Import vollzogen
werden. So lassen sich die Kreativen des Filmgeschäfts seit den
1980er-Jahren verstärkt von den medialen Einflüssen des Computer-
spiels inspirieren (vgl. Leschke/Venus 2007).
Während also die Literatur auf Sprache angewiesen ist und ihr le-
diglich die Illustration einzelner Szenen zur Verfügung steht, bleiben
Hörspiele auf akustisch zu vermittelnde Zeichen begrenzt. Die Figu-
ren des Theaters, der Oper und des Musicals sind an entsprechende
Bühnendispositive gebunden, was es ihnen nicht erlaubt, Zeit, Raum
oder physikalische Gesetze zu überwinden. Der Comic, die bildenden
Künste und die Fotografie sind zwar durchaus in der Lage, Bewegung
und Entwicklung darzustellen, ihnen fehlen jedoch neben dem Ton
die genuinen Möglichkeiten, die Filmbilder durch die Illusion von
Bewegung, Schnitt und Montage in Form von Dynamik, Rasanz und
gelungenem Timing entfalten zu können.
Balázs beschrieb die formalen Grundprinzipien des Theaters im
Gegensatz zu den neuen Gestaltungsmethoden des Films wie folgt:
Das Publikum sehe die Szenen aus unveränderlicher Distanz auf der
Theaterbühne in einer »räumlichen Totalität« (Balázs 1998b, 209),
ohne dass sich die durch den Standpunkt des Zuschauers fixierte Per-
spektive ändern könne (vgl. ebd.). Der Filmkunst stünden demnach
ganz neue Möglichkeiten zur Verfügung: Durch die Montage könnten
Distanzen, Perspektiven und Einstellungen von Szene zu Szene, aber
auch innerhalb einer solchen, beliebig geändert werden (vgl. ebd.,
211). Neben der Großaufnahme räumt Balázs vor allem dem Einstel-
lungswechsel eine enorme künstlerische Wirkmacht ein. Die einzelne
Einstellung wird zwar auch in der Malerei und im Theater gewählt,
doch die Möglichkeit, diese stetig zu wechseln, determiniere die Be-
ziehung des Rezipienten zum gezeigten Gegenstand in besonderem
Henriette Heidbrink
256
Maße. Dadurch sei es dem Medium Film gegeben, das Dargestellte
allein schon durch die Form der Darstellung detailliert zu interpretie-
ren.10 Das habe wiederum weit reichende Folgen für die Rezeption,
denn die Darstellungsmittel des Films erlaubten es, den Zuschauer in
das Geschehen zu integrieren (vgl. Balázs 1998b, 212).
Für die Beobachtung der Figuren ist neben der filmischen Einstel-
lung insbesondere die Technik des ›Staging relevant, dessen
Usancen auf die Konventionen des Theaters zurückgreifen.11
Bordwell mahnt, dass das ›Staging‹ des Films von den Filmkritikern
und -theoretikern der 1910er- und 1920er-Jahre sträflich vernachläs-
sigt wurde, weil es als ›theatralisch‹ angesehen wurde. Im Gegensatz
dazu wurde bekanntlich die Montage als spezifisches Merkmal des
neuen Mediums akzentuiert, das anhand dieser seine Kunstfähigkeit
unter Beweis stellen sollte (vgl. Bordwell 2005, 8).
Sowohl in theatralen als auch in filmischen Erzählungen besteht
ein nicht geringer Anteil der Erzählarbeit in der akkuraten Planung
von Auftritten, Stellungen und Bewegungen der Figuren im Zusam-
menspiel mit dem Standpunkt der Kamera, der Perspektive des Bil-
des, des ›Framings‹ und der entsprechenden Ausleuchtung. An-
spruchsvoll wird die Technik des ›Stagings‹ vor allem in Kombina-
tion mit dem narrativen Informationsmanagement, denn eine aus
Zuschauerperspektive nachvollziehbare Darstellung des verbalen und
nonverbalen Kommunikations- und Interaktionsgeschehens der Figu-
ren verlangt ausgearbeitete ›Staging‹-, Aufnahme- und Schnittstrate-
gien, um die gewünschten Effekte zu erzielen (vgl. Bordwell 2005).
Da Filme zumeist Geschichten erzählen, finden sie eine Vielzahl
narrativer Vorbilder im allgegenwärtigen Erzählmedium der Litera-
tur. Dramaturgien, Spannungsbögen, Retardationen und Peripetien
orientieren sich in ihrem Verlauf an Erzählstrukturen, die auch für
Schrift- und Hörmedien gängig sind. Hier sind insbesondere seit
Mitte der 1980er-Jahre zunehmend vielfältige intermediale Verstre-
bungen zu beobachten: Filmische Narrationen werden hypertextuell
strukturiert und lösen ihre Figuren aus Zeit und Raum,12 metanar-
rative Figuren sagen die Zukunft voraus, supervidieren andere Figu-
10 »Jede Anschauung der Welt ergibt nämlich eine Weltanschauung. Jeder Standpunkt der
Kamera drückt einen inneren Standpunkt des Kameramanns aus. Rakkurs das ist Inter-
pretation« (Balázs 1998b, 220).
11 Das Äquivalent beim Tanz besteht in der Choreografie, die die Planung und Einübung
von Bewegungsabläufen bezeichnet, die in einem systematischen Verhältnis zu Rhythmus,
Takt und Klang der Musik stehen; siehe dazu Berger i.d. Band.
12 Siehe bspw. Butterfly Effect (2004).
Formen der Filmfigur
257
ren oder kommentieren das Filmgeschehen.13 Tanz-Choreografien
werden nahtlos in die Schnitt- und Montage-Usancen des Filmmedi-
ums integriert,14 animierte Figuren rekurrieren auf die Körper
bekannter Stars.15 Vor allem Computerspiel und Film treten späte-
stens seit den 1990er-Jahren in ein enges Austauschverhältnis und
selbst die Mininarrationen der Videoclips und Werbespots greifen
einerseits auf konventionelle Erzählstrategien der Langformen des
Films zurück und komprimieren diese, während der Film wiederum
die ästhetischen Innovationen der genannten Kurzformen reinte-
griert.16
Funktionen der Filmfigur
Figurale Konstellationen sind für das Filmmedium in vielfacher Hin-
sicht überaus zentral: Für narrativ strukturierte Filme gilt, dass sich
ohne vermeintlich agierende Figuren beim Rezipienten nur schwer-
lich Vorstellungen von Handlungen erzeugen lassen.17 Da Dramatur-
gien aus Krisen und Konflikten geschneidert werden, sind figurale
Entitäten, die der steten Beobachtung des Publikums ausgesetzt sind,
als Kristallisationspunkte von ›inneren‹ psychischen Prozessen u.a.
Motive, Intentionen, Wünsche, Zweifel, Ängste unverzichtbar.
Neben ihrer funktionalen Einbindung als Handlungsträger in die
Entwicklung der Narration fungieren Figuren auch als paratelische
Attraktoren18, die einer Szene ihren spezifischen Schauwert verlei-
13 Bspw. der Mystery Man in Lost Highway (1997) oder der Cowboy in Mulholland Drive
(2001); ebenso wie die Hexe in Inland Empire (2006) alle von David Lynch.
14 Man vergleiche z.B. die konservative Einbindung der Tanzszenen in Klassikern wie
Saturday Night Fever (1977), Flashdance (1983) und Dirty Dancing (1987) im Gegensatz
zu den innovativen Tanzfilm-Choreografien von Chicago (2002) oder Moulin Rouge!
(2001).
15 Bspw. Fiona in Shrek (2001), die auf Basis der Physiognomie, Körpersprache, Mimik
und Gestik von Cameron Diaz entwickelt wurde (vgl. Eder 2007, 282f).
16 Als Beispiel mögen die mittlerweile gängigen Abbreviaturen von Reisevorgängen gelten,
wie sie in Kill Bill Vol 1 (2003) bei Kiddos Reise nach Tokio oder in Snatch (2000) für
Reisen nach London oder in Requiem for a Dream (2000) für Drogentrips verwendet
werden.
17 Seit den Experimenten von Heider und Simmel (1944) ist jedoch bekannt, dass bereits
rudimentäre Formen bspw. bewegte Dreiecke u.ä. dafür sorgen, dass Zuschauer Erzähl-
kerne imaginieren, etwa Verfolgungen samt der dazugehörigen Emotionen.
18 Die Opposition von telischer und paratelischer Handlung geht auf den filmtheoretischen
Ansatz von Torben Grodal zurück: Telisches agieren ist ziel- und zweckgerichtet, so dass es
nahe liegt, der handelnden Figur bestimmte Motive und Intentionen zu unterstellen. Dem
Henriette Heidbrink
258
hen, ohne dass die Erzählung dadurch im engeren Sinne weiter ent-
wickelt würde: Typische Beispiele sind Szenen des Spektakels, die
Tanz, Kampf, Sport und Sexualität zeigen. Aber auch die Darstellung
von rhythmisch-repetitiven Handlungen und Bewegungsabläufen
etwa Meditation, Naturbeobachtungen oder Sportarten wie Wandern,
Schwimmen oder Laufen sind ihrer narrativen Valenz weitgehend
enthoben und daher dem Bereich der Paratelic zuzuordnen.19
Filme müssen allerdings nicht notwendigerweise streng narrativ
strukturiert sein.20 Während sich das Konzept der Paratelic, wie der
Ausdruck schon nahe legt, auf narrative Strukturierungen des Me-
dienangebots bezieht, indem es das Handlungsmerkmal der Zielge-
richtetheit ausschließt, sind davon wiederum Sequenzen ludischen
Geschehens zu unterscheiden. Dabei ist es dem einzelnen Akt nicht
anzusehen, ob er nun als telisch, paratelisch oder gar ludisch zu klas-
sifizieren sei. Die Kategorisierung einzelner Handlungssequenzen
erfolgt als graduelle Unterscheidung, die eine morphologische Per-
spektive auf das Material voraussetzt. Dabei wird der Film als inten-
tional strukturiertes Medienangebot begriffen, das tendenziell entwe-
der narrativ oder ludisch organisiert ist.21
Die Funktionalität einer Figur kann immer nur vor der Struktur ih-
res Hintergrunds beurteilt werden, der u.a. narrativ oder ludisch or-
ganisiert sein kann; die Figur verhält sich zu der Strukturierung eines
Films wie die Form zu ihrem Hintergrund.22 Eine ludische Organisa-
gegenüber sind paratelische Handlungen rhythmisch-repetitiv; sie lassen kein unmittelbares
Handlungsziel erkennen und erwecken sie den Anschein, als geschähen sie um ihrer selbst
willen. Während telische Handlungssequenzen die Narration vorantreiben, ruht das narra-
tive Geschehen in Sequenzen paratelischen Handelns (vgl. Grodal 1997, 60f, 101f).
19 Für Computerspiele ist es typisch, dass bestimmte Fertigkeiten einer Spielfigur eine län-
gere Übungszeit des Spielers erfordern: Sie müssen mehrfach wiederholt und eingeübt
werden, ehe sie beherrscht werden. Im Anschluss an das paratelische Agieren könnte man
hier von paraludischem Agieren sprechen.
20 Vice versa sind Computerspiele nicht als rein ludische Medienangebote zu verstehen
(vgl. Sorg i.d. Bd.).
21 Prinzipiell ist es durchaus möglich, dass einzelne Sequenzen innerhalb eines Films in
ihrer ludischen oder narrativen Tendenz variieren. Die Dominanz ludischer Sequenzen
würde einen Film in einem Kontinuum zwischen Spiel und Narration am Pol des Spiels
verorten; damit gälte er im wahrsten Sinne des Wortes als Spielfilm. Ein Film mit
wenigen oder ohne ludische Sequenzen wäre als Erzählfilm am Pol der Erzählung einzu-
ordnen. Als Spielfilm wäre folglich etwa Lola rennt (1998) zu bezeichnen, während
Groundhog Day (1993) ein Hybrid darstellte und Titanic (1997) trotz ludischer Einzelse-
quenzen und einer verstärkt paratelischen zweiten Hälfte eher als Erzählfilm zu klassifi-
zieren wäre.
22 Die Figur lässt sich vor diversen Hintergründen beobachten und kann u.a. räumlich
(Leinwand, Filmbild, Szene), narrativ (Erzählung) oder auch prozessual (Erzählverlauf)
Formen der Filmfigur
259
tion ergibt sich bspw. aus der strukturellen Implementierung von
›Spielformen‹ (vgl. Leschke/Venus 2007) und dies hat wiederum
Auswirkungen auf die Rezeption: So können Filmfiguren zu Spielfi-
guren werden, indem sie als ›Spielstandsmarker‹ fungieren.23 Weiter-
hin ist es möglich eine ganze Gruppe von Figuren als ›Gruppenfigur
auf eine Subjektfunktion zu synthetisieren, indem dazugehörige Ein-
zelfiguren in unterschiedlichem Maße auf singuläre, spektakuläre
Funktionen reduziert werden.24 Weiterhin können Figuren phasen-
weise auf Objektstatus herabgesetzt werden, etwa wenn sie als Han-
dicap eines fliehenden Actionhelden eingesetzt werden.25
Organisationsroutinen und Musterbildungen
Die Organisationsroutinen der Positionierung und Verteilung von
Figuren fallen unter die zahlreichen Strategien des ›Staging‹: Zu den
meistverwendeten Staging-Optionen hlen »Stand-and-deliver« und
die ebenfalls klassische »walk-and-talk option« (vgl. Bordwell 2005,
29). Weiterhin haben sich klassische Routinen des ›Staging‹ für die
Inszenierung von Einzelfiguren oder Kleingruppen sowie einer gro-
ßen Menge bzw. Masse von Figuren etabliert. Während die Darstel-
lungsoptionen im Bild für die Einzelfigur in Abhängigkeit zu ihrer
Handlung stehen, prinzipiell aber mannigfaltig sind,26 ist für Dia-
logsituationen bspw. das Schuss-Gegenschuss-Verfahren zum Klassi-
ker avanciert. Bordwell weist auf die Konvention im Hollywood Kino
der 1920er- bis 1940er-Jahre hin, auch die Körper zweier Figuren zu
großen Teilen in Dialogsituationen zu zeigen, so dass Gestik und
abgegrenzt werden. Respektive verhält sich die Figur zur Narration anders als die Figur zur
filmischen Darstellung.
23 So informieren die Zustände von Lola und Manni in Lola rennt (1989) jeweils am Ende
der drei Erzählvarianten über ihren Erfolg in Relation zur spielerischen Herausforderung
insgesamt werden folglich ›zwei Leben‹ verloren.
24 Zur ›Gruppenfigur‹ vgl. Venus 2007.
25 Helden mit einer zumeist vergleichsweise leicht bekleideten, mit unpraktischem Schuh-
werk ausgestatteten – Frau als Handicap sind in North by Northwest (1959), A view to kill
(1985) und in Bird on a Wire (1990) zu finden. Vgl. zur Spielform des ›Handicaps‹
Heidbrink/Sorg 2009. Wenn männliche Figuren zum Handicap werden, sind sie zumeist
betrunken oder verwundet.
26 Prinzipiell soll stets ein Stück Bildraum oberhalb des Kopfes einer Figur frei bleiben,
Figuren sollen eher in das Bild schauen, als hinaus und nicht direkt in die Kamera. In der
Blick- und Bewegungsrichtung von Figuren sollte stets mehr Bildraum vorhanden sein, als
im gegenüberliegenden Bereich. Zum Thema ›Figur und Perspektive‹ siehe die beiden
gleichnamigen Hefte in der Reihe montage/av (Tröhler/Schweinitz 2006, 2007).
Henriette Heidbrink
260
Körperhaltung zur Geltung kommen konnten, wenn die Figuren sich
im Rahmen des Filmbildes zueinander verorteten.27 Mit der Zeit
verlagerte sich die Tendenz laut Bordwell vor allem im Talking-
head-Genre des Dramas zu »more close framings and singles«
(Bordwell 1995, 26).
»Continuity cutting has been rescaled and amped up, and
the drama has been squeezed down to faces––particularly
eyes and mouths. […] Such tight facial shots are typical of
Hollywood cinema since the 1960s« (Bordwell 2005, 27).
Kleingruppen von Figuren stellen bezüglich der Handlungs- und
Sprechakte einzelner Figuren besondere Anforderungen an die Ka-
mera- und Regiearbeit, da die Kamerabewegungen bzw. die Montage
gewährleisten müssen, dass relevantes Geschehen aus einer jeweils
adäquaten Perspektive zu sehen ist.28 Während es bei Kleingruppen in
erster Linie auf die präzise Anordnung der einzelnen Figuren im Zu-
sammenspiel ankommt, zielt die Darstellung von Figurenmassen auf
rezeptive Effekte, die gemeinhin dem Erhabenen zugerechnet werden
und die im Dienst stehen, die menschliche Wahrnehmung im ersten
Moment zu überfordern: Staunen, Schauder, Schreck und Überwälti-
gung sind die Folgen. Ernst Lubitsch gilt neben David Wark
Griffith und Giovanni Pastrone als einer der ersten Regisseure, der
sich der Wirkmächtigkeit von Massenszenen sehr bewusst war und
diese wiederholt zur Erbauung des Publikums einsetzte bspw. bei
der Hinrichtung von Anna Boleyn (1920). Heute werden Massensze-
nen häufig mit hoher Geschwindigkeit inszeniert, wobei die Bilder
der elementaren sowie massenhaften Bewegungen mitsamt der aku-
stischen Untermalung perfekt rhythmisiert und qua Montage entspre-
chend getaktet werden. Die unzähligen Einzelfiguren werden als
Elemente eines Musters dann Teil einer visuellen Figuration.29
Stets geht es bei der Positionierung von Figuren um das Verhältnis
von Vorder- und Hintergrund, schließlich müssen die relevanten
Handlungsträger vom Rest des Bildes unterschieden werden können.
Im Gegensatz dazu geht die Figurenkonstellation über die Anordnung
27 Zu einer ausführlichen Beschreibung am Beispiel His Girl Friday (1940) siehe Bordwell
(1995, 14f).
28 Zu der intentionalen Anordnung von antagonistischen Hauptfiguren als Mitglieder einer
Kleingruppe bei einer Dinner-Table-Szene siehe ebenfalls Bordwell (2005, 18-22).
29 Z.B. in der Lord of the Rings-Trilogie (2001, 2002, 2003) oder in Hero (2002).
Formen der Filmfigur
261
im Bild hinaus und stellt Figuren in hierarchische Bezüge zueinander,
die stets normativ und häufig auch sozial codiert werden: Im klassi-
schen Fall stehen sich Pro- und Antagonisten gegenüber (vgl.
Leschke 2001, 225-254); zudem wird in Hauptfiguren mehr Filmzeit
und Inszenierungsaufwand investiert als in Nebenfiguren. Und letz-
tere sind meist nur durch wenige Merkmale ausgestattet, die vor al-
lem im Kontrast zu den Merkmalen der Hauptfigur(en) stehen (vgl.
Eder 2008, 468ff). Margrit Tröhler thematisiert bspw. Filme mit plu-
ralen Figurenkonstellationen, die durch ihre episodenhafte Paralleli-
sierung von Geschichten eine besondere narrative Vernetzung erzeu-
gen. Die Pointe bestehe laut Tröhler darin, dass einzelne Beziehungen
mehrfach codiert werden, so dass sich ein Geflecht von Beziehungen
ergibt, das den Zuschauern große Interpretationsspielräume zur Ver-
fügung stelle (vgl. Tröhler 2006).
Die Tatsache, dass sich eine große Anzahl von Figuren an anthro-
pomorphen Schemata orientiert, was beim Publikum häufig dazu
führt, dass sie diese mit menschlichen Personen vergleichen oder dass
sie diese sogar für welche halten, hat bereits in Bezug auf literari-
sche Figuren (vgl. Jannidis 2004, 114) eine vehement gehrte De-
batte entfacht, die sich in den 1960er-Jahren verstärkt zu entfalten
begann (vgl. u.a. Britton 1961, McCarthy 1961, Mudrick 1961,
Harvey 1965). Dabei ging es vor allem um die Frage, ob Figuren als
›menschenähnliche Wesen‹ oder als ›Strukuren des Textes‹ zu beo-
bachten seien (vgl. Lotman 1993 [1971], Greimas 1972, Chatman
1978, Grabes 1978, Rimmon-Kenan 1983).
Die sung von dieser ontologisch determinierten Debatte, inner-
halb derer darum gestritten wurde, was eine Figur nun eigentlich sei,
ist heute zunehmend durch das Wissen um Beobachtungsalternativen
ersetzt worden. Dadurch hat man es zwar theoretisch mit einer weite-
ren Variablen zu tun nämlich der Beobachtungsinstanz; gleichzeitig
ist es aber möglich, von diesem Effekt zu profitieren, indem man den
Facettenreichtum der Figurenbeobachtung in den Blick nimmt: So
können Figuren als Strukturen oder Zeichen (vgl. Lotman 1993
[1971]), als Paradigmen von Merkmalen (vgl. Chatman 1978), als
Handlungsfunktionen und Aktantenmodelle (vgl. Propp 1975 [1928],
Greimas 1972), als mentale Konstrukte oder Modelle (vgl. Grabes
1978, Schneider 2000, Persson 2003, Jannidis 2004, Eder 2008), als
Bewohner möglicher Welten (vgl. Margolin 1990a/b, Ryan 1991), als
Kommunikationseffekte (vgl. Jannidis 2004) oder ganz konkret als
»fictional analogue of a human agent« (vgl. Smith 1995, 17) beo-
Henriette Heidbrink
262
bachtet werden30 wobei sich freilich die Entscheidung für einen
spezifischen Fokus auf die weitere theoretische Konzeption und eine
eventuell darauf basierende Figurenanalyse auswirkt.
Eine möglichst generalistische Herangehensweise besteht darin,
die Figuren der Medien gleichgültig, ob man sie als menschliche
Agenten, Strukturen oder Aktanten erfassen will als Cluster aus
unzähligen Merkmalen zu begreifen, die im Falle einer Figurenana-
lyse gelistet, gruppiert, geordnet und bewertet werden können. Dabei
wird deutlich, dass insbesondere die Differenz zwischen der medialen
Verfasstheit der Figur und den Vorstellungen, die sich Rezipienten
auf Basis dieser materiellen Manifestationen machen, eine theoreti-
sche Herausforderung darstellt, auf die im Abschnitt zu den Formen
der Rezeption zurückzukommen sein wird.
Neben der Debatte um die vermeintliche ›Menschenhaftigkeit‹ von
Figuren wurden Figuren in Bezug auf die Reichhaltigkeit ihrer
Merkmale und die damit vermeintlich korrespondierende ›Individua-
lität‹ oder ihren Mangel an Merkmalen und ihren damit einher gehen-
den Status als ›Typ‹ diskutiert.31 Forsters berühmte metaphorische
Dichotomie, die ›flache‹ von ›runden‹ Figuren abgrenzt (Forster 1963
[1927], 65/71) basiert auf der Annahme, dass die Menge der Figuren-
attribute dafür verantwortlich sei, ob eine Figur eher als Typ (›flat)
oder als Individuum (›round‹) wahrgenommen werde. Seit den
1980er-Jahren verstärkt im Zuge der Postmoderne-Debatte (vgl.
bspw. Sobottka 2002, 178) werden jenseits der Diskussion um den
Individualitätseindruck, den eine Figur u.U. weckt, zunehmend auch
die Vorteile der Typisierung erörtert:
»Das Prinzip der Typisierung heißt ›wenig sehen viel
wissen‹. […] Der Grund für die Verwendung von Typen
liegt in ihrer produktionstechnischen wie narrativen Öko-
nomie: Sie sind einfach zu verstehen, schnell etabliert, er-
möglichen also ein schnelles, ökonomisches Erzählen«
(Eder 2009, 375).
Figurentypen lassen sich folglich als »rekurrente Eigenschaftskons-
tellationen« (Eder 2009, 376) oder wiederholte Merkmalsmuster be-
zeichnen, die dem Publikum auf Anhieb vertraut sind, weil sie den
30 Für eine ausführliche Darstellung siehe Heidbrink 2009.
31 Siehe dazu u.a. Forster 1963 [1927], Harvey 1965, Gardies 1980, 81ff; Hochman 1985,
Fishelov 1990, 422; Jannidis 1996, 1.
Formen der Filmfigur
263
Kennzeichen der Superheldin, des einsamen Cowboys, der zickigen
Diva oder des ewigen Verlierers entsprechen. Und da sich entspre-
chende Vorstellungen durch den Einsatz bekannter Merkmalsmuster
schnell und einfach wecken lassen, sind Figurentypen eben eine in-
termedial gängige Währung, die auch außerhalb des Primärmediums
gerne übernommen wird. Kurz: Stereotype Figuren eignen sich be-
sonders für den Medienwechsel. So entstand Lara Croft als weibliche
Hauptfigur der Adventure-Spielserie Tomb Raider und setzte ihre
Karriere schon bald als Protagonistin in den Filmen Lara Croft: Tomb
Raider (2001) und Die Wiege des Lebens (2003) sowie in drei Roma-
nen32 fort. Ebenso wanderten wie vor ihnen Spiderman und Batman
auch die Figuren aus der amerikanischen Comicreihe Sin City
(1991/92) von Frank Miller in den gleichnamigen Film (2005), wäh-
rend das Personal der überaus erfolgreichen US-amerikanischen
Fernsehserie Sex and the City (1998-2004) in die Kinokomödie Sex
and the City: The Movie (2008) wechselte.
Bei den Adaptionen der Comics bestand die Herausforderung vor
allem darin, den ehemals auf Papier gedruckten Figuren audiovisuel-
les Leben einzuhauchen, ohne dass die Superhelden ihre Strahlkraft
einbüßten. So war insbesondere die Besetzung der Rollen durch über-
zeugende Schauspieler wichtig. Für die Adaption von Lara Croft
musste zudem auf Basis der vorhandenen Erzählfragmente des Com-
puterspiels ein Plot arrangiert werden, in dem die Figur möglichst
ebenso wie im Spiel agieren kann. Das Ergebnis besteht, wenn man
so will, in einer überdimensionalen Computerspiel-Cutscene, die im
Kino bestaunt werden kann. Im Fall von Sex and the City wurde die
Zielspannung der Serie bis ins Kino verlängert. Vor allem beim
zweiten Kinoteil bemängelte die Filmkritik, dass der Plot lediglich
noch die Aufgabe habe, die einzelnen Sequenzen zu verbinden, die
sich an der gängigen Werbe-Ästhetik orientieren. Derart wird die
Bindung an die Serien-Figuren dafür genutzt, die Fans ins Kino zu
locken, um „alte Bekannte“ zu treffen.
In ambitionierteren Fällen gehen die Strategien der Produzenten
über diese bloßen Figur-Importe jedoch weit hinaus. Insbesondere
durch den selbstreflexiven Einsatz von Figurentypen lassen sich Ef-
fekte erzielen, die das Publikum sowie die Kritik längerfristig zu
beschäftigen scheinen: So setzt David Lynch wiederholt Stereotype
(bspw. Clown, Cowboy und Hexe) ein, die das filmische Geschehen
kommentieren, die andere Figuren maßregeln oder beraten, die plötz-
32 Resnik 2003, Knight 2004, Gardner 2005.
Henriette Heidbrink
264
lich auftreten und wieder verschwinden, die an unheimlichen oder
nicht weiter markierten Orten hausen, die Zukunft vorhersagen oder
scheinbar an zwei Orten gleichzeitig sein können.33 Diese
selbstreflexiven Metafiguren erwecken den Anschein, als stünden sie
außerhalb der diegetischen Zeit und des diegetischen Raums, sie re-
kurrieren aber innerhalb aller drei Mystery-Plots auf die Eigenschaf-
ten ihres Originaltypus: Der clownähnliche Mystery Man scheint sich
außerhalb des für die anderen Figuren geltenden Zeit-, Raum- und
Erzählgeschehens zu bewegen, er nutzt diverse Medien und bricht
wiederholt unmotiviert in hämisches Gelächter aus. Der Cowboy
wiederum weist den erfolglosen Regisseur Adam Kesher streng und
väterlich zurecht und kann wie es sich für einen Cowboy gehört
das gute Leben eindeutig vom schlechten unterscheiden:
»Cowboy: A man’s attitude... a man’s attitude goes some
ways. The way his life will be. Is that somethin’ you agree
with?
Adam Kesher: Sure.
Cowboy: Now... did you answer cause you thought that’s
what I wanted to hear, or did you think about what I said
and answered cause you truly believe that to be right?
Adam Kesher: I agree with what you said, truthfully.
Cowboy: What’d I say?
Adam Kesher: Uh... that a man’s attitude determines, to a
large extent, how his life will be.
Cowboy: So since you agree, you must be someone who
does not care about the good life« (Mulholland Drive,
2001).
Eine andere Art der Reflexion des Cowboy-Stereotyps erfolgte durch
Ang Lees Film Brokeback Mountain (2005), in dem zwei junge
Cowboys in den Bergen des bevölkerungsarmen Wyomings34 eine
homoerotische Liebesbeziehung eingehen. Im Gegensatz zu Lynch,
der die Merkmale des Stereotyps konstant hält bzw. ironisch über-
33 Der Clown ist als Mystery Man in Lost Highway (1997) zu sehen, der Cowboy in
Mulholland Drive (2001) und die Hexe in Inland Empire (2006).
34 Der „Brokeback“-Mountain ist fiktional; Annie Proulxs Erzählung spielt in den Bighorn
Mountains im Norden Wyomings; der Film wurde allerdings in den kanadischen Rocky
Mountains in Alberta gedreht.
Formen der Filmfigur
265
spitzt und es in einen fremden Kontext versetzt,35 bleibt der Kontext
(mittlerer Westen der USA) bei Ang Lee konstant und wenige, aber
zentrale Merkmale des Stereotyps (Homosexualität) werden modifi-
ziert.
Zur Rezeption von Filmfiguren
Figuren im Kinofilm sind in den allermeisten Fällen auf die Erzeu-
gung von mentalen Subjekteffekten programmiert und bilden als
Kristallisationspunkte für Intentionen, Motive und Handlungen die
primären Rezeptionsanker. Wer diesen Subjekteffekten auf die Schli-
che kommen will, könnte sich dafür entscheiden, Figuren als men-
schenähnliche Sachverhalte zu beobachten. In diesem Fall wird er
höchstwahrscheinlich u.a. Intentionalität oder Handlungsträgerschaft
als signifikante Kennzeichen einer Figur beobachten, sowie ›innere‹
und ›äußere‹ Merkmale differenzieren (vgl. Jannidis 2004, 126ff).
Die Konfiguration der figuralen Merkmale wird häufig als ›Cha-
rakterisierung‹ bezeichnet (vgl. Margolin 1983, 1986; Tomasi 1988,
Eder 326f, 366ff), wobei der Begriff nahe legt, dass die Vorstellun-
gen, die sich Rezipienten von einer Figur machen, steuerbar seien.
Dies mag bis zu einem gewissen Grad auch der Fall sein, allerdings
darf nicht vergessen werden, dass die interne Konstruktion einer Fi-
gur durch ein psychisches System durch dessen spezifische Wahr-
nehmungs- und Beobachtungsroutinen beeinflusst wird, da individu-
elle Wissensbestände, Erinnerungen und Erfahrungen integriert wer-
den (vgl. Margolin 1986, 208f). Durch Wahrnehmung und Beob-
achtung werden viele der figuralen Merkmale von den Zuschauern im
Rezeptionsverlauf erfasst, doch welche das sind, wie die Zusammen-
setzung erfolgt und wodurch sie angereichert werden (bspw. Erinne-
rungen, Genrewissen, Phantasien, Imaginationen etc.), bleibt unbere-
chenbar. Dennoch entstehen intern angefertigte Figurenbeschreibun-
gen, auf die eine Person zurückgreifen kann.
Während und nach der Rezeption werden die materialisierten Figu-
ren als mentale Konstrukte der Rezipienten von den spezifischen
Gegebenheiten des kinematografischen Dispositivs gelöst. Die medial
vermittelten Zeichen dienen somit lediglich als Vorlage für etwaige
35 Der Mystery-Plot von Mulholland Drive ist in der Filmbranche Hollywoods angesiedelt
und Lynchs Cowboy lebt allein auf seiner Ranch irgendwo oberhalb des Hotels, in dem der
Regisseur Adam Kesher residiert.
Henriette Heidbrink
266
Konstruktionen. Die theoretische Beschreibung der Figurenimagina-
tion durch Rezipienten wird häufig an die Regeln der so genannten
›Folk Psychology‹ gekoppelt:
„Mit diesem Begriff wird das Phänomen bezeichnet, daß
nahezu alle Erwachsenen in der alltäglichen Praxis anderen
Menschen psychische Zustände zuschreiben, daß sie
menschliches Verhalten mit Bezug auf psychische Zu-
stände erklären und auch Vorhersagen machen, bei denen
sie sich auf Annahmen über psychische Zustände verlas-
sen“ (Jannidis 2004, 185f).
Daraus folgt, dass Figuren nach Modellen konstruiert werde, die sich
an anderen Personen orientieren. Sie werden in den allermeisten Fäl-
len als Entitäten begriffen, die solange keine Abweichung von den
Konventionen eingeführt wurde den physikalischen Gesetzen un-
terliegen und über Gedanken, Gefühle, Wünsche, Intentionen, Über-
zeugungen und Motive verfügen, die ihr Handeln beeinflussen (vgl.
Jannidis 2004, 192).
Das gilt vor allem für die speziell plotrelevanten Hauptfiguren, die
im Mittelpunkt des rezeptiven Interesses stehen und sich normativ in
Pro- und Antagonisten einteilen lassen. Bei den weniger wichtigen
Nebenfiguren wird das gleiche Modell verwendet, einzelne Dimensi-
onen werden jedoch auf wenige Merkmale reduziert. Wenn eine An-
sammlung von Figuren als Masse inszeniert wird, nimmt die Masse
den Subjektstatus ein und die einzelnen Figuren werden zu Elemen-
ten der Masse.
Ein klassisches, primär narrativ strukturiertes, filmisches Medien-
angebot bspw. ein Drama korrespondiert nun in hohem Maße mit
einer ›identifizierenden‹ Bezugnahme: Das heißt erst einmal nicht
mehr, als dass Zuschauer die im Rezeptionsverlauf gebildeten Figu-
renmodelle mit ihrem internen Personenmodell abgleichen und insbe-
sondere auf prägnante Ähnlichkeiten und Differenzen zu reagieren
scheinen. So kommen etwa die Ablehnung und die Abwehr des anta-
gonistischen Prinzips bzw. die Annahme und Befürwortung des pro-
tagonistischen Prinzips zustande. Das Prinzip der mannigfaltigen
Identifikationskonzepte36 gleiches gilt fürEmpathie‹, ›emotionale
36 Vgl. u.a. Friedberg 1990; Gaut 1999; Ligensa 2006, Wulff 1996.
Formen der Filmfigur
267
Anteilnahme‹, ›Einfühlung‹37 basiert aufGleichsetzung‹ von
Merkmalen, wobei das theoretische Problem vor allem darin besteht,
dass diese sehr unterschiedliche Bezüge aufweisen und emotionale,
normative, somatische sowie mentale Aspekte betreffen kann.38
Die intern angefertigten Figurenbeschreibungen orientieren sich
häufig an Personenmodellen, sie müssen dies aber keinesfalls, denn
die filmische Figur bietet im Bereich der rezeptiven Bezugnahme
durchaus Alternativen: Dabei ist es für unterschiedliche Formen des
rezeptiven Bezugs maßgeblich, ob die Figur in narrativ oder ludisch
strukturierte Zusammenhänge eingebettet ist. Deskriptive Sequenzen
profilieren die Figur möglicherweise kaum als Handlungsträger son-
dern eher als Teil des Kontextes, was eine kontemplative Haltung des
Publikums begünstigen sollte, während Tanz- und Kampfsequenzen
tendenziell mimetisches Verhalten anregen (vgl. Sorg 2007, 348f).
Durch eine ludische Strukturierung können empathisch-identifizie-
rende Bezüge gemindert werden, indem sie ein spielerisch-distan-
ziertes Involvement rdern: In Lost Highway (1997), Memento
(2000) und Butterfly Effect (2004) wird ein großer Anteil der rezepti-
ven Energie für Rätseln, Knobeln und Puzzeln absorbiert, so dass
einfühlende Bezüge höchstwahrscheinlich an Intensität verlieren (vgl.
Heidbrink 2005, 2007).
Der rezeptive Bezug zu den Figuren kann innerhalb des Filmver-
laufs durchaus wechseln. Das ist vor allem in Hybridfilmen der Fall,
die ›Spielformen‹ integrieren, aber dennoch ihre narrative Struktur als
Basis beibehalten. Hier werden narrativ-dramatische Phasen durch
die Intergration von ›Spielformen‹ determiniert, so dass bspw. der
Tod von Figuren ein vor narrativem Hintergrund zumeist tragisches
Ereignis seine Tragik verliert und vom Publikum spielerisch hinge-
nommen wird. Dies ist z.B. der Fall, wenn Filmfiguren scheinbar
über „mehrere Leben“ verfügen, weil narrative Sequenzen wiederholt
werden (Lola rennt, 1998; Groundhog Day 1993) oder narrative
Stränge gedoppelt werden (Sliding Doors, 1998; Deja Vu 2006).39
37 Vgl. u.a. Smith 1995; Plantinga/Smith 1999; Gaut 1999; Ryssel/Wulff 2000; Wulff 2005,
Eder 2005, 2006 a/b; Bartsch/Eder/Fahlenbrach 2007.
38 Siehe dazu exemplarisch Balàzs, der den bereits erwähnten Einstel¬lungswechsel zum
Kriterium für Identifikation erhebt: »Durch die ständig wechselnden Einstellungen (Per-
spekti¬ven) ist dieses Wunder möglich: daß mein Blick (und mit ihm mein Bewußtsein)
sich mit den Personen des Filmes identifiziert« (Balázs 1998b, 213).
39 Siehe dazu ausführlich Heidbrink 2008.
Henriette Heidbrink
268
Fazit
Figurale Entitäten sind die zentralen Attraktionen des Films. Sie wer-
den primär als telische Attraktoren eingesetzt, so dass Zuschauer
durch Beobachtung der Figuren individuelle Vorstellungen von
Handlungen, Konflikten, Motiven, „figurinternen“ Prozessen und
dramaturgisch-normativ gestalteten Narrationsverläufen konstruieren.
Alternativ können Figuren als paratelische Attraktoren für somati-
sche Empathie sorgen und mimetische Bezüge fördern. Durch die
Implementierung von ›Spielformen‹ werden sie vor ludisch struktu-
riertem Hintergrund zu Spielfiguren, was wiederum Auswirkungen
auf ihre funktionale Einbettung und die rezeptiven Anschlüsse zeigt.
Dabei basieren die Formen der Filmfigur auf einer engen Relation
zwischen der Konzeption der Figur und der strukturellen Formung
des filmischen Hintergrunds, vor dem sie auftritt. Beide hängen wie-
derum von den gängigen medialen Konventionen ab, die für den Film
und das Kino gelten. In den letzten Dekaden, so wäre im Hinblick auf
innovative Narrationsverläufe und Ästhetiken zu konstatieren, hat
sich eine beachtliche Menge von Filmfiguren von der Benchmark
einer möglichst individuellen, mehrdimensionalen Gestaltung, sowie
der genuinen Verpflichtung, ausschließlich auf ein Medium be-
schränkt zu sein, gelöst. Sie überwinden nicht nur Genre- und Gat-
tungsgrenzen, sondern fluktuieren frei durch diverse Angebote der
Massenmedien. Sie feiern die eigene Stereotypie bis zum Kult und
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Chicago (USA 2002, Rob Marshall)
Deja Vu (USA 2006, Tony Scott)
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Flashdance (USA 1983, Adrian Lyne)
Groundhog Day (USA 1993, Harold Ramis)
Hero (Orig. Titel: Ying xiong, HK/CHINA 2000, Yimou Zhang)
His Girl Friday (USA 1940, Howard Hawks)
Formen der Filmfigur
273
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Kill Bill Vol 1 (USA 2003, Quentin Tarantino)
Lola rennt (D 1998, Tom Tykwer)
Lost Highway (USA 1997, David Lynch)
Memento (USA 2000, Christopher Nolan)
Moulin Rouge! (USA 2001, Baz Luhrmann)
Mulholland Drive (USA 2001, David Lynch)
North by Northwest (USA 1959, Alfred Hitchcock)
Ocean‘s Twelve (USA 2004, Steven Soderbergh)
Requiem for a Dream (USA 2000, Darren Aronofsky).
Saturday Night Fever (USA 1977, John Badham)
Shrek (USA 2001, Andrew Adamson, Vicky Jenson)
Sin City (USA 2005, Frank Miller, Robert Rodriguez)
Sex and the City (USA 2008, Michael Patrick King)
Sex and the City (TV-Series, USA 1998-2004)
Sliding Doors (USA 1998, Peter Howitt)
Snatch (UK/USA 2000, Guy Ritchie)
Titanic (USA 1997, James Cameron)
The Lord of the Rings (USA 2001, 2002, 2003; Peter Jackson)
274
275
Gerd Hallenberger
Figurenkonzepte im Fernsehen
Einzelmedien sind immer Teil eines Medienensembles; Figurenkon-
zepte im Fernsehen sind daher stets nur im Kontext ihrer Konstruk-
tion und der Nutzung allgemeiner ›Medienfiguren‹ erschließbar. Die
spezifische Rolle des Fernsehens ergibt sich dabei sowohl aus seinen
dispositiven Eigenheiten wie aus seiner gesellschaftlichen Bedeutung.
Alle prominenten Medienfiguren sind auf das Fernsehen in dem
Sinne angewiesen, dass ›Fernsehfigur‹ zu sein einen notwendigen
Bestandteil der ›Gesamtfigur‹ darstellt, die Mediennutzer wahrneh-
men. In den Fällen, in denen das Fernsehen nicht das wichtigste be-
rufliche Tätigkeitsfeld darstellt, ist es doch zentrales Medium der
Herstellung und Bestätigung von ›Prominenz‹. Diese impliziert ein
Spannungsverhältnis von drei Figuraspekten professionelle Rolle,
medial konstruierte und tatsächliche Privatheit, die der Medialisie-
rung prinzipiell entzogen ist. Und dieses Spannungsverhältnis ist
auch jedem Mediennutzer vertraut, der ebenfalls Rollen auszufüllen
und ein Image zu wahren hat und gleichzeitig gerne ein bisschen
Raum ganz für sich allein hat.
Intermediales Vorspiel
Als das Fernsehen zu einem wichtigen Element des Medienensembles
wurde, stellte sich natürlich die Frage, wie denn die Beziehungen
dieses neuen Mediums zu den seinerzeit bereits etablierten Medien
beschaffen waren. In den 1950er-Jahren fand man auf diese Frage
sofort zwei Antworten und zwei Umschreibungen. Einerseits war
Fernsehen Pantoffelkino ebenso wie der Kinofilm war Fernsehen
ein audiovisuelles Medium, bot also bewegte Bilder und Ton, aber im
Unterschied zum Kinofilm beides prinzipiell im heimischen Wohn-
zimmer, selbst wenn in den ersten Fernsehjahren die Nutzung des
Mediums noch oft in kollektiven Nutzungssituationen stattfand, also
Gerd Hallenberger
276
in Gasthäusern, vor den Schaufenstern von Elektro-Fachgeschäften
oder bei Nachbarn. Andererseits war Fernsehen Radio mit Bildern,
also wie das Radio ein in vertrauter, heimischer Umgebung rezipier-
tes Medium, das nicht das Aufsuchen spezieller öffentlich zugängli-
cher Orte erforderte. Aber im Unterschied zum Radio bot es mehr,
eben auch Bilder, trotzdem stammten viele Programmformen aus
dem Radio, z.B. Sportübertragungen, Nachrichten, Quiz und Bunte
Abende.
Das Fernsehen war so gesehen ein hybrides Medium, eine eigen-
tümliche Kombination von Film und Radio1, woraus sich die Vermu-
tung ableiten lässt, dass das Fernsehen auch eigentümliche Figuren-
konzepte hervorzubringen in der Lage war. Einen frühen Beleg für
diese Vermutung lieferte der 1963 ausgestrahlte Dokumentarfilm
Fernsehfieber aus der Reihe Zeichen der Zeit des Südfunks Stuttgart,
für den Dieter Ertel und Georg Friedel als Autoren verantwortlich
zeichneten. In ihrem Film beschäftigt sie immer wieder das Verhält-
nis der Akteure auf dem Bildschirm zu den Fernsehzuschauern und
das Verhältnis dieser Akteure zu den Stars des Films. Ohne Differen-
zierungen nach Programmformen des Fernsehens vorzunehmen, beo-
bachten die Autoren einen generellen Unterschied zwischen Film und
Fernsehen, der sich letztlich auf dispositive Unterschiede zurückfüh-
ren lässt.
Der Umstand, dass den Zuschauern die Akteure des Fernsehens in
der Privatsphäre des Wohnzimmers begegnen, macht sie ihnen ähn-
lich, ja sogar zu potenziellen neuen Familienmitgliedern: Der
»Mensch auf dem Bildschirm« werde beobachtet, »wie wenn er ein-
heiraten wollte in die strenge, aber gerechte Familie« (Fernsehfieber).
Das Zitat aus dem Off-Kommentar des Films erlaubt zwei wichtige
Folgerungen: Erstens gelten die Akteure auf dem Bildschirm zwar als
prinzipiell ›familientauglich‹, wenn sie aber tatsächlich eine virtuelle
Erweiterung der vor dem Fernsehapparat versammelten Familie wer-
den wollen, müssen sie sich erst beweisen. Zweitens findet hier ein
intensiver Evaluationsprozess statt, also aktive Auseinandersetzung
und nicht bloß ›Rezeption‹. Den Stars der Leinwand wird dagegen
eine deutliche Distanziertheit zum ›normalen Leben‹ der Zuschauer
1 Genau genommen sind sogar noch weitere mediale Verwandte zu erwähnen, vor allem
Theater und Varieté. Das Theater war nicht nur der Vorläufer des ›Fernsehspiels‹, Theater-
übertragungen waren insbesondere in den frühen Fernsehjahren ein zentraler Bestandteil
des Fernsehprogramms. Das Varieté war Vorläufer und Zuträger für ›Bunte Abende‹ und
Fernsehshows, was übrigens auch schon für die ›Bunten Abende‹ und showähnliche Insze-
nierungen des Radios galt.
Figurenkonzepte im Fernsehen
277
zugeschrieben, was sich nicht zuletzt dann zeigt, wenn Medien selb-
streferenzielle Wertbestätigung betreiben, also bei Preisverleihungen.
Derartige Rituale sind bis heute in allen Bereichen der Populärkultur
üblich, so auch bei Film und Fernsehen. Die Erwartungshaltung der
Zuschauer wird dabei im Film Fernsehfieber als sehr unterschiedlich
beschrieben: Die Helden des Fernsehens sollen in den »Hemdsärmeln
des Alltagskumpans daherkommen statt im Smoking der Halbgötter
vom Film« (Fernsehfieber).
Filmfiguren und Fernsehfiguren repräsentieren diesen Beobachtun-
gen zufolge prinzipiell sehr unterschiedliche Modelle, selbst wenn
natürlich das Abspielen von Kinofilmen wichtiger Bestandteil des
Programms vieler Fernsehsender ist und fiktionale Narration in bei-
den Medien wenn auch in unterschiedlichen Formen, abgesehen
von Übernahmen zentrale Bedeutung hat. Trotzdem könnte man
schon an dieser Stelle einwenden, dass es sich bei dem Betrachten
eines Films im Kino oder im Fernsehen um zwei durchaus unter-
schiedliche Aktivitäten handelt oder fiktionale Formen in Film und
Fernsehen nicht nur in mehrfacher Hinsicht anders aussehen, sondern
zudem im jeweiligen Medium eine andere Rolle spielen: Nicht-fik-
tionale Produktionen sind im Kino allenfalls ausnahmsweise erfolg-
reich, im Fernsehen werden sie dagegen beispielsweise in Gestalt von
Quiz- und Nachrichtensendungen, Casting-Shows und vor allem
Sportübertragungen regelmäßig gesendet.
Die Frage, ob und in welchen Formen das Fernsehen eigene
wenn auch nicht unbedingt dauerhaft exklusive Figurenkonzepte
hervorgebracht hat, bleibt also spannend. Der folgende Text greift
medien- und kommunikationswissenschaftliche Forschungsergeb-
nisse aus verschiedenen Diskurskontexten auf, um modellhaft im
Rahmen einer explorativen Skizze Zugänge zu Figurenkonzepten des
Fernsehens zu entwickeln. Aus diesem Grund wird auch bewusst auf
eine Vorab-Definition des Begriffs ›Figur‹ verzichtet. Zwei Grund-
überlegungen, die vor dem Hintergrund des heutigen Wissens über
das Medium plausible Annahmen darstellen, dienen dabei als Orien-
tierungsrahmen. Erstens: Wenn man über Figurenkonzepte des Fern-
sehens nachdenkt, muss man neben der Angebotsseite auch die Seite
der Fernsehnutzung einbeziehen sowie die Bedingungen, unter denen
Angebote produziert und genutzt werden. Mit anderen Worten: Figu-
renkonzepte implizieren Nutzungskonzepte. Und zweitens: Figuren-
konzepte des Fernsehens sind ebenso wie das Medium insgesamt nur
im Kontext eines Medienensembles analysierbar. Mit anderen Wor-
Gerd Hallenberger
278
ten: Die Beschäftigung mit Figurenkonzepten des Fernsehens ver-
langt einen inter- bzw. transmedialen Zugang.
Menschen auf dem Bildschirm
Nehmen wir als historischen Ausgangspunkt die Zeit, in der sich das
Fernsehen zunächst als Medium, etwas später dann auch als Massen-
medium etablierte, also die 1950er-Jahre. Was es anbot, hatte, wie
eingangs erwähnt, teilweise viel mit dem Kinofilm, teilweise viel mit
dem Radio gemein.
Die Menschen auf dem Bildschirm waren einerseits oft denen auf
der Kinoleinwand ähnlich. In fiktionalen Produktionen, die in den
ersten Jahren des Fernsehens noch keine Übernahmen aus dem Kino
waren, da die Filmbranche in Deutschland zunächst die Parole »kein
Meter Film für das Fernsehen« ausgegeben hatte, agierten Schau-
spieler in Rollen, bisweilen auch aus dem Kino bekannte Schauspie-
ler. Zwar bedeutete ein Kinobesuch auch noch die Begegnung mit
anderen Figurenkonzepten, da zum typischen Kinoprogramm dieser
Zeit noch zwei weitere Kernbestandteile gehörten (sowie Werbung),
nämlich Kulturfilm und Wochenschau2, aber das Entscheidende war
natürlich der in aller Regel fiktionale Hauptfilm.
Andererseits stammte ein großer Teil des auf dem Bildschirm
sichtbaren Personals aus dem Radio, teils lediglich als Funktionsrolle,
teils als konkrete Person: Ansagerinnen und Nachrichtensprecher,
Reporter, Moderatoren und Sänger. Mit dem Fernsehen bekamen sie
nun auch ein Gesicht, wo sie zuvor nur als Stimme bekannt waren.
Hinzu kamen diejenigen Personengruppen, die nicht unmittelbar
für das Fernsehen arbeiteten, über deren Tätigkeit aber im Fernsehen
regelmäßig berichtet wurde vor allem Sportler und Politiker, aber
auch beispielsweise Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Organisa-
tionen und Institutionen oder Experten aller Art. Falls es sich um
prominente Akteure in ihrem Bereich handelte, konnten die Fernseh-
zuschauer zumindest prinzipiell auf drei Wegen schon zuvor etwas
von ihnen erfahren haben: aus einem Auftritt in einer Wochenschau
(oder vielleicht sogar in einem Kulturfilm), aus der Berichterstattung
2 Der Kulturfilm war ein kürzeres dokumentarisches Stück, die Wochenschau ein nicht
gerade tagesaktueller Zusammenschnitt von mehr oder minder wichtigen Meldungen der
letzten Zeit, wobei ein erkennbarer Schwerpunkt auf Meldungen aus unterhaltungsaffinen
Themenbereichen lag, wie z.B. Sport oder Prominente.
Figurenkonzepte im Fernsehen
279
und/oder Interviews im Radio, aus Zeitungs- oder Zeitschriftenbe-
richten, eventuell sogar mit begleitenden Fotografien. Im Vergleich
mit allen drei älteren Formen von Medienangeboten bot das Fernse-
hen jedoch mehr. Zwar erlaubte schon die Wochenschau des Kinos
den Akteuren eine gelegentliche Selbstdarstellung in Bewegtbild und
Wort, mit der ab 1956 werktäglich ausgestrahlten Tagesschau gab es
nun aber wesentlich häufiger und kontinuierlich eine mediale Platt-
form, zu der noch weitere im Rahmen der aktuellen und nicht ganz so
aktuellen Berichtserstattung kamen, wie etwa ergänzende Berichte
oder politische Magazine. Anders als im Radio waren die Akteure
nicht nur zu hören und anders als bei der Presseberichterstattung
wurde aus Schriftzitat gesprochene Rede und aus dem unbewegten
Bild wurden bewegte Bilder.
Noch eine vergleichsweise geringe Rolle spielten schließlich nicht-
prominente Akteure mit einmaligen Fernsehauftritten, die es in drei
Hauptformen gab. Im Rahmen einer einzelnen Sendung in herausge-
hobener Position konnten sie als Kandidaten in Spiel- und Quizsen-
dungen auftreten, immerhin eine kleine Nebenrolle als Einzelperson
bot die Befragung als ›Stimme des Volkes‹ in Magazin- und Nach-
richtensendungen, vollständig anonym geschah dagegen das kurzzei-
tige Sichtbarwerden als Teil einer Menschenmenge bei Fernsehpro-
duktionen, die vor Publikum aufgenommen wurden und dies durch
gelegentliche Bildschnitte dokumentierten.
Gerd Hallenberger
280
Rollen und Figuren
Alle diese Menschen auf dem Bildschirm haben eine Eigenschaft
gemeinsam. In wenigstens einer Fernsehproduktion sind sie in einer
bestimmten Rolle aufgetreten, einer sendungsspezifischen Funktions-
rolle3. Wie groß das Spektrum der möglichen Rollen schon in der
Anfangszeit des Fernsehens war, veranschaulicht der vorige Ab-
schnitt: Jede Programmform und im Rahmen jeder Programmform
jedes einzelne Genre bot ein spezifisches Set von Rollen an, wobei
manche Rollen notwendig, andere lediglich möglich waren. Ein fik-
tionaler Krimi in egal welcher Variante, ob als abgefilmtes Theater-
stück, als Fernsehspiel oder als Serienfolge, setzte zwingend voraus,
dass die Rollen von Opfer, Täter und Ermittler besetzt oder zumin-
dest angedeutet waren4. Ein Quiz brauchte einen Quizmaster und
Kandidaten5, eine Show Künstler. Andere Rollen gab es zwar fast
immer, aber eben nicht in jedem Fall. In diese Gruppe fallen etwa die
Rollen der Helfer des Hauptermittlers in Krimis, des Moderators in
Fernsehshows oder Magazinsendungen, selbst die Tagesschau hatte
nicht von Anfang an einen Nachrichtensprecher. Weitere Rollen
hatten dagegen eher fakultativen Charakter. Eine besonders große
Vielfalt boten natürlich fiktionale Produktionen, aber auch andere
Programmformen hatten fakultative Rollen so konnte ein Quizma-
ster eine Assistentin haben, häufig gab es aber auch keine; die Befra-
gung von Gewährspersonen, Zeugen oder einfach nur Passanten war
ein beliebtes Element im dokumentarischen Bereich, es ging aber
auch ohne sie.
3 Vor allem in Theater und Film sind noch andere Fassungen des Begriffs Rolle‹ geläufig,
die ein darstellerisches Rollenfach oder einen Rollentyp meinen im ersten Fall etwa den
›jugendlichen Liebhaber‹, im zweiten etwa den ›Bad Guy‹. In vergleichbarer Weise kennt
auch das Fernsehen genrespezifische, allgemeine Rollen. In der öffentlichen Wahrnehmung
treten hier jedoch sendungsspezifische Zuordnungen gegenüber allgemeinen Rollenzuord-
nungen in den Vordergrund, weshalb diese Begriffsfassung hier präferiert wird. Wer die
Tagesschau moderiert, wird in erster Linie als Tagesschau-Sprecher wahrgenommen und
nicht als Nachrichtensprecher, Thomas Gottschalk wird eher mit seiner Sendung Wetten,
dass…? in Verbindung gebracht als mit der allgemeinen Rolle des Leiters einer Spielshow,
Götz George eher mit der Figur Schimanski als mit dessen Rollenzuordnung ›(Fernseh-)
Kommissar‹.
4 Das heißt, die Zuschauer mussten wenigstens vermuten, dass es ein ›Opfer‹ gab, selbst
wenn es tatsächlich Selbstmord begangen hatte; ein ›Täter‹ musste gesucht werden, selbst
wenn die Tat letztlich unaufgeklärt blieb was im deutschen Fernsehkrimi bis heute eine
extrem seltene Ausnahme darstellt.
5 Die nicht immer auch auf dem Bildschirm zu sehen waren, da manche Produktionen
lediglich den Zuschauern Aufgaben stellten.
Figurenkonzepte im Fernsehen
281
In ihrer jeweiligen sendungsspezifischen Rolle wurden alle diese
Akteure bereits zu Figuren des Fernsehens, viele dieser Figuren wie-
sen jedoch noch weitere Facetten auf was sie als Figuren des Fern-
sehens veränderte. Zusätzliche Facetten konnten sich auf drei Wegen
ergeben bzw. durch eine Kombination dieser Wege. Der erste Weg:
der mehrfache Auftritt in derselben Rolle im Rahmen einer seriellen
Produktion. Selbst bei recht starren Rollen, wie z.B. Leiter einer
Quizsendung, Nachrichtensprecher oder Familienvater in einer fik-
tionalen Serie, erlaubt der wiederholte Fernsehauftritt das Ausspielen
weiterer Rollenfacetten als in der jeweils ersten Folge. Das Ergebnis
ist eine rollenidentische, kumulierte Fernsehfigur oder, mit anderen
Worten, die Entwicklung einer Fernsehfigur über mehrere Sendungen
hinweg. In jeder einzelnen Sendung ist zwar dieselbe Figur zu sehen,
aber immer auf etwas andere Weise, die ›vollständige‹ Figur ist also
nur in der Summe aller Sendungen der betreffenden Produktion re-
präsentiert. Der zweite Weg war die intramediale Rollenvarianz
derselbe Schauspieler stellte in einer Produktion einen Familienvater
dar, in einer anderen einen Polizisten; der Moderator einer Showsen-
dung trat in einer anderen als Sänger auf. Intramediale Rollenvarianz
war in der Anfangszeit des Fernsehens eher selten, häufiger dagegen
natürlich die intermediale Rollenvarianz. Da das Fernsehen nicht
ausschließlich neue Gesichter präsentieren wollte und konnte, war es
unvermeidlich, dass ein Großteil des Personals aus anderen medialen
Kontexten bekannt war beispielsweise der Radioreporter, der nun
auch für das Fernsehen arbeitete; der Theaterschauspieler, der an
einem Fernsehspiel mitwirkte; der von Schallplatten her bekannte
Sänger, der in einer Show auftrat.
In allen drei Fällen treten Akteur, Rolle (verstanden als sendungs-
spezifische Funktionsrolle) und Figur auseinander ein Akteur kann
bei wiederholten Auftritten dieselbe Funktionsrolle unterschiedlich
interpretieren, derselbe Akteur kann im Fernsehen in unterschiedli-
chen Funktionsrollen auftreten oder außer im Fernsehen noch in an-
deren Medien in derselben Funktionsrolle oder sogar in unterschiedli-
chen Medien in unterschiedlichen Funktionsrollen. Dies trifft bei-
spielsweise in besonders bemerkenswerter Form auf den Theater-
schauspieler Hans-Joachim Kulenkampff zu, der zuerst im Radio,
dann im Fernsehen erfolgreicher Quizmaster wurde und aufgrund
dieses Erfolgs auch noch Filmschauspieler (vgl. Strobel/Faulstich
1998, 81ff). Diese vielfältigen Beziehungen zwischen Akteur und
Funktionsrolle werfen natürlich die Frage auf, wie sich ein für das
Gerd Hallenberger
282
Medium Fernsehen taugliches Figurenkonzept modellieren lässt.
Prinzipiell gibt es mehrere Ansatzpunkte: Um bei dem genannten
Beispiel zu bleiben: Ist Hans-Joachim Kulenkampff als Person Figur
oder in seiner Rolle als Leiter einer bestimmten oder aller seiner
Quizsendungen im Fernsehen? Ist es sinnvoll, den Filmschauspieler
Hans-Joachim Kulenkampff als eigenständige Medien-Figur zu mo-
dellieren oder ergibt sich aus den Fernsehauftritten außerhalb seiner
Quizsendungen eine eigenständige Fernsehfigur?
Je nach Art der damit verbundenen Fragestellung kann auf den er-
sten Blick jeder dieser Zugänge durchaus interessante Befunde erge-
ben, woraus sich zwei Schlüsse ziehen lassen: Erstens gibt es offen-
bar beim Fernsehen kein einzelnes naheliegendes Figurenkonzept,
sondern mehrere mögliche Konzeptualisierungen. Zweitens weisen
diese sehr unterschiedliche Reichweiten auf, können also unter-
schiedlich große Mengen an bzw. Typen von Fernsehauftritten inte-
grieren. Aufgrund dieser Beobachtungen könnte man eine Unter-
scheidung von Fernseh-Gesamtfigur und Teilfiguren vornehmen,
wobei die Teilfiguren, die in einzelnen Sendungen, Produktionen oder
Genres sichtbar werden, die Bausteine darstellen, aus denen sich die
Fernseh-Gesamtfigur zusammensetzt. Eine solche Unterscheidung
könnte zwar in Einzelfällen interessante Beobachtungen ermöglichen,
würde jedoch letztlich zu kurz greifen. Die Konstruktion einer ›Fern-
seh-Gesamtfigur‹ hätte zur Voraussetzung, dass das Fernsehen
ebenso wie jedes andere Medium autonome Figuren hervorbrächte.
Das Beispiel Hans-Joachim Kulenkampff zeigt jedoch, dass eine
solche Überlegung nicht weiterhilft: Da Kulenkampff und außer-
dem bis heute zahllose andere Fernseh-Akteure im Verlauf seiner
Karriere nacheinander und sogar zur gleichen Zeit in mehreren Me-
dien präsent war, würde eine Unterscheidung zwischen einem Thea-
ter-, Radio-, Fernseh- und Film-Kulenkampff wenig sinnvoll sein in
jedem Medium handelte es sich um den selben Akteur, und es gibt
keinen Grund anzunehmen, dass sein Publikum ›seinen‹ Kulenkampff
nach Medien separiert wahrnahm. In Analogie zur vorigen Überle-
gung ließe sich allenfalls eine Unterscheidung von medienspezifi-
schen Teilfiguren und medienübergreifender Gesamtfigur vornehmen.
Figurenkonzepte im Fernsehen
283
Medien und Figuren
Wenn man das Konzept einer medienübergreifenden Gesamtfigur,
das nach der bisherigen Argumentation plausibel ist, weiterdenkt,
stellen sich sofort zwei Fragen: Erstens, leisten alle Medien prinzipi-
ell den gleichen Beitrag zur Gestaltung dieser Gesamtfigur? Zwei-
tens, gibt es fernsehspezifische Figuren?
Die erste Frage betrifft das Verhältnis der Medien zueinander, ge-
nauer gesagt: das Beziehungsgefüge innerhalb des Medienensembles.
Dass wir es seit über 100 Jahren nicht nur mit einem Nebeneinander
unterschiedlicher Medien zu tun haben, sondern mit einem Medien-
ensemble mit ständig wechselnden Medienkonstellationen, also mit
Funktionswechseln, Bedeutungsverschiebungen, Angebots- und Nut-
zungswandel, ist hinlänglich bekannt. So hatte der Aufstieg des Fern-
sehens von einer technischen Innovation zum Massenmedium un-
mittelbare Konsequenzen für zwei andere Medien und mittelbare
für weitere. Es beendete die Monopolstellung des Kinofilms als ein-
ziges audiovisuelles Medium und zugleich die Monopolstellung des
Radios als einziges zeitgebundenes Programmmedium, das in der
eigenen Wohnung genutzt werden konnte. Langfristig repositionierte
sich das Kino durch die Betonung der Differenzen gegenüber dem
Fernsehen in technischer, ökonomischer und programmlicher Hin-
sicht: Verbesserungen von Bild- und Tonqualität unterstrichen den
höheren Erlebniswert, die im Vergleich mit dem Fernsehen weitaus
höheren Produktionsetats erlaubten, u.a. den massiven Einsatz von
Stars und Spezialeffekten; Zielgruppenangebote und nicht-familien-
taugliche Inhalte markierten häufig eine inhaltliche Differenz zum
wenigstens in den ersten Jahrzehnten ›Familienmedium‹ Fernsehen.
Im Radio spielte das klassische Vollprogramm eine immer gerin-
gere Rolle, stattdessen fand langfristig ein Wechsel hin zu Sparten-
und Formatprogrammen statt, wobei eine technische Differenz zum
Fernsehen ebenfalls eine wichtige Rolle spielte: Lange Zeit gab es
maximal einen Fernsehapparat pro Haushalt, dagegen mehrere Ra-
diogeräte, von denen eines fast immer im Auto eingebaut war. Kleine
Transistorradios und Autoradios machten das Radio zu einem sehr
mobilen Medium, und es ist kein Zufall, dass gerade eine auf die
Zielgruppe der Autofahrer ausgerichtete Programmform in den
1970er-Jahren eine kleine Renaissance des Radios einleitete: die mu-
sikdominierte ›Servicewelle‹. Mittelbare Konsequenzen hatte der
Aufstieg des Fernsehens vor allem im Printsektor. Das Fernsehen
Gerd Hallenberger
284
produzierte nicht nur ständig neue Gegenstände der Berichterstattung,
es schuf auch eine neue Angebotsform: die Fernsehzeitschrift, also
die Programmpresse.
Trotz Repositionierung spielten Kino und Radio in der durch das
Fernsehen veränderten Medienlandschaft natürlich eine andere Rolle
als vorher, und eine geringere wer ein Monopol verliert, verliert
immer an Bedeutung. Das Fernsehen dagegen entwickelte sich zum
›Leitmedium‹, dank flächendeckender Verbreitung, alltäglicher Nut-
zung, allmählicher Ausweitung der täglichen Sendezeit und der Zahl
der Sender. Diese Verschiebungen im Medienensemble haben
zwangsläufig Konsequenzen für das Konstrukt einer medienübergrei-
fenden Gesamtfigur. An dieser Stelle seien zunächst zwei zentrale
Beobachtungen festgehalten. Die erste Beobachtung bezieht sich auf
die medialen Tätigkeitsbereiche der Menschen auf dem Bildschirm:
In den ersten Fernsehjahren gelangten viele von ihnen auf den Bild-
schirm, weil sie zuvor schon in anderen Medien erfolgreich gewesen
waren, vor allem im Radio und im Kinofilm.
Mit seinem wachsenden Erfolg wurde das Fernsehen selbst Aus-
gangspunkt der intermedialen Erweiterung von Karrieren. Als Bei-
spiel sei einmal mehr auf Hans-Joachim Kulenkampff verwiesen:
Obwohl er (Theater-) Schauspieler gewesen war, bevor er für Radio
und Fernsehen arbeitete, beruhten seine späteren Auftritte als Schau-
spieler in Kinofilmen vor allem auf seinem Erfolg als Quizmaster im
Fernsehen. Eine weitere Beobachtung: Mit der Etablierung des Fern-
sehens als ›Leitmedium‹ wurde es für Medienakteure aller Art immer
wichtiger, zumindest auch im Fernsehen präsent zu sein. Ein Fern-
sehauftritt war nicht nur an sich wichtig, er konnte auch Aufmerk-
samkeit auf andere mediale Tätigkeiten lenken bzw. dort erzielte
Erfolge bestätigen. Das Fernsehen entwickelte sich zu einer zentralen
Schnittstelle im Medienensemble die Menschen auf dem Bild-
schirm waren nicht zwangsläufig ausschließlich in diesem Medium
tätig, aber jede medienübergreifende Gesamtfigur hatte zumindest
einen Fernsehanteil.
Die zweite zu Beginn dieses Abschnitts gestellte Frage ist etwas
knapper zu beantworten: Es gibt zwar Menschen auf dem Bildschirm,
deren Medienpräsenz sich auf dieses Medium beschränkt und die in
diesem Sinne fernsehspezifische Figuren darstellen, es gibt jedoch bis
heute keinen Figurentyp (im Sinne von Rollentyp), der nicht in glei-
cher oder ähnlicher Form auch in anderen Medien existiert. Schau-
spieler, Laiendarsteller, Comedians, Sprecher, Kommentatoren, Re-
Figurenkonzepte im Fernsehen
285
porter, Zeitzeugen, Betroffene, Experten, Politiker, Sportler, Mode-
ratoren oder Künstler aller Art findet man auch in anderen Medien.
Und selbst dort, wo auf den ersten Blick allein durch die Berufsbe-
zeichnung Medienspezifik angedeutet wird, lässt ein zweiter Blick
mediale Verwandtschaftsbeziehungen erkennen. Dies trifft etwa auf
den VJ zu, die von MTV eingeführte Bezeichnung für die Moderato-
ren von Musikvideo-Shows, der sich mühelos als televisionäre Vari-
ante des aus dem Radio und aus Diskotheken vertrauten DJs ent-
schlüsseln lässt.
Prominenz und Figur
Nach den bisherigen Überlegungen lässt sich als Zwischenergebnis
der Exploration festhalten, dass es wenig sinnvoll ist, ein autonomes
Figurenkonzept des Fernsehens zu entwickeln, da dieses Medium
erstens nach aktuellem Stand keine vollkommen eigenständigen Figu-
rentypen aufweist und zweitens viele Medienfiguren über eine erheb-
liche mediale Mobilität verfügen. Gleichzeitig bietet das Fernsehen
seit seiner Etablierung eine mediale Plattform besonderer Bedeutung,
sowohl als professionelles Tätigkeitsfeld wie auch als Werbeplatt-
form für die je eigene (Medien-)Arbeit und nicht zuletzt die eigene
Person. Sinnvoller ist also eher die Frage, welche spezifische Rolle
das Fernsehen bei der Konstruktion von allgemeinen Medienfiguren
spielt.
Eingangs wurde festgestellt, dass zunächst einmal jeder, der we-
nigstens einmal auf einem Bildschirm erscheint, prinzipiell Fernseh-
figur, also Medienfigur ist. Für die folgenden Überlegungen dienen
als Ausgangspunkt ebenfalls die Personen, die als Medienfiguren im
Fernsehen erscheinen, aber nicht mehr alle, sondern nur diejenigen,
die mehrfach im Fernsehen bzw. dem Fernsehen und anderen Medien
agieren. Je häufiger ihre Medienauftritte sind, desto mehr ragen sie
aus der Gesamtheit aller Medienfiguren heraus, sie sind damit im
Wortsinn Prominente.
Umgangssprachlich ist der Prominente eng mit dem Star (vgl. all-
gemein Hügel 2003, 441ff) verwandt, aber jedem Mediennutzer ist
auch die Differenz zwischen beiden klar: Jeder Star ist gleichzeitig
prominent, aber nicht jeder Prominente ein Star. Das Konzept des
Stars entstand auf der Bühne und wurde ster vom Film adaptiert.
Der Aufstieg zum klassischen Star setzte nicht nur beruflichen Erfolg
voraus, sondern transmediale Resonanz: Der Erfolg in einem Medium
Gerd Hallenberger
286
wurde Gegenstand der Berichterstattung in anderen, zunächst in
Printmedien, später dann auch in Film-Wochenschauen, Radio und
Fernsehen. Als allgemeines Figurenkonzept war der klassische Star
zugleich ein hybrides Konzept in ihm verschmolzen Öffentlichkeit
(also: die in öffentlich zugänglichen Medienangeboten rezipierbaren
Leistungen) und Privatheit (also: die durch mediale Berichterstattung
ermöglichten Einblicke in das Privatleben) zu einer ideellen Gesamt-
figur.
Gleiches gilt auch für den neuzeitlichen Prominenten auch er
schafft die Grundlage für seine Prominenz durch seine Arbeit in ei-
nem oder mehreren Medien, Ausweis seiner Prominenz ist jedoch,
dass er zusätzlich von anderen Medien wahrgenommen wird bzw. im
selben Medium in anderer Rolle, nämlich als Privatperson, auftritt.
Bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts spielte in dieser Hinsicht die
Presse eine Schlüsselrolle prominent zu sein, setzte personenbezo-
gene Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften voraus. In neuerer Zeit
bieten auch andere Medien zahlreiche Plattformen zum Nachweis von
Prominenz, etwa Radio-Interviews oder Fernseh-Talkshows, wobei
die Presse fast immer wenigstens ergänzend hinzukommt.
Der Begriff Star, englisch: Stern, macht jedoch zugleich deutlich,
was einen Star vom Prominenten unterscheidet. Ein Stern ist nur bei
klarem Himmel und in der Nacht zu sehen, und er ist von der Erde
sehr weit entfernt. Typisch für den Star waren in Analogie seine nur
gelegentlichen Auftritte und seine Entrücktheit vom gewöhnlichen
Leben derer, die von seinen Auftritten begeistert waren. Prominent zu
sein setzt keine derartige Distanz und auch nicht die Seltenheit des
Auftritts voraus.
Die im Eingangsabschnitt referierten Zitate aus dem Dokumentar-
film Fernsehfieber von 1963 haben schon angedeutet, dass (Film-)
Star und das Medium Fernsehen nicht so recht zusammenpassen. Die
Unterschiedlichkeit der medialen Dispositive Film und Fernsehen
weist ihren Akteuren völlig andere Prominenzpotentiale zu: Wo der
Kinofilm ›Halbgötter‹ hervorbringen kann, produziert das Fernsehen
im besten Fall ›Alltagskumpane‹. Diese Beobachtung deutet nicht nur
eine wesentlich geringere Distanz der Medien-Akteure an, die primär
durch das Fernsehen ihr Publikum erreichen, sondern lässt auch das
häufige Erscheinen auf dem Bildschirm geradezu als Voraussetzung
von (Fernseh-)Prominenz erscheinen ›Alltagskumpan‹ kann nur der
sein, mit dem man auch regelmäßig Kontakt hat.
Figurenkonzepte im Fernsehen
287
Vor diesem Hintergrund sorgte der Aufstieg des Fernsehens zum
›Leitmedium‹ zu einer nachhaltigen Veränderung des faktischen
Konzepts der Medienfigur. Als ›Alltagsmedium‹ in mehrfacher Hin-
sicht konnte es zwar nicht Stars wie der Film hervorbringen, dafür
aber prominente Medienfiguren geringeren Kalibers, und das in gro-
ßer Zahl und dank der zunehmenden Serialisierung des Programms in
kurzer Zeit. Gleichzeitig brauchte das Fernsehen letztlich wie der
Film auch bekannte Gesichter und war anders als der Film sogar
in der Lage, nicht nur Prominenz zu ermöglichen, sondern sie auch
nachzuweisen. Der Bedeutungszuwachs des Fernsehens schuf die
Voraussetzung zur Etablierung von Prominenz als nahezu geschlos-
senes, selbstreferenzielles System. War vormals Presseberichterstat-
tung unabdingbar, um den Status eines Prominenten zu erreichen,
kann das Fernsehen dies heute auch allein schaffen mit Hilfe von
prominentenbezogenen ›Soft News‹, Boulevard-Magazinen, Talk-
shows, Features und Prominenten-Shows. Es gibt zwar weiterhin
Medienfiguren, die einen Star-Status im klassischen Sinne reklamie-
ren können, wie etwa Brad Pitt, Nicole Kidman, Robbie Williams
oder Madonna, deren zentraler medialer Tätigkeitsbereich aber be-
zeichnenderweise nicht das Fernsehen ist. Die quantitativ überwie-
gende Mehrzahl bekannter Medienfiguren ist dagegen mehr oder
weniger eng mit dem Fernsehen verbunden, hat dafür aber einen ver-
gleichsweise geringeren Status und ihre Prominenz ist oft auch nur
von geringer Dauer. Nicht zuletzt die Sieger einschlägiger Casting-
Shows wie Deutschland sucht den Superstar seien hier pars pro toto
als Beleg angeführt.
Als nächstes Zwischenfazit ist also festzuhalten, dass alle Medien-
figuren auf das Fernsehen angewiesen sind, wenn sie als Medienfigu-
ren auffallen wollen, also im Wortsinn prominent werden wollen.
Dabei ist das Fernsehen nicht nur in vielen Fällen als professionelles
Handlungsfeld wichtig, sondern auch als Medium der Bestätigung
wer prominent ist, kommt im Fernsehen zumindest als Privatperson
vor. Das bedeutet auch, dass das Fernsehen heute eine zentrale Rolle
bei der Herstellung und Organisation von Prominenz spielt, die es
mediengeschichtlich gesehen von der Presse übernommen hat. Nur
durch das Fernsehen wird jedoch niemand zum Star, lediglich zum
Prominenten. Dass es sich hier um eine Medienfigur handelt, der
allenfalls begrenzt Respekt entgegengebracht wird, macht schon der
Sprachgebrauch der Fernsehbranche deutlich Prominente werden in
Gerd Hallenberger
288
der Fernsehproduktion generell zum ›Promi‹ verkleinert, gerne auch
zur ›Nase‹6 reduziert.
Person und Figur
Wenn im vorigen Abschnitt die allgemeinen Figurenkonzepte Star
und mithin auch Promi als hybride Konzepte von Öffentlichkeit und
Privatheit bezeichnet wurden, darf dabei nicht vergessen werden, dass
es sich auch bei der auf dem Bildschirm sichtbaren ›Privatheit‹ um
ein mediales Konstrukt handelt.
Wer häufiger mit Medien zu tun hat, weiß, dass sein Bild in der
Öffentlichkeit, sein Image, in hohem Maße von Medienauftritten
bzw. medialer Berichterstattung abhängt, die sich außerhalb seiner
professionellen Tätigkeit im engeren Sinn vollziehen. Dies gilt so-
wohl für Personen, die hauptberuflich in Medien arbeiten, wie z.B.
Schauspieler, Sänger oder Moderatoren, als auch für Personen, deren
Arbeit zusätzlich häufige Medienauftritte erfordert, wie z.B. Politiker,
Verbandsfunktionäre oder selbst wissenschaftliche Experten. Für alle
gilt, dass Auftritte in Talk Shows, als Kandidaten in Prominenten-
Quizshows, Berichte in TV-Boulevardmagazinen oder Home-Stories
in der Presse ihrem Bild in der Öffentlichkeit zusätzliche Facetten
und Tiefe verleihen. Wo in professionellen Medien-Kontexten vor
allem Rolleninterpretationen sichtbar werden, kommt hier scheinbar
der ›Mensch‹ hinter der Rolle zum Vorschein. Das Wissen um die
spezifische Bedeutung derartiger Formen der Medienpräsenz nicht
zuletzt r die eigene Karriere hat zwangsläufig die Konsequenz,
dass auch hier aktiv an der eigenen medialen Gesamtfigur gearbeitet
wird, also letztlich eine weitere Rolle performiert wird.
Zum Star bzw. Promi gehören also nicht nur zwei Figuraspekte,
sondern drei. Professionelle Arbeit und medial konstruierte Privatheit
ergeben zusammen ein Public Image als Medienfigur, hinzu kommt
die nun tatsächlich persönliche Seite. Diese Feststellung ist auf
den ersten Blick natürlich trivial, denn jedem Mediennutzer ist klar,
dass es beispielsweise neben der Rollenfigur Schimanski und dem aus
zahlreichen Talk-Show-Auftritten bekannten Schauspieler Götz
George noch einen privaten Götz George gibt, über den alle seine
Medien-Auftritte und alle Berichte nicht notwendigerweise viel ver-
6 Ein typisches vom Autor dieses Textes mehrfach selbst gehörtes Zitat: »Wir brauchen
noch eine ›Nase‹ in der Sendung«.
Figurenkonzepte im Fernsehen
289
raten. Dies ist zwar möglich, aber nicht anhand seiner medialen Prä-
senz überprüfbar. Daraus ergibt sich die Pointe, dass ein wichtiger
Aspekt aller Medienfiguren jenseits aller Medien liegt, in einem
Restbestand privater Non-Medialität.
Menschen vor dem Bildschirm
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Medienfiguren macht vor
allem dadurch Sinn, dass Mediennutzer sich in ihrer Nutzungspraxis
offensichtlich mit Medienfiguren beschäftigen. Wäre dies nicht der
Fall, gäbe es weder Promis noch Stars allein die Geläufigkeit beider
Konzepte deutet an, dass Mediennutzung in hohem Maße den Um-
gang mit Medienfiguren bedeutet. Deshalb wird im folgenden Text-
abschnitt die Perspektive gewechselt von den Menschen auf dem
Bildschirm zu den Menschen vor dem Bildschirm.
Umgangsweisen mit Medienfiguren
Was die Art dieses Umgangs betrifft, hat insbesondere die wissen-
schaftliche Beschäftigung mit dem Fernsehen eine große Zahl an
Ansätzen hervorgebracht. Dies mag daran liegen, dass das Fernsehen
über Jahrzehnte unbestritten ›Leitmedium‹ war bzw. in wichtigen
Bereichen immer noch ist, aber auch an seiner Vielseitigkeit die
nicht zuletzt ein wichtiger Grund für seinen Aufstieg zum ›Leitme-
dium‹ gewesen sein dürfte. Vielseitig hatten nicht nur von Anfang an
seine Inhalte zu sein, die gleichermaßen die Funktionen von Informa-
tion, Bildung und Unterhaltung erfüllen sollten, vielseitig waren auch
immer schon die Arten der Zuwendung. Fernsehen ließ sich mit ho-
her Aufmerksamkeit oder mit eher geringer rezipieren, man konnte
das Gezeigte schweigend verfolgen oder kommentieren oder mit
anderen im Fernsehraum anwesenden Personen das Gesehene zum
Anlass eines Gesprächs nehmen. Im Kino würden lautstarke Kom-
mentare oder gar Gespräche mit anderen Kinobesuchern im besten
Fall als störend empfunden, Kommentare zum laufenden Programm
würden beim Radio als rein auditives Medium unweigerlich mit In-
formationsverlusten verbunden sein; Printmedien werden in aller
Regel nur von einer Person zur selben Zeit genutzt.
Das Spektrum der Umgangskonzepte reicht von ›Identifikation
über ›Sympathie und ›Empathie‹ (vgl. Mikos 2008), die unter-
Gerd Hallenberger
290
schiedliche Formen und Intensitäten emotionaler Anteilnahme be-
zeichnen, bis hin zur ›para-sozialen Interaktion‹. Dieses Konzept
wurde ursprünglich speziell mit Blick auf das Fernsehen und einen
besonderen Typ von Fernsehfiguren entwickelt (vgl. Horton/Wohl
1956). Was beim Kinofilm allenfalls in Ausnahmesituationen ge-
schah und dort einen Bruch mit der fiktionalen Realität implizierte,
wurde hier prinzipiell praktiziert: die direkte Adressierung der Zu-
schauer durch Akteure des Fernsehens wie etwa Ansagerinnen, Mo-
deratoren und Nachrichtensprecher. Völlig neu war dieser Adressie-
rungsmodus natürlich nicht, da er auch im Radio praktiziert wurde,
wo das mediale Gegenüber lediglich eine Stimme, aber kein für den
Rezipienten wahrnehmbares Gesicht besaß. Diese Form der Adressie-
rung wurde als Grundlage dafür gesehen, dass Zuschauer mit den
Bildschirmakteuren eine ›Als-ob-Beziehung‹ eingehen, als ob sie im
Fernsehzimmer leibhaftig präsent wären, eben eine para-soziale Be-
ziehung. Mittlerweile wird das Konzept häufig in verallgemeinerter
Form verwendet, also nicht nur bezüglich die Zuschauer direkt adres-
sierender Bildschirmakteure, sondern zur Kennzeichnung einer all-
gemeinen Form des Umgangs mit allen Arten von Medienfiguren.
Wichtig für die hier vorgestellten Überlegungen ist vor allem, dass
alle diese Konzepte eine Aktivität der Menschen vor dem Bildschirm
voraussetzen. Egal ob Identifikation oder para-soziale Interaktion,
Fernsehzuschauer müssen etwas tun, um diese Umgangsweisen mit
Medienfiguren zu realisieren. Auf vergleichbare Weise geht auch die
aktuelle Medien- und Kommunikationswissenschaft generell davon
aus, dass Unterhaltung, das Hauptziel des Umgangs mit Fernsehan-
geboten und den meisten Angeboten anderer Medien, angemessen
nicht als passiver Rezeptionsprozess modelliert werden kann, sondern
nur als Ergebnis aktiver Auseinandersetzung mit Medienangeboten.
Unterhaltung geschieht demnach dann, wenn Medienangebote von
bestimmten Mediennutzern in einer spezifischen Nutzungssituation
erfolgreich zur Herstellung von Unterhaltungserlebnissen verwendet
werden (vgl. Früh 2003). Die Regeln bestimmt dabei der Mediennut-
zer: Worauf er sich einlässt, in welchen Formen und mit welchem
Engagement, ist seine Entscheidung; das Ergebnis hängt nicht nur
von situativen Faktoren (Ist er müde? Klingelt das Telefon? Ist das
Essen fertig?) und seiner Medienkompetenz ab, sondern vor allem
davon, wie seine Interessen und Voraussetzungen mit dem Gebotenen
zusammenpassen.
Figurenkonzepte im Fernsehen
291
Strategien der Sinnproduktion
Medienfiguren begegnen Mediennutzern wie oben skizziert drei-
fach: als Inhaber einer spezifischen Rolle, als Exempel (potenzieller)
Prominenz, als Verkörperung von Rolle und Prominenz in einer rea-
len Person. Auf welche Weise können nun Mediennutzer mit dieser
eigentümlichen Entität der Medienfigur etwas für sie sinnvolles an-
fangen? Geht man davon aus, dass die Trias Rolle‹ –Prominenz‹ –
Person‹ sowohl in einzelnen Elementen als auch durch deren (mögli-
ches) Zusammenspiel Ansatzpunkte für sinnhafte Umgangsweisen
mit Medienfiguren bietet, ergeben sich daraus vielfältige Möglich-
keiten.
Erstens kann schon die Rolle ein hinreichender Grund sein, sich
mit Medienfiguren zu beschäftigen der interessante Charakter, den
ein Schauspieler verkörpert; der Nachrichtensprecher, weil man sich
generell für Nachrichten interessiert; der Quizleiter, weil man das
betreffende Spiel mag. Zweitens stellt Prominenz an sich einen hin-
reichenden Grund dar: In Medien häufiger auftretende bzw. erwähnte
Figuren sind allein dadurch (potenziell) reizvoll, dass sie als Gesamt-
heit generell in Medien eine zentrale und oft auch orientierende
Funktion innehaben. Wenn man nicht weiß, was beispielsweise von
einer Fernsehsendung erwartet werden kann, können allein promi-
nente Akteure ein gewichtiges Argument bei der Programmselektion
sein. Nimmt man den Aspekt der realen Person hinzu, werden drittens
verschiedene (potenziell) spannende Beziehungskonstellationen
sichtbar: Entspricht die Rolle eines Akteurs seiner tatsächlichen Per-
sönlichkeit? Ist er auch ›in Wirklichkeit‹ so wie sein über die Medien
hergestelltes Image? In letzter Konsequenz betreffen derartige Fragen
das Verhältnis von medialer und außermedialer Realität, da sich die
›reale Person‹ hinter medialen Rollen und medial konstruiertem
Image als non-mediales Faktum jeder Medialisierung entzieht. Nur
ein winziger Bruchteil aller Mediennutzer begegnet einem Promi-
nenten im realen Alltag, auf der Straße, im Supermarkt oder auf dem
Bahnsteig, daher bleibt die reale Person im Normalfall reines Spe-
kulationsobjekt vorausgesetzt, Rolle oder Image wecken das Inter-
esse an derartigen Spekulationen.
Dass derartige Beziehungskonstellationen für Mediennutzer hoch
interessant sein können, lässt sich nicht zuletzt anhand des großen
Erfolgs verschiedener Fernsehproduktionen erschließen, die gerade
die Verwandlung einer realen Person in eine Medienfigur zum Ge-
Gerd Hallenberger
292
genstand haben. Sowohl Big Brother und andere Real-Life-Soaps wie
auch alle Casting-Shows (z.B. Deutschland sucht den Superstar)
führen diese Transformation vor Unbekannte werden im Rahmen
eines televisionären Settings in Medienfiguren überführt, wobei der
Transformationsprozess selbst auch oft thematisiert wird (Wie gehen
meine alten Freunde mit dieser neuen Situation, mit mir um? Wie
verändere ich mich in dieser Situation?).
Es bleibt die Frage, warum alle diese Formen des Umgangs mit
Medienfiguren für Mediennutzer sinnvoll sein können. Da dieser
Umgang in aller Regel im Prozess der Herstellung von Unterhal-
tungserlebnissen geschieht und dies jeweils individuell und auf
höchst individuelle Weise geschieht, sind hier nur allgemeine Ver-
mutungen möglich. Eine sowohl logische als auch durch zahllose
Nutzungsbelege, etwa in Form von veröffentlichten Leserbriefen an
TV-Programmzeitschriften, gestützte These ist etwa, dass hier Rela-
tionen von Ähnlichkeit oder Differenz entscheidend sind. Ähnlichkeit
bedeutet, dass Mediennutzer in Rolle, Image oder vermuteter Person
hinter beidem etwas wahrnehmen, das sie als ihrer eigenen Lebens-
situation bzw. ihrem Selbstbild verwandt empfinden. Differenz meint,
dass hier in positiver (so würde ich auch gerne sein/so würde ich auch
gerne leben) oder negativer Hinsicht (so möchte ich nie werden/zum
Glück geht es mir nicht so) relevante Unterschiede gesehen werden.
Wesentliche Voraussetzung für diese Umgangsweisen ist, dass alle
Mediennutzer in ihrer Lebenswirklichkeit ebenfalls mit einer Trias
von Erwartungen umgehen müssen, die sich parallel zur Trias der
Aspekte von Medienfiguren verhält. Auch Mediennutzer sind erstens
gezwungen, sich in unterschiedlichen Kontexten, nämlich Beruf und
Familie, gemäß jeweils spezifischer Rollenerwartungen zu verhalten.
Zweitens haben sie ebenfalls ein Image, und zwar in ihrem persön-
lichen Umfeld, das sowohl im Rahmen verwandtschaftlicher Bezie-
hungen als auch im Freundes- und Bekanntenkreis gepflegt werden
muss. Drittens liegt ihnen auch an einem Eigenraum ganz privater
Vorlieben und Eigenheiten, die durchaus im Konflikt mit Rollener-
wartungen und Image stehen können.
Figurenkonzepte im Fernsehen
293
Fazit: Medienfiguren und Menschen
Der Blick hinter die Kulissen gewinnt seinen Reiz zunächst natürlich
durch die Vermutung, dass es hinter den Kulissen anders zugeht als
auf der Bühne. Medienfiguren, an deren Herstellung und Verbreitung
das Fernsehen heute in zentraler Rolle beteiligt ist, operieren auf
einer Bühne; zusätzlich bieten Medien Blicke hinter die Bühne, wo-
bei es sich tatsächlich nur um eine weitere Bühne handelt, jenseits der
eine unzugängliche Hinter-Hinter-Bühne liegt. Zu erfahren, was jen-
seits allgemein zugänglichen Wissens liegt, hat natürlich einen Reiz
an sich, da es Privilegierung verheißt.
Dieses Spannungsverhältnis, das bei Medienfiguren das Span-
nungsverhältnis von Rolle, Image und Person umfasst, hat zudem
heute besonderes Gewicht. Erstens dadurch, dass wir in einer Medi-
engesellschaft leben, also Medien eine große ökonomische, gesell-
schaftliche und kulturelle Rolle spielen. Wenn Medien wichtig sind,
und Medienfiguren in Medien, dann repräsentieren Medienfiguren
einen wichtigen Aspekt heutiger Realität ihre Konstitution, ihre
inhärenten Konfliktlagen sind per se interessant. Medienfiguren re-
präsentieren Erfolg, und Erfolg ist in aller Regel mit Medienprä-
senz verbunden. Zweitens erfordert allgemeine gesellschaftliche Rea-
lität, völlig unabhängig von Medien und Medialisierung, von allen
Gesellschaftsmitgliedern (die gleichzeitig auch Mediennutzer sind),
dass sie sich in erheblichem Maße analog zu Medienfiguren verhal-
ten. Wir alle sind zum einen mehr oder weniger aufgerufen,
Rolle(n) und Ich zu separieren. Immer mehr Menschen erleben, dass
sich ihre zentrale Rolle, ihre Rolle im Berufsleben, von allem anderen
löst wo vonHumankapital undIch-AGs die Rede ist, geht es
nicht mehr um Menschen. Alles Weitere bleibt Privatsache. Zum
anderen verlangt die Durchsetzung im Berufsleben immer häufiger
einen besonderen Charaktertyp, den (nach Erich Fromm) »Marketing-
Charakter«. Er
»[…] ist Experte einer immateriellen Ökonomie, die da-
rauf abzielt, äußere Eindrücke, innere Stimmungen und die
Zuschreibung positiver Eigenschaften zu erzeugen. Er er-
lebt seine Persönlichkeit als Ware und sich selbst als sein
eigener Verkäufer« (Neckel 2001, 259).
Gerd Hallenberger
294
Die Kompetenzen, die erforderlich sind, um mit dieser Trennung von
Lebensaspekten und dem Zwang zum Selbst-Marketing umzugehen,
werden nicht nur in verschiedenen Medienangeboten, vor allem den
Casting-Shows des Fernsehens, eingeübt (vgl. Thomas 2005), son-
dern auch außerhalb der Medien unter Verweis auf Medienangebote
abgerufen. Wenn eine bundesweit bekannte Discounter-Kette den
›Super-Azubi sucht, weiß man, dass die Medienfigur als Persönlich-
keitskonzept gesellschaftliche Normalität geworden ist.
Literatur
Früh, Werner (2003): Triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU). In:
Früh, Werner; Stiehler, Hans-Jörg (Hg.): Theorie der Unterhaltung. Ein inter-
disziplinärer Diskurs. Köln, S. 27-56.
Horton, Donald; Wohl, R. Richard (1956): Mass communication and para-social
interaction. Observations on intimacy at a distance. In: Psychiatry 19/3, S.
215-229.
Hügel, Hans-Otto (Hg.) (2003): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien
und Diskussionen. Stuttgart/Weimar.
Mikos, Lothar (2008): Trauer, Wut und Leidenschaft. Empathie bei Film und
Fernsehen. In: tv diskurs 12/1, S. 19-23.
Neckel, Sighard (2001): „‚Leistungund Erfolg. Die symbolische Ordnung der
Marktgesellschaft. In: Barlösius, Eva; Müller, Hans-Peter; Sigmund, Steffen
(Hg.): Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in
Deutschland. Opladen, S. 245-265.
Strobel, Ricarda; Faulstich Werner (unter Mitarbeit von Uwe Breitenborn)
(1998): Die deutschen Fernsehstars. Band 1: Stars der ersten Stunde.
Göttingen.
Thomas, Tanja (2005): „‚An deiner Persönlichkeit musst du noch ein bisschen
arbeiten‘ Plädoyerr eine gesellschaftskritische Analyse medialer Unterhal-
tungsangebote. In: tv diskurs 9/4, S. 38-43.
295
Jens Eder
Figuren in der Werbung
Der Beitrag gibt einen Überblick über Entwicklung, Merkmale und
Typen von Werbefiguren. Der Schlüssel zu deren Verständnis liegt in
der Art, wie sie ihre persuasive Funktion erfüllen: durch Symbolisie-
rung von Produkteigenschaften, durch Handlungsrollen in produktbe-
zogenen Szenarien, durch Aufmerksamkeitssteigerung, Emotionali-
sierung und Interaktivität. Auf dieser Basis werden drei Grundtypen
von Figuren unterschieden: Marken-Icons, Produkt-Akteure und
Branded Entertainers. Im Nachvollzug der historischen Entwicklung
zeigt sich, wie Werbefiguren sich über sämtliche Medien verbreitet
und von einfachen Formen zu einer immensen Vielfalt entwickelt
haben. In struktureller Hinsicht schlage ich vor, Werbefiguren als
Symptome, Symbole, fiktive Wesen und Artefakte zu betrachten. Als
Symptome ermöglichen sie Rückschlüsse auf soziokulturelle Zeit-
kontexte. Als Symbole verdichten sie persuasive Bedeutungen. Als
fiktive Wesen erfüllen sie produktbezogene Handlungsrollen in
Werbe-Szenarien, wobei sich ihre Merkmale an Wertvorstellungen
der Zielgruppe orientieren: Sie können Leitbilder, Begehrensobjekte,
imaginäre Freunde, Stellvertreter oder negative Gegenbilder sein. Die
Verknüpfung mit Werten folgt nicht nur sozialen Stereotypen, son-
dern beeinflusst diese auch. Als Artefakte zeichnen sich Werbefiguren
durch eine Ästhetik der Prägnanz aus, bei der sich die Grenzen zwi-
schen Figur und Produkt häufig auflösen: Waren werden verleben-
digt, Figuren warenförmig.
Jens Eder
296
Werbefiguren: Vielfältige Formen, einheitlicher Zweck
Werbefiguren gehören zu den einflussreichsten Gestalten unserer
Medienwelt. Ob wir nun fernsehen, online sind, Zeitung lesen oder
auf den Bus warten: Sie begegnen uns überall. In ihre Entwicklung
werden hohe Summen investiert, und einige von ihnen prägen sich so
dauerhaft ins kollektive Gedächtnis ein wie der Marlboro-Cowboy
oder die Milka-Kuh. Dennoch gibt es bisher kaum systematische
Auseinandersetzungen mit ihren Strukturen und Wirkungsweisen.1
Dieser Kurzüberblick soll helfen, sie besser zu verstehen.
Werbefiguren treten in diversen Medien und Formen auf, doch ei-
nes haben sie gemeinsam: Werbung ist persuasive Kommunikation,
sie zielt darauf, bei ihren Adressaten positive Einstellungen und Ver-
haltensweisen hinsichtlich bestimmter Waren oder Ideen hervorzuru-
fen.2 Werbefiguren tragen dazu bei, diese Ziele zu erreichen. Darin
besteht ihre grundlegende Funktion, die letztlich ihre Gestaltungswei-
sen bestimmt. Meister Proper erscheint in Fernsehspots und Websi-
tes, auf Verpackungen, Postern und T-Shirts. In den USA trägt er den
Namen Mr. Clean, in England heißt er Flash, in Spanien Don Limpio.
Doch stets dient er dem Zweck, den Verkauf der Putzmittel von
Procter & Gamble zu fördern.
Abb. 1: Logo von Mr. Clean / Meister Propper (2005).
1 Die vorliegenden Monographien sind populärer Art (z.B. Hars 2000) oder beschränken
sich auf Einzelaspekte (z.B. Mosbach 1999). Allgemeinere Ansätze finden sich nur in
wenigen Aufsätzen (z.B. Callcott/Lee 1995) oder Buchkapiteln (z.B. in Willems/Kautt
2003).
2 Vgl. die Definitionen von Mattenklott (2004, 620) und von Keitz (2002, 1821).
Figuren in der Werbung
297
Schon einzelne Werbefiguren treten also unterschiedlich auf, und
insgesamt gesehen ist ihre Formenvielfalt immens. Daher ist es sinn-
voll, eine funktionalistische Perspektive einzunehmen und zu fragen,
auf welche verschiedenen Weisen sie ihre Werbefunktion erfüllen
und welche Strukturtypen sich dadurch ausprägen. Um dies zu be-
antworten, betrachte ich einige prototypische Beispiele, skizziere
dann die historische Entwicklung von Werbefiguren und gehe
schließlich auf ihre systematischen Grundstrukturen ein. Im Mittel-
punkt stehen dabei die Figuren der kommerziellen Werbung in den
Massenmedien; viele Ergebnisse lassen sich auf andere Bereiche wie
das Eventmarketing oder die politische Werbung übertragen.
Der Prototyp: Marken-Icons
In den Jahren 2005 und 2006 bemühten sich zwei wirtschaftsnahe
Einrichtungen darum, die erfolgreichsten Werbefiguren der USA
bzw. Deutschlands zu ermitteln. Die Zeitschrift Advertising Age
stellte folgende »Top Ten Advertising Icons of the Century« zusam-
men (2005): The Marlboro Man, Ronald MacDonald, The Green
Giant, Betty Crocker, The Energizer Bunny, The Pillsbury Doughboy,
Aunt Jemima, Bibendum (der Michelin-Mann), Tony the Tiger sowie
die Kuh Elsie. Etwas später ließ das Frankfurter Werbemuseum on-
line über »Deutschlands beliebteste Werbefiguren« abstimmen (vgl.
Grünewald 2006). Dazu gehörten der Bärenmarke-Bär, die Mainzel-
männchen, der Charmin-Bär, das HB-Männchen Bruno, die Milka-
Kuh, Meister Proper, der Michelin-Mann, der Salamander Lurchi, die
Jägermeister-Hirsche und der Playboy-Bunny.
Abb. 2: Auswahl bekannter Werbe-Icons aus einer Umfrage des
Deutschen Werbemuseums in Frankfurt a.M.
Jens Eder
298
Obwohl die Rankings wissenschaftlichen Standards nicht entspre-
chen, sind sie wegen des Bekanntheitsgrades ihrer Top Ten auf-
schlussreich. Zunächst lassen sie kulturelle Differenzen und Verbin-
dungen erkennen: Zwar wurden einige deutsche Favoriten wie der
Charmin-Bär in den USA entwickelt, doch die meisten Figuren sind
lediglich in einem der Länder bekannt. Trotzdem sind den Rankings
wichtige Aspekte gemeinsam. Ausnahmslos führen sie etablierte,
leicht wiedererkennbare Markenfiguren auf, die in der Regel einen
hohen Symbolgehalt und Übereinstimmungen mit dem Logo ihrer
Marke aufweisen. Dabei enthalten beide Listen auffällig wenige ge-
nuin menschliche Figuren, sondern überwiegend vermenschlichte
Tiere oder Fantasiegestalten. Die Mehrzahl der Figuren wirbt für Fast
Moving Consumer Goods, für Nahrungs- und Genussmittel, während
die drei werbeintensivsten Branchen Auto, Handel, Medien kaum
vertreten sind. Überraschend ist auch das Alter der Figuren: Die mei-
sten wurden vor Jahrzehnten erfunden, einige wie Bibendum sogar
vor über einem Jahrhundert. Ihre intermediale Verbreitung, nicht
zuletzt im Internet, scheint sie lebendig zu halten.
Abb. 3: Figuren aus der Jägermeister-Werbung: Logo-Hirsch (1935),
Zeitungsanzeige »Ich trinke Jägermeister, weil…« (1970er-Jahre), Kam-
pagne »KeinJägermeister« (2008).
Die beiden Rankings lassen einen kulturübergreifenden Prototyp der
Werbefigur erkennen: das einprägsame, langlebige, symbolhaltige
Marken-Icon mit nostalgischen Zügen und intermedialer Verbreitung.
Wenn von Werbefiguren die Rede ist, denkt man oft an diesen Pro-
totypen. Doch die meisten Figuren weichen von ihm ab, wie das Bei-
spiel der Jägermeister-Reklame zeigt. Das schlichte Logo auf den
Likörflaschen und in der Printwerbung zeigt den Hubertus-Hirsch als
heimattümelndes Symboltier ohne menschliche Eigenschaften. Im
Mittelpunkt der Fernsehspots stehen dagegen zwei computeranimierte
Figuren in der Werbung
299
Hirschköpfe namens Rudi und Ralph, die von der Kneipenwand die
Aktionen berauschter Gäste kommentieren. In anderen Kampagnen
tauchen weitere Figuren auf: »Ich trinke Jägermeister, weil...« ver-
kündeten diverse Originale in Zeitungsanzeigen der 1970er-Jahre.
Und im Jahr 2008 warb eine Kampagne für den fiktiven Likör Kein
Jägermeister, der in den Spots von karikierten Spießern konsumiert
wurde (als Gegenentwurf zur Zielgruppe).
All diese Jägermeister-Figuren Hubertus-Hirsch, Rudi & Ralph,
Kneipengäste, Ich trinke-Originale und Spießer-Stereotypen haben
kaum etwas gemeinsam. Wenn man über einzelne Marken hinaus-
geht, zeigt sich in noch stärkerem Maße, wie vielfältig die Formen
von Werbefiguren sind. Sie hängen von den beworbenen Waren und
von den Medien, Zielgruppen, Strategien, Produktions- und Distribu-
tionsweisen der Werbung ab und damit auch von deren ökonomi-
schen und kulturellen Kontexten. Ein Blick auf die historische Ent-
wicklung macht das deutlich.
Eine kurze Geschichte der Werbefiguren
Wenn man die Geschichte der Werbefigur stark vereinfacht, kann
man vier Phasen unterscheiden.3 Die erste reicht von der Antike bis
zum 18. Jahrhundert. In dieser Zeit waren die Märkte lokal und boten
nur eine geringe Warenauswahl. Als Werbeträger dienten Ausrufer,
Bilder und Geschäftsschilder. Im Mittelalter kamen Drucke hinzu, in
der frühen Neuzeit Intelligenzblätter für ein gebildetes Publikum.
Werbung konzentrierte sich auf sprachliche Produktinformationen,
ihre Vervielfältigung war umständlich.
Abb. 4: Bacchus-Hauszeichen von Auerbachs Hof (1530).
3 Eine fundierte Geschichte der Werbefigur liegt bisher nicht vor; Ansätze finden sich in
Beiträgen zu Kellner/Lippert 1992. Zur Historiographie der Werbung insgesamt vgl.
Käseborn/Siekerkötter/Fehn 1993.
Jens Eder
300
Daher gab es in dieser Phase nur wenige, schlichte Werbefiguren,
etwa auf Geschäftsschildern. Eine typische Figur dieser Zeit ist die
gemalte Gans auf dem Schild eines Wirtshauses Zur Goldenen Gans.
Während der zweiten Phase, die das 19. Jahrhundert umfasst,
begannen Zahl und Ausgestaltung der Werbefiguren sich rapide zu
entwickeln. Mit dem Bevölkerungswachstum, dem Aufstieg des Bür-
gertums, der industriellen Massenproduktion und der steigenden Mo-
bilität vergrößerte sich das Warenangebot. Die lokalen Nachfrage-
märkte wichen internationalen Angebotsmärkten. Beflügelt durch
technische Erfindungen und steigende Bildungsniveaus begann die
massenhafte Verbreitung von Zeitungsanzeigen und Plakaten. Eine
Weile herrschte noch informierende, sprachdominierte Reklame vor,
doch zur Jahrhundertmitte begann die Werbung sich zu professionali-
sieren. Die ersten Agenturen wurden gegründet, die ersten Marken
entwickelt. Mit ihnen entstanden Logos und Markensymbole, oft in
Form von Figuren, die auf Verpackungen und Anzeigen wiederkehr-
ten. Eine der ersten war beispielsweise der schwarzweißrot gekleidete
Gentleman als Zeichen des Whiskys Johnny Walker (1820).
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten sich, durch zwei
Weltkriege unterbrochen, die Ausweitung der Märkte und die Einfüh-
rung neuer Produkte fort. Die Professionalisierung der Werbung
wurde wissenschaftlich vorangetrieben. Vor allem aber veränderten
sich deren Medien und Strategien so stark, dass von einer dritten
Phase gesprochen werden kann: Nach Schaufenster-Figuren verbrei-
teten sich Kundengeschenke in Form kleiner Figurinen wie dem
Sarotti-Mohr.4 Die Printmedien wurden durch Techniken wie den
Offsetdruck revolutioniert. Nach der Fotografie etablierte sich der
Film als Werbeträger, in dem etwa die Trickfiguren von Hans
Fischerkoesen ihr Unwesen trieben (vgl. Agde 1998). Bald kam der
Hörfunk hinzu. Im Zuge dieser Entwicklungen stieg nicht nur die
Zahl der Werbefiguren, sie veränderten sich auch, wurden durch dy-
namische Klänge und Bilder vermittelt; lernten, sich zu bewegen und
zu sprechen.
Die vierte Phase reicht von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
bis in die Gegenwart. Ab den 1950er-Jahren entwickelte sich in den
kapitalistischen Staaten eine Überfluss- und Erlebnisgesellschaft.
Selbstbedienungsläden schossen aus dem Boden, die Kunden suchten
in der wachsenden Menge konkurrierender Produkte nach Orientie-
rung. Auf die Sättigung der Märkte folgte deren Polarisierung und
4 Über tausend solcher Figurinen werden auf www.werbefiguren-museum.de vorgestellt.
Figuren in der Werbung
301
Segmentierung in Zielgruppen. Innerhalb des Systems der Werbeträ-
ger eroberten sich in den 1960er-Jahren das Fernsehen und um die
Jahrtausendwende das Internet zentrale Plätze. Die Einführung des
kommerziellen Fernsehens und die Vervielfachung der Programme
erhitzten den Kampf um die Aufmerksamkeit, der heute mit allen
Mitteln der Marktforschung, der Demo- und Psychographie, des Ni-
schen- und Neuromarketing geführt wird. Die Figuren des Stumm-
films sind den bunten, audiovisuellen Gestalten des Farbfilms, des
Fernsehens und der Videocasts gewichen, im Internet verbreiten sich
interaktive Gestalten.
Die Mediaplanung setzt zunehmend auf strategische Medienkom-
binationen in ausgeklügelten Kampagnen und damit auf intermedial
präsente Figuren. Ein aktueller Trend geht zu unterhaltenden Werbe-
formen, die ihren Bezug zu Waren und Marken nur unterschwellig
oder nachträglich herstellen. Branded Entertainment soll vorwiegend
als Unterhaltungsangebot wahrgenommen, zugleich aber positiv mit
einer Marke assoziiert werden. Viral marketing erzeugt ansteckende
Mundpropaganda in sozialen Netzwerken: Über das Internet oder
Offline-Kanäle werden unterhaltsame Inhalte gestreut, etwa das
Moorhuhn-Jagdspiel von Johnny Walker oder die mysteriöse Ge-
schichte des Blair Witch Project. Solche Angebote sind häufig nicht
sofort als Werbung zu erkennen und sollen sich durch freiwilliges
Weiterleiten virenartig verbreiten. Figuren spielen dabei eine zentrale
Rolle, weil sie für den Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert
sorgen.
Im Jahr 2007 erhielt beispielsweise die Comedy-Kampagne Horst
Schlämmer macht Führerschein! zahlreiche Werbepreise.
5 Der jo-
viale Provinzreporter Schlämmer, eine Kunstfigur des Starkomikers
Hape Kerkeling, war bereits vorher wohlbekannt, spätestens seit sei-
nem Auftritt in der Fernsehshow Wer wird Millionär? (2006). Im
folgenden Jahr berichtete Schlämmer in einem Internet-Videoblog
über seine Führerschein-Erfahrungen: Die Videoclips zeigen unter
anderem, wie er das Fahren im VW Golf lernt, eine VW-Niederlassung
besucht und zudringlich mit der Verkäuferin flirtet. Die Clips kur-
sierten bald auf YouTube und anderen Foren; Zeitungen und Fernseh-
sender berichteten ausführlich. Innerhalb von zwei Monaten wurden
die Videos 4,7 Millionen Mal herunter geladen; Schlämmer besetzte
den ersten Platz der deutschen Podcast-Charts, den zweiten der
Blogs. Erst nachträglich offenbarte sich VW als ›Sponsor der Kam-
5 Vgl. DDB 2008; medienhandbuch 2007; Canneslions 2007.
Jens Eder
302
pagne. Der erfolgreiche Werbefeldzug hatte eine Fortsetzung. Bald
war Schlämmer wieder auf YouTube zu sehen: In einem Musikclip
umschmeichelte er die mollige Gisela, die ebenfalls von Kerkeling
gespielt wurde und kurz danach als Werbefigurr Krüger-Kaffee
auftrat.
Abb. 5: Poster zum Kinofilm Horst Schlämmer Isch kandidiere! im
Wahljahr 2009.
Das Beispiel macht deutlich, dass Werbefiguren nicht sofort als sol-
che erkennbar sein müssen. Eingeführte Entertainment-Charaktere
wie Schlämmer werden in crossmedialen Werbekampagnen einge-
setzt, manchmal für mehrere Marken zugleich. Hinter einer Figur
kann der Star sichtbar bleiben: Wo immer er auftritt, nutzt es der
Kampagne. Was als interaktiver Spaß im Internet beginnt, schlägt
Wellen in den klassischen Werbeträgern. Beispiele für ähnliche Ver-
fahren sind der fiktive Stuntman Ron Hammer (Hornbach) oder die
von Olli Dittrich gespielten Media Markt-Kunden.
Allgemeine Strukturen von Werbefiguren
Die Geschichte der Werbefiguren verläuft also von einfachen Rekla-
meschildern über Figurinen und gedruckte Markensymbole bis hin zu
audiovisuellen Gestalten in Film, Fernsehen und Internet. Sie verläuft
von schriftsprachlichen Produktinformationen über mehrkanalige
Verfahren der Emotionalisierung bis zum interaktiven viral marke-
ting. Anzahl, Reichweite und intermediale Vernetzung der Werbefi-
guren haben im Verlauf dieser Entwicklung stark zugenommen. Die
Ausdifferenzierung von Produkten, Marken, Medien, Zielgruppen
Figuren in der Werbung
303
und Werbestrategien hat zu einer ungeheuren Formenvielfalt geführt.
Das wirft die grundsätzliche Frage auf, was wir in der Werbung über-
haupt als Figur bezeichnen. Drei Merkmale sind hier wesentlich6:
1. Wir unterstellen Figuren im Gegensatz zu unbelebten Objekten
die Fähigkeit zu Gedanken, Gefühlen und Motiven. Dieses In-
nenleben kann mehr oder weniger ausführlich dargestellt sein;
manchmal wird es nur schematisch assoziiert, etwa bei Tierfigu-
ren oder abstrakten Logos wie dem Playboy-Bunny.
2. Figuren sind bloß erfunden. Dadurch heben sie sich von realen
Werbe-Akteuren ab, etwa Prominenten wie Franz Beckenbauer
(Adidas, O2 u.a.). Die Grenzen zwischen Werbung, Fiktion und
Information sind fließend, und es gibt Zwischenphänomene. So
können historische Personen durch die Darstellung fiktionalisiert
werden, etwa wenn Karl Marx, Fidel Castro und Che Guevara in
einem Spot die Erschwinglichkeit von Dacia-Autos loben.
3. Figuren sind individuell wiedererkennbar, im Gegensatz zu den
austauschbaren Statisten einer Masse. Häufig tauchen in der
Werbung auswechselbare Typen statt wiedererkennbare Indivi-
duen auf: Bei namenlosen Gruppenfiguren wie der Beck’s-Segel-
crew ist ein Erkennen Einzelner höchstens durch die Wiederho-
lung der Spots möglich. In noch stärkerem Maße gilt dies für
Stimmen ohne Körper, Körper ohne Stimme oder bloße Körper-
Fragmente: laszive Blicke, zärtliche Hände.
Je schwächer Innenleben, Wiedererkennbarkeit und fiktionale Eigen-
ständigkeit einer Gestalt ausgeprägt sind, desto mehr entfernt sie sich
vom Kern des Figurenbegriffs.7 Unbelebte Objekte, auswechselbare
Typen, reale Medienakteure und Körperfragmente sind daher von
Werbefiguren im engeren Sinne zu unterscheiden. Zur Etablierung
markanter Figuren sind Medien wie Comic, Film, Fernsehen oder
Internet am besten geeignet, da sie ausführlichere narrative Darstel-
lungen von Handlungen und inneren Vorgängen ermöglichen.
Schlämmer oder Lurchi werden durch ihre Abenteuer deutlicher cha-
rakterisiert als der germeister-Hirsch im Logo-Druck. Plakate und
Zeitschriften-Anzeigen müssen mit einem Blick erfasst werden, des-
halb enthalten sie oft nur Texte, Grafiken, Produktabbildungen, Kör-
6 Vgl. ausführlicher Eder 2008a.
7 Im Englischen spricht man deshalb nicht nur von Charakteren der Werbung (›trade
characters‹), sondern auch von ›advertising icons‹, ›models‹, ›spokespersons‹ oder ›testi-
monials‹.
Jens Eder
304
perfragmente, austauschbare Modelle oder auch bereits bekannte
Figuren.8 Stimmen in Radiospots sind in der Regel ebenfalls zu infor-
mationsarm, um wiedererkennbare Figuren entstehen zu lassen.
Doch selbst wenn der Anteil der Werbung mit einprägsamen Cha-
rakteren relativ gering sein mag, schwemmt die Flut der Reklame
insgesamt gesehen eine unüberschaubare Menge erfundener Wesen
an den Strand unseres Bewusstseins. Einen systematischen Überblick
über ihre Artenvielfalt kann man gewinnen, indem man sich an einem
Modell der Figurenanalyse orientiert, das ich an anderer Stelle ent-
wickelt habe (Eder 2008). Diesem Modell zufolge können Figuren
unter vier Aspekten untersucht werden: Als Artefakte sind sie durch
medienspezifische Mittel gestaltet. Als fiktive Wesen zeichnen sie
sich durch körperliche, psychische und soziale Eigenschaften aus. Als
Symbole vermitteln sie darüber hinausgehende Themen und Bedeu-
tungen. Als Symptome verweisen sie schließlich auf soziokulturelle
Ursachen (ihrer Produktion) und Wirkungen (ihrer Rezeption). Wenn
man erkennen will, welche Merkmale Werbefiguren in diesen vier
Hinsichten auszeichnen, ist es sinnvoll, bei ihrem symptomatischen
Kern anzusetzen: bei ihrer Funktion, zu werben. Daraus leiten sich
ihre zentralen Eigenschaften als Symbole, fiktive Wesen und Arte-
fakte ab.
Werbefiguren als Symptome: Funktionen und
Wirkungen
Werbefiguren können als Symptome in weitem Sinn betrachtet wer-
den: Als Elemente der Produktion und Rezeption von Werbung er-
möglichen sie Rückschlüsse auf beides. Von den Charakteren der
Kunst- oder Unterhaltungsproduktion unterscheiden sich die Figuren
der kommerziellen Werbung dabei durch eine zentrale Funktion: Sie
sollen zum Verkauf von Waren und Dienstleistungen beitragen. Diese
Grundfunktion bestimmt ihre Gestaltung und hat dadurch weitere,
teils unbeabsichtigte Konsequenzen.9
8 Ein Beispiel: Im Spiegel 37/2008 finden sich 19 Anzeigen mit Produkten, zwölf mit aus-
tauschbaren Modellen, zehn mit Texten oder Symbolen, acht mit realen Personen. Die
beiden einzigen Figuren im engeren Sinn sind Protagonisten beworbener Fernsehfilme.
9 Zur Werbewirkung vgl. z.B. Felser 2001; Florack/Scarabis 2002; zur Kritik ihrer Folgen
z.B. Haug 1971; Jhally 1990; Buschmann 2005.
Figuren in der Werbung
305
Werbefiguren beeinflussen Welt- und Menschenbilder, Werte und
Normen, Lebensstile und Emotionsstrukturen. Sie tragen dazu bei,
dass die Identitätsbildung in unserer Konsumgesellschaft aufs Engste
mit der Entscheidung für Waren verknüpft ist: Ich bin, was ich kaufe.
Der enge Bezug zwischen Waren und alltagspraktischem Handeln
lädt dazu ein: Ich kann mir ein Shampoo in der Hoffnung kaufen,
genauso schöne Haare zu bekommen wie die Figur. In dieser Weise
werden Werbefiguren zur sozialen Orientierung, Kompensation,
Selbstbestätigung und Abgrenzung verwendet (vgl. Wilk 2002, 112-
132), nehmen Einfluss auf Welt- und Menschenbilder. Dieser Ein-
fluss ist nicht selten ambivalenter oder sogar negativer Art: Aus Sicht
vieler Kritiker beanspruchen die Figuren der Werbung nicht nur
Aufmerksamkeit und Zeit, verunstalten die Umwelt, stumpfen ab und
lenken vom Wesentlichen ab. Darüber hinaus diskriminieren manche
von ihnen soziale Gruppen und fördern die Verbreitung von proble-
matischen Vorbildern und Werten, von Konsumismus, Narzissmus,
Stereotypen, Vorurteilen, krank machenden Körperidealen. Eine ver-
antwortungsbewusste Gestaltung der Figuren böte die Chance, einige
dieser negativen Effekte zu vermeiden und positive zu verstärken.
Kritische Konsumenten können propagierte Lifestyles und Stereotype
hinterfragen. Sie können diskriminierende Werbung vermeiden und
das Beworbene bewusst nicht kaufen. Werbeagenturen und ihre Kun-
den wiederum können von vornherein versuchen, negative Folgen
gering zu halten oder ihre Figuren sogar als Instrumente der Aufklä-
rung einzusetzen.
Dazu ist es erforderlich, die Gestaltungsprinzipien von Werbefigu-
ren zu verstehen. Deren Werbe-Funktion Aufmerksamkeit auf Pro-
dukte oder Marken lenken, sie ins Gedächtnis einprägen und mit
positiven Einstellungen zu verknüpfen kann durch diverse Strate-
gien erfüllt werden. Es lassen sich mindestens fünf typische Werbe-
strategien erkennen, in denen Figuren jeweils unterschiedliche Auf-
gaben erfüllen10:
1. Häufig sind Figuren in Verfahren der Symbolisierung von Pro-
dukt- oder Markeneigenschaften eingebunden. Die Werbung
nutzt die ganze Bandbreite emotionalisierender Symbole, Meta-
phern und Assoziationen, um Produktvorzüge auf anschauliche
Weise zu vermitteln: Naturlandschaften suggerieren die Reinheit
10 Die Typologie wurde angeregt durch die Arbeiten von Mosbach 1999, 56-68; Gerdes
2007; Wilk 2002, 112-132; Mattenklott 2004, 631; von Keitz 2002.
Jens Eder
306
von Bier; schnelle Schnitte lassen Autos dynamisch erscheinen.
Manche Figuren spielen kleine Rollen in symbolischen Ge-
schichten, andere sind selbst zentrale Symbole für Produkte und
deren vorgebliche Eigenschaften. Icons wie Meister Proper sol-
len auf diesem Weg das Image einer Marke stärken, Gefühle an
sie binden und sie über Logos oder Claims mit Produkten ver-
knüpfen.
2. Bei der Strategie der Produktempfehlung dienen Figuren dagegen
in erster Linie als Akteure, die (Marken-)Produkte und deren
Vorzüge vorführen. Ein Beispiel dafür ist Klementine: »Ariel
wäscht nicht nur sauber, sondern rein«. Das Lob des Produktes
kann dabei auf verschiedene Weise erfolgen: durch sachliche In-
formation, anschauliche Demonstration, den Vergleich mit Kon-
kurrenzprodukten oder die Suggestion, dass es Probleme löst und
angenehme Gefühle hervorruft.
3. Solche Produktempfehlungen werden nicht selten mit Strategien
der Leitbildwerbung verknüpft. Diese wertet das Produkt über
seine konkrete Nutzanwendung hinaus auf, indem sie attraktive
Vorbild-Figuren mit ihm in Verbindung bringt: Reiche, Schöne,
Coole; Repräsentanten positiv bewerteter Lebensstile und hoher
Statuspositionen. Auf diese Weise kann das Produkt soziale Auf-
stiegsphantasien auslösen, Werte bestätigen, das Selbstwertgefühl
steigern oder zum Identitätsbaustein werden.
4. Im Fall des Branded Entertainment tritt das Produkt dagegen
weitgehend in den Hintergrund. Unterhaltsamkeit, Ästhetik oder
Originalität der Werbung selbst sollen Aufmerksamkeit und po-
sitive Gefühle auf die Marke übertragen, etwa mittels Humor,
Schock oder Sozialkritik. Wenn Konsumenten dem Markenpro-
dukt begegnen, sollen sie sich an ihre Wertschätzung für die
Werbung erinnern. Figuren sind in dieser Strategie äußerst flexi-
bel gestaltbar, solange sie nur zu positiven Marken-Assoziationen
beitragen: Zwischen Horst Schlämmer und den Aidskranken auf
Benetton-Fotos gibt es kaum Ähnlichkeiten.
Alle vier genannten Strategien lassen sich mit Formen der Interaktion
verbinden. Werbebotschaften, Waren und Markennamen prägen sich
besser ein, wenn sie in Handlungen der Adressaten eingebunden wer-
den, beispielsweise durch Spiele oder Mundpropaganda. Figuren
dienen dabei als virtuelle Interaktionspartner, die als Testimonials
über das Produkt ausgefragt oder als Moorhühner abgeschossen wer-
den können.
Figuren in der Werbung
307
Schon die vorläufige Zusammenstellung macht deutlich, auf welch
unterschiedliche Weise Figuren ihre Grundfunktion der Verkaufsför-
derung erfüllen: Sie dienen als Konsumenten-Stellvertreter, Produ-
zenten-Sprachrohre, Markenlogos, Leitbilder, Symbole, ästhetische
Reizkonstellationen oder virtuelle Interaktionspartner. In Szenarien
der Produktempfehlung und Unterhaltung spielen sie mannigfaltige
Rollen. Sie sollen sensorische Belohnung, soziale Anerkennung oder
intellektuelle Stimulation vermitteln und stehen oft in enger Bezie-
hung zu den Identitäten und Interessen, Wünschen und Ängsten ihrer
Zielgruppe. Daher verraten sie viel über die Kultur, innerhalb derer
sie entstanden sind.
Alle fünf skizzierten Werbestrategien können miteinander kombi-
niert werden; häufig steht jedoch eine Strategie im Vordergrund und
entscheidet über die Gestaltung der Figuren als Symbole, fiktive We-
sen und Artefakte. Dabei sind die Figuren interaktiver Werbeformen
und des Branded Entertainment derart variabel, dass sich über sie
keine allgemeine Aussage treffen lässt. In anderen Fällen richtet sich
die Gestaltung der Figuren dagegen in erster Linie nach ihrer Funk-
tion als Symbole (chster Abschnitt) bzw. als produktbezogene Ak-
teure oder Leitbilder (spätere Abschnitte).
Werbefiguren als Symbole: Assoziative Verdichtung und
indirekte Bedeutungen
Da Werbung kurz und auffällig sein soll, spielen verdichtende Ver-
fahren der Symbolisierung, Assoziation, Metaphorik, Allegorie oder
Personifikation bei der Figurengestaltung eine wichtigere Rolle als
etwa im Spielfilm. Zudem ist die Symbolik von Werbefiguren durch
ihren funktionalen Bezug zu Waren bestimmt: Abstrakte oder über-
komplexe Bedeutungen werden zu konkreten, einprägsamen Wesen
verlebendigt, häufig sind dies Phantasiekreaturen oder Tiere, die mit
den Logos und Claims einer Marke verbunden sind.
Symbolische Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur
als erfundene Wesen mit körperlichen, mentalen und sozialen Merk-
malen präsent sind, sondern darüber hinaus r verschiedene weitere
Dinge stehen. Inhaltsarme Logo-Figuren wie der Jägermeister-Hirsch
verstärken in erster Linie die Präsenz ihrer Marke, oft in statischer
(Print-)Form. Andere Icons vermitteln darüber hinaus den Kern einer
Werbebotschaft (vgl. Kroeber-Riel 1992). So soll der Marlboro-
Jens Eder
308
Cowboy Träume vom Einklang mit der Natur und mit dem eigenen
Leben auslösen, soll Vorstellungen von Männlichkeit, Energie und
Freiheit auf den Zigarettenkonsum übertragen. Die Figur ist in sol-
chen Fällen zugleich Markensignal, produktbezogener Akteur und
Leitbild der Zielgruppe. Häufig personifizieren Figuren Produkte und
deren Eigenschaften; die M&Ms sind wandelnde Schokobonbons,
»kleine Preise« werden zu piepsenden Ziffern mit Kulleraugen (Plus).
Die Figurensymbolik kann zudem auf Merkmale der Produzenten
oder Adressaten verweisen, etwa mittels tradierter Tier-Ikono-
graphien: Bauspar-Füchse stehen für Schlauheit (Schwäbisch Hall),
Wodka-Bären für Urwüchsigkeit (Puschkin: »Der Bär im Mann«).
Beim Symbolisierten kann es sich um Bedürfnisse handeln, die durch
das Beworbene befriedigt werden: Der »kleine Hunger kommt« als
Animationsmännchen (Müllermilch-Produkte). Seltener stehen Figu-
ren für etwas Negatives, von dem sich die Marke abgrenzen will.
Abb. 6: Die Gestaltung des Schwäbisch Hall Fuchses verändert sich im
Lauf der Jahre: 1975, 1978, 1983, 1991.
So repräsentieren die Puppen Schnick und Schnack, die in Hornbach-
Spots mit sadistischer Lust zerstört werden, gerade das, was es in
diesem Baumarkt angeblich nicht gibt. Die Symbolik von Figuren
kann schließlich primär von ihrer Rolle in Geschichten abhängen und
nur noch indirekt mit dem Beworbenen verbunden sein: Als melan-
cholischer Außenseiter personifiziert, fällt ›der Wind‹ durch Frisuren-
Zerzausen unangenehm auf, bis er im Antrieb von Windrädern seine
Bestimmung findet (Epuron). Benzinkanister singen den Blues, weil
Figuren in der Werbung
309
sie wegen des geringen Verbrauchs eines Autos nicht mehr benötigt
werden (Smart).
Die Beispiele zeigen, dass Werbefiguren als Symbole ganz Ver-
schiedenes repräsentieren können. Ihre diversen Symbolfunktionen
dienen zwar der übergeordneten Verkaufsfunktion, führen jedoch zu
unterschiedlichen Arten ihrer Gestaltung als fiktive Wesen und Arte-
fakte.
Werbefiguren als fiktive Wesen: Produktbezogene
Handlungsrollen
Neben ihrer Symbolik können Figuren auf viele andere Weisen stra-
tegisch eingesetzt werden, indem sie Aufmerksamkeit erregen, Pro-
dukte vorführen, Erzählung oder Interaktion ermöglichen, Wünsche
und Gefühle auslösen. Diesen Aufgaben sind ihre Erscheinungswei-
sen als fiktive Wesen jeweils angepasst. Das betrifft insbesondere ihre
Ausstattung mit bestimmten körperlichen, mentalen und sozialen
Eigenschaften. So werden an symbolischen Figuren in der Regel die-
jenigen äußeren Merkmale hervorgehoben, die metaphorisch oder
metonymisch für etwas anderes stehen: Ein »Schlausparer« hat ein
Haus als Kopf (Schwäbisch Hall), die Augen einer Marmeladen-Kon-
sumentin ähneln Erdbeeren (Zörbiger).
Abb. 7: Zörbiger-Plakat in Berlin 2009.
Bei anderen Werbefiguren steht dagegen ihr Handeln im Vorder-
grund. Als produktbezogene Akteure treten sie innerhalb eines be-
grenzten Spektrums von Szenarien auf,11 die sich in eine Abfolge von
11 Es kursieren diverse, meist unsystematische Einteilungsvorschläge. Am wertvollsten
waren für mich die Übersichten bei Mosbach (1999, 56-68 u.a.) und von Keitz (2002).
Jens Eder
310
der Entstehung bis zur Erfüllung eines Bedürfnisses bringen lassen.
Jedes Szenario ist mit bestimmten Handlungsrollen verbunden:
1. In Mangelsituationen verspüren Figuren Bedürfnisse, die durch
Produkte erfüllt werden könnten. Nicht selten werden ihre Pro-
bleme grotesk übertrieben: Einem jungen Mann schießt Schweiß
unter den Armen hervor, bis er ein Deodorant benutzt (Axe). An-
dere Figuren personifizieren als Antagonisten selbst ein Problem,
etwa als »kleiner Hunger« (Müllermilch), »innerer Schweine-
hund« (Yello Strom), als böse Kariesbakterien oder widerliche
Schmutzpartikel.
2. In Beratungssituationen sind die Figuren Unternehmensrepräsen-
tanten, Experten oder erfahrene Konsumenten, die das Produkt
zur Erfüllung des Bedürfnisses empfehlen und seine Vorzüge
hervorheben. Manchmal wenden sie sich dabei wie der Melitta-
Mann direkt an die Rezipienten, häufig beraten sie auch andere
Figuren, die als Stellvertreter der Konsumenten dienen. So ver-
körpert der »kleine Hunger« nicht nur das Problem seiner Ge-
sprächspartner, sondern schlägt ihnen zugleich dessen Lösung
vor. Berater-Figuren (Präsenter, Testimonials) erscheinen zudem
oft als Verkäufer, die sich um Kunden kümmern (Herr Kaiser,
OBI-Personal, Bankberater).
3. In Herstellungssituationen begegnen wir Erfindern, Unterneh-
mern oder Arbeitern (Jack Daniels-Whisky), die durch ihre Kom-
petenz, Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit das Produkt auf-
werten.
4. Sind die Figuren im Besitz des Produkts, demonstrieren sie in
Verwendungssituationen als zielgruppenkonforme oder ideale
Konsumenten seine Vorzüge. Dabei verkörpern sie oft einen Li-
festyle oder ein Milieu. Der Marlboro-Mann raucht genussvoll
nach dem harten Cowboy-Tag, die Segelcrew erfrischt sich mit
Beck’s Bier, der charmante Angelo nutzt Nescafé als Mittel der
Verführung, schöne Models tragen elegante Kleidung, Autofah-
rer können vor Spaß das Fahren nicht lassen. Manche Figuren
symbolisieren zusätzlich das Produkt, etwa als Helfer: Dank Mei-
ster Proper putzt die Hausfrau in rauschhafter Mühelosigkeit.
5. Andere Konsumenten werden nicht während des Produktge-
brauchs dargestellt, sondern genießen dessen positive Folgen:
seidig glänzendes Haar, jugendlich glatte Haut, Wohlstandszei-
chen oder Sozialstatus. Sie werden von anderen bewundert oder
Figuren in der Werbung
311
begehrt, nicht selten werden ihnen unterlegene Kontrastfiguren
gegenübergestellt.
Ein Großteil der Werbung zeigt produktbezogene Akteure, die in den
Figurenkonstellationen solcher Situationen typische Positionen ein-
nehmen12: Sie sind Protagonisten oder Antagonisten; Liebespartner
oder Rivalen, Ratsuchende oder Beratende. Viele Figuren fungieren
als Objekte der Begierde: Der nackte Körper der Robotfrau Blu
(Saturn) soll offenbar erotisches Begehren in das Begehren nach
technischen Produkten transformieren. Mit den Produkten und Ziel-
gruppen wechseln die Themen der Szenarien und die jeweils betonten
Eigenschaften ihrer Figuren. Hervorgehoben werden v.a. folgende
Merkmalsbereiche: Erotik (Kosmetik, Kleidung, Genussmittel),
Niedlichkeit (Kinderbedarf), Status (Luxusgüter), Natürlichkeit
(Wasser, Bier), Individualität (Kleidung), Fortschrittlichkeit (Tech-
nik), Gemeinschaftlichkeit (Telekommunikation), Hedonismus (Ge-
nussmittel) oder die Freiheit von Schmerz, Angst und Scham (Medi-
zin, Hygieneartikel, Putzmittel).13
Die Einzelszenarien werden häufig zu komplexeren Präsentations-
formen verknüpft, etwa durch die assoziative Reihung ähnlicher Si-
tuationen (z.B. des Genießens) oder durch den argumentierenden
Vergleich kontrastiver Szenarien (z.B. des Vorher-Nachher bei Diä-
ten). Am häufigsten sind kurze Erzählungen verschiedener Art,14
etwa der Weg vom Problem zu dessen Lösung: Jemand sucht eine
Beraterin auf (»Die Flecken gehen nicht raus«), erhält eine Empfeh-
lung des Produktes, verwendet es und genießt die Folgen (»porentief
reine Wäsche«). Die Problemlösung wirkt oft magisch und verbindet
die Belohnung durch das Produkt mit zusätzlichem Gewinn von
Liebe, Freundschaft, Überlegenheit usw.
12 Zu Figurenkonstellationen vgl. ausführlich Eder 2008, 464-520.
13 In die Liste sind Anregungen aus Butler 2007, 374-388 und Dyer 2002 eingeflossen.
14 Vgl. dazu auch von Keitz 2002, 1822 in Anlehnung an Georg Seeßlen.
Jens Eder
312
Werbefiguren als fiktive Wesen: Körperlichkeit, Psyche
und Sozialität
Die Gestaltung der Körperlichkeit, Psyche und Sozialität von Werbe-
figuren hängt, wie sich zeigt, von mindestens drei Faktoren ab: ihrer
Aufmerksamkeitsfunktion, ihrer Symbolik und ihren produktbezoge-
nen Handlungsrollen. Dominiert einer dieser Faktoren, werden ent-
sprechende Merkmale der Figuren hervorgehoben: starke Reize, die
aufmerksam machen und unterhalten (z.B. Erotik, Komik, Niedlich-
keit, auffälliges Verhalten, ungewöhnliche Formen); Eigenschaften,
die sich zur Symbolisierung eignen (z.B. der Fuchskörper als Zeichen
für Schlauheit); oder Merkmale, die sich aus der Handlungsrolle er-
geben (z.B. die Kompetenz eines Beraters).
Die drei Dimensionen werden oft verbunden: Der Marlboro-Mann
ist ein viriler Cowboy (eine aufmerksamkeitstchtige Erscheinung),
belohnt sich nach anstrengendem Ritt mit einer Zigarette (Handlungs-
rolle) und steht für eine freie Lebensweise (Symbolik). In anderen
Fällen stehen einzelne Dimensionen im Vordergrund. Bei den mei-
sten Marken-Icons wie dem Michelin-Mann handelt es sich um un-
gewöhnliche Fabelwesen, stilisierte Tiere oder personifizierte Ob-
jekte, weil es vor allem auf ihre plakative Markensymbolik und Si-
gnalfunktion ankommt. Dagegen sind viele produktbezogene Akteure
wie der Melitta-Mann vergleichsweise ›normale‹ Menschen, die den
Adressaten ähneln und hinter das Produkt zurücktreten sollen.
In jedem Fall richtet sich die körperliche, psychische und soziale
Form von Werbefiguren nach den Vorstellungen, Wünschen oder
auch Aversionen ihrer Zielgruppen. Daraus ergeben sich tief grei-
fende Unterschiede, vor allem hinsichtlich der Zuordnung von Wer-
ten. Da das beworbene Produkt mit angenehmen Gefühlen assoziiert
werden soll, haben die meisten Werbefiguren positiv bewertete Ei-
genschaften (vgl. Buschmann 2005). Ihr Körper ist gesund, schön,
sexy, energiegeladen usw.; ihre Psyche entspricht verbreiteten Idealen
wie ›gesundem Menschenverstand‹, Freundlichkeit und Humor; und
ihre Sozialität ist konform zu sozialen Idealen und Stereotypen: Sie
sind ›einer von uns‹, ›wie wir gerne wären‹ oder ›was wir begehren‹.
Je nach Handlungsrolle weisen sie spezifischere Merkmale auf, z.B.
Sachkenntnis bei Experten.
Am positiven Pol des Eigenschaftsspektrums stehen die Leitbilder
und Begehrensobjekte, die Lifestyle-Ideale verkörpern (vgl.
Koschnick o.J.). In anderen Fällen fungieren die Figuren eher als
Figuren in der Werbung
313
Stellvertreter der Zielgruppe, als ›Konsumenten wie du und ich‹, die
zwar ebenfalls wünschenswerte Eigenschaften aufweisen, sich aber
näher am imaginierten Durchschnitt bewegen. Mit den Leitbildern
und Stellvertretern kontrastieren negativ gezeichnete Gegenbilder.
Problem-Personifikationen, unangenehmen Rivalen, komischen Figu-
ren oder Out-Groups (die Jägermeister-›Spießer‹) werden übertrieben
negative Eigenschaften zugeordnet; so werden bei symbolischen
Antagonisten, etwa schleimigen Schmutzpartikeln, angeborene Ekel-
und Gefahrenschemata ausgenutzt. Körperlichkeit, Psyche und So-
zialität der Werbefiguren unterliegen also einer Polarisierung: Viele
sind eindeutig positiv besetzt, einige auch eindeutig negativ. Dagegen
kommt es selten vor, dass Figuren bewusst ambivalent oder viel-
schichtig gestaltet sind.
Die Zuordnung von Eigenschaften und Werten ist in ideologiekri-
tischer Hinsicht von besonderem Interesse, weil sie typische Muster
hinsichtlich sozialer Gruppen, Milieus, Geschlechter- und Berufsrol-
len bildet. Allgemein lässt sich festhalten, dass ein Großteil der Wer-
befiguren dem sozialen Alltag eine Idealwelt gegenüberstellt, in der
viele Aspekte ausgeblendet bleiben. Darüber hinaus orientiert sich die
Merkmalsstruktur der Figuren an den zeit- und kulturspezifischen
Vorstellungen, Werten und Normen kaufkräftiger Zielgruppen. Daher
weicht sie systematisch von der realen Gesellschaft ab und beein-
flusst sie zugleich. Junge, gesunde Erwachsene, Männer, Wohlha-
bende, Statusträger, dominante Ethnien, konsumfreudige Hedonisten
sind überrepräsentiert und häufig idealisiert. Frauen, Kinder, Alte,
Kranke, ethnische Minderheiten und Konsumverweigerer sind unter-
repräsentiert und stereotypisiert, teils in diskriminierender Form. Die
Darstellung sozialer Gruppen in der Werbung ist vielfach untersucht
worden; ich verweise nur exemplarisch auf zwei Untersuchungen zur
deutschen Anzeigenwerbung.
Doris Mosbach kommt zu dem Ergebnis, dass »exotische« Figuren
hier verschiedene Funktionen erfüllen (1999, 300-306): Sie dienen als
Blickfang, als Mittel der Emotionalisierung sowie als produktbezo-
gene Akteure, die die Internationalität von Marken oder den Im- und
Export von Waren vorführen. Diskriminierende Stereotype etwa die
Darstellung von Asiaten als komischen Figuren sind verbreitet.
Manchmal werden Stereotype aber auch gezielt gebrochen oder die
Figuren vermitteln programmatische Aussagen, z.B. gegen Rassis-
mus.
Jens Eder
314
Nicole Wilk skizziert die Geschichte weiblicher Werbefiguren15: In
den 1940er-Jahren bestimmen »mythische Mütterlichkeit« und Haus-
halts-Know-How das Bild der Frauen, die wie Klementine meist
Beraterinnen-Rollen einnehmen. In den 1960er-Jahren findet eine
Wende zur Slice of Life- und Lifestyle-Werbung statt, die Werbe-
frauen dienen als Stellvertreterinnen oder Vorbilder. Die Figuren der
1970er-Jahre verbreiten Schlankheitsideale und oberflächliche For-
men der Emanzipation. Anzeigen der 1980er-Jahre betonen die »In-
dividualisierung« verwöhnter Mädchen, in den 1990er-Jahren häufen
sich Girlie-Models und Karrierefrauen. Die Werbung um die Jahrtau-
sendwende propagiert widersprüchliche Weiblichkeitskonzepte zwi-
schen Familie und Beruf, Natürlichkeit und Körperoptimierung, Indi-
vidualismus und Konformität, und übt dadurch Druck aus, gegen-
sätzlichen Idealen zugleich gerecht zu werden. Während dieser Ent-
wicklung blieben wichtige Tendenzen der Frauendarstellung kon-
stant16: Frauen werden tendenziell kleiner und häufiger nackt darge-
stellt als Männer, sie werden öfter im Familienkontext gezeigt und
nehmen eher untergeordnete Positionen ein. Ikonographisch verfe-
stigte Körperhaltungen suggerieren sexuelle Verfügbarkeit oder naive
Verspieltheit. Die Mehrzahl der Beanstandungen, mit denen sich der
deutsche Werberat auseinandersetzt, betrifft die Herabwürdigung von
Frauen.
Die Beispiele machen deutlich, dass die Darstellung sozialer
Gruppen in der Werbung keineswegs einheitlich ist und sich histo-
risch verändert. Angesichts dessen ist bei Verallgemeinerungen Vor-
sicht geboten. Wir treffen auf Beraterinnen wie Klementine, auf Vor-
bilder wie den Marlboro-Mann, auf Begehrensobjekte wie das Cam-
pari-Paar, auf Helfer wie Meister Proper, auf niedliche Wesen wie
den Bärenmarke-Bär, auf komische Gestalten wie das HB-Männchen.
Innovationsdruck, kultureller Wandel und heterogene Werbestrate-
gien führen zu einer großen Vielfalt; zugleich gibt es jedoch nach-
weisbare Darstellungstendenzen, die sich auf die Verbreitung kollek-
tiver Vorstellungen über soziale Gruppen und Rollen auswirken.
15 Vgl. Wilk 2002, 44-57 u. 302-306.
16 Vgl. Wilk 2002, 52ff; sowie Maurer/Reinemann 2006, 243f.
Figuren in der Werbung
315
Werbefiguren als Artefakte: Ästhetik der Prägnanz
Die dramaturgische und stilistische Gestaltung von Werbefiguren als
Artefakten hängt von den Funktionen ab, die sie als Symptome, Sym-
bole und fiktive Wesen erfüllen; von ihrem Ursprung innerhalb oder
außerhalb der Werbung; von pragmatischen Rahmenbedingungen,
Medien und intermedialen Einflüssen. Trotzdem lassen sich einige
allgemeine Aussagen über ihre Gestaltung treffen. Zunächst einmal
ist diese abhängig von den verwendeten Medien und deren Darstel-
lungsmöglichkeiten: Textanzeigen und Radiospots arbeiten vorwie-
gend mit Sprache, was die knappe Darstellung markanter Charaktere
erschwert. Auf Plakaten, Bildanzeigen und Logos werden Figuren in
statischen Einzelbildern dargestellt; dies zwingt zur Konzentration
auf die äußere Erscheinung. In Comics und den audiovisuellen Be-
wegtbildmedien Film und Fernsehen finden sich zeitliche Formen der
Figurendarstellung, bei denen durch die Verknüpfung von Handlung
und Innenleben eine ausführlichere Charakterisierung möglich wird.
Computer- und Online-Medien ermöglichen schließlich Interaktivität:
Werbefiguren werden zu virtuellen Interaktionspartnern oder zu
Avataren der Konsumenten.
Wenn man die Gestaltung von Figuren innerhalb dieser Medien
genauer betrachtet, sind vor allem zwei Aspekte zu beachten: ihre
strukturelle Konstruktion und ihre stilistische Darstellungsweise
durch sprachliche, auditive oder visuelle Mittel. Die strukturellen
Organisationsformen der Werbung die räumliche oder zeitliche
Fügung ihrer Elemente wurden teils schon angesprochen
17: In
demonstrativer Werbunghren Figuren das Produkt z.B. verdau-
ungsregulierende Joghurts als Presenter, Berater oder Tester vor
und wenden sich dabei an die Rezipienten. In argumentierender
Werbung dienen sie als Beweise für die Leistung des Produkts (z.B.
im Vorher-Nachher-Vergleich). Kategoriale Werbeformen versam-
meln verschiedene Figuren einer Kategorie z.B. Schokolade Genie-
ßende und betonen deren Gemeinsamkeit (teils auch in serieller
Folge, etwa bei Olli Dittrichs Media Markt-Kunden). In assoziativer
Werbung werden Figuren durch visuelle, auditive oder symbolische
Assoziationen miteinander und mit dem Produkt verknüpft. In narra-
tiver Werbung sind sie Akteure in Kurz-Dramen, die Erzählmustern
17 Ich stütze mich hier auf Unterscheidungen von Bordwell/Thompson 2001, Kap. 5;
Mosbach 1999; Heiser 2001; Gerdes 2007; von Keitz 2002.
Jens Eder
316
der Problemlösung, Überraschung, episodischen Reihung oder ellipti-
schen Verdichtung folgen. Die Organisationsformen kulminieren oft
in Produkt- oder Marken-Präsentationen: Die Figuren werden an
entscheidender Stelle mit Produktabbildungen, Slogans, Jingles, Lo-
gos oder Markennamen kombiniert. TV-Spots enden beispielsweise
meist mit einem Packshot, der all dies verbindet: Das Produkt ist die
Pointe. Figuren können allerdings auch völlig frei gestaltet werden,
wenn Werbung als Kunst oder Unterhaltung wahrgenommen werden
soll. In der Product-Is-Hero-Werbung steht die Ware z.B. ein
Handy schließlich für sich allein, Figuren sind hier überhaupt nicht
erforderlich.
Aufgrund dieser strukturellen Vielfalt lassen sich nur mit Vorsicht
einige allgemeine Tendenzen der stilistischen Gestaltung von Werbe-
figuren feststellen. Ob diese nun durch einzelne Medien oder cross-
mediale Kampagnen verbreitet werden, in jedem Fall müssen sie
Hürden der Rezeption überwinden. Jede Werbebotschaft konkurriert
mit anderen Reizen um die Aufmerksamkeit: Plakate mit Stadtland-
schaften, Zeitungsanzeigen mit Artikeln, Fernsehspots mit Program-
men. Zudem versuchen die meisten Adressaten Werbung zu vermei-
den, nehmen sie nur kurzfristig und beiläufig auf. Aus diesen Grün-
den sind Werbebotschaften in der Regel auffällig, kurz, redundant
und einprägsam, zudem oft lauter, greller, spektakulärer, einfacher
strukturiert und leichter verständlich als das konkurrierende Reizum-
feld.18 Ihre Produktion ist meist teuer, und das soll man ihrer Perfek-
tion, ihren Production Values auch anmerken.
Bis auf wenige Ausnahmen sind Werbeformen Kurzformen: Bei
Plakaten, Online- und Printanzeigen ist die Verweildauer der Rezi-
pienten so gering, dass bei der Gestaltung Zeiten von wenigen Hun-
dert Millisekunden für Text- und Bilderkennung berücksichtigt wer-
den. Fernseh- und Hörfunkspots dauern etwa 30 Sekunden; zudem
laufen noch kürzere Spots, etwa Reminder. Diese Kürze in Verbin-
dung mit dem ständigen Kampf um die Aufmerksamkeit, der mit
Hilfe strategischer Formeln wie AIDA, KISS oder MAYA19 geführt
wird begünstigt bestimmte Tendenzen der Figurengestaltung:
Schnellcharakterisierung, Typisierung, Vereinfachung, Stilisierung,
18 Es gibt aber auch die umgekehrte Strategie: Minimalistische Plakate kontrastieren mit
ihrer urbanen Umgebung; vgl. Schirner 2001.
19 Der AIDA-Formel zufolge weckt erfolgreiche Werbung zuerst Attention, dann Interest
und schließlich Desires, die zur Kaufhandlung führen (Action). Dabei ist auf Kürze und
Einfachheit der Botschaft zu achten (KISS: Keep It Short and Simple), die zugleich up to
date und wertekonform sein soll (MAYA: Most Advanced Yet Acceptable).
Figuren in der Werbung
317
Idealisierung, Übertreibung, Hyperexpressivität, metaphorische Ver-
dichtung, Anspielungsreichtum, Ungewöhnlichkeit, Kontrast- und
Signalwirkungen. Die meisten Werbefiguren sollen also einfach
strukturiert und schnell erfassbar, zugleich aber auffällig und interes-
sant sein kurz: prägnant.
Bei produktbezogenen Akteuren sind Einfachheit und Verständ-
lichkeit wichtiger, bei Marken-Icons Signalwirkung und Einprägsam-
keit. In der Regel besteht das Ziel aber darin, beides zu kombinieren.
Dieses Ziel der Prägnanz wird durch diverse Verfahren verfolgt.
Meist setzt die Figurendarstellung bei einer vertrauten Ikonographie
an; bei Visiotypen, die dann aber auch überraschend gebrochen wer-
den können. Ihre Bilder und Geschichten werden durch Übertreibung,
Antithese, Verfremdung, Komik, Verrätselung, Multiperspektivität
oder Ironie interessanter gemacht, und sie zielen darauf, Schlüsselbil-
der zu etablieren, dieufig Figuren beinhalten (Heiser 2001, 117f).
Zudem wiederholt Werbung ihre Motive, sie ist tendenziell redun-
dant.
Darüber hinaus sind Werbefiguren häufig intermedial angelegt. Sie
haben ihre eigene Mediengeschichte und treten in crossmedialen
Kampagnen auf; bei ihrer Gestaltung werden Traditionen aller Künste
und Medienbereiche ausgebeutet, zitiert und parodiert. Manche Figu-
ren werden direkt aus bekannten Vorlagen importiert (die Hanuta-
Musketiere); andere werden durch vertraute Bilder, Songs, Dialoge
oder Stile charakterisiert. Im Mercedes-Spot zur Fußball-Europamei-
sterschaft 2008 tritt die deutsche Nationalmannschaft als Bergsteiger-
gruppe auf; der Spot ist im Stil von Arnold Fancks Bergfilmen der
1930er-Jahre gehalten. Berühmte Filmregisseure drehen auch selbst
Werbung und verleihen deren Figuren ihren persönlichen Stil. Das
Streben nach Prägnanz trägt schließlich dazu bei, dass ein hoher An-
teil der Werbefiguren, insbesondere Marken-Icons, durch Zeichnun-
gen, Stop Motion oder Computer animiert ist. Im Gegensatz zu foto-
grafierten Schauspielern lassen animierte Figuren sich in Form und
Farbe frei gestalten, zu auffälligen, kompakten Signalen verdichten
und auf verschiedene Werbemittel übertragen. Sie verlangen keine
Honorare, altern und sterben nicht (wie der Marlboro-Darsteller an
Lungenkrebs).
Fernsehspots zeigen besonders deutlich, wie Werbung sich durch
einen exzessiven Stil von ihrem Umfeld abzuheben sucht.20 Ihre
20 Zum Folgenden vgl. Butler 2007, 388-412. Dabei sind zeitbedingte Trends zu beobach-
ten: In den 1990er-Jahren ging der Trend zur computerunterstützten Hochglanz-Post-Pro-
Jens Eder
318
Montage ist im Durchschnitt mehr als doppelt so schnell wie im
Spielfilm, weist ungewöhnliche Schnitte auf, fragmentiert den Figu-
renkörper, vergleicht oder verschmilzt ihn mit dem Produkt. Figuren-
bewegungen werden dynamisiert, Stimme und Schauspielstil hyper-
expressiv angelegt, Figuren wenden sich direkt zur Kamera. Diese
präsentiert die Figuren in ungewöhnlichen Fahrten und Bildkomposi-
tionen. Häufig werden Unschärfe, Filter oder Slow Motion eingesetzt;
Stills lassen den Blick auf Figur und Produkt ruhen. Die Zuschauer
werden auf mehrfache Weise direkt angesprochen: durch Voice Over-
Stimmen, Sprecher im Bild und Dialoge der Akteure. Musik ist sehr
präsent, oft werden bekannte Songs verwendet, Figuren singen Jin-
gles (»Wie wo was weiß OBI«). Das Sound-Design präsentiert Ideal-
geräusche geöffneter Bierflaschen oder knusprigen Knäckebrotes.
Grafische Elemente Wörter, Zahlen, Logos durchdringen die Welt
der Figuren, die durch Spezialeffekte in die gewünschte Form ge-
bracht wird.
Dieser ungewöhnliche Stil soll Aufmerksamkeit und Gefühle von
Überfluss, Energie, Intensität, Offenheit und Gemeinschaft hervorru-
fen. Vor allem aber soll er diejenigen Merkmale der Figuren heraus-
heben, die Emotionen auslösen und auf das Produkt bezogen sind:
den Mund, der genussvoll am Eis lutscht; das schimmernd fließende
Haar; den verführerischen Mascara-Blick; das Körperinnere, das
durch Medizin wiederhergestellt werden soll. Leidenschaftliche oder
vertrauenswürdige Stimmen, verführerische oder subjektivierte
Blicke, magische oder zärtliche Hände werden mit Waren in Bezie-
hung gebracht (vgl. Tröhler 1997, 17-221). In ihren diversen Struk-
turformen ist die Gestaltung von Werbefiguren also bestimmt durch
das Streben nach Prägnanz, das zu einem exzessiven Stil und zu Dar-
stellungsstrategien der Redundanz, Typisierung, Intertextualität,
Überzeichnung oder Animation tendiert.
duction, dann folgte eine Gegenbewegung betont »dokumentarischer« Bildern (Heise 2001,
104).
Figuren in der Werbung
319
Fazit
Der Schlüssel zum Verständnis von Werbefiguren liegt in ihrem Ver-
hältnis zum Beworbenen: den Waren und Marken. Dieses Verhältnis
ist allerdings komplexer Art und wird beeinflusst durch verschiedene
Faktoren, darunter Medien, Zielgruppen und Werbestrategien. Ihre
Grundfunktion zu werben können Figuren auf verschiedene
Weise erfüllen: durch Aufmerksamkeitssteigerung und Emotionali-
sierung; durch die Symbolisierung von Marken oder Produkteigen-
schaften; und durch ihre Rollen in produktbezogenen Szenarien. So
lassen sich drei Grundtypen von Werbefiguren unterscheiden:
1. Produktbezogene Akteure wie Klementine oder Herr Kaiser
erfüllen relativ unauffällig ihre Aufgabe, das Produkt zu präsen-
tieren; meist handelt es sich um sozial typisierte oder idealisierte
Menschen.
2. Marken-Icons wie die Lila Kuh oder der Jägermeister-Hirsch
sind formal auffällige Figuren mit Signalcharakter und engem
Markenbezug, oft Tiere oder Fabelwesen, die auf wenige Eigen-
schaften reduziert sind.
3. Branded Entertainers wie Horst Schlämmer oder Ron Hammer
sind frei gestaltete Figuren, die vor allem unterhalten sollen, ohne
dass man sie gleich mit einer Werbeabsicht assoziiert. Es kann
sich um etwas ausführlicher dargestellte Charaktere handeln, die
von Stars gespielt werden.
Zumindest die Gestaltung der letzten beiden Figurentypen ist durch
den Kampf um Aufmerksamkeit geprägt: durch Übertreibung und
sinnliche Intensität; Ungewöhnlichkeit, Kontrasteffekte, Regel- und
Tabubrüche; durch die Verwendung von Schlüsselreizen und das
Abzielen auf angeborene Reaktionstendenzen; aber auch durch faszi-
nierende Polysemie und dichte Symbolik. Produktbezogene Akteure
sind dagegen manchmal betont ›natürlich‹ und konventionell gestal-
tet.
Die Abgrenzung der drei Typen ist natürlich eine Pointierung.
Viele Figuren erfüllen mehrere Funktionen: Der Marlboro-Cowboy
ist produktbezogener Akteur und Markenzeichen zugleich. Zudem
können verschiedene Typen innerhalb eines Szenarios kombiniert
werden: Meister Proper hilft der Hausfrau. Und drittens können Figu-
ren in crossmedialen Kampagnen je nach Medium verschiedene For-
Jens Eder
320
men annehmen und Spin-Offs erzeugen: Aus dem Jägermeister-Logo
ergeben sich die partyfreudigen Animations-Hirsche Rudi und Ralph.
Allgemeiner betrachtet, lässt sich im Verhältnis zwischen Werbe-
figuren und Ware bzw. Marke eine doppelte Annäherungsbewegung
feststellen (vgl. Tröhler 1997): Zum einen gewinnt die Ware magi-
sches Eigenleben, wird animiert und vermenschlicht. Zum anderen
wird der menschliche Körper kommodifiziert, er wird zur Marken-
Marionette oder zum verführerischen Produkt. Ähnlich hat bereits
Karl Marx den Warenfetischismus beschrieben: In der Warenwelt
würden aus den Produkten der menschlichen Hand »mit eignem Le-
ben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis ste-
hende selbständige Gestalten« (1962, 86). Ein knappes Jahrhundert
später bemerkte Hans Donizlaff: »Eine Marke hat ein Gesicht wie ein
Mensch« (1992, 97). Heutige Werber sprechen von ›Markenpersön-
lichkeiten‹ mit Charaktereigenschaften wie Aufrichtigkeit oder Kulti-
viertheit. Der menschliche Körper wird in der Werbung dagegen
entpersonalisiert, er wird zum Funktionsträger, zur Rollenfigur, zum
Symbol, zur Inkarnation des Produkts, zur Personifikation der Marke.
Figur und Ware übertragen einander wechselseitig ihre Eigenschaften
bis hin zu Plastizität, Farbe, Form und Textur.
Während sich Ware und Figur einander annähern, findet in der Fi-
gurenrezeption eine Spaltung statt. Einerseits werden die Gestalten
der Werbung beiläufig und misstrauisch wahrgenommen, andererseits
wird ihre Wirkung perfektioniert und sie werden als Identifikations-
angebote genutzt. Es ist höchste Zeit für die Wissenschaft, Werbefi-
guren nicht als etwas Selbstverständliches oder Degoutantes hinzu-
nehmen, sondern sich mit ihnen intensiver auseinander zu setzen.
Figuren in der Werbung
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Marlboro Man, Grüner Frosch, Maggi-Fridolin, DB-Rosaroter Elefant, Play-
boy-Bunny, Meister Proper, Esso-Tiger, Sarotti-Mohr, Salamander-Lurchi,
Michelin-Bibendum. Zeile 2: ZDF-Mainzelmännchen, Samson-Löwe, Johnny
Walker, Ronald McDonald, Charmin-Bär, Camel, Tempo-Männchen, Weißer
Riese, Mickey Mouse. Zeile 3: Schwäbisch Hall-Fuchs, Bärenmarke-Bär, HB-
Männchen Bruno, Milka-Lila Kuh, Audi-Wackel-Elvis, Erdal-Frosch, HR-
Onkel Otto, OBI-Biber, Hörzu-Mecki, Jägermeister-Hirsch. Aus: http://www.-
Figuren in der Werbung
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„Kein Jägermeister“ (2008, Agentur Philipp und Keuntje). http://www.hori-
zont.net/kreation/print/pages/protected/show-862.html (23.9.2009). Copyright
für alle: Mast-Jägermeister AG.
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auerbachs-keller-leipzig.de/ibase/module/medienarchiv/dateien/chronik-
/Bacchus.jpg (23.9.2009), Copyright: Auerbachs Keller Rothenberger Be-
triebs GmbH.
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http://www.waehle-schlaemmer.de/hsp-wahlkampfmaterialien.html
(23.9.2009), Copyright: Bluverde F.T.V. Produktionsgesellschaft mbH.
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kasse Schwäbisch Hall AG in: Kellner, Joachim / Lippert, Wolfgang (Hg.)
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Abb. 7: Plakat „Ich werd’ zum Zörbiger“ in Berlin (2009). Privatfoto Eder, Co-
pyright: Zuegg Deutschland GmbH.
Für Hinweise danke ich Katja Crone und Ralf Grauel.
324
325
Lisa Gotto
Figurenkonzepte im Videoclip
Videoclips sind ein zentraler Bestandteil von Populärkultur und Mas-
senkonsum. Die Formen der Figur, die der Videoclip entwickelt hat,
bestätigen einerseits die Zugehörigkeit zu dem genannten Feld; sie
sind überdies aber auch in der Lage, sich aus sich selbst heraus zu
beobachten und ihren medialen Formcharakter sichtbar zu machen.
Sie folgen damit nicht nur den sie konstituierenden Bedingungen,
sondern sie machen sie bewusst und erkennbar.
Zu diesen Bedingungen gehört zunächst die strukturelle Anbin-
dung an das Medium Fernsehen, in dem und durch das Videoclips
produziert und rezipiert werden. Dem entspricht etwa die kompri-
mierte Organisationsform des Clips, der die Segmentstruktur des
Fernsehens als eigenes ästhetisches Prinzip offensichtlich werden
lässt. Auch weitere fernsehspezifische Charakteristika wie Repetition,
Expansion und Selektion werden im Videoclip nicht nur bedient,
sondern anschaulich gemacht. Deutlich wird dieses Reflexionsver-
mögen in unterschiedlichen Figurenkonzepten, die der Videoclip in
Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von anderen medialen
Praktiken ausgebildet hat. Dazu gehört beispielsweise die Bezug-
nahme auf die sich reziprok potenzierende Relation von Ton und
Bild, die der Videoclip als audiovisuelle Rhythmusfigur entwirft;
weiterhin auch der Verweis auf das rekursive Wesen des Popdiskur-
ses, der durch unterschiedliche Verfahren der Figurenvervielfältigung
visualisiert wird. Zudem kann der Videoclip auf seine eigenen Re-
zeptionsbedingungen aufmerksam machen, etwa durch die bildästhe-
tischen Operationen des Split Screens oder durch die Stilisierung
seiner eigenen Wiederholungserfordernisse. Die Figuren des Video-
clips zeigen ihr Konstituens, setzen sich durch dieses Zeigen zu ihm
in Distanz und eröffnen so die Möglichkeit ihrer eigenen Wandelbar-
keit.
Lisa Gotto
326
Medial
Videoclips gehören zum und ins Fernsehen. Das, was der Videoclip
als Figur entwirft, verweist in seiner Entstehung, Entwicklung,
Verbreitung und Verteilung auf medienspezifische Mechanismen der
Formbildung. Anders gesagt: Videoclips finden nicht einfach im
Fernsehen statt, sie finden als Fernsehen statt.
Tatsächlich kann man Videoclips als exemplarisches Fernsehen
betrachten und bezeichnen, insofern sie fernsehtypische Merkmale
und Möglichkeiten verdichten und sichtbar werden lassen. Dazu ge-
hören technische, ökonomische und ästhetische Spezifika, die sowohl
die Produktion als auch die Rezeption des Videoclips als televisuelles
Element betreffen. Der genaueren Bestimmung dieser Spezifika dient
der Hinweis auf den Moment, in dem Videoclips erstmals im Fernse-
hen auftauchen und sich dort zu institutionalisieren beginnen. Dieser
Moment ist ein transitorischer: Er markiert den Übergang zwischen
zwei Hauptphasen des Fernsehens, die nach Francesco Casetti und
Roger Odin (2002) als Paläo-Fernsehen und Neo-Fernsehen be-
zeichnet werden können.
Während das Paläo-Fernsehen durch ein hierarchisches Verhältnis
zwischen Produzenten und Rezipienten gekennzeichnet ist und über
eine vertikale Programmanordnung verfügt, sucht das Neo-Fernsehen
die Interaktion und lässt die Programmstruktur ausfransen. Im Über-
gang dieser beiden Formationen zeichnet sich seit den 1980er-Jahren
ein Wandel ab, der diverse fernsehformale Folgen zeitigt. Mit techni-
schen Entwicklungen wie der Einrichtung des Kabel- und Satelliten-
fernsehens und ökonomischen Veränderungen wie der Etablierung
des kommerziellen Privatfernsehens hängt eine Pluralisierungsbewe-
gung zusammen, die sich auch ästhetisch manifestiert. Das Fernsehen
beginnt sich zu vervielfältigen und zu differenzieren, es experimen-
tiert und expandiert durch seine und in seinen eigenen Formen. Fern-
bedienung und Videorekorder ermöglichen einen anderen Zugriff auf
und einen erweiterten Umgang mit Programmstrukturen; die zuneh-
mende Anzahl von immer neuen Kanälen sorgt weiterhin für neue
Arten der Konkurrenz und Referenz. Diese Tendenzen zur Kommer-
zialisierung und Diversifizierung zeigen sich besonders deutlich dort,
wo das Fernsehen Massenkonsum und Massenkultur zusammenbringt
und medienspezifisch zu formen beginnt.
Der Videoclip exemplifiziert diesen Zusammenhang auf besondere
Weise, da er auf televisuelle Elemente Bezug nimmt und sie in sich
Figurenkonzepte im Videoclip
327
selbst anschaulich werden lässt. Dazu gehört zum einen seine Organi-
sation als komprimierte Form, die beispielhaft für die fernsehcharak-
teristische Einheit des Segments stehen kann. Mit der Einrichtung des
Musikkanals MTV im Jahr 1981 eröffnet sich ein Ort, an dem die
»segmentierte Struktur des Fernsehens« (Ellis 2002, 51) zu sich selbst
kommt. Der Videoclip steht hier für das »Segment, dem weitere
Segmente folgen, ohne dass sie einen Bezug zueinander haben müs-
sen« (Ellis 2002, 49). Diese Form der Segmentarisierung nimmt der
Videoclip in sich selbst auf und trägt sie als Strukturprinzip nach
außen: Er organisiert sich als Sequenz von Segmenten und ordnet
sich ein als Segment unter Segmenten.
Ein weiteres fernsehspezifisches Merkmal ist damit verbunden:
»Die Segmentform bringt Wiederholung mit sich« (Ellis 2002, 54).
Die das Fernsehen kennzeichnende, unausgesetzte Wiederholungstä-
tigkeit, die sich in der genannten Übergangsphase in Form des Multi-
kanalfernsehens ausdehnt und ausbreitet, wird im und durch den Vi-
deoclip sichtbar. Der Videoclip systematisiert die Wiederholung, und
zwar in sich (als Wiederholung von Einzeleinstellungen, etwa denen
des präsentierten Stars) und über sich hinaus (als sich wiederholende
Sendeform, deren Rezeption auf Wiederholung angewiesen und an-
gelegt ist). Weiterhin zeigen die sich im Musikfernsehen versam-
melnden Videoclips, »daß die Vervielfältigung der Kanäle auch jen-
seits der konkreten Inhalte auf die Struktur und die Ästhetik der Pro-
gramme zurückwirkt« (Winkler 1996, 46), und zwar insofern, als die
Struktur des Zappings gleichsam ins Programm hinein genommen
wird. Beobachtbar und nachvollziehbar wird dies im Musikfernsehen,
dessen Clipstruktur eine dem Programm inhärente Fernbedienung zu
implizieren scheint und dessen Ästhetik den Modus des Umschaltens
in sich selbst zu integrieren versteht. Nicht zuletzt kommt der Video-
clip dem ökonomischen Wesen des Fernsehens entgegen, da er als
hochstilisierte Reklame fungiert und seinen eigenen Warencharakter
exponiert.
Entsprechend steht der Videoclip für eine Bündelung von fernseh-
spezifischer Kultur und fernsehspezifischem Kommerz, für eine Bau-
form, die die populärkulturelle und massenindustrielle Dimension des
Fernsehens nicht nur thematisiert, sondern auch reflektiert. Der Vi-
deoclip lässt sich damit als eine televisuelle Verlaufsform kennzeich-
nen, deren medienspezifische Modalität der technischen, ökonomi-
schen und ästhetischen Disposition des Fernsehens nicht nur ange-
Lisa Gotto
328
messen ist, sondern sie in konzentrierter Form zusammenzieht und
damit selbst zur Figur werden lässt.
Intermedial
Die Figuren, mit denen es der Videoclip zu tun hat, erscheinen nicht
einfach so auf der Bildfläche und im Hörkanal. Sie stehen als Mittler
in einem Wechselverhältnis zu anderen Mittlern; sie erschließen ihre
Formen, Funktionen und Effekte im Abgleich und im Austausch mit
bereits etablierten Mittlern, die sie adaptieren, interpolieren und trans-
formieren.
Die erste dabei zu berücksichtigende Entwicklungslinie führt zur
technischen Aufzeichnung und Speicherung von Tönen, Stimmen und
Musik. Tatsächlich kann die technische Reproduzierbarkeit des Tons
als Grundlage der Popmusik gelten, denn »Popmusik […] ist nicht
primär populäre Musik. […] Popmusik ist vielmehr eine Technolo-
gie« (Winkler/Bergermann 2002, o.S.). Durch die Erfindung der
technischen Klangaufzeichnung, durch die Möglichkeit, das flüchtige
Ereignis des Auditiven wiederhol- und bearbeitbar zu machen, ist die
»Voraussetzung für den Popstar im modernen Sinne« (Chervel 1990,
8) geschaffen.
Nicht zuletzt dem kommerziellen Erfolg des Grammophons ist
schließlich eine weitere Innovation seines Erfinders Thomas Alva
Edison geschuldet: das Kinetophon aus dem Jahr 1891, das als video-
clipkultureller Vorläufer gelten kann. Die Grundidee war eine Ton-
Bild-Kombination, die der Präsentation von populären Gesangsdar-
bietungen dienen sollte; weiterhin ist hier bereits das Element der
Rhythmisierung angelegt, da die Tonspur häufig mit der Projektion
von Tanzvorführungen kombiniert wurde. Dem unterhaltenden und
werbenden Zweck sind in der Folgezeit auch die in den 1940er-Jah-
ren vertriebenen Panoram Soundies verpflichtet; ca. dreiminütige
Musikfilme, die als Mittel der Starinszenierung einen wichtigen Bei-
trag zur Popularität von Künstlern wie z.B. Louis Armstrong leiste-
ten. Auffällig ist dabei die Tendenz, auf der Ebene der audiovisuellen
Inszenierung eine zeitliche und räumliche Kontinuität zu schaffen.
Bild und Klang sollten in einem synchronen Verhältnis stehen;
Künstler und Song sollten im Moment der Aufführung simultan sicht-
und hörbar sein. Dieser Darstellungskonvention bleiben auch viele
der ersten im Fernsehen ausgestrahlten Videoclips verpflichtet. Hier
Figurenkonzepte im Videoclip
329
zeigt sich, dass sich die figurale Inszenierung in weiten Teilen sehr
deutlich an dem Modus eines Bühnenauftritts orientiert, dass sie eine
Form ausbildet, deren audiovisuelle Präsentation die Rückbindung an
das Handeln der Akteure sucht. Das Zentrum bildet dabei die Dar-
stellung einer Band bei der Aufführung eines Songs, wobei die Re-
quisiten (Mikrofone, Musikinstrumente, Bühnenscheinwerfer) auf die
Situation eines Auftritts verweisen.
In Abgrenzung dazu entwickeln Videoclips seit ihrem Bestehen
aber auch Figurenkonzeptionen, die sich an den narrativen Konven-
tionen des klassischen Erzählkinos orientieren. Die präsentierten
Künstler werden dann weniger als darbietende Musiker, sondern als
Handlungsträger innerhalb einer komprimierten Erzählung darge-
stellt, als Figuren mit narrativen Funktionen, die sich innerhalb einer
bestimmten diegetischen Konstellation bewegen wobei ihre Star-
Persona jedoch stets sicht- und hörbar bleibt. Der Videoclip macht
dadurch weniger auf die Geschichte als auf sich selbst aufmerksam.
Entscheidend ist dabei, dass die Musik vom On ins Off verschoben
wird, dass ihre Quelle also nicht länger im Bild zu sehen ist:
»Naturgemäß ohne festen Sitz, wird der Off-Ton in Rich-
tung des enunziativen Ziels gezogen […]. So bildet sich
eine autonome explizite oder unbestimmte Sinnschicht,
die für Augenblicke die Geschichte verstärkt, sie kom-
mentiert, punktuiert, ihr widerspricht, sie erhellt, aber auch
undurchsichtbar macht« (Metz 1997, 50).
Neben dem klassischen Erzählkino kann auch die filmische Avant-
garde als Inspirationsquelle der figuralen Inszenierung des Videoclips
gelten. Dies zeigt sich beispielsweise in der Tendenz, die Ebene der
Narration zurückzulassen und sich stattdessen dem Ausdruck von
Rhythmen und abstrakten Mustern zuzuwenden (z.B. in Gigi
D’Agostino: Bla Bla Bla (1999), einem Clip, der sich unabhängig von
narrativen Formen auf die Visualisierung der Melodie und des
Rhythmus beschränkt). Als ästhetische Vorläufer können Oscar
Fischingers Kino-Versuche zur visuellen Musik genannt werden,
deren Bewegungsdynamik sich vollkommen jenseits des physisch
Figuralen entfaltet. Auch die experimentellen Installationen der Vi-
deokunst samt ihren rückkoppelnden Interaktionen von Bild und Ton
(etwa bei Pionieren wie Nam June Paik) lassen sich in dieses Bezugs-
feld einordnen.
Lisa Gotto
330
Weiterhin bedient sich der Videoclip auch der Inszenierungsformen
der bildenden Kunst und modernen Malerei. So betätigte sich etwa
Keith Haring als Kostümbildner für den Clip I’m not perfect von
Grace Jones (1986); an Konzeption und Produktion waren Künstler
wie Andy Warhol (The Cars: Hello Again, 1984) oder William
Wegman (New Order: Blue Monday, 1988) beteiligt. Bemerkenswert
ist dabei eine Ästhetisierungsform, die den Star als Figur selbst zum
Kunstobjekt werden sst, wie z.B. in dem Videoclip Can’t Stop der
Red Hot Chili Peppers (2003), der so erkrt es eine eigens einge-
fügte Texttafel von den »one minute sculptures« des Künstlers
Erwin Wurm inspiriert wurde. Diese Skulpturen, ihrem Kunstwesen
nach eigentlich statisch, werden hier durch bewegte Bilder in Bewe-
gung gebracht mehr noch: Die Red Hot Chili Peppers werden selbst
zu eben jenen bewegten Skulpturen; zu kinetischen Kunstfiguren, die
durch die Bewegung im bewegten Bild eine eigene musikalisch moti-
vierte Rhythmisierung erfahren.
Ein Bezugsfeld, das für die Stilisierung und Artifizialisierung von
Videoclip-Figuren von besonderer Bedeutung ist, wird durch Comics
und Cartoons angeboten. So können Stars durch gezeichnete Versio-
nen ihrer Selbst verzerrt präsentiert werden und als zweidimensionale
Figuren auf die Flächigkeit ihrer Inszenierung verweisen (z.B. in dem
Clip Music von Madonna). Weiterhin wird es möglich, sich gänzlich
vom repräsentierenden Modus des Bildes zu lösen und virtuelle
Bandfiguren vorzustellen, die nur als Comic-Charaktere existieren (so
etwa in sämtlichen Clips der Gorillaz). Damit ist eine Inszenierungs-
form erreicht, die die Konvention der Starpräsenz durch die der Star-
absenz zu ersetzen vermag.
In eine ähnliche Richtung deuten Anlehnungen an Figurenkonzep-
tionen, die sich von Video- und Computerspielen herleiten (z.B. in
dem Clip Californication der Red Hot Chili Peppers). Auch diese
Darstellungsformen deuten auf Artifizialität, Substitution und Syn-
thetisierung, hier allerdings mit dem Unterschied, dass sie weniger als
Erzähl- denn als Spielfiguren in den Vordergrund rücken und sich
damit auf spezifische mediale Charakteristika wie z.B. die dem Spiel
inhärente Interaktionsfähigkeit beziehen, die durch die Situierung im
Videoclip freilich selbst wieder gebrochen und ironisiert werden
kann.
Ein Bereich, dem der Videoclip formalästhetisch besonders nahe
steht, ist die Werbung. Dies lässt sich sowohl hinsichtlich der Pro-
duktion (viele Videoclipregisseure bringen Erfahrungen aus Werbe-
Figurenkonzepte im Videoclip
331
spots ein, z.B. Chris Cunningham und David Fincher) als auch auf
der Motivebene (etwa durch die Zitation und Adaption von Reklame-
konventionen wie markenbildenden Typographien und stilisierten
Produktpräsentationen, beispielsweise in George Michael: Kil-
ler/Papa was a Rolling Stone (1993)) nachvollziehen.
Darüber hinaus können Videoclips als ausgestaltete, avancierte Art
des Werbespots gelten, weil sie dessen Prinzip zu einer eigenen Form
erheben. Dazu gehört die der segmentierten Ware des Fernsehens
angepasste, komprimierte Struktur; weiterhin auch die dem Pro-
gramm entsprechende Kohärenzlosigkeit. Dass das Fernsehen keinen
bruchlosen Zusammenhang und keine letztgültige Geschlossenheit
kennt, wird durch das Einfügen von Werbung in nahezu allen seinen
Formaten (Serien, Spielfilmen, Übertragungen, Magazinen) deutlich.
Hierbei handelt es sich jedoch nicht um die Zerstörung eines vormals
Vollständigen, sondern um das fernsehspezifische Axiom des Über-
gangs, »denn wo die Unterbrechung zum Prinzip wird, hört sie auf,
Unterbrechung zu sein. Die Werbeeinblendung ist folglich keine
Störung im Programm, sie ist das Programm« (Engell 1999, 479).
Diesen Grundsatz lässt der Videoclip in sich selbst anschaulich wer-
den. Der Verzicht auf Kongruenz und Korenz erscheint hier nicht
als irritierende Unstimmigkeit, sondern wird zur Grundlage einer
eigenen Bildform.
Die Konzeption der Figur im Videoclip ist charakterisiert durch
vielfältige intermediale Bezüge, die sich im Austausch mit unter-
schiedlichen kulturellen Repertoires und Inszenierungspraxen kon-
stituieren. Entscheidend ist dabei, dass jene Adaptionsfähigkeit nicht
voraussetzungslos existiert, sondern dass sie durch das Dispositiv des
Fernsehens organisiert und mediatisiert wird. Die im Videoclip zu
beobachtende Auseinandersetzung mit Figuren und Stilen anderer
Medien lässt neue Bildformen sichtbar werden, die bestehende Kon-
ventionen transformieren und fernsehspezifisch reflektieren: »Das
sind keineswegs ästhetische Spielereien, sondern entscheidende
Scharnierpunkte der medialen Zirkulationsprozesse« (Adelmann/
Stauff 2006, 65). Dort, wo sich relationale Bezüge an der Oberfläche
verdichten, wo das bereits Etablierte nicht nur kombiniert und
arrangiert, sondern neu modelliert wird, können die Figuren des
Videoclips ein eigenes Wesen entwickeln.
Lisa Gotto
332
Figural
Die dimensionale Vielfalt der clipspezifischen Gestaltungsästhetik
bildet besondere Spielräume der Figureninszenierung aus. Das, was
der Videoclip ins Blickfeld rückt und zu Gehör bringt, lässt sich be-
schreiben als eine Verdichtung von phonetischen, graphischen, syn-
taktischen und morphischen Strukturen, die über Bild und Schrift
sowie Geräusch, Musik und Sprache zu einer Kondensierung von
ikonisch-visuellen und tonal-auditiven Codes führt. Von besonderer
Bedeutung ist dabei die wechselseitige Einflussnahme formalästheti-
scher Charakteristika, die sich aus unterschiedlichen Kompositions-
traditionen herleiten.
Während der Popsong für eine Form der assoziativen Offenheit
steht, die durch eine Tendenz zur Abstraktheit gekennzeichnet ist,
neigt das Fernsehbild zu einer visuell bedingten Konkretheit. Beide
Bereiche werden jedoch verbunden durch eine Affinität zu musikali-
schen Elementen wie Rhythmik und Metrik, die struktur- und sinn-
bildende Funktionen übernehmen können. In der Verdichtung dieser
Kopula bilden sich komplexe Ton-Bild-Relationen, die sowohl korre-
spondierende als auch divergierende Elemente der auditiven und
visuellen Ebene zum Schwingen bringen. Zu beachten ist dabei, dass
sich diese rhythmisierenden Formen nicht allein über die temporale
Dimension (also etwa die Dauer einer einzelnen Einstellung oder die
zeitliche Relation der Einstellungen in ihrer Verknüpfung) erschlie-
ßen lassen. Vielmehr handelt es sich um audiovisuelle Impulse, die
innerhalb einer Einstellung oder über mehrere Einstellungen hinweg
das Tempo bestimmen und regelmäßige oder unregelmäßige Struktu-
ren erzeugen können, wobei die sich reziprok potenzierende Relation
von Ton und Bild ein weitläufiges Ausdruckspotential eröffnet.
Klangliche und bildliche Qualitäten verdichten sich zu ambivalenten,
audiovisuellen Spannungen, die sich wechselseitig animieren und
affizieren.
Wie sich jenes komplexe Verhältnis von Auditivem und Visuellem
im Medium des Videoclips choreographieren lässt, wird beispiels-
weise in dem Clip Björk: Hyperballad (1996) deutlich: »Denn hier
wird jedem Klang ein bestimmter visueller Ausdruck zugeordnet, der
beim Ertönen des jeweiligen Instruments erscheint, wird das Bild
zum Seismographen der Rhythmen der Instrumente« (Frahm 2007,
103). Neben den Instrumenten wird auch die Stimme Björks durch
grob gerasterte Schwarzweißaufnahmen der singenden Figur bildhaft,
Figurenkonzepte im Videoclip
333
weiterhin werden Teile des Songtextes durch die Verlagerung auf
eine computeraniminierte, virtuelle Ebene visualisiert (vgl. ebd.). Die
genannten Bereiche und Flächen stehen jedoch nicht nebeneinander,
sondern kommentieren sich wechselseitig und werden durch Schich-
tungen und Überblendungen in immer neue Zusammenhänge über-
führt. Damit einher geht eine dimensionale Vervielfältigung der Fi-
gur, die sich entlang der audiovisuellen Inszenierung der zentralen
Gestalt des Clips ausbreitet:
»Als Schlafende dient sie als reine Projektionsfläche für
das übrige Geschehen, wird jedoch gleichzeitig in ihrer
Unnahbarkeit zu einer Ikone stilisiert. Als Visualisierung
des Gesangs wird ihre Performance, als Visualisierung des
Textes die Spielfigur gezeigt. Sie träumt demnach den
Traum ihres eigenen Lieds, wodurch sie zu ihrer eigenen
Protagonistin wird« (Frahm 2007, 106).
Dass sich das Wechselverhältnis von visueller und auditiver Ebene
auch jenseits der Anlehnung an einen lyrischen Gesangtext stilisieren
lässt, zeigt das Beispiel des Clips The Prodigy: Smack my bitch up
(1997). Bei dem zugrunde liegenden Musikstück handelt es sich nicht
um einen Song, der einer konventionellen Strophen-Refrain-Struktur
folgt, sondern um ein komprimiertes Beat-Arrangement, dessen ein-
zige Textzeile aus dem wiederholt präsentierten Sample »Change my
pitch up, smack my bitch up« besteht. Die elektronisch verzerrte
Stimme, die jenen Text artikuliert, ist weder an einen Körper gebun-
den, noch ist sie Teil des im Clip präsentierten Geschehens; es han-
delt sich auch nicht um eine narrative Instanz, die uns ihre Geschichte
von außerhalb des Bildes erzählt. Vielmehr scheint sie über der Die-
gese zu schweben und dadurch eine Pose einzunehmen, die keinem
einzelnen Charakter und keiner klar zu definierenden Figur zugeord-
net werden kann. Als eine Form der Semi-Adressierung richtet diese
Art der Artikulation ihre Stimme nicht an uns, sondern auf uns und
impliziert damit eine Perspektivambivalenz, die der Clip zum eigenen
Thema erhebt. Angeboten wird eine Wahrnehmungsform, deren Er-
fahrungsraum sich über das verdichtete Wechselverhältnis von einan-
der beschleunigenden bzw. sich gegenseitig aufladenden Instanzen
des Auditiven und Visuellen erschließen lässt. Bild- und Tonebene
werden als komprimierte Form zusammengezogen, wobei das durch
die Schnittfrequenz gesteigerte Tempo einer subjektiv erlebten Reise
Lisa Gotto
334
durch die Nacht Energien frei werden lässt und zunehmende Gewalt-
eruptionen mit sich bringt: Rhythmische Beats und physische Schläge
werden als organisches Ganzes präsentiert. Dabei wird die Illusion
eines unvermittelten Bewusstseins erzeugt, da eine Außensicht auf
das erlebende Ich fehlt. Zu hören sind treibende Beats sowie an- und
abschwellende sphärische Klänge, zu sehen sind Bilder, die sich um
sich selbst drehen und sich nähern, um sich sofort wieder zu entfer-
nen; zu erfahren sind audiovisuelle Arrangements, die in ihrem Zu-
sammenspiel eine eigene Bewegungsdynamik und eine spezifische
Mobilität entwickeln. Die Gestalt der erlebenden Figur samt ihrer
verzerrt-gedehnten Perspektive verbleibt dabei im Bereich des Unbe-
stimmten, da die Ebenen des Visuellen und Auditiven jeweils unter-
schiedliche Assoziationen aufrufen (etwa männlich oder weiblich
konnotierte Attribute), jedoch nicht isoliert voneinander wahrge-
nommen werden können, sondern nur in ihrem Zusammenwirken
erfahrbar sind. Damit erreicht der Clip die medienspezifische Äuße-
rung eines umfassenden Expressionspotentials, das die wechselseitige
Inanspruchnahme von Bild- und Klangbereichen als pulsierendes
Ganzes wirksam werden lässt.
Die Figurenkonzeption des Videoclips verweist in ihrer audio-
visuellen Inszenierbarkeit auf eine paradoxe Gleichzeitigkeit: »Music
video draws our attention simultaneously to the song and away from
it, positing itself in the place of what it represents« (Berlant 2002,
25). Klang- und Bildebene kommentieren und interpretieren sich
wechselseitig und erzeugen dabei Ambivalenzen, die zu einer Unun-
terscheidbarkeit von Vor- und Nachgängigem führen. Dabei bildet
sich eine eigene Form und zugleich ihr Reflex: Videoclips produzie-
ren nicht nur singende Bilder, sie handeln von ihnen.
Formal
Jedes Medium sucht auf der Grundlage seiner spezifischen Bedin-
gungen und Möglichkeiten nach ästhetischen Lösungen, um seine
Aussagen in bestimmten Mustern, Formen und Figuren zu artikulie-
ren. Ein Gestaltungsprinzip, das der Videoclip als Medium in spe-
zieller Weise heraus und hervor bringt, ist das der Vervielfältigung.
Dieses Prinzip kann als besondere Reflexionsfigur des Videoclips
gelten, in der und durch die er die Basis seiner Form in sich selbst
sichtbar macht. Der Videoclip ist insofern an das Wesen der Verviel-
Figurenkonzepte im Videoclip
335
fältigung gebunden, als sein Ort die Vervielfältigung selbst ist: Das
Multikanalfernsehen hat eine hoch differenzielle und komplexe
Struktur ausgebildet, die das Fernsehbild nur noch im Zusammen-
hang mit anderen Fernsehbildern denk- und wahrnehmbar macht.
Zudem sendet das Musikfernsehen Videoclips nicht einmalig, son-
dern mehrfach und vermag diese Vervielfältigung bis zur heavy rota-
tion zu steigern. Weiterhin ist auch die innere Organisation des Clips
an die Wiederholungsstruktur der Musik (z.B. die Abfolge von Stro-
phen und Refrain im Song, die Reimschemata in Rap und Hip Hop
oder die repetierten Samples im Elektronischen) gebunden. Außer-
dem können ästhetische Elemente in unterschiedlichen Clips wieder-
kehren (etwa wenn sie den selben Star präsentieren oder von dem
selben Regisseur realisiert wurden), und es können Versatzstücke,
Zitate oder Übernahmen anderer Medienprodukte als medial trans-
formierte Vervielfältigungen erscheinen (bereits das Sample wäre ein
Beispiel für diesen Prozess; weiterhin auch die Produktion von unter-
schiedlichen Coverversionen eines Songs, ebenso die Clipversionen
von filmischen Soundtrack-Beiträgen, in denen einzelne Einstellun-
gen oder Sequenzen des Films re-installiert werden). Schließlich ist
jeder Clip schon in sich eine Reproduktion, inszeniert er doch einen
bereits produzierten Popsong, den er als modellierte und stilisierte
Vervielfältigung seiner selbst in Umlauf bringt.
Das Prinzip der Pluralität bringt der Videoclip in seinen Figuren
auf vielfältige Weise zum Vorschein. So kann beispielsweise das
bereits musiktechnisch angelegte Phänomen der Vielstimmigkeit (sei
es nun das Verhältnis von Leadsänger und Background-Chor oder
seien es elektronisch produzierte Multiplikationseffekte) durch ver-
vielfachte Figuren visualisiert werden (etwa in dem Clip George
Michael/Mary J. Blige: As (1999), in dem die vervielfältigten Stim-
men der Stars als nahezu unendlich reproduzierte Figuren, als immer
gleiche Additionen ihrer selbst, in Szene gesetzt werden). Auch In-
strumente können sich vervielfältigen, z.B. in dem Clip The White
Stripes: The Hardest Button to Button (2003), wo Schlagzeug und
Gitarre bei jedem Ertönen visuell verdoppelt werden und so einen
sichtbaren Nachhall ihres eigenen Klangprinzips vorführen.
Eine andere Form der Vervielfältigung betrifft die gestaltästheti-
sche Form der Figurenkonzeption, für die der Videoclip besondere
Inszenierungsweisen der Subjektbrechung entwickelt hat. Deutlich
wird dies z.B. an dem Clip Björk: All is Full of Love (1999), der das
singende Ich als technisch-androide Doubles reproduziert. Zu sehen
Lisa Gotto
336
sind zwei identische Robotergestalten, deren Gesichter die Physio-
gnomie Björks tragen. Der Komplex Mensch-Maschine-Diffusion,
der über eine lange medienübergreifende Motivtradition verfügt, wird
hier in einen spezifischen Zusammenhang überführt. Denn hier geht
es weniger um die Phantasie eines transhumanen Technoiden, son-
dern um die maschinelle Reproduktion der Sängerin selbst. Diese
Reproduktion wird nicht von außen initiiert, sondern geschieht aus
sich selbst heraus: Die beiden Gestalten erscheinen als Kopien ohne
Original; ihre technisch duplizierten Identitäten lassen keinen Rück-
schluss auf Ursprung oder Anfang zu. Der Clip reflektiert damit das
anfangs- und endlose Wesen des Fernsehens, dessen Bilder nur in
Relation zu anderen Bildern existieren, ebenso wie das rekursive
Wesen des Stardiskurses, dessen Figurationen an die Pluralität me-
dialer Facettenbildung gebunden sind. Das Phänomen der Vervielfa-
chung lässt sich weiterhin auch im Bereich der Narration beobachten,
nämlich dort, wo
»im konjunktivische(n) Erzählen die reflexive Thema-
tisierung alternativer Selektionsoptionen im Erzählvorgang
selbst, und zwar in Gestalt alternativer und zugleich anti-
nomischer Handlungsentwürfe innerhalb einer Narration«
(Kirchmann 2006, 163)
entwickelt werden. Beispielhaft kann dafür der Clip von Limp Bizkit:
Behind Blue Eyes (2003) stehen, dessen Songdarbietung von zwei
Figuren in einem Zellen-Ambiente übernommen wird. Wird der Text
des Songs zunächst von dem als Inhaftierten vorgeführten Sänger der
Band formuliert, während ihm eine Ärztin dabei zuhört und ihn zu-
gleich beobachtet, verkehrt sich dieses Figurenverhältnis in der Folge.
Betreuter und Betreuender wechseln ihre Positionen und nun ist es
die als Häftling inszenierte Frauenfigur, die die Geschichte des Songs
in der Zelle vorträgt, während der als Arzt präsentierte Sänger ihr
zuhört und sie beobachtet. Berücksichtigt man, dass der Clip in einer
rekursiven Sendeschleife und in einem Multikanalumfeld beliebig
rezipiert werden kann, dann wird deutlich, dass die in der Narration
angelegte Vervielfältigung möglicher Handlungsentwürfe sich noch
einmal repliziert, so dass »die Interaktion beider Ebenen, also der
immanenten und der transversalen Figuration von Wahlmöglichkei-
ten« (Kirchmann 2006, 172) reflektiert wird. Eine andere Möglich-
keit, das Prinzip der Vervielfältigung als mediale Mehrfachbezüg-
Figurenkonzepte im Videoclip
337
lichkeit auszustellen, besteht in der Gestaltung des Clipbilds selbst.
Als stilbildendes Verfahren kann dafür der Modus des Split Screens
gelten, wie er etwa in dem Clip Cibo Matto: Sugar Water (1996)
vorgeführt wird. Die Narration wird hier in einer Form bearbeitet, die
die Pluralität möglicher Darstellungsformen in das Bild hinein
nimmt. Dabei erscheinen die gezeigten Abläufe zunächst ähnlich:
Das, was sich auf der linken Bildhälfte ereignet, ereignet sich zeit-
gleich auch auf der rechten. Allerdings wird das Geschehen von zwei
verschiedenen Frauen (dargestellt von den beiden Sängerinnen der
Band) vorgeführt, weiterhin unterscheiden sich die Kameraeinstel-
lungen und die Laufrichtung der Bilder. Der Clip nimmt damit Bezug
auf die dem Fernsehen immer schon inhärente Koexistenz von Bil-
dern und Abläufen, mehr noch: Er entwickelt eine bildästhetische
Operation, die das Wesen der Vervielfältigung an die dispositive
Verfasstheit des Fernsehens rückbindet, sie durch diesen Prozess
sichtbar macht und in einer spezifischen Form in sich selbst zur An-
schauung bringt.
Relational
Die dem Fernsehen inhärenten Prinzipien der Pluralität und Referen-
zialität, die für die Figurationen des Videoclips maßgeblich sind,
zeitigen Folgen nicht nur auf der Ebene der Produktion, sondern auch
auf der Ebene der Rezeption. Der Rezipient des Videoclips hat es
nicht mit stringenten Narrationsformen oder konsistenten Auffüh-
rungspraxen zu tun, sondern ist dazu aufgerufen, innerhalb einer
Fülle von diskontinuierlichen und inkohärenten Elementen zu navi-
gieren. Weiterhin spielt die Modalität der intertextuellen und inter-
medialen Bezüglichkeit, die der Videoclip in sich und über sich hin-
aus ausbildet, eine entscheidende Rolle. Dabei ist zu beachten, dass
sich jene Formen medialer Komplexität nicht unvermittelt auf den
Zuschauer ergießen, sondern dass dieser seinerseits dazu in der Lage
ist, Rezeptionsroutinen zu ritualisieren. Dazu können die Formen des
Fernsehens selbst einen Beitrag leisten, wenn sie auf ihre eigenen
Rezeptionsanforderungen aufmerksam machen. Entsprechend kann
verdeutlicht werden, »daß die Bildhaftigkeit des Fernsehens von einer
strategischen Stilisierung geprägt ist, die zu einer Reflexion von Bil-
dern/Visualitäten in Produktion, Rezeption und den Produkten selbst
führt« (Adelmann/Stauff 2006, 67). Für die Ebene der Rezeption
Lisa Gotto
338
bedeutet dies, dass sich das Publikum der fernsehspezifischen Visua-
lisierungsprozesse verstärkt bewusst werden kann. Die Einsicht in
Bildgestaltung und Bildverschränkung steigert sich zu einem eigenen
Erschließungsvermögen: »Auf seiten der Rezeption entfaltet sich die
ästhetische Erfahrung zunehmend auf der Basis einer stilistischen
Kompetenz, die subtile Differenzierungen zwischen unterschiedli-
chen Sendungen realisiert« (Adelmann/Stauff 2006, 65f). Ergänzend
kann angemerkt werden, dass sich die angesprochene stilistische
Kompetenz nicht allein auf die Identifizierung verschiedener Sen-
dungsformen auswirkt, sondern dass sie auch ein vermehrtes Wissen
um popkulturelle Inszenierungskonventionen (etwa die Tendenz zur
Wiederverwendung und Wiederverwertung von andernorts Vorgebil-
detem) impliziert, dass also die Sensibilität im Umgang mit Mehr-
fachbezügen sich sukzessive steigert. Der Zuschauer hat rezeptive
Vorgehensweisen entwickelt, wie er mit Medienprodukten umgehen
kann, und zwar auf der Basis seiner Erfahrung mit anderen Medien-
produkten. Folglich ist davon auszugehen, dass die Kenntnis des
Publikums um Konzeptionskonventionen der clipspezifischen Figu-
reneinheiten gewachsen ist, dass das Wissen um mediale Referenzen
und Austauschverfahren mit der vermehrten Selbststilisierung des
Fernsehens stetig zunimmt.
Das Fernsehen ist wiederum seinerseits in der Lage, ein Wissen
um Rezeptionsroutinen auszubilden. Dazu gehört beispielsweise die
fernsehspezifische Verarbeitung einer Selbsterkenntnis des wahl-
freien Zugriffs, den der Rezipient jederzeit im Modus des Zappings
und Switchings vornehmen kann. Für den Bereich des Videoclips
kann das Beispiel einer im Bild integrierten Selektionsoption genannt
werden, wie es etwa der Sender Viva mittels des Konzepts Get the
Clip vorhrt. Hier kann der Rezipient den zu sendenden Clip selbst
auswählen; er kann selektieren, ohne dass er dafür umschalten
müsste. Es gibt also Programmformen, die sich das Wissen um die
mögliche Wahl eines anderen Programms einbilden, die die Kenntnis
der rezeptiven Selektionsfreiheit in sich selbst aufnehmen. Der Vi-
deoclip scheint aufgrund seiner extrem kurzen Sendedauer ein gestei-
gertes Bewusstsein seiner eigenen Um- und Abschaltbarkeit entwic-
kelt zu haben, das sich nicht nur im Umfeld seiner Programmierbar-
keit, sondern auch in seiner eigenen Form manifestiert (etwa durch
die in vielen Clips gesteigerte Schnittfrequenz, die das Zapping in
den Clip hineinzuziehen scheint; weiterhin auch auf der Motivebene,
z.B. durch die selbstreferenzielle Requisite der Fernbedienung, mit-
Figurenkonzepte im Videoclip
339
tels derer Michael und Janet Jackson im Clip Scream (1995) unter-
schiedliche Bilder und Figuren aufrufen können).
Eine andere Möglichkeit der rezeptiven Bezugnahme besteht in der
visuellen Rückbindung des Zuschauers in den Rahmen des Fernseh-
bildes. Das Musikkanalfernsehen hat Formen und Verfahren entwic-
kelt, die Spur des Rezipienten bildhaft werden zu lassen. Dazu gehö-
ren beispielsweise die mit SMS-Botschaften gefüllten Textlaufbän-
der, mittels derer die Zuschauer sowohl die gesendeten Clips und ihre
Stars kommentieren, als auch sich selbst untereinander adressieren
können. Weiterhin wird das Publikum auch figural re-installiert, etwa
durch Handyfotos, die als Selbstrepräsentationen der Rezipienten in
das Fernsehbild integriert werden. Folglich kann der Clip dadurch,
dass er seine Ausstrahlung mit Markierungen seiner Wahrnehmung
versieht, eine tatsächlich stattgefundene Rezeption dokumentieren
und dadurch wiederholte Rezeptionen stimulieren. Die den Clip be-
gleitende und ihn umrahmende Einbindung des Zuschauers verweist
damit auf seine eigene Rezeptionsbedingung. Der Zuschauer ist nicht
nur in der Lage, den segmentierten Charakter des Clips zu erschlie-
ßen, er ist auch an der prozessualen Entfaltung seiner Formbildung
beteiligt. Adressiert und reflektiert wird damit sowohl die Vielgestal-
tigkeit der clipspezifischen Ausdrucksformen, als auch die Vielzahl
an Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit ihnen.
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Lisa Gotto
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der Popmusik“. http://wwwcs.uni-paderborn.de/~winkler/pop.html (03.11.-
2007)
341
Jürgen Sorg
Figurenkonzepte im Computerspiel
»Wenn du dich darüber freust, dass du eine be-
sonders schwere Mission in einem Rollenspiel
geschafft hast, freust du dich über dein reales
Können, deine wirkliche Leistung und nicht
über die Taten eines fiktiven Charakters. Wenn
dich wiederum die fiktiven Feinde in einem
Computerspiel angreifen, fühlst du dich ganz
real bedroht, denn du könntest das Spiel verlie-
ren. Das betrifft dich ganz persönlich« (Jesper
Juul 2008, 62).
»So what place does empathy have in interactive
works, where the player is driving the experi-
ence rather than just going along for the ride?
The answer is that we really need both, perhaps
in equal measures. We need agency to engage
the volition and creativity of the player; we need
empathy to engage the outer region of our brain
that wants to simulate and predict complex,
emotional beings around us« (Will Wright 2004,
xxxiii).
Eine der prominentesten Figurenkonzeptionen in heutigen Computer-
spielen sind von Spielern steuer- bzw. kontrollierbare anthropomor-
phe Figuren, so genannte Player Characters bzw. Spieler-Figuren.
Als Spieler-Figuren lassen sich aber auch figurale Entitäten wie si-
mulierte Fahrzeuge, Waffen, Spiel- und Sportgeräte ebenso wie ver-
schiedenste andere konkrete und abstrakte Objekte verstehen, sofern
sie als virtuelle Repräsentationen des Spielers im Spielgeschehen
funktionalisiert werden. Ganz ohne visuell dargestellte Figuren kom-
men Computerspiele indes auch durch spezifische Darstellungsfor-
men der Spieleradressierung aus. Beispielsweise indem der Spieler
Jürgen Sorg
342
selbst durch eine spezifische Darstellungsperspektive wie etwa der
Ego-Perspektive in Ego-Shootern oder Fahrzeugsimulationen als
Handlungssubjekt der Spielwelt eingebunden wird. Auch hier ver-
wirklichen sich Figureneffekte, die für das Handlungsgeschehen und
-erleben im Dispositiv der Computerspiele konstitutiv sind.
Eine wesentliche Eigenschaft von Figurenkonstruktionen im Com-
puterspiel besteht ferner in ihrer hybriden Struktur. Figuren im Com-
puterspiel verwirklichen ludische wie narrative Momente und verwei-
sen somit auf Konzeptionen von Spiel- und Erzählfiguren.
Figurenkonzepte im Computerspiel sollen im Folgenden unter dem
Gesichtspunkt ihrer Hybridität zwischen Spiel- und Erzählfigur be-
griffen werden. Erst in der Perspektivierung dieser beiden Form-
aspekte, so wird zu zeigen sein, lässt sich die Spezifik der Computer-
spielfigur und ihres Präsentationsdispositivs entfalten. Dabei wird
insbesondere das avatarbasierte Singleplayer-Computerspiel und mit
diesem das Figurenkonzept der vom Spieler gesteuerten Spieler-Figur
im Fokus der Überlegungen stehen, da sich dort der Doppelcharakter
der Computerspielfiguren am prägnantesten rekonstruieren lässt.
Multiplayerspiele, ebenso wie abstrakte Geschicklichkeits- und Stra-
tegiespiele sowie das Figurenkonzept der Nicht-Spieler-Figur werden
hier weitestgehend vernachlässigt und nur am Rande gestreift.
Der Doppelcharakter der Computerspielfigur
Zweifellos bilden Figurenkonstruktionen wesentliche Handlungsele-
mente im Zusammenspiel zwischen Handlungsdarstellung und
Handlungsherausforderung in Computerspielen. Sie verwirklichen
sich dabei gleichsam als Spielsteine, Marionetten oder Perspektiven,
indem sie den Spieler im Bildschirmgeschehen repräsentieren, ebenso
wie sie als Objekt und Mittel spielerischer Handlungen oder als simu-
liertes Gesichts- bzw. Blickfeld einer imaginierten, visuell nicht re-
präsentierten Figur funktionalisiert werden. Ganz gleich ob abstrakt
oder ikonografisch konkretisiert fungieren sie somit als zentrale Be-
zugspunkte der Spieler, mit denen diese den spielerischen Herausfor-
derungen auf den virtualisierten Spielfeldern digitaler Spiele begeg-
nen: als deren Stellvertreter und Verkörperungen, als manipulier- und
kontrollierbare Einheiten sowie durch simulierte Perspektiven adres-
sierter Handlungssubjekte.
Figurenkonzepte im Computerspiel
343
Gemeinsam ist diesen Figurenkonzepten ihre strukturelle Funktiona-
lität im ludisch-performativen Handlungsgeschehen des Computer-
spiels. Denn erst die Figur ermöglicht eine ludische Beziehungskon-
stellation zwischen Spieler und Computerspiel, indem über diese
Steuerungs- und Kontrollpotenziale verwirklicht und gleichsam
Spielstände und -fortschritte kodiert werden; sie ist somit Mittel der
Bezugnahme wie strukturelles Handlungselement des Spiels, über die
die Reaktionen der rechnergestützten Spielwelt auf die virtuelle Prä-
senz des Spielers prozessiert werden.
Im Computerspiel finden sich allerdings auch Figuren wieder, die
der Spieler nicht direkt kontrolliert, die so genannten Non-Player-
Characters (NPCs) bzw. Nicht-Spieler-Figuren. Sie tauchen dabei
ebenso wie Spieler-Figuren sowohl als anthropomorphe Gestalten
wie auch als nicht-menschliche Objekte und Einheiten auf. Sofern sie
nicht nur rein ornamentale Funktionen übernehmen, werden über
diese Figuren im Computerspiel insbesondere ludische Funktionen
wie Gegnerschaft, Kooperation, Spielregelvermittlung sowie damit
einhergehend Levelstrukturen durch Variationen in Schwierigkeit und
Spielmodus realisiert. Nicht-Spieler-Figuren sind aber gerade auch
für die narrative Gestaltung von Computerspielen entscheidend. Sie
dienen der Konstruktion erzählerisch-normativer Konflikte ebenso
wie der plausibler Spielwelten, durch die Spielhandlungen erzähle-
risch gerahmt und somit gleichsam auch motiviert und legitimiert
werden. Nicht-Spieler-Figuren tauchen im Computerspiel somit nicht
nur als ludische Funktionsstellen des performativen Handlungsge-
schehens auf, sondern ferner auch als Erzählfiguren.
Dies gilt auch für die Spieler-Figur selbst. Bereits die ikonografi-
sche Konkretisierung und die damit einhergehende Personalisierung
einer Figur generiert narratives Potenzial, das durch die Einbettung
der Figur in eine Rahmenhandlung zusätzliche Identifikationsmo-
mente sowie normative Strukturen realisieren kann: damit erweitert
sich nicht nur das mögliche Handlungsspektrum von Spieler-Figuren,
indem Handlungen gleichsam zu absichtsvollen und motivationalen
werden1, sondern überhaupt ermöglicht erst die Verschaltung spiele-
risch-performativer und narrativ-darstellender Formen das, was die
Spezifik der ludischen Herausforderungen und Erlebnisdimensionen
im Spannungsfeld zwischen Handlungsträgerschaft und Handlungs-
vollzug auf dem virtualisierten Spielfeld im Computerspiel ausmacht:
1 Beispielsweise „Rette/Erobere/Verteidige/Unterwerfe die Welt!“
Jürgen Sorg
344
das Agieren mit einer Figur und als Figur in fiktionalen, quasi-filmi-
schen Welten.
Spielwelten als technologisch induzierte, virtuelle
Spielfelder
Trotz seiner 40jährigen Geschichte, hat sich das mediale Präsenta-
tionsdispositiv des Computerspiels seit William Higinbothams Tennis
for Two (1958) und Steve Russels Spacewar! (1961) kaum geändert:
»Die Eingabe- und Ausgabegeräte eines Computers oder
eines computerähnlichen Geräts werden algorithmisch der-
art aufeinander bezogen, dass sich auf dem Display des
Ausgabegeräts Spielherausforderungen mitteilen, die durch
zeitkritische, entscheidungskritische und konfiguration-
skritische Eingaben gemeistert werden müssen. Erfolg und
Misserfolg des Eingabeverhaltens zeigen sich auf dem
Display und motivieren eine entsprechende Adjustierung
des Eingabeverhaltens [Herv. i. O; JS (Venus 2007, 71).2
Indem der Spieler mit Hilfe der Eingabegeräte die auf dem Bild-
schirm dargestellten Objekte direkt oder indirekt manipuliert und
diese Handlungen wiederum vom Computer evaluiert und durch spe-
zifische Rückkopplungen dem Spieler präsentiert werden, realisiert
sich die für das Computerspiel charakteristische dispositive Anord-
nung: die Einbeziehung des Spielers als Handlungsträger in das al-
gorithmisch prozessierte Bildschirmgeschehen. Damit markiert diese
dispositive Anordnung einen wesentlichen Unterschied zu nicht-
elektronischen Spielangeboten, beispielsweise traditionellen Sport-,
Gesellschafts- und Brettspielen, die spiellogisch betrachtet in ihren
Handlungsdimensionen funktionsäquivalent sind: Ebenso wie in
2 Die auf Claus Pias (2002) zurückgehenden Unterscheidungen Zeit-, Entscheidungs- und
Konfigurationskritisch markieren dabei die wesentlichen Handlungsdimensionen von
Spielherausforderungen: 1. die Dimension der Geschicklichkeit (Hand-Auge-Koordination,
Reaktion, Schnelligkeit und Präzision), 2. die Dimension der Strategie (Risiko und Ratio-
nalität) und 3. die Dimension der Kombinatorik (Logik und Logistik). Diese Herausforde-
rungstypen werden je nach Computerspiel-Genre in unterschiedlichem Maße instantiiert.
Ihre idealtypische Realisierung finden sie in den ebenfalls von Claus Pias vorgeschlagenen
Genredimensionen »Action« (Geschicklichkeit), »Strategie« (Strategie) und »Adventure«
(Kombinatorik) (vgl. Pias 2002).
Figurenkonzepte im Computerspiel
345
Computerspielen geht es hier darum, als Spieler auf einem Spielfeld
regelorientierte bzw. -determinierte Spielhandlungen zu vollziehen,
um ein wie auch immer geartetes Spielziel zu erreichen. Nur im
Computerspiel allerdings verwirklicht sich das Spielfeld als ein dem
Spieler physikalisch entrücktes, virtualisiertes Spielfeld.3 Während
zudem in Sport- und Gesellschaftsspielen die Handlungen eines
Spielers von anderen (Mit)Spielern oder Schiedsrichtern beobachtet
und evaluiert werden, an die sich dann weitere regelorientierte
Handlungen anschließen können,4 werden diese Beobachtungs- und
Evaluationsprozesse im Computerspiel technologisch vollzogen.
Spiellogisch betrachtet werden die gerade für kompetitive wie auch
kooperative Spielzusammenhänge konstitutiven Mitspieler bzw.
Schiedsrichter5 analoger Spieldispositive gleichsam vom Computer
ersetzt.6 So lassen sich hier auch komplexere Regelwerke in einer
Geschwindigkeit prozessieren, zu der ein menschlicher Schiedsrichter
oder Spielleiter nicht mehr in der Lage wäre. Im Computerspiel ver-
schalten sich somit die Spielhandlungen des Spielers und die Re-
chenoperationen des Computers, die letztlich Logik, Handlungsraum
3 Das Neuartige am Computerspiel liegt Venus (2007) zufolge in der Virtualisierung des
Spielfeldes. Denn das Spielfeld findet sich im Computerspiel nicht wie in ›analogen Spie-
len in Griffnähe, sondern vom Spieler getrennt. Der Spieler agiert zwar in einem ›physika-
lisch-phänomenologischen Hier und Jetzt, das Spielgeschehen selbst findet jedoch vermit-
telt durch das Ausgabegerät in einem virtuellen ›Dort und Dann‹ statt (vgl. Venus 2007,
72). Im Unterschied zu Spielfeldern in Brettspielen, die durch eine narrative Konkretisie-
rung ebenfalls eine fiktionale Welt und folglich ein Dort und Dann etablieren, werden die
durch das Eingabeverhalten eines Spielers bewirkten Bildschirmhandlungen auf dem
virtualisierten Spielfeld des Computerspiels allerdings rechnergestützt prozessiert. Im
Computerspiel handelt es sich somit um technologisch induzierte virtualisierte Spielfelder.
4 Gegen Spielhandlungen können auch Sanktionen erfolgen, wie beispielsweise ein Aus-
schluss vom Spiel durch die rote Karte auf ein Foul im Fußball folgt.
5 Die Figur des Mitspielers und Schiedsrichters fällt hier insofern zusammen, als auch
Mitspieler üblicherweise darauf bedacht sind, Spielhandlungen gegnerischer Spieler oder
Mannschaften nach ihrer Regelkonformität zu beobachten und zu evaluieren, um so die für
das Spiel so konstitutive Chancengleichheit zu wahren.
6 Das gilt auch für Multiplayerspiele, in denen zwar verschiedene Spieler auf virtualisierten
Spielfeldern agieren, allerdings auch hier zunächst nur diejenigen Handlungen und Spiel-
fortschritte möglich sind, die das computerbasierte Spiel ermöglicht zumindest sofern
nicht mit Cheats und Mods in die Programmstruktur digitaler Spiele eingegriffen wird. Auf
einer sozial-kommunikativen Ebene lassen sich gerade in den so genannten MMORPGS
(Massively Multiplayer Online Role Playing Games) und deren Varianten auch implizite,
dem konkreten Spielangebot äußerliche, Verhaltensregeln beobachten, nach denen Spieler
agieren. Hier sorgen dann freilich auch die Mitspieler für die Einhaltung des ›stick to the
rules‹-Prinzips.
Jürgen Sorg
346
und folglich auch die Spielherausforderungen auf den virtualisierten
Spielfeldern konstituieren.7
Diese computertechnologische Basis findet sich indes durch die
formästhetische Gestaltung heutiger Computerspiele zunehmend
kaschiert; so verdanken sich auch die vom Computerspiel instantiier-
ten Nutzungs- und Rezeptionsmodi viel eher dem simulativen Po-
tential des Computerspiels. Denn die Effizienzsteigerung digitaler
Daten- und Grafikverarbeitung ermöglicht nicht nur die Implementie-
rung verschiedenster medialer Darstellungs-, Repräsentations- und
Konstruktionsformen, etwa Kamerafahrten und -einstellungen, Be-
leuchtung, Handlungsuntermalung durch non-diegetische Musik so-
wie narrative Topoi, Stoffe und Plotkonstruktionen massenattraktiver
Angebote,8 sondern auch die zunehmend realistischer werdende
Simulation des Verhaltens virtueller Objekte. Die Entwicklung
künstlicher Intelligenzen, der Berechnung physikalischer Eigen-
schaften und Reaktionen sowie die Simulation menschlicher Mimik,
Gestik und Proxemik schreiten dabei kontinuierlich voran. Die
Spielwelten gegenwärtiger Computerspiele verwirklichen sich gewis-
sermaßen als zunehmend realistischer und filmischer anmutende
digitale Lebens- und Wirklichkeitssimulationen.9 Und als solche bie-
ten sie immer neue Betätigungs- bzw. Handlungsfelder für die immer
wiederkehrenden abstrakten Muster und Spielmodi klassischer Ge-
schicklichkeits-, Kombinations- und Strategiespiele.10 Funktional
gesehen bilden die Spielwelten gewissermaßen den narrativen und
ästhetischen Rahmen, dem konventionalisierte Spielherausforderun-
gen, Spielelemente und Spielregeln vom Spieler hinlänglich ver-
7 Alexander Galloway unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen »operator actions«
und »machine actions«: »machine actions are acts performed by the software and hardware
of the game computer, while operator actions are acts performed by players. So, winning
Metroid Prime is the operator’s act, but losing it is the machine’s. Locating a power-up in
Super Mario Bros. is an operator act, but the power-up actually boosting the player charac-
ter’s health is a machine act« (Galloway 2006, 5).
8 Vor allem die ästhetische Nähe des Computerspiels zum Spielfilm und Fernsehen ist von
verschiedenen Autoren verhandelt worden (vgl. z.B. King/Krzywinska 2002, Bolter/Grusin
1999). Mediengeschichtlich betrachtet hat sich allerdings jedes neue Medium zunächst an
den Formbeständen der massenattraktivsten Medienangebote der jeweiligen Zeit orientiert,
bevor es eigene medienästhetische Spezifika ausgebildet hat. Das gilt auch für das Comput-
erspiel, das freilich auch mediale Formen des Spielfilms übernommen hat: »Video games
remediate cinema; that is, they demonstrate the propensity of emerging media forms to
pattern themselves on the characteristic behaviors and tendencies of their predecessors
[Herv. i. O.; JS]« (Rehak 2003, 104).
9 Vgl. auch Grodal (2003), Klimmt (2004), Dovey/Kennedy (2006) und Venus (2007).
10 Vgl. Fußnote 3.
Figurenkonzepte im Computerspiel
347
ständlich zugeordnet werden können; darüber hinaus erzeugen sie
attraktive Varianzen für das Spielerleben.11
So finden sich heute in fast jedem Computerspiel die zunächst als
abstrakt zu bezeichnenden Spielformen wie Spielfiguren, Spielagen-
tien bzw. -mittel, Spielfelder, Spielakte und Spielziele narrativ kon-
kretisiert:12 als charakteristische Handlungsträger, ikonisch identifi-
zierbare Gegenstände und Objekte sowie fiktionale Welten, in denen
die vollzogenen Spielaktionen nicht mehr nur konkreten Regeln fol-
gende und auf ein Spielziel ausgerichtete Spielzüge, sondern gleich-
sam absichtsvolle und lebensweltlich bezogene Handlungen darstel-
len. Spieler agieren in fiktionalen und quasi-filmischen Welten wie
Mario Land (Super Mario Bros.), Liberty City (Grand Theft Auto 4)
oder City 17 (Half Life 2), wo sie vermittelt über Figuren wie Mario,
Niko Bellic oder über das simulierte Gesichtsfeld von Gordon
Freeman springen, suchen, fahren oder schießen können, um ver-
schiedenste Ziele zu erreichen, von der Rettung der Prinzessin in
Super Mario Bros. über das Nach-Leben einer ironisch überzeichne-
ten Version des amerikanischen Traums in Grand Theft Auto 4 bis
hin zur aktiven Rebellion gegen feindliche Invasoren in Half Life 2.
11 Die prinzipielle (im engen ludologischen Sinn) Gleichförmigkeit der konventionalisierten
Spielmuster des Computerspiels wird immer wieder qua narrativer Formen kaschiert und
damit neu erfunden. So konstatiert Espen Aarseth treffend: »From Crowther and Woods’
original Adventure via Myst and Duke Nukem to Half-Life, Serious Sam, No One Lives
Forever, Max Payne and beyond, the gameplay stays more or less the same, the rules
likewise, but the game-world […] improves yearly (along with expanded development
budgets). If not, the new games would never sell at all. […] Take away the game-world,
and what is left is literally the same game skeleton […]« (Aarseth 2003, 4).
12 Mit Kenneth Burkes quasi-analytischem System der Motivgrammatik lassen sich
Handlungen als Handlungssysteme modellieren, die aus fünf wesentlichen Handlungsdi-
mensionen bestehen: »agent« (Handlungsträger) – »agency« (Handlungsmittel) – »scene«
(Handlungsort/-zeit) – »act« (vollzogene Handlung) – »purpose« (Handlungsabsicht, -ziel):
»[…] what was done (act), when or where it was done (scene), who did it (agent), how he
did it (agency), and why (purpose)« (Burke 1967, XV). Zu Kenneth Burkes Motivgramma-
tik sowie zum Konzept der Handlung als tertium comparationis von Spiel und Erzählung
vgl. auch Sorg (2007) und Venus (2009).
Jürgen Sorg
348
Konventionen der Figurenkonzeption im Computerspiel
Ebenso wie sich der hybride Charakter von Computerspielewelten
insbesondere darin zeigt, dass ihre Spielfelder wie fiktionale Welten
fungieren und so gleichsam ludisch-performative wie narrativ-dar-
stellende Handlungsdimensionen etablieren,13 verwirklicht auch die
Figur im Computerspiel unterschiedliche Funktionalitäten. Als nicht-
physikalische Repräsentanz im Virtuellen ist die Figur als Spieler-
Figur zunächst ludische Funktionsstelle. Sie dient dem Spieler als
virtuelles Spielmittel und Werkzeug, um die Herausforderung des
Spiels zu meistern, und ist gleichsam auch selbst Spielzeug, das der
Spieler gemäß ihrer vorgegebenen Handlungspotenziale steuern, und
oftmals auch modifizieren und gestalten kann.
Hinsichtlich ihrer ludischen Funktionen greift die Computerspiel-
figur somit vor allem auch auf Konzeptionen der Spielfigur aus kon-
ventionellen Spielzusammenhängen zurück, nämlich auf die regel-
konstituierter wie auf die regelunabhängiger Spielfiguren.14 Erstere
bezeichnen Spielfiguren, deren Funktionalitäten sich aus dem jewei-
ligen Regelwerk konstituieren, letztere bezeichnen Spielfiguren (etwa
Puppen oder Marionetten), deren Spielfunktionalität und ludische
Handlungspotenziale sich ausschließlich aus ihrer Form, Gestaltung
und Referenz sowie der Möglichkeit, diese zu transformieren, erge-
ben. So finden die konkreten Figurenkonzeptionen des Computer-
13 Dieser ludisch-narrative Doppelcharakter des Computerspiels hat in der Vergangenheit
im Computerspieldiskurs immer wieder zu intensiven Debatten geführt (zur Narratologie-
Ludologie Debatte, vgl. bspw. Aarseth 2003). Dabei hat sich vor allem gezeigt, dass die
etablierten Spiel- und Erzähltheorien nicht in der Lage waren, ihr jeweiliges Pendant über-
zeugend zu beschreiben. Stattdessen wurde massiv mit Ablehnungs- und Vereinseitigungs-
strategien operiert: das Spiel- bzw. Erzählhafte des Computerspiels wurde entweder als
zweitrangig abgestempelt oder dem jeweils anderen subsumiert. In den letzten Jahren
allerdings rückt der hybride Charakter zunehmend ins Zentrum der Analysen: so etwa in
Half Real (Juul 2005), wo Juul das Computerspiel als Hybrid zwischen »Real Rules« und
»Fictional Worlds« modelliert (vgl. auch Newman 2002, 2004; Klevjer 2006; Nöth et. al.
2008).
14 Damit sind zwei Spielmodi angesprochen, die Caillois »ludus« und »paidea« nennt.
Ersteres bezeichnet das regelgeleitete Spiel, letzteres das freie, kindliche Spiel, dessen
Spielhandlungen sich dadurch auszeichnen, dass diese keinen vorgegeben Spielzielen,
Spielzügen oder -akten und Spielfeldern folgen. Quer zu dieser Unterscheidung führt
Caillois zudem vier Spielmodi an, die weniger formale, als rezeptiv-funktionale Gesichts-
punkte bezeichnen: »agon« (Wettkampf), »alea« (Zufall), »mimicry« (Rollen- und Identifi-
kationsspiel) und »ilinx« (Rausch) (vgl. Caillois 1960). Insofern in dieser Arbeit auf Funk-
tionalitäten von Spielfiguren im Spiel Bezug genommen wird, ist hier allerdings von kon-
ventionalisierten und kulturell etablierten Praktiken des Regelspiels die Rede.
Figurenkonzepte im Computerspiel
349
spiels je nach Spielprinzip ihre Vorläufer sowohl in den regelbasier-
ten Sport-, Gcks-, Gesellschafts- und Brettspielen wie auch in den
Spielzeug-Konzeptionen von Puppen, Actionfiguren und fernsteuer-
baren Fahrzeugen: Mit Blick auf erstere wären beispielsweise Figuren
mit strategischen Funktionen (Verteidiger, Angreifer), spezifischen
Spielwerten (Chetons), spezielle Kartenfunktionen (etwa der Joker)
oder charakteristischen Spielzugoptionen (Spielfiguren im Halma
ebenso wie im Schach) aufzuführen; letztere verweisen hingegen auf
Aspekte der Gestaltbarkeit (Ankleide- und Schminkpuppen), Beweg-
barkeit (Puppen mit beweglichen Gliedern oder Transformationsei-
genschaften) und Lenk- bzw. Steuerbarkeit (Handlungsvollzüge einer
Figur werden über ein Eingabegerät durch eigene Tätigkeit ausgelöst
und synchronisiert) von Figuren. Beide Figurenkonzeptionen finden
sich freilich in unterschiedlichen Graden und Kombinationen in der
Computerspielfigur wieder.
Die Präsentation der Computerspielfigur orientiert sich ebenfalls
an konventionellen Darstellungsformen von Brett-, Rollen- und
Sportspielen. So gilt etwar agonale Spielzusammenhänge die kon-
stitutive Unterscheidung der Spieler-Parteien, deren Spielfiguren
bzw. Spieler oftmals nach Formen oder Farben (im Sport etwa durch
unterschiedliche Trikots) und innerhalb der jeweiligen Parteien nach
Spielwerten und Handlungsfunktionalitäten differenziert werden. In
Strategiespielen wie Civilization finden sich bspw. gegnerische Figu-
reneinheiten nach Farbe oder Form, und Figuren innerhalb der Ein-
heiten nach spezifischen strategischen Handlungsfunktionalitäten
unterschieden. Zudem kennt das Computerspiel verschiedene Modi
der Statusanzeige, die nicht nur über den Spielfortschritt, sondern
auch über Eigenschaften und Zustand der Figur informieren. Gerade
letzteres markiert ein wesentliches Element in der Figurenkonzeption
klassischer Rollenspiele.15
Aber auch konventionalisierte mediale Präsentationsformen aus
Sportübertragungen, -berichten sowie aus filmischen Selbstdarstel-
lungen der Fun- und Trendsportarten finden sich in Computerspielen
wieder. In Sportspielen wie Fifa oder SSX werden bspw. bestimmte
Bewegungen bzw. Bewegungssequenzen von Figuren in Zeitlupe
wiederholt, aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt oder gar von
virtuellen Sportkommentatoren kommentiert und dabei derart in
Szene gesetzt, dass wie bei ihren medialen Vorbildern der dynami-
sche Vollzug der Handlung selbst zum Zentrum der Darstellungs-
15 Vgl. hierzu insbesondere auch Fine 2002.
Jürgen Sorg
350
handlung wird.16 Es geht hier und im Spiel überhaupt um das Wie
und nicht um das Was der Handlungsdarstellung. Und genau hierfür
finden sich zahlreiche konventionalisierte mediale Präsentations- und
Darstellungsformen, die eine solche Form der Handlungs-Inszenie-
rung unterstützen.17
Computerspielfiguren wie etwa Pac-Man, (Super) Mario, Lara
Croft erinnern aber auch an Figurenkonzepte nicht-ludischer Hand-
lungszusammenhänge. So tauchen sie ebenso wie Film- und Comic-
figuren auch außerhalb ihres ursprünglichen Funktionszusammen-
hangs als Merchandise-Artikel auf, sie werden zu Helden von
Animations- und Spielfilmen oder wie im Falle von Lara Croft
sie avancieren zur Ikone der postfeministischen Bewegung.18 Hier
verliert sich ihre ludische Funktionalität als Handlungsmittel, statt-
dessen erscheinen Pac-Man & Co. gewissermaßen als personale,
handlungsautonome Figuren.19 Damit wird eine narratologische
Eigenschaft aktiviert, die in der Konzeption der Computerspielfigur
bereits angelegt ist. Denn Pac-Man, (Super) Mario oder Lara Croft
entfalten als Figur nicht nur Momente des Spiels, sondern auch der
Erzählung.
Bereits die ikonografische Konkretisierung und Personalisierung
der Figuren birgt narratives Potenzial: Sie alle haben Namen, sind als
menschliche Wesen bzw. anthropomorph visualisiert und ihre Hand-
lungen werden durch eine wie auch immer geartete Rahmen- oder
Hintergrunderzählung motiviert. Während Pac-Mans Aufgabe noch
schlicht darin besteht, in einer Art Labyrinth verteilte dots einzusam-
meln,20 ohne dabei von den gegnerischen Geistern gefressen zu wer-
16 Zum Spielerischen der Darstellung körperlicher Bewegung vgl. auch Sorg 2007.
17 Vgl. beispielsweise auch die Darstellungsformen in Martial Arts-Filmen, die sich im so
genannten Beat-em up Genre der Computerspiele massiv wieder finden.
18 Vgl. Richard 2004, 67ff.
19 Für Lars Rettberg weist Lara Croft eindeutige Merkmale einer Person auf: Bereits ihr
Name sei schon »erstes Indiz innerhalb eines komplexen Personalisierungs- und Individua-
lisierungsprozesses der Spielfigur« (Rettberg 1999, 91). Vor allem seien es aber die Dar-
stellung und narrative Rahmung in Tomb Raider, die so ausgelegt sind, dass sie zu einer
differenzierteren Darstellung und so auch zu einer Personalisierung der Spielfigur führten:
Diese Formen eröffneten gewissermaßen »einen Funktionskreis, der allein mit der Figur
beschäftigt ist« (ebd., 103).
20 »Egal, wie pixelig und quitschgelb dieses Wesen [Pac-Man; JS] auch sein mochte, egal
wie simpel es sich auf dem Bildschirm bewegte (es kannte nur zwei Zustände: Mund auf
und Mund zu), durch seinen Appetit bekam es eine Persönlichkeit. Der Eindruck war so
stark, dass jeder, den man heute nach seiner Erinnerung an Pac-Man befragt, der gelben
Scheibe Augen zuschreibt« (Mertens/Meissner 2002, 75), die es im Spiel nicht gibt.
Figurenkonzepte im Computerspiel
351
den, besteht Marios Aufgabe bereits darin, den Hindernisparcours
einer Märchenwelt zu überwinden, um so am Ende die entführte Prin-
zessin zu befreien. Lara Croft wird indes mit einer Hintergrundge-
schichte als wohlhabende englische Archäologin eingeführt, die
die verschiedenen Erzähl- und Spielhandlungen nicht nur motiviert,
sondern auch narrativ plausibilisiert.
Die narrativ-fiktionalisierten Figuren im Computerspiel finden ihre
Vorlagen in Erzählfigurenkonzeptionen aus Literatur, Comic, Fern-
sehen und insbesondere dem Film. Spieler-Figuren erinnern an Su-
perhelden, Tier- und Comicfiguren, Abenteurer, Anti-Helden usw.,
die sich als Soldaten (z.B. der typische Marines-Soldier), Agenten,
Wissenschaftler, Gangster oder Martial-Arts-Kämpfer konkretisieren
und sich dabei fast vollständig im Fundus etablierter Formen der
Figurencharakterisierung von der stereotypen Darstellung bis hin
zur komplexen Figurenkonstruktion bedienen. Nicht-Spieler-Figu-
ren begegnen dem Spieler hingegen als Gehilfen, Mentoren, Infor-
manten und vor allem als Gegner, die ebenso wie die Spieler-Figuren
unterschiedlich gestaltet und konkretisiert werden, von der femme
fatale in Max Payne 2 bis hin zu den mythologisch aufgeladenen
Kolossen in Shadow of the Colossus.21 Gerade zur Etablierung nor-
mativer Konflikte im Computerspiel greifen die Figurenkonzeptionen
im Computerspiel auf klassische Erzählfigurenoppositionen zwischen
Protagonisten und Antagonisten zurück. Je nach Genre finden sich
damit im Computerspiel die entsprechenden und bekannten Held-
Gegner Oppositionen, die auch den Fundus für Literatur, Film und
Comic bilden.
Hinsichtlich der Präsentation und Darstellung der Figuren hat vor
allem die Entwicklung computertechnologischer Verarbeitung, Gene-
rierung und Prozessierung digitaler Bilder und Bildsequenzen im
Computerspiel dazu geführt, dass Computerspiele zunehmend eine
filmische Anmutung gewinnen. Obgleich diese ebenso wie die im
Computerspiel dargestellten Welten auch in der Bildtradition von
Comic und Fernsehen stehen,22 lehnen sich insbesondere die Prakti-
ken der Figureninszenierung und -charakterisierung an filmische
21 Zu verschiedenen vornehmlich narrativen Nicht-Spieler-Figuren-Konzeptionen vgl.
Sheldon 2004, 61ff.
22 Gerade Kompositionsformen des Comics finden sich in Computerspielen immer wieder:
in Spielen wie Max Payne, XIII oder Viewtiful Joe finden sich beispielsweise neben dem
typischen Comic-Look u.a. auch Panels und Sprechblasen. Aber auch die Figurenkonstruk-
tionen selbst haben ihre medialen Vorläufer im Comic, gerade auch in denen des Superhel-
dengenres. Vgl. zu den weiblichen Vorläufern im Comic Richard 2004, 23ff.
Jürgen Sorg
352
Formen an: spezifische Kameratechniken, Formen der Kadrierung
und der Bildkomposition, Beleuchtung, der Verwendung leitmotivi-
scher Musik sowie der Einsatz nicht-interaktiver Erzählsequenzen, so
genannter Cutscenes23 übernehmen in Computerspielen zentrale
Funktionen der Figurenexposition und gleichermaßen auch der Nor-
mativierung des Figureninventars, die für die ludische Motivation wie
für die Kohärenzbildung des Handlungsgeschehens innerhalb der
Spielwelten konstitutiv sind. Der Einsatz professioneller Sprecher-
stimmen, die Verbesserung nicht nur der grafischen Darstellung,24
sondern insbesondere auch der von Mimik und Gestik der Spieler-
und Nicht-Spieler-Figuren sowie die zunehmende Orientierung an
Topoi, Stoffen und ikonografischen Beständen filmischer Angebote
rücken die Figur im Computerspiel stetig weiter in die Nähe filmi-
scher Figurenkonzepte.25
Computerspiele kommen aber auch ganz ohne die Darstellung von
Figuren aus. Im Genre der Simulationen agiert der Spieler nur selten
mit Figuren auf den virtuellen Spielfeldern, stattdessen werden die
simulierten Handlungssysteme und -prozesse zum zentralen Spiel-
mittel und Spielzeug. So besteht die wesentliche Spielherausforde-
rung in Flug- und Fahrzeugsimulationen vor allem in der Kontrolle,
Steuerung und Konfiguration des simulierten Gefährts und seiner
Instrumente. Indem in diesen Spielen allerdings durch die Darstellung
eines Sichtfeldes der Spieler vor dem Computer gewissermaßen
selbst als Handlungssubjekt der dispositiven Anordnung von Steuer-
mann-Steuerung-Steuergerät adressiert wird, werden auch rezeptive
Effekte ludischer und narrativer Figurenkonzeptionen motiviert.
26
Nicht anders verhält es sich in den Wirtschafts- und Stadtsimulatio-
23 Zur Spezifik und Funktionalität der Cutscene vgl. Sorg/Eichhorn 2005.
24 Wenngleich es in der Geschichte des Computerspiels immer wieder den Versuch gab,
reale Personen digitalisiert bzw. in Form von Filmsequenzen im Computerspiel zu imple-
mentieren, werden Figuren heute fast ausnahmslos computertechnologisch realisiert. Die
digitalen Figuren sind vom Photorealismus freilich noch weit entfernt, und so orientiert sich
die Ästhetik der Figur im Computerspiel heute vor allem immer noch an der des Comics
und der des Animationsfilms.
25 Ebenso wie aber auch der Film formästhetisch Figurenkonstruktionen anderer Medienan-
gebote übernimmt, beispielsweise die des Comics, greift auch das Computerspiel auf
Attraktionsformen anderer nicht-filmischer Medienangebote zurück. Die Erzählfigur-
konzeptionen des massenattraktiven Films fungieren jedoch zumindest hinsichtlich ihrer
narrativen Einbettung und Konkretisierung gegenwärtig noch als Referenz der Computer-
spielfigurenkonzeptionen.
26 Nicht wenige Flugsimulatoren-Spieler betreiben großen Aufwand, das professionelle Als-
Ob-Spiel möglichst realitätsnah stattfinden zu lassen, etwa indem sie sich mit originalen
Pilotenuniformen kleiden und Cockpits detailgetreu nachbauen.
Figurenkonzepte im Computerspiel
353
nen wie beispielsweise Sim City. Wenngleich auch dort keine Spieler-
Figuren repräsentiert sind oder das Blick- und Sichtfeld einer spezifi-
schen Spieler-Gerät-Anordnung simuliert wird, realisieren diese
Spiele ästhetisch wie strukturell eine Beziehungskonstellation zwi-
schen Spieler und Spielfeld. Das Spielfeld bzw. ein Ausschnitt davon
steht dem Spieler in Sim City jederzeit vollständig zur Verfügung.
Zudem wird er hier explizit als Bürgermeister und somit als Figur mit
spezifischem Handlungspotenzial adressiert. Dadurch wird die Spiel-
handlung der strategische Umgang mit einer relativen Vielheit von
Handlungsmöglichkeiten zu einer ökonomischen und logistischen
Aufgabe der fiktionalen und über ihre Funktionalität definierten Fi-
gur, deren Rolle der Spieler im Spiel übernimmt.
Und auch wenn die Darstellung des Spielfeldes keine konkrete
subjektive Blickrichtung formalisiert, wird der Spieler doch als
Handlungssubjekt adressiert. Dies liegt insbesondere an der räumli-
chen Wirkung der isometrischen Perspektive, die für diese Form von
Strategiespielen und verwandten Simulationsspielen so typisch ist:
»Aus der erhöhten Distanz mit metaphorischem göttlichen
Blick sieht der allmächtige Spieler auf die Welt, die er
nach seinen Wünschen manipulieren kann. Die Idee der
Allmacht findet dazu ihre formale Entsprechung in den
angenommenen Fluchtpunkten der Raumdarstellung, die
im theoretisch Unendlichen verortet sind. Die dargestellte
Spielwelt ist nicht auf das Subjekt bezogen und auf den in-
dividuellen Augenpunkt des Spielers ausgerichtet. Die
Sehstrahlen treffen sich nicht im Auge des Betrachters
[…]« (Schwingeler 2008, 124).
Dieser so genannte God’s view markiert dabei eine typische Darstel-
lungsform des mit Spielen wie Sim City entstandenen Genres der
God Games. Wie die Bezeichnung schon andeutet, wird der Spieler
hier sowohl durch die Darstellungsformen als auch durch das Spiel-
prinzip in spezifischer Handlungsmächtigkeit als ludischer wie narra-
tiver Agent des Spiels verwirklicht, was rezeptiv wirksame Figuren-
effekte provoziert.27
Diese Form der Figurenkonzeption findet ihre Vorläufer insbeson-
dere auch in gebrauchsmedialen Zusammenhängen. Gerade aus den
27 Auf die rezeptiven Spezifika der Figurenkonstruktionen im Computerspiel wird im
letzten Kapitel noch einmal näher eingegangen.
Jürgen Sorg
354
Dispositiven der Computersimulationen übernimmt das Computer-
spiel Darstellungskonventionen und Strategien der Subjekt- und
Spieleradressierung,28 beispielsweise die Ego-Perspektive aus
militärischen Fahrzeugsimulationen oder die Multiperspektivität aus
CAD-Anwendungen. In Black & White, einem God Game, in dem
der Spieler die Rolle eines Gottes übernimmt, finden sich allerdings
nicht nur Darstellungskonventionen klassischer Computersimulatio-
nen. Der Spieler kann sich multiperspektivisch die simulierten Ob-
jekte aus verschiedenen Blickwinkeln, Entfernungen und Kameraro-
tationen anschauen, sowie durch die aus Software-Betriebssystemen
bekannte Funktionalität des Mauszeigers dem Spieler steht eine
simulierte Hand zur Verfügung, deren Steuerung und positionsbezo-
gene Auswahl weiterer Handlungsmöglichkeiten die eines Mauszei-
gers entsprechen in der Spielwelt agieren.29 Auch hier wird durch
konventionelle Steuer- und Kontrollpotenziale eine Handlungsmäch-
tigkeit auf Seiten des Spielers etabliert, die durch die narrativ-fiktio-
nale Rahmung des Spiels Effekte diegetisch-eingebundener Agentu-
ren hervorruft.
Ganz gleich ob im Computerspiel die Figur abstrakt, ikonisch kon-
kretisiert oder als rezeptiver Effekt einer Darstellungsform realisiert
wird, ihre Konzeption greift auf verschiedene Praktiken der Figuren-
konstruktion, Subjektadressierung und Etablierung von Handlungs-
mächtigkeit aus unterschiedlichsten Handlungszusammenhängen
zurück. Insofern der Computer zudem verschiedenste mediale Inhalte,
Formen und Strukturen im Computerspiel zu implementieren vermag,
bleiben die intermedialen Voraussetzungen der Figur im Computer-
spiel vielfältiger Natur. In allen wesentlichen Dimensionen der mani-
festen Darstellungsinhalte, der syntagmatischen und logischen Ver-
knüpfung dieser Inhalte sowie ihrer ästhetischen Konfiguration und
Präsentation lassen sich daher Spiel-, Erzähl- und gebrauchsmediale
Formen unterschiedlichster medialer Provenienz beschreiben.
Die Besonderheit der Computerspielfigur ergibt sich vor allen
Dingen erst aus der Verschaltung und Synthetisierung der handlungs-
spezifischen Funktionen von Spiel- und Erhlfiguren. Denn erst der
28 Strategien der Spieler- bzw. Subjektadressierung im Computerspiel finden sich als
Vorläufer bereits in Fahrzeug-, Wirtschafts-, Militär- und experimentellen Simulationsan-
ordnungen. Vgl. in diesem Zusammenhang zu den technischen und handlungslogischen
Voraussetzungen der Computerspieldispositive auch Pias (2002).
29 Nöth et. al sprechen hier auch vom Cursor, der nichts anderes als eine »Positionsan-
zeige« ist, der den »Ort, von dem aus im Spiel gehandelt werden kann, auf dem Bildschirm
anzeigt« (Nöth et. al. 2008, 163).
Figurenkonzepte im Computerspiel
355
Doppelcharakter der Computerspielfigur, als Agent des Handlungsge-
schehens sowie als Werkzeug zur Handlung, realisiert die strukturel-
len Spezifika und rezeptiven Effekte der Figurenkonzeptionen im
Computerspiel.
Spielstein oder Held? Die Computerspielfigur als Agency
und Agent der Handlung
Sofern die Computerspielfigur sowohl Momente der Erzählfigur wie
der Spielfigur verwirklicht, verbindet sie auch die spezifischen Funk-
tionalitäten beider Formen der Figur. Erzähl- und Spielfiguren lassen
sich dabei als Handlungsfunktionen begreifen, die in den jeweiligen
narrativen und ludischen Handlungssystemen unterschiedliche Mo-
tive verwirklichen. In Erzählungen tauchen Erzählfiguren üblicher-
weise als »agents of cause and effect« (Bordwell/ Thompson 1997,
93) auf.30 Sie bezeichnen handelnde Subjekte innerhalb einer als Tota-
lität konzipierten Erzählwelt und funktionieren gewissermaßen als
motivationale Zentren des narrativen Handlungsgeschehens. Anders
sieht es in ludischen Handlungszusammenhängen aus, in denen es der
Spieler selbst ist, der die von den jeweiligen Spielregeln vorgegebe-
nen Handlungsmöglichkeiten und -ziele ausführt, Spielzüge und -
sequenzen vollzieht und folglich als Handlungsagent und -subjekt
fungiert.31
30 Mit Blick auf narrative Konstruktionsprinzipien markiert die Figur für Bordwell und
Thompson gewissermaßen das motivationale Zentrum des Handlungsgeschehens: »Within
the film’s formal system, they [die Figuren; JS] make things happen and react to the twists
and turns of events« (Bordwell/Thompson 1997, 94). Freilich weisen auch Bordwell und
Thompson darauf hin, dass die Erzählfigur nicht prinzipiell als dramaturgisches Movens
fungiert. Auch Ereignisse wie etwa Naturkatastrophen usw. können Plotkonstruktion vo-
rantreiben. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Leschke/Venus (2007): Unter der Meta-
pher des Spiels gehen verschiedene Beiträge im Sammelband alternativen, konventionellen
Erzählprinzipien widersprechenden Motivationslogiken und Handlungszusammenhängen
nach.
31 Neben dem Spieler ließe sich auch die Figur des Schiedsrichters als Handlungsagent
modellieren (vgl. etwa Venus 2009), allerdings bleibt dieser oder eine Jury dem Spiel
zunächst äußerlich und somit auch ohne Agent-Funktionen für das Spielgeschehen. Zwar
sehen bestimmte Spielregeln die Funktion eines Schiedsrichters vor anders als beispiels-
weise die Funktion eines Publikums , doch besteht diese lediglich im Bewahren der
Spielregeln und eben nicht im Vollzug von Spielzügen vor dem Hintergrund des entspre-
chenden Spielziels. Ein regelkonform ablaufendes Spiel bedarf im Grunde genommen
keines Eingreifens eines Schiedsrichters.
Jürgen Sorg
356
Auch im Computerspiel ist es ein Spieler, der als Einzelspieler
oder auch als Mitspieler einer virtuellen Mannschaft bzw. eines
Teams (beispielsweise in einer strategischen Funktion als Späher oder
Scharfschütze in einem Multiplayer-Shooter) agiert. Im Gegensatz zu
Spieldispositiven, in denen der Spieler physikalisch samt seiner
Agency32 bzw. seine körperlich-kognitiven Fähigkeiten auf dem
Spielfeld vertreten ist, benötigt er für das Computerspiel virtuelle
Repräsentationen seiner Person bzw. seiner Funktionen: Auf dem
physikalisch entrückten Spielfeld können eine oder mehrere Spiel(er)
figuren nach Form, Gestalt, Referenz und Handlungsfunktionalität
differenziert werden. Erst über die Spieler-Figur verwirklichen sich
im Computerspiel dann Steuerungs- und Kontrollpotenziale, über die
der Spieler die auf den Bildschirmen mitgeteilten Handlungsheraus-
forderungen annehmen und vollziehen kann und sich so gleichsam
eine ludisch-performative Beziehungskonstellation zwischen Spieler
und virtuellem Spielfeld etabliert. Die Spielfigur übernimmt in ludi-
schen Handlungszusammenhängen folglich eine strukturlogisch an-
dere Funktion als die Erzählfigur in Erzählzusammenhängen.
Wie auch innerhalb der nicht-elektronischen Spieldispositive fin-
den sich hier je nach Spielausführung unterschiedliche Konzeptionen
von Spieler-Figuren:33 So dient die Repräsentation des Spielers in der
virtuellen Welt zunächst als Abgrenzung zu Nicht-Spieler-Figuren
und -Objekten wie auch zu anderen Spieler-Figuren in Mehrspieler-
Angeboten.34 Je nach Position der Figur ergeben sich dann ebenso
wie in nicht-elektronischen Spielen entsprechende etwa nach Kon-
stellation (räumlich-codiert) oder Levelstrukturen (zeitlich-codiert)
angeordnete Spielherausforderungen. Über die Spieler-Figur lassen
32 Je nach Spielausführung können dies etwa körperliche (Stärke, Schnelligkeit), wie bewe-
gungsmotorische (Geschick, Technik) und mentale (Strategie, Wissen, Wahrnehmung)
Fähigkeiten sein.
33 Brettspiele werden üblicherweise nach »games of chanc oder »games of skill« (Murray
1978, 4) unterschieden. Damit lässt sich freilich nicht die Vielfalt der unterschiedlichen
Ausformungen fassen. Murray schlägt daher vor, Brettspiele nach »Games of Alignement
and Configuration«, »War-Games«, »Hunt-Games«, »Race-Games« und »Mancala Games«
(Zähl-Spiele) zu unterscheiden (ebd.), die alle sehr unterschiedliche Spielfelder und Hand-
lungslogiken aufweisen, die je eigene spezifische Beziehungskonstellationen zwischen
Spieler-(Figur)-Brett-(Figur)-Mitspieler etablieren.
34 Formal macht es keinen Unterschied, ob eine gegnerische Figur die Spieler-Figur eines
Realspielers ist oder nicht. Für den Spieler stellt sich diese formal wie funktional ebenso
wie die computergenerierten Nicht-Spieler-Figuren dar. Zweifellos unterscheiden sich aber
Spielhandlungen und -taktiken von Real-Spielern von computergenerierten, auch wenn die
Künstliche Intelligenz der Nicht-Spieler-Figuren immer fortschrittlicher wird.
Figurenkonzepte im Computerspiel
357
sich zudem auch Spielfortschritte kodieren, etwa über die räumliche
Position der Figur auf dem virtuellen Spielfeld oder durch Modifika-
tionen und Transformationen des Handlungsspektrums oder der Ge-
staltung der Figur selbst.35
Die Funktionalität der Spieler-Figuren in Computerspielen geht
über die Repräsentationsfunktionalität aber weit hinaus. Wie auch in
nicht-elektronischen Spielfigurkonzeptionen (z.B. Schach oder Kar-
tenspielen) weisen Spieler-Figuren hier eigene je spezifische, regel-
haft festgelegte Zugoptionen oder Spielwerte auf, die Spielhandlun-
gen motivieren bzw. gleichsam auch intendieren.36 Solche Spieler-
Figuren erscheinen dann in der Tat handlungsmächtiger als die der
reinen Spielerrepräsentation dienenden Spielfiguren und gewinnen
hierdurch gewissermaßen auch Agent-Funktionalität. Der konkrete
Vollzug der jeweiligen Handlung bleibt aber Resultat einer
(Re)Aktion eines Spielers auf die spielerische Herausforderung.
Spieler-Figuren fungieren insofern stets als Agency eines Spielers. Sie
sind Werkzeuge und Mittel zum Zweck und fungieren handlungslo-
gisch betrachtet als Objekt des ludischen Handlungsgeschehens:
»[Player-Characters; JS] are embodied as sets of available
capabilities and capacities. They are equipment to be util-
ized in the gameworld by the player. They are vehicles«
(Newman 2002, o. S.).37
35 Prototypisch für diese Form der Spielfortschrittskodierung sind die Figurenkonzeptionen
in Rollenspielen, in denen die Spielfigur mit dem Spielfortschritt an Erfahrungen und
somit an Handlungsmächtigkeiten auf Basis sehr unterschiedlicher Attribute gewinnt.
Das so genannte hoch-leveln einer Spieler-Figur bezeichnet genau diese Form.
36 In Brettspielen finden sich insbesondere dann beide Handlungsfunktionalitäten
(Repräsentation sowie Steuer- und Kontrollpotenziale) realisiert, wenn das Spielbrett auch
Spielfeld ist, also Ort auf dem die konkreten Spielhandlungen stattfinden. In Spiel des
Wissens oder Trivial Pursuit etwa, dient das Spielbrett lediglich der Spielfortschrittskodie-
rung der einzelnen Spieler. Zwar ergeben sich durch die jeweilige Position der Spielfigur
erst die entsprechenden Spielzüge und -effekte etwa das Ziehen einer spezifischen Frage-
karte , die Spielhandlungen selbst die richtigen Antworten auf die Fragen zu finden
finden allerdings außerhalb des Spielbretts statt. Zu Spielmodi früher Brettspiele siehe auch
Murray (1978).
37 Dieser instrumentelle Gesichtspunkt der Computerspielfigur wird auch von Britta Neitzel
(2004) und Rune Klevjer (2006) herausgearbeitet. Mit Rückgriff auf das McLuhansche
Konzept von Medien als Extensionsen des Menschen konzipiert Neitzel den Avatar als
Hybrid zwischen Werkzeug und Cyborg (vgl. Nöth. et al. 2008, 154ff). Ebenfalls an das
McLuhansche Konzept anlehnend, schreibt Klevjer: »The notion of the avatar that I am
suggesting is not concerned with playable characters as a vehicle of communication and
Jürgen Sorg
358
Da im Computerspiel das Spielgeschehen jedoch doppelt gegeben ist,
»einerseits als empirische Performanz der Spielenden, andererseits
als audiovisuell dargestelltes Verhalten virtueller Objekte [Herv. i.
O.; JS]« (Venus 2007, 72), finden Spielhandlungen sowohl in einer
real-physischen Anordnung von Spieler-Computer bzw. Spieler-vir-
tuelles Spielfeld, wie auch als symbolisch-repräsentierte von Figur-
in-Welt innerhalb des diegetischen Bildraums statt. Im Bildschirmge-
schehen selbst erscheint somit nicht der Spieler selbst als Agent der
Handlung, sondern die von ihm gesteuerte Figur.38 Man hat es in der
dispositiven Anordnung des Computerspiels daher mit zwei unter-
schiedlichen Handlungszusammenhängen zu tun, einem eher dem
Dispositiv zugeordneten zwischen Spieler-Eingabegerät-Ausgabege-
rät und einem medial repräsentierten. Ersterer zeichnet sich dabei
durch seine ludisch-performative Struktur, der letztere durch seine
narrativ-darstellende aus. Damit gehen nicht nur unterschiedliche
Handlungs- und Funktionslogiken der Figur innerhalb des Computer-
spiels einher, nämlich regel- und normengeleitete, sondern insbeson-
dere auch unterschiedliche Beziehungskonstellationen zwischen
Spieler, Figur und Spielwelt.
Spiellogisch betrachtet fungiert die Spieler-Figur im Computer-
spiel zwar als Spielstein und Spielmittel des Spielers, sie dient im
symbolischen Raum des Bildschirmgeschehens aber als fiktionaler
Agent und somit auch als Held und dramatis personae der Rahmen-
erzählung. Gerade in den nicht-interaktiven Cutscenes, die im Grunde
genommen nichts anderes als filmische Minimalerzählungen darstel-
len, wird dies besonders deutlich: Hier wird der Spieler seiner per-
formativen Tätigkeit beraubt, und genauso wie er nicht mehr Agent
der Darstellungshandlung, sondern eben Zuschauer ist, fungiert auch
seine Spieler-Figur nicht mehr als Werkzeug, sondern als autonome
Erzählfigur. Durch Rahmenerzählungen generierte Strukturen in
Computerspielen etwa die Einteilung der Handlungsherausforder-
ungen und -ziele in verschiedene Missionen, die in ihrer Abfolge
nicht nur einer narrativen Dramaturgie folgen (z.B. in Grand Theft
self-expression, but addresses how players engage with singleplayer gameworlds through
fictional and vicarious embodiment. […] The relationship between the player and the avatar
is a prosthetic relationship; through a process of learning and habituation, the avatar be-
comes an extension of the player’s own body. Via the interface of screen, speakers and
controllers, the player incorporates the computer game avatar as second nature […]«
(Klevjer 2006, 9ff).
38 Das gilt ebenso für die Spiele, in denen der Spieler über eine Darstellungsperspektive als
Bestandteil der fiktionalen Spielwelt adressiert und gleichsam funktionalisiert wird.
Figurenkonzepte im Computerspiel
359
Auto 4), sondern eine ebensolche produzieren erlauben es zudem,
aus der linearen Abfolge ludischer Handlungssequenzen eine Ge-
schichte abzuleiten. So lassen sich etwa die Handlungssequenzen in
Tomb Raider eben auch als Handlungen der fiktiven Erzählfigur Lara
Croft beschreiben, die in ihrer sequentiellen Anordnung zwar aus
einer reinen Aneinanderkettung von Ereignissen in Form eines ›und-
dann-das, und-dann-das‹ bestehen,39 trotz allem aber einen aus der
Subjektfunktion einer Erzählfigur40 konstituierten narrativen Hand-
lungszusammenhang darstellen:
»Der Avatar im Computerspiel hat also eine doppelte
Funktion. Auf der Ebene der Diegese repräsentiert er Ei-
genschaften und Absichten einer handelnden Figur und auf
der Ebene des Spielens dient er dem Spieler als Werkzeug
zur Ausführung von Spielhandlungen. Das Figuren-
Werkzeug gibt den im Spiel ausgeführten Handlungen Be-
deutung, es symbolisiert, dass die Handlungen auf der
Ebene der Diegese beabsichtigt sind« (Nöth et. al. 2008,
167).
Dass Handlungen auf der Ebene der Diegese beabsichtigt sind, hat
zweifellos auch ludische Funktionalität: Handlungen können so nicht
nur motiviert, sondern vor allem auch legitimiert und alltagsnah plau-
sibilisiert werden. So lassen sich Handlungsherausforderungen über
narrative Formen und Strukturen schlicht einfacher verwirklichen: Da
die Figur Niko Bellic in Grand Theft Auto 4 als ehemaliger nach Ver-
geltung suchender osteuropäischer Soldat eingeführt wird, erscheinen
die gewaltbasierten Handlungsmotive der Figur nicht nur plausibel,
sie finden sich vor dem Hintergrund eines normativen Konflikts zwi-
schen Gut und Böse auch legitimiert. Die durch Rahmenerzählungen
eingeführten (Nicht-Spieler-)Gegner stellen nicht nur Antagonisten
und folglich normative Oppositionen der Heldenfigur dar, sondern
39 Dieses episodische Konstruktionsprinzip wirkt gemessen an den Standards narrativer
Konstruktionen trivial, denn Handlungen erscheinen nicht als notwendige Konsequenz im
Rahmen eines kausalen Motivationsgefüges, sondern sie folgen dem additiven Prinzip
ludischer Handlungszusammenhänge. Vgl. zur Dramaturgie des Spiels auch Sorg (2007).
Zur Narrativität von Tomb Raider vgl. insbesondere auch Neitzel (2004).
40 Mit Blick auf die Computerspielfigur James Sunderland in Silent Hill 2 konstatieren
Nöth et. al.: »In Silent Hill 2 ist der Avatar z.B. so weit entwickelt, dass man ihm fast eine
autonome Handlungsfähigkeit zusprechen möchte und keineswegs den Eindruck hat, es
handele sich um ein bloßes Werkzeug« (Nöth et. al. 2008, 163).
Jürgen Sorg
360
auch die des Spielers selbst, der sich vermittelt über die Spieler-Figur
rezeptiv als Bestandteil der fiktionalen Spielwelt erfahren kann.41
Die Narrativierung des Figureninventars im Computerspiel leistet
somit etwas, was dem Spiel eigentlich äußerlich ist: die Normativie-
rung von Spielhandlungen. Gegnerschaft wird im Computerspiel
durch die Narrativierung zum Antagonismus und ludische Herausfor-
derungen sowie Hindernisse42 zu Konflikten bzw. deren Überwin-
dung zu notwendigen Konfliktlösungsmitteln. Hintereinanderge-
schaltete Spielherausforderungen und -handlungen folgen im Com-
puterspiel dann nicht mehr nur einer additiv-kumulativen Spiellogik
und Levelstruktur, sondern einer erzählerisch-normativen Konflikt-
dramaturgie, die der Abfolge der Spielhandlungen eine zweckhafte
Ordnung verleiht.43 In Grenzen kann damit auch der Regelbezug des
Spiels bzw. seine Faktizität überwunden werden: Indem durch die
Narrativierung der Spieler- wie Nicht-Spieler-Figuren eine fiktional-
kohärente Welt etabliert werden kann, verwirklichen sich die Spiel-
handlungen rezeptiv nicht nur als regelgeleitete Handlungen in einem
regelkonstituierten Setting, sondern als normengeleitete, empathisch
nachvollziehbare und alltagskompatible Verhaltenssequenzen. Die
narrative Konkretisierung der Spielfigur und der Spielwelt »help the
player suspend disbelief and facilitate immersion into the game«
(Smith 1999).
Damit funktionalisiert die narrativierte Computerspielfigur die im-
plizite und explizite Vermittlung der Spielregeln und herausforde-
rungen, denn indem Spieler-Figuren realweltliche Referenzen aufwei-
sen, fungieren diese gleichermaßen komplexitätsreduzierend. Anders
als ein abstrakter Spielstein in einem Brettspiel, dessen Handlungs-
motive und -potenziale sich erst durch explizite Spielregeln ergeben,
lassen sich die Handlungsmotive einer narrativierten Computerspiel-
figur bereits aus ihrer Gestaltung und narrativen Einbettung ableiten:
Soldaten können schießen, Autos fahren, Raumschiffe fliegen etc.
41 Schneider e.a. konnten etwa zeigen, dass Spieler sich eher als Teil der Spielwelt empfun-
den haben, wenn das jeweilige Spiel und die zu spielende Figur narrativ kontextualisiert
und die Spieldramaturgie einer Konfliktlogik folgte. Handlungen im Computerspiel wie
beispielsweise simulierte Gewaltakte wurden dadurch »reasonable, acceptable, and even
necessary« (Schneider e.a. 2004, 362).
42 Vgl. zur Form des Handicaps als ludisches Hindernis sowie als narratives Element im
Computerspiel: Heidbrink/Sorg 2009.
43 Spiele weisen im Gegensatz zu Erzählungen andere Verhältnisse sowohl zur Zeit als auch
zur Kausalität auf: So sind Time Outs, Wiederholungen, Redundanzen, Zufälle etc. für das
Spiel konstitutiv.
Figurenkonzepte im Computerspiel
361
Aber auch komplexere Handlungsmotive einer Figur können hier-
durch rezeptiv wirksam werden, etwa indem der Spieler die impli-
zierten Erwartungsstrukturen der Spieler-Figur imaginiert und mental
fortsetzt.44 Gerade in den sogenannten Sandkasten-Spielen wie die
der Grand Theft Auto-Serie, in denen dem Spieler ein verhältnismä-
ßig vielschichtiges Set an symbolisierten Handlungsmöglichkeiten
zur Verfügung steht, finden sich Spielhandlungen gerade auch durch
die ‚narrativen Regeln’ der Spielwelt motiviert.45 Zudem lassen sich
insbesondere über Nicht-Spieler-Figuren weitere spielrelevante In-
formationsquellen oder konkrete Handlungsprogressionen realisieren,
z.B. indem Nicht-Spieler-Figuren explizit Aufträge erteilen oder
Handlungspotenziale virtueller Objekte vermitteln, ohne dabei die
diegetische Kontinuität durchbrechen zu müssen.
Zum anderen verwirklichen Figuren, obwohl sie immer um ein
Vielfaches weniger komplex als die Handlungsmotive des Realspie-
lers erscheinen, zumindest in der fiktionalen Spielwelt Handlungs-
möglichkeiten, die weit über das durch das Spiel vorgegebene Set an
faktisch-performativen Steuerpotenzialen hinausgehen. Im Genre des
Shooter etwa finden sich immer wieder dieselben Handlungspoten-
ziale ›Bewegen in vier Himmelsrichtungen‹, ›Springen‹, ›In Deckung
gehen‹, ›Schießen‹), die in den verschiedenen Genrevertretern aber
jeweils völlig unterschiedliche narrative wie ludische Motivationslo-
giken sowie Erlebnisqualitäten etablieren.
Wenngleich sich das Spielerische und das Narrative im Computer-
spiel zwar analytisch differenzieren und sich das eine oder andere
dem jeweils anderen subsumieren lassen, ergibt sich die eigentliche
Besonderheit der Computerspielfigur aus der Verschaltung ludischer
sowie narrativer Funktionsmerkmale. Als Werkzeug der ludisch-
performativen gleichermaßen wie als Agentur erzählerisch-darstel-
44 Am Beispiel von Bureau 13 erläutert Smith diese auch für das Game-Design relevanten
Funktionen: »[Here; JS] the player had to choose two agents from a set of eight […]. Each
of these had different game powers. One character could assume an ethereal form and
thus enter otherwise inaccessible spots and elude enemies. But this character was also
defined by his history: He was a vampire with a personal back story. The character’s me-
chanical abilities and his fictional background were both relevant to the player’s enjoyment
of the game the former to game play and puzzles, the latter to imagination and story
immersion. […] While using the vampire identity might have made the character’s me-
chanical powers more accessible […] it also sets up player expectations« (Smith 1999).
45 In Grand Theft Auto 4 etwa, verfügt die Spieler-Figur Niko Bellic über ein Mobiltelefon,
über die sich Handlungssequenzen motivieren lassen, etwa indem man Niko Bellics Bruder
kontaktiert‹, um mit diesem anschließend essen oder Dart-Spielen zu gehen bzw. die
virtuelle Freundin ›anruft‹, um sie zum Bowling auszuführen.
Jürgen Sorg
362
lender Handlungszusammenhänge etabliert sie dabei eine Bezie-
hungskonstellation, die gewissermaßen zwei morphologische Kräfte
zusammenführt: die Motivkraft des dynamischen Spielvollzugs sowie
die Motivkraft des narrativierten, in einer fiktionalen Welt repsen-
tierten Handlungsagenten.46
Insofern sich die konkreten Spielvollzüge rezeptiv weniger als re-
gelgeleitete Spielzüge oder gar als simple Aktionen auf einem Einga-
begerät im empirisch-physikalischen Raum, sondern vielmehr als
zwar begrenzte aber symbolisch bedeutsame Alltagshandlungen reali-
sieren, kann man also sagen, dass durch die Dopplung narrativer und
ludischer Motivations- und Handlungslogiken das Ludisch-Perfor-
mative wie das Erzählerisch-Normative derart zusammenfallen, dass
sich die »abstrahierende Simulation von Handlungen« (Venus 2007,
87) einer digitalen Lebenssimulation ergibt. Eine Lebens- und Wirk-
lichkeitssimulation, die sich für den Spieler vermittelt über die Spie-
ler-Figur als »eindrucksvolle, ästhetisch hochverdichtete Utopie einer
lässigsouveränen Beherrschung des eigenen Aktionsradius dar-
[stellt]« (Venus 2007, 88).47
Simulierte Tätigkeitserfahrungen
Diese simulierte Erfahrung virtueller Tätigkeiten bezeichnet ein we-
sentliches Moment des Unterhaltungserlebens im Computerspiel.
48
Der hybride Charakter der Computerspielfigur und des Computer-
spiels selbst konstituieren dabei den Bedingungsgrund dieser Form
rezeptiver Bezugnahmen. Als ludische Werkzeuge ermöglichen die
Computerspielfiguren zunächst die direkte oder indirekte Steuerung
46 Zu den motivationalen Zentren ludischer und narrativer Handlungen vgl. auch Sorg
(2007).
47 Venus bezeichnet dieses Phänomen als ikonische Resonanz: die verschiedenen
Handlungszusammenhänge im Computerspiel ergeben durch ihr Verhältnis zueinander ein
»›ähnliches‹ Ganzes« (Venus 2007, 87), d.h. die faktisch-ludische Performanz des Spielers
auf der einen Seite und die symbolisch repräsentierte Handlung auf der anderen Seite
ergeben für sich zwar, was sie sind: »Knöpfedrücken und Bilder«, im Zusammenhang
verwirklichen sie aber die Simulation von alltagsnahen Handlungen.
48 In seiner Analyse zum Unterhaltungserleben im Computerspiel hat Christoph Klimmt
darauf hingewiesen, dass gerade die narrative Gestaltung von Computerspielen und die
damit erst ermöglichten simulierten Lebenserfahrungen im Computerspiel einen wesentli-
chen Reiz ausmachen: »Computerspiele sind interaktive Lebensweltsimulatoren, deren
Nachstellung von symbolisch-figurativen Realitätsbereichen als faszinierend und unterhalt-
sam empfunden wird« (Klimmt 2004, 99).
Figurenkonzepte im Computerspiel
363
und Kontrolle virtueller Objekte und provozieren somit ein »Selbst-
wirksamkeitserleben« (Klimmt 2004, 79), das sich aus der fortlaufen-
den Wahrnehmung eigener direkt-kausaler Einflussnahmen ergibt. In
ihrer narrativen Einbettung und szenischen Konkretisierung aber erst
entfalten Computerspielfiguren die rezeptiven Potenziale, die tätig-
keits- und alltagsbezogene Erfahrungen im Virtuellen erst ermögli-
chen.
Indem ludische und narrative Funktionalitäten und somit die je-
weiligen morphologischen Kräfte in der Spieler-Figur also zusam-
menfallen, markieren die Agency- und Agent-Funktionalitäten der
Spieler-Figur jeweils nur einzelne Formaspekte, die für sich genom-
men für das Verständnis der Spieler-Figur defizitär sind. Erst im Zu-
sammenspiel beider Formaspekte und in der Perspektivierung dieses
Formhybrids gestaltet sich die Spieler-Figur nicht mehr nur als Ver-
mittlungsinstanz Agency- oder Interaktionsbezogener Herausforde-
rungsangebote im Virtuellen bzw. als narrativer Agent einer interak-
tiven Erzählung. Denn insofern die narrativierte Computerspielfigur
Agency- und Agenten-Funktionalitäten aufweist, bietet sie stellver-
tretende Handlungsrollen an, die der Spieler im Spiel annehmen und
performativ ausfüllen kann.
Diese tätigkeitsbezogenen Handlungsrollen können dabei freilich
sehr verschieden sein, je nachdem wie die jeweilige Figurenkonzep-
tion realisiert ist. Die Besonderheit der Spieler-Figuren im Gegensatz
zu anderen ludischen und narrativen Figurenkonzeptionen besteht vor
allem darin, dass sie Spielern dazu verhilft, performanzbasierte
Agent- bzw. Subjekt-Positionen in simulierten Umgebungen einzu-
nehmen und das ist unabngig davon, ob Figuren alltagsnah, all-
tagsfern oder durch spezifische Funktionen bestimmt (etwa Rennfah-
rer, Soldat, Pilot etc.) oder an realen oder fiktionalen Personen orien-
tiert sind (reale Fußballspieler oder fiktionale Helden wie Indiana
Jones):
»In other words, an avatar is interesting and playable not
just because of what it makes us able to do or perform, but
because of what happens to us in the world that the avatar
lets us inhabit« (Klevjer 2006, S. 10).
Diese spezifische Form des Unterhaltungserlebens wird im Compu-
terspiel durch verschiedenste Formen, Musterbildungen und Konfigu-
rationen unterstützt, die das Computerspiel in seiner Entwicklungsge-
Jürgen Sorg
364
schichte ausgebildet hat. Der Einsatz von Nicht-Spieler-Figuren etwa
funktionalisiert nicht nur ludische Funktionalitäten, wie beispiels-
weise Hindernisse und Levelstrukturen durch Endgegner und Boss-
fights,49 sondern trägt auch maßgeblich zur diegetischen Kohärenz
der virtuellen Welt bei. Diese vornehmlich narrativ-ornamentalen
Funktionen sind für das Spielerleben in den virtuellen Welten von
großer Bedeutung.50 Insbesondere durch den Einsatz künstlicher
Intelligenzen können adäquate Reaktionen auf die virtuellen Tätig-
keiten des Spielers verwirklicht und so eine Form des Eigenlebens in
der virtuellen Welt vermittelt werden, die das Selbsttätigkeitserleben
im Virtuellen wirksam erhöht.51
Einer der wesentlichsten Faktoren für die Strukturierung virtueller
Tätigkeitserfahrungen beruht allerdings auf der technologischen Ent-
wicklung der zweidimensionalen zur dreidimensionalen Räumlichkeit
in Computerspielen. So besteht für Klevjer die essentielle Errungen-
schaft darin, dass erst mit der 3D-Technologie ein bewegliches kör-
perliches Subjekt simuliert werden konnte, dessen Bewegungspoten-
ziale im und Perspektiven auf den virtuellen Raum der Spieler über-
nehmen kann:
»The prosthetic point of view simulates [a] moving body-
subject, and it forces us to perceive and act from a vicari-
ous point of view. […] An avatarial point of view, in other
words, is more than merely a navigable or a prosthetic
point of view; it implies some kind of objective presence
in the simulated environment« (Klevjer 2006, 148).
49 Das Strukturprinzip der Bossfights markiert im Grunde genommen nichts anderes als
narrativierte Levelübergänge, so dass auf einfache Weise narrativ-kohärente Handlungs-
entwicklungen und -stufen realisieren werden können. Aber auch über Nicht-Spieler-Figu-
ren wie Mentoren, Tutoren etc. lassen sich die für Spielstruktur und Handlungsvollzug
nötigen Informationen, Entscheidungen und Herausforderungen verwirklichen, etwa indem
über diese neue Spielherausforderungen und Handlungsfunktionalitäten vermittelt werden.
50 Vgl. auch McAllister: »For the game Half-Life, agent/developers depended on the proba-
bility that scientists in white lab coats working busily at computer consoles would elicit
curiosity and respect in players. […] Such characters are commonplace in computer games
and play upon stereotypes that developers usually rightfully assume players will immedi-
ately recognize and connect with emotionally« (McAllister 2004, 87). Zu den narrativ-
emotiven Funktionen von Nicht-Spieler-Figuren vgl. insbesondere auch Sheldon (2004)
und Lee (2004).
51 Vgl. auch Klimmt 2004. Gerade in Sportspielen wie Fifa ist die künstliche Intelligenz der
gegnerischen Spieler maßgeblich für das Spielerleben. Dies gilt allerdings für fast alle
Spiele, in denen Nicht-Spieler-Figuren kompetitions- wie kooperationsbezogene Funktio-
nen übernehmen.
Figurenkonzepte im Computerspiel
365
Hierbei ist es völlig unerheblich, ob im Bildschirmgeschehen die
Spieler-Figur vollständig oder wie bei Ego-Shootern nur ein simu-
liertes Gesichtsfeld bzw. die Perspektive einer imaginierten Figur
dargestellt wird. Entscheidend ist, dass der Spieler durch eine spezifi-
sche Darstellungsform in Beziehung zu einer wie auch immer gearte-
ten simulierten Konfiguration einer virtuellen Figur gesetzt wird, die
es ihm ermöglicht, eine virtuelle Tätigkeit auszuführen und zugleich
eine simulierte Wahrnehmungsposition innerhalb der virtuellen Welt
einzunehmen. Insofern in Ego-Shootern ebenso wie in 3rd-Person
Adventures die simulierte virtuelle Tätigkeit und subjektive Perspek-
tive auf diese Tätigkeit während der Spielhandlung zusammenfallen,
simuliert das Computerspiel eine quasi natürliche Verkörperung im
Virtuellen. So ist die Spieler-Figur im dreidimensionalen Raum nie-
mals nur Objekt, sondern gewissermaßen auch freilich nur simu-
liertes gedoppeltes Subjekt.
Die dispositive Anordnung von Spieler Eingabegerät Ausgabe-
gerät versetzt den Spieler aber stets auch in eine Beobachterposition,
von der aus er seine eigenen Tätigkeiten und somit auch seine virtu-
ellen Aktionen reflektieren kann. »This means that players are not
only agents but also spectators of their own pretended actions« (Ryan
2006, 190). Indem die Handlungen des Spielers in ihrer Darstellung
vom Spieler selbst wahrgenommen werden, ermöglichen Computer-
spiele vermittelt über die Spieler-Figur daher auch metakognitive
Steuerungs- und Evaluationsprozesse. Spieler betreiben aktive Selbst-
steuerung. Und so besteht auch ein wesentliches gratifikatorisches
Potenzial des Computerspiels darin, die Selbsttätigkeitserfahrungen
im Virtuellen gewissermaßen als Selbsttätigkeiten 2. Ordnung zu
erfahren.52
Konzeptionen von Spieler-Figuren bilden in diesem Zusammen-
hang wesentliche Voraussetzungen für simulierte Selbsttätigkeitser-
fahrungen. Die durch die Dreidimensionalität ermöglichte quasi-na-
türliche Verkörperung des Spielers im Virtuellen begünstigt diese
Erfahrungen. Strategie- und Simulationsspiele allerdings verzichten
auf die Repräsentanz des Spielers im Virtuellen und stellen doch auch
Tätigkeiten aus, die der Spieler als Figur ausführen kann.
Denn wie bereits angesprochen realisieren sich Figuren auch durch
spezifische Formen der Subjektadressierung. In Strategiespielen wie
52 Auch Klimmt weist darauf hin, dass im Computerspiel aufgrund der Selbsttätigkeit die
Beobachtung der eigenen Handlungen viel entscheidender für das Unterhaltungserleben
sind, als etwa während der Filmrezeption (Klimmt 2004, 109f).
Jürgen Sorg
366
Civilization, Age of Empires oder Die Siedler formalisiert das Spiel-
geschehen auf dem Bildschirm zwar keine spezifische Perspektive
einer der virtuellen Welt zugehörigen Figur, sondern vielmehr eine
isometrische und bewegbare Perspektive auf die fast vollständige
Spielwelt, die der diegetischen Spielwelt äußerlich ist. Doch wird
auch hier der Spieler durch Perspektive und Spielprinzip ähnlich wie
in den God Games in eine handlungsmächtige Subjektposition ge-
rückt,53 die im Falle der militärischen Strategiespiele etwa Tätigkei-
ten militärischer Taktik, Heer- und Kriegsführung ausstellt und da-
durch auch simuliertetigkeitserfahrungen ermöglicht. Und so ver-
wirklichen sich auch in diesen Spielen Figurenkonzeptionen, die für
den Spieler performanzbasierte Subjektpositionen innerhalb simu-
lierter Umgebungen anbieten.
Diese performanzbasierten Subjektpositionen, die fiktionalisierte
Computerspiele ausstellen, markieren eine der wesentlichsten genui-
nen rezeptiven und gratifikatorischen Potenziale heutiger Computer-
spiele. Als Resultat der hybriden Struktur fiktional konkretisierter
Spieler-Figuren verwirklichen Sie eine mediale Rezeptions- und Nut-
zungspraktik, die in dieser Form in keinem anderen Mediendispositiv
zu finden ist. Die Hybridlogik zwischen Spiel und Erzählung der
Spieler-Figur realisiert auf der Rezeptions- und Nutzungsebene einen
qualitativen Sprung, der die den jeweils ludischen und narrativen
Anteilen der Spieler-Figur entsprechenden Rezeptionsmodi syntheti-
siert. Weder ein erzählaffiner interpretativ-identifikatorischer noch
ein spielaffiner performativ-immersiver und -evaluativer Rezepti-
onsmodus werden im Computerspiel also ausschließlich angespro-
chen. Stattdessen provoziert das Computerspiel durch die fiktionali-
sierte Spieler-Figur einen performanzbasierten reflexiv-simulativen
Als-Ob-Modus.
Und so lassen sich auch die Modi rezeptiver Bezugnahmen zwi-
schen Spieler und Figur sowie zwischen Spieler als Figur in der vir-
tuellen Welt nicht mit konventionellen narrativ-orientierten Modellen
interpretativer und empathischer Identifikation bzw. ludisch-orien-
tierter Handlungsmodelle des Symbol-, Identifikations- und Als-Ob-
Spiels erklären. Wesentlich für die Verwirklichung performanzba-
sierter Subjektpositionen scheinen dagegen die verschiedenen For-
men performativer Beziehungskonstellationen zu sein, die im Com-
53 Oftmals findet sich die Darstellungsform, wie beispielsweise in Black & White, als
spezifische Perspektive einer der fiktionalen Welt zugehörigen Figur ausgestellt.
Figurenkonzepte im Computerspiel
367
puterspiel funktionalisiert werden und die die Grundlage für die af-
fektiven und (meta)kognitiven Rezeptionseffekte darstellen.
Von Spielsteinen, Marionetten und Perspektiven
Ein wesentliches Kriterium, das die Computerspiel(er)figur von ande-
ren Figurenkonzeptionen unterscheidet, ist ihre strukturelle Funktio-
nalität im ludisch-performativen Handlungsgeschehen des Computer-
spiels. Denn erst die Spieler-Figur gestattet eine performanzbasierte
Beziehungskonstellation zwischen Spieler und Computerspiel, die
über diese Steuerungs- und Kontrollpotenziale verwirklicht werden.
Jürgen Fritz hat in diesem Zusammenhang drei Modi der Bezug-
nahme zwischen Spieler und Figur herausgearbeitet, die er direk-
tionale Identifikation, sensomotorische Synchronisierung und figurale
Substituierung genannt hat:54
Die direktionale Identifikation bezeichnet die Form der Beziehung,
in der der Spieler seine Figur nicht unmittelbar, sondern indirekt
durch Befehle, wie etwa in Strategie- und Simulationsspielen, steuert.
Hierbei ist es unerheblich, ob es sich um eine einzelne Figur (z.B.
eine Figur in einem Point and Click Adventure wie Guybrush aus
Secret of Monkey Island) oder Gruppenfiguren (z.B. die charakter-
lich-unspezifischen militärischen Einheiten in Strategiespielen wie
Civilization) handelt. Die Trennung zwischen Handlungsagent und
Agency bzw. den Mitteln des dargestellten Handlungsgeschehens
wird durch diese Form klar herausgestellt. Die Subjektposition des
Spielers ist der Spielwelt äußerlich, wenngleich wie bereits angespro-
chen der Spieler durch die formale Darstellung als gottähnliche All-
machtsfigur adressiert werden kann und sich rezeptiv so durchaus
auch als Teil der Diegese imaginieren kann. Die Computerspielfigur
in diesem Sinne bleibt aber Mittel des Spielgeschehens und verwirk-
licht gewissermaßen eine ludische Figuration des Spielsteins, die
zwar Stellvertreterfunktionen übernimmt, aber im Handlungsgesche-
hen des Spiels einen klaren Objektstatus hat.
Die sensomotorische Synchronisation zwischen Spieler und Figur
wird insbesondere dann begünstigt, wenn der Spieler vollständige
bzw. vollständig dargestellte Figuren steuern und manipulieren kann,
wie es in den meisten avatar-basierten Computerspielen der Fall ist.
Hier weist die Spieler-Figur häufig ein vorgegebenes Handlungs-
54 Vgl. Fritz 2003, 7.
Jürgen Sorg
368
spektrum auf, auf das der Spieler in der Regel vollen Zugriff hat.
Dazu gehören etwa die Steuerung der simulierten Körpermechanik
und die damit ermöglichte Bewegung im virtuellen Raum bzw. die
Ausführung virtueller Tätigkeiten wie Kämpfen, Schießen, Sprechen,
Nachladen oder die Manipulation virtueller Objekte etc. Diese Form
der Beziehung findet ihren ludischen Prototyp in der Figuration der
Marionette, deren wesentliche Eigenschaften in der Manipulier- bzw.
Steuerbarkeit körperlicher Einheiten bzw. des Bewegungsapparats
bestehen. Insofern in der marionettenhaften Figur kinetische Eigen-
schaften der menschlichen Körpermotorik imitiert bzw. simuliert
werden, deren Steuerung sich vor dem Hintergrund eigener Körper-
und Bewegungserfahrung gewissermaßen sensomotorisch-synchroni-
siert vollzieht, fungiert die Figur im Computerspiel hier allerdings
nicht nur als Objekt des Spielers, sondern gleichsam als seine virtu-
elle Extension bzw. als sein virtuelles Doppel und gestattet dem
Spieler so eine Subjektposition innerhalb der Spielwelt.
Eine letzte Form der Beziehung zwischen Spieler und Figur kenn-
zeichnet die figurale Substituierung, die in Shooter- und Racer-Spie-
len als Ego-Perspektive bekennzeichnet wird. Die Spieler-Figur fin-
det sich hier auf dem Bildschirm nicht dargestellt, sondern lediglich
die Perspektive einer der Spielwelt zugehörigen imaginierten, aber
eben nicht (vollständig) dargestellten fiktionalen Figur.55 Ebenso wie
bei der Steuerung marionettenhafter Spieler-Figuren, erfordert auch
die figurale Substituierung die direkte Einwirkung auf die eigene
Spieler-Figur. Diese Figur bildet aber nur einen Bestandteil der fik-
tionalen Diegese. Ludologisch betrachtet steuert der Spieler keine
Figur, sondern ein in Form einer subjektiven Perspektive dargestelltes
virtuelles Bild. Erst die narrativ-fiktionale Rahmung macht aus der
dargestellten subjektiven Perspektive das simulierte Blickfeld einer
fiktionalen Figur.56 Entscheidend ist aber, dass die Dreidimensionali-
tät des simulierten Raumes dem Spieler eine Bewegung und Orientie-
rung innerhalb dieses Raumes erlaubt, so dass das simulierte Blick-
feld der Figur gleichsam zu seinem eigenen wird.
Spielstein, Marionette und Perspektive markieren drei Verwirkli-
chungsmodi der Spieler-Figur im Computerspiel, die dem Spieler
55 Dargestellt findet man z.T. allerdings Körperpartien o.ä., die in das Blickfeld der
fiktionalen Figur fallen.
56 Diese Form der Beziehung könnte insofern ebenfalls auch ein God Game wie Black &
White kennzeichnen. Denn auch hier markiert die dargestellte Perspektive auf die virtuelle
Welt die einer der Welt zugehörigen Figur, nämlich die eines Gottes. Der Spieler agiert als
diese Figur innerhalb der Spielwelt.
Figurenkonzepte im Computerspiel
369
gestatten, performanzbasierte Subjektpositionen einzunehmen. Die
rezeptiven und gratifikatorischen Effekte simulierter Selbsttätigkeits-
erfahrungen sind allerdings dann am wirksamsten, wenn die perfor-
manzbasierten Subjektpositionen innerhalb der simulierten Umge-
bungen stattfinden. Wenn also die virtuell ausgeführte Tätigkeit sich
als solche als Bestandteil der Spielwelt ausstellt, wie es durch die
Modi der sensomotorischen Synchronisation und der figuralen Sub-
stituierung begünstigt wird. Denn erst diese Beziehungsmodi ver-
wirklichen die quasi-körperliche Repräsentanz des Spielers im Virtu-
ellen, die die Besonderheit des Unterhaltungserlebens im Computer-
spiel ausmacht. »[V]ideogame interactivity is a powerful experience
precisely because it is so ›bodily‹« (Newman 2004, 141).
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VI. Semiotik der Figur
374
375
Jochen Venus
Die Formen der Figur und die Semiotik des
Subjekts
Als dramatis personae sind Figuren dargestellte Handlungsträger,
artifizielle Subjekte. Der Eindruck, es mit der Darstellung von etwas
zu tun zu haben, beruht auf wahrnehmbaren Ähnlichkeiten. Aber
Subjekte sind nicht wahrnehmbar, Subjektivität hat keine Farbe,
keine Schwere, keinen Klang usw. Wie können Subjekte dargestellt
werden, wenn ihr Charakteristikum gar nicht wahrnehmbar ist? Of-
fenbar sind in der Wahrnehmung von artifiziellen Subjekten nicht nur
sinnliche Evidenzen im Spiel, sondern auch interpretative Schlussfol-
gerungen. Um was für Inferenzen es sich dabei handelt, wie diese mit
Darstellungsformen zusammenspielen und von ihnen stimuliert wer-
den, und auf welche Weise bei der Rekonstruktion dieser Darstel-
lungsformen semiotische Perspektiven nützlich sind, ist Gegenstand
der hier entwickelten Überlegungen. Sie rücken dabei figurenkonsti-
tutive Funktionen in den Mittelpunkt, die in den gängigen Figuren-
analysen kaum behandelt werden: Die Ästhetik der Maschine und die
Logik des Ornaments.
Die mediale Relevanz der Figur
Das Thema „Formen der Figur in Medien und Künsten“ fragt nach
den Varianten dargestellter Handlungsträgerschaft, nach den Gemein-
samkeiten, Unterschieden und genealogischen Abhängigkeitsverhält-
nissen artifiziell inszenierter Subjekte. Die Relevanz des Themas
wird unmittelbar einsichtig, wenn man darauf achtet, an welche me-
dialen Momente sich Rezipienten erinnern und wie sie darüber reden:
Wer einen Spielfilm sieht, ein Hörspiel hört oder einen Roman liest,
achtet offenbar insbesondere auf die Akteure, die in ihnen dargestellt
werden, die Aufmerksamkeit wird vor allem durch das Interesse an
Jochen Venus
376
ihrem ‚Schicksal‘ geweckt und wach gehalten. Man will wissen, wie
es für die Handelnden ausgeht. Gleiches gilt auch für die Rezeption
nicht narrativer oder nicht auf Anhieb als narrativ zu erkennender
Genres wie das Tafelbild, das Gedicht, die Musik, die Werbung, die
Nachrichtenberichterstattung oder das Computerspiel. Kaum etwas
motiviert so sehr die Medienrezeption wie die Erwartung und der
Eindruck, es mit der Darstellung von Akteuren und Aktionen zu tun
zu haben.
Die Vergegenwärtigung artifizieller Handlungsträgerschaft scheint
geradezu das Hauptmotiv der medienästhetischen Entwicklung zu
sein, das Motiv, das jenseits spezifischer Bedeutungsinhalte und jen-
seits der materiellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbe-
dingungen über die Reichweite und Einflussstärke einer Darstel-
lungspraxis entscheidet. Darstellungspraktiken, die keine artifiziellen
Subjekte evozieren, sind in der Tat nur von marginalem Interesse und
haben nur marginalen Einfluss im System der Medien und Künste.
Sobald Darstellungspraktiken aber artifizielle Handlungssituationen,
Handlungsträger und Aktionen evozieren, sobald sie spielerische
und/oder erzählerische Valenz bekommen, rücken sie in den Fokus
produktiver und rezeptiver Aufmerksamkeit, werden mit großem
Aufwand ausgegrenzt, kannibalisiert oder reflexiv integriert, jeden-
falls nicht: ignoriert. Das artifizielle Subjekt ist gleichsam der ästheti-
sche Kristallisationspunkt der Medienevolution.
Die Künste, in denen Akteure dargestellt werden, verfügen über
sehr unterschiedliche Möglichkeiten, die Sinne anzusprechen, sie
beanspruchen sehr unterschiedliche Aufmerksamkeitsbudgets und
stellen Akteure in sehr unterschiedlicher Komplexität dar. Das Spek-
trum reicht von nuanciertesten, in komplexeste Sozialität eingelas-
sene Figuren wie Pierre Besuchow, den Protagonisten in Tolstois
Krieg und Frieden, bis zu Minimalfiguren wie dem Protagonisten des
Computerspiels Pac-Man. Dementsprechend verschieden sind die
Gestaltungsdimensionen und -prinzipien, die in den verschiedenen
Genres zu berücksichtigen sind. Im historischen Längsschnitt zeigt
sich zudem, dass die Gestaltungsprinzipien einem ständigen Wandel
unterliegen. Die Leinwanddiven und -heroen des klassischen Holly-
woodfilms sehen anders aus, sprechen anders, werden durch eine
andere Musik emotional eingefärbt und gehen anders miteinander um
(diskutieren anders, erschießen, verletzen und liebkosen einander
anders, um nur einige der hervorstechendsten filmisch dargestellten
Interaktionsweisen zu nennen) als die Akteure, die gegenwärtig den
Semiotik der Figur
377
Kosmos filmischen Erzählens beherrschen. Neben den historischen
Veränderungen, die sich genre-immanent beobachten lassen, fallen
darüber hinaus intermediale Anleihen auf, wenn etwa Zeichentrickfi-
guren mit fotografierten Schauspielern interagieren, wenn Filmfigu-
ren in Computerspielen auftauchen oder wenn Computerspielfiguren
in medienkünstlerischen Zusammenhängen verwendet werden. Diese
intra- und intermedialen Zusammenhänge zu beschreiben und wo-
möglich zu erklären, ist eine medienanalytische Herausforderung,
deren Relevanz unmittelbar evident und kaum begründungsbedürftig
erscheint.
Die Bearbeitung dieses Themas fällt (auch) in den Gegenstandsbe-
reich der Semiotik, allerdings weniger wegen ihres Anspruchs, ohne-
hin den schlüssigen Gesamtrahmen für die fruchtbare Analyse aller
Sachverhalte anzubieten,1 sondern aus einer ganz spezifischenhe
des Themas zur Zeichenproblematik.
Zeichen und Subjekte
Der Begriff des Zeichens, und der Gegenstand der Figurendarstel-
lung, Handlungsträgerschaft und Subjektivität, sind homolog, denn
das Kriterium für Subjektivität und Zeichenhaftigkeit ist dasselbe:
Zeichen und Subjekte konstituieren sich durch eine sich selbst ein-
schließende Bezugnahme, durch ein Quid pro quo, das im Quo wie-
der vorkommt. So kann z.B. eine individuell artikulierte Lautfolge
‚Baum‘ nur deshalb für den Begriff holziger Pflanzen stehen, weil sie
zugleich für das Quid pro quo zwischen dem Lautmuster ‚Baum‘ und
dem Begriff holziger Pflanzen steht. Die Lautfolge ‚Baum‘ bezeich-
net gleichermaßen eine Klasse von Pflanzen wie auch das Zeichen für
diese, weshalb es ebenso möglich ist von dem Wort Baum wie von
der Pflanze Baum zu sprechen. Dieselbe reflexive Konstitution kenn-
zeichnet auch Handlungsträger und Subjekte. Handlungsträger und
1 Am deutlichsten findet sich der universalistische Anspruch in der Semiotik bei Charles W.
Morris’ ausgeprägt, der seinen Ansatz explizit als Erfüllung des einheitswissenschaftlichen
Programms des logischen Empirismus ansah, vgl. Morris 1938. Aber auch in der struktu-
ralen Semiotik, die an Saussure (1916) anschließt, und in der kritischen Semiotik in der
Nachfolge Ecos (1964, 1968) handelt es sich um Paradigmen, die einen paradigmatischen,
d.h. tendenziell universalwissenschaftlichen Anspruch markieren. Und auch wenn die
Semiotik heute keine heiße Wissenschaftsmode mehr ist, ist der universalwissenschaftliche
Anspruch innerhalb des semiotischen Diskurses nach wie vor lebendig, siehe Posner et al.
1997-2004.
Jochen Venus
378
Subjekte können nur deshalb ihr Verhalten und Dasein bestimmen,
weil sie sich im Verhältnis zu ihrem Verhalten und Dasein interpre-
tieren und sich dieses Verhältnis zum Verhaltens- und Daseinsmotiv
machen: Ich bin x, indem ich davon überzeugt bin, derjenige zu sein,
der x ist; ich will y verwirklichen, indem ich mich motiviert fühle,
derjenige sein zu wollen, der im Begriff ist, y zu verwirklichen.
Durch diese reflexive Konstitution sind Zeichen und Subjekte auf
eigentümliche Weise gegeben und nicht gegeben zugleich. Sie sind
merkwürdig indirekt, grundlos vermittelt, indem an ihnen und für sie
das Medium ihrer Vermittlung nicht gegeben ist. Zeichen und Sub-
jekte sind in ihrem konstitutiven Aspekt virtuell. So wie die Bedeu-
tung eines Zeichens, durch die sich seine sich selbst einschließende
Bezugnahme verwirklicht, nicht direkt gegeben ist, sondern aus der
irreflexiven Form des Zeichenträgers erschlossen werden muss, so ist
auch die interpretative Reflexivität des Subjekts, das Bewusstsein,
keine direkt gegebene Tatsache, sondern ein hypothetischer Daseins-
und Verhaltensüberschuss, dessen Bedeutung darin liegt, faktischem
Dasein und Verhalten orientierende Zielvorgaben zu machen.2
Modallogisch betrachtet verhalten sich Zeichen und Subjekte aller-
dings spiegelverkehrt zueinander: Im Fall des Zeichens soll die fakti-
sche, wirkliche Form eines Zeichenträgers eine hypothetische, mögli-
che Interpretation begründen; im Fall des Subjekts soll eine hypothe-
tische, mögliche Form eines Bewusstseins eine faktische, wirkliche
Verkörperung und Produktivität motivieren. Lediglich strukturell sind
Zeichen und Subjekte gleichartig, operative Sein-Sollens-Fehl-
schlüsse, modallogische Grenzüberschreitungen von dem, was ist, zu
dem, was sein soll. Hinsichtlich der medialen Darstellung von Zei-
chen und Subjekten zählt aber allein und ausschließlich diese Struktur
der modalen Grenzüberschreitung. Die gegenläufige Richtung der
Grenzüberschreitung (vom Wirklichen zum Problematischen im Zei-
chen, vom Problematischen zum Wirklichen im Subjekt) fällt dage-
gen nicht ins Gewicht. Denn Darstellungen können überhaupt nur
etwas darstellen, indem sie von der Modalität dieses etwas, von sei-
nem ontologischen Status, absehen.
2 Daher hat die Psychoanalyse Recht, wenn sie feststellt, dass das Ich nicht Herr im eigenen
Haus ist; allerdings muss man hinzufügen, dass es sich mit wechselndem Erfolg darum
bemüht.
Semiotik der Figur
379
Die Priorität der Wahrnehmung, Ornamentik und
Figuration
Bei Kunstwerken und Medienangeboten handelt es sich um Arte-
fakte, die im dezidierten Interesse an ihrer Wahrnehmbarkeit herge-
stellt werden. Ihre Wahrnehmbarkeit ist der Grund, warum es sie gibt.
Und wenn man sie erklären will, muss man sie vor allem wahrneh-
men. Wahrnehmung aber ist universell verfügbar. Wann und wo im-
mer man überhaupt irgendetwas unternehmen kann, ist man in der
Lage, ja gezwungen, wahrzunehmen. Wer immer Kunstwerke und
Medienangebote analysieren will, kann ihren primären Funktionszu-
sammenhang, ihre programmatische Wahrnehmbarkeit, durch die
eigene Unterworfenheit unter den Wahrnehmungszwang mühelos
vollziehen. Es bedarf also zunächst keiner umständlichen Modellbil-
dungen, Operationalisierungen und messtechnisch kontrollierter Er-
hebungen um Medienangebote zu analysieren. Man kann sich auf die
Evidenz, dass einem selbst und anderen ein Objekt als ästhetisch
motiviertes Artefakt erscheint, verlassen, und darüber hinaus lassen
sich alle Zweifelsfälle in der Regel leicht klären.
Ästhetisch motivierte Artefakte sind daran zu erkennen, dass ihre
hervorstechenden Eigenschaften nicht, wie sonst der Fall, eine situa-
tive Funktionalität indizieren, sondern, dass es sich im Gegenteil um
solche Artefakte handelt, die in der Situation, in der sie gegeben sind,
zu kaum etwas anderem zu gebrauchen sind als dazu, sie wahrzu-
nehmen oder für andere Wahrnehmungsgelegenheiten zu bearbeiten,
zu speichern und zu übertragen. Ästhetisch motivierte Artefakte sind
an auffälligen, interessanten und motivierenden, aber eben auch: lu-
xurierenden, praktisch überflüssigen, wahrnehmbaren Eigenschaften
zu erkennen. Auffällig, interessant und motivierend sind diese luxu-
rierenden Wahrnehmbarkeiten, wenn sie regelhaft zusammenhängen,
wenn die sichtbaren und hörbaren, aber auch die haptischen und re-
flexartig sich einstellenden Wiederholungen, Modulationen, Kontra-
ste, Verschiedenheiten und Beziehungslosigkeiten offenbar einem
allgemeinen Prinzip unterworfen sind, das wie eines Rätsels Lösung
hinter dem faktisch Wahrnehmbaren steht und auf seine Erkenntnis
wartet.
Mit Niklas Luhmann (1995, 185f, 193ff) lassen sich auf einer sehr
allgemeinen Ebene zwei Prinzipien der Organisation luxurierender
Wahrnehmbarkeiten voneinander unterscheiden, das Prinzip der Or-
namentik und das Prinzip der Figuration: Ornamentik beschreibt all
Jochen Venus
380
jene ästhetischen Formen, deren Identität von anderen Formen des-
selben Gegenstands abhängt, die also eine Selbstreferenz der Ästhetik
eines Gegenstands begründen; ornamentale Formen zeigen sich in
Symmetrien und Balancen, in Kippwahrnehmungen, in unwillkürlich
in sich zurücklaufenden Wahrnehmungsverkettungen, Wahrneh-
mungsrhythmen und -kaskaden. Demgegenüber beschreibt das Prin-
zip der Figuration all jene Formen, die mit Relationen übereinstim-
men, die charakteristisch sind für die Wahrnehmung pragmatisch
zugänglicher Gegenstände und Situationen. Figurative Formen insze-
nieren sachliche Ähnlichkeiten, so dass das durch sie Wahrgenom-
mene unabhängig von der Materialität der figurativen Formen mög-
lich zu sein scheint. Figurative Formen begründen mithin ästhetische
Fremdreferenz.3 Es lassen sich auf der Basis dieser Prinzipien Ex-
treme denken: ästhetische Artefakte, die allein ornamental konstitu-
iert sind, reine Dekorationen; und ästhetische Artefakte, die allein
figurativ konstituiert sind: täuschend echte Imitationen. Zwischen
diesen Extremen spannt sich das Kontinuum der Darstellungen auf,
das Universum der Gegenstände, die im Zusammenspiel ornamenta-
ler und figurativer Formen eine prägnante Ähnlichkeits-Unähnlich-
keits-Differenz konstituieren, z.B. in der Form darstellender Bilder
und Klänge (um zwei sehr basale Darstellungsformen zu nennen, die
in vielen Künsten und Medien vorkommen).
3 Mit dem Anschluss an die von Luhmann verwendete Terminologie, die auch kunstwissen-
schaftlich üblich ist, stellt sich ein grundlegendes terminologisches Problem der Figuren-
kategorie, nämlich ihre begriffliche Ambivalenz. Hinter dem Terminus der Figur verbergen
sich unterschiedliche Begriffe, die sich nur schwer miteinander in Beziehung setzen lassen.
Einschlägig sind insbesondere drei Verwendungsweisen: 1. Die Figur-Grund-Unterschei-
dung, mit der das formale Prinzip relativer Geschlossenheit markiert wird; demnach ist
etwas geschlossen, eine Figur, nur in einem offenen, andere formale Möglichkeiten zulas-
senden Substrat, dem Grund (das ist der Begriff, auf dem der kunstwissenschaftliche Ter-
minus des Figurativen beruht, an den Luhmann anschließt); 2. Die Figur als paradigmati-
sches Element eines Formenrepertoires; man spricht etwa von geometrischen Figuren, von
Figuren der Rede, von Denk-, Tanz- und Klangfiguren (diese wären, im Kontext der
Luhmannschen Unterscheidung eher dem Ornamentalen zuzuordnen); und 3. Die Figur als
situationsabstrakter Handlungsträger, als Spiel- und Erzählfigur (um deren Formen in
Künsten und Medien es im Zusammenhang dieses Bandes geht). Diese terminologische
Ambivalenz ist nicht einfach aus der Welt zu schaffen, denn im Grunde handelt es sich
beim Begriff der Figur nicht um den Begriff eines substanziell und funktional zu spezifizie-
renden Sachverhalts, sondern um einen außerordentlich weiten Relationenbegriff, der als
deskriptive Kategorie nur verwendet werden kann, wenn man einen engeren Anwendungs-
horizont im Sinn hat, als der Begriff eigentlich zulässt. In welchem Sinn der Figurenbegriff
im Folgenden jeweils verwendet wird, dürfte aus dem Argumentationskontext hinreichend
deutlich werden.
Semiotik der Figur
381
Bilder zeigen sehr oft figurative Darstellungen räumlich ausgedehnter
Sachverhalte (Gase, Flüssigkeiten, feste Körper, Architekturen), in-
dem sie Ansichten ihrer Eigenschaften auf flache, ornamental struktu-
rierte sichtbare Ebenen projizieren, Ebenen, die materiell durch phy-
sische Bildträger verkörpert werden. Klänge präsentieren sehr oft die
figurative Darstellung von Bewegungen (Steigen, Fallen, Aufgehen,
Zerreißen, Springen, Stoppen etc.), indem sie spürbare Eindrücke
ihrer Dynamik einem hörbaren, ornamental periodisierten Strom ein-
prägen, dessen stabile Fließeigenschaften sich materiell durch physi-
sche Klangquellen vermitteln. In solchen Fällen ergibt sich ein ästhe-
tisch motiviertes Artefakt nicht als selbstähnliche Dekoration oder als
fremdähnliche Imitation, sondern als ähnlich-unähnliche Darstellung.
Durch ihren ornamentalen Aspekt unterscheidet sich die Darstellung
von der Imitation; das, was im ästhetisch motivierten Artefakt darge-
stellt wird, ist erkennbar situativ nicht der Fall. Durch ihren figurati-
ven Aspekt werden aber der Begriff des Dargestellten und die Af-
fekte, die mit ihm verbunden sein mögen, dennoch aufgerufen. Das
Dargestellte wird in Form einer unähnlichen Ähnlichkeit wahrge-
nommen, als situationsabstrakte Vergegenwärtigung, oder, um einen
Begriff Lambert Wiesings aufzugreifen, als artifizielle Präsenz des
Dargestellten (Wiesing 2005).4 Am prägnantesten konstituieren sich
Darstellungen auf der Basis ästhetisch motivierter Artefakte5.
In welchen Varianten bestimmte Gegenstände und Situationen in
Medien und Künsten artifiziell präsentiert werden und wie sich die
Präsentationsweisen historisch verändern, wie sie einander bedingen
4 Ebenso nützlich wie Wiesings Begriff der artifiziellen Präsenz ist auch die wahrneh-
mungsphilosophische Position, auf der dieser Begriff beruht, und die Wiesing zuletzt in
einem grundlegenden Essay ausgeführt hat (vgl. Wiesing 2009): Wiesing unterscheidet
scharf zwischen dem Bereich nicht begründungsbedürftiger Wahrnehmungsevidenzen und
dem Bereich modellgeleiteter Interpretationen, die durch Wahrnehmungsevidenzen plausi-
bilisiert werden. Wahrnehmungsevidenzen sind für Wiesing keine abgeleiteten Produkte
(eines Subjekts, der Medien oder der Wirklichkeit), sondern ebenso kontingente wie zwei-
fels- und wissensresistente Gegebenheiten. Eine solche Auffassung ermöglicht, den Unter-
schied zwischen Ästhetik und Semiotik sehr genau zu bestimmen, und, was in unserem
Zusammenhang wichtig ist, die Frage nach ihrem Zusammenspiel bei der Konstitution von
Figurendarstellungen zu stellen.
5 Allerdings ist die Erkenntnis, dass es sich bei einem Gegenstand um ein ästhetisch
motiviertes Artefakt handelt, keine notwendige Bedingung für die Anwesenheit von
Darstellungen. Darstellungen beruhen allein auf dem Zusammenspiel ornamentaler und
figurativer Formen, und es lässt sich der Fall denken, dass sich zufällig, ohne dass ein
Produzent dies beabsichtigt hat, eine Darstellung von etwas zeigt, sei es im Kontext natürli-
cher Quasi-Ornamente: Blätterwerk, Wasserläufe, Sand- und Himmelsoberflächen, sei es
im Kontext bewegungs- oder chemisch induzierter Trancen.
Jochen Venus
382
und aufeinander reagieren, lässt sich mithin ohne technischen und
begrifflichen Aufwand, rein evidenzbasiert, untersuchen und mit den
an sie anschließenden Diskursen (Kunst- und Medienkritik, politische
Stellungnahmen, rechtliche Bewertungen usw.) in Beziehung setzen.
Der anthropomorphe Effekt der Figur
Dabei wird allerdings leicht übersehen, dass im Fall der Darstellung
von Handlungen die modallogische Abstraktheit der Darstellung die
logische Problematik der Figurendarstellung überspielt. Eine Ana-
lyse, die sich allein auf Wahrnehmungsevidenzen der Darstellung
verlässt, dringt wegen des unproblematischen Scheins der Figuren-
darstellung nicht bis zu dem Kern des Ähnlichkeitszusammenhangs
vor, auf dem Figurendarstellungen basieren. Sie bleibt an der Ober-
fläche wahrnehmbarer Eigenschaften und sieht sich mangels begriff-
licher Vermittlung genötigt, das Ähnlichkeitsprinzip der Figur auf die
im Kontext des darstellenden Artefakts wahrnehmbaren menschli-
chen Produzenten und Rezipienten von Darstellungen zu beziehen, so
dass Figuren letztlich nicht anders denn als Repräsentationen des
Menschen gedacht und analysiert werden können.
Dieser Eindruck beruht aber auf einer formal nicht zu
rechtfertigenden Projektion. Der Eindruck der ‚Menschlichkeit‘ der
Figur, der Anthropomorphismus medial inszenierter Handlungsträger
und Subjekte, entsteht allein durch eine Projektion des Rezipienten-
selbstbildes auf die medial dargestellte Figur (die zufälligerweise
menschenähnliche Züge tragen kann) und nicht durch die mediale
Gestalt, die als Figur erlebt wird. Die Figur kann denkbar menschen-
unähnlich sein, sobald ein Rezipient, der sich für einen Menschen
hält, durch die Logik der Darstellung und ihres Kontextes motiviert
wird, das Dargestellte als Figur zu verstehen, versteht er sie ‚anthro-
pomorph‘.
Um es an Beispielen zu erläutern: Geradezu programmatisch ist
die ‚menschliche‘ Wirkung menschenunähnlicher Figuren im gegen-
wärtig vielleicht beliebtesten Genre medialen Erzählens, im Animati-
onsfilm. Prototypisch verwirklicht etwa in dem Maßstäbe setzenden
Kurzfilm Luxo Jr. der Pixar Animation Studios aus dem Jahr 1986.
Diese Computeranimation erzählt auf anrührende Weise die Ge-
schichte zweier Figuren und ihres Ballspiels. Im Verlauf des Spiels
hüpft eine der beiden Figuren auf dem Ball herum, bis er kaputt geht.
Semiotik der Figur
383
Die Frustration darüber ist aber nur von kurzer Dauer. Mit einem
neuen, größeren Ball geht das Spiel weiter. Der Reiz dieser Compu-
teranimation besteht, neben der Repräsentationswirkung der gerech-
neten Bilder, in der dezidierten Dinglichkeit und Sachlichkeit der
figurativen Referenz der Darstellung: Es handelt sich bei den Figuren
um profane Schreibtischlampen. Man kann sich aber des Eindrucks
der ‚Menschlichkeit‘ dieser Schreibtischlampen in der Tat kaum er-
wehren. Der Größenunterschied der beiden Lampen lässt an ein El-
tern-Kind-Verhältnis denken, die Lampenschirme wenden sich ein-
ander zu wie im kommunikativen Austausch. Die ‚Gesten‘ der Lam-
pen wirken wie Gefühlsäußerungen. Entscheidend aber ist: Nicht im
Mindesten besteht auf der Ebene der Darstellungsformen eine Ähn-
lichkeit zu menschlichen Schemata. Es wird noch nicht einmal, wie
sonst so oft in Animations- und Zeichentrickfilmen, das Muster des
menschlichen Blicks und Gesichts aufgenommen. Allein der erkenn-
bare Handlungszusammenhang stiftet, gleichsam retroaktiv, die Ähn-
lichkeitsbeziehungen zwischen der Schreibtischlampenmotorik und
den auch, aber offenbar nicht nur, auf menschliche Körper beziehba-
ren Tätigkeitsmustern, in diesem Fall: Laufen, Hüpfen, einen Ball
anstoßen, Abwarten, Seufzen. Wie als wollte Luxo Jr. den Beweis
antreten, dass die Formen der Figur nicht auf Menschenähnlichkeit
beruhen, mobilisiert er in außerordentlichem Maß das Einfühlungs-
vermögen, ohne Menschenähnliches darzustellen.
Vielleicht wird die Differenz zwischen Figurenparadigmen und
anthropologischen Schemata noch deutlicher in Fällen, in denen men-
schenähnliche Formen in einer Darstellung erkennbar keinen Figu-
renstatus haben, wie dies z.B. für alle Statuen, Puppen, bildlichen,
klanglichen und textlichen Darstellungen des Menschen gilt, die ih-
rerseits in Darstellungen als Werkzeuge oder als Teile des szenischen
Interieurs figurieren. Diese Evidenz lässt sich nicht ontologisch auf-
lösen, etwa indem man sich mit dem Hinweis begnügt, dass eine
menschenähnliche Statue nun einmal kein Mensch sei. Die konstitu-
tive modallogische Offenheit der Darstellung macht die modallogi-
schen Unterschiede in der dargestellten Situation, und d.h. auch den
modallogischen Unterschied zwischen Darstellung und Realität, zu
einer Sache interpretativ anzuerkennender Konventionen. Wie solche
Konventionen greifen, aber auch subvertiert werden können, zeigt in
aller Deutlichkeit der Film L'année dernière à Marienbad (1961), in
dem Bewegungsbilder menschlicher Körper gezeigt werden und da-
bei zwischen einer ornamental-statuenhaften Defiguration und einer
Jochen Venus
384
intentional-handlungsbezogenen Figuration gleichsam ‚überblendet‘
wird. Die dargestellten Handlungen sind kaum in einen schlüssigen
Handlungszusammenhang zu bringen. Gleichzeitig lassen sich an den
gezeigten Menschen immer wieder Formen der Bewegungseinfrie-
rung beobachten, Formen maskenhafter Starre, brettspielartiger Kon-
stellationen und stereotyper Wiederholungen, und dies provoziert den
sinnsuchenden Rezipienten, mit modalen Zuschreibungen zu experi-
mentieren und den gezeigten Menschen ihren Figurenstatus so zu-
und abzuerkennen, dass sich womöglich ein stimmiger Handlungszu-
sammenhang von hintergründigen ornamental zu deutenden Vorgän-
gen abhebt. Diese ‚Überblendung‘ zwischen defigurierter Ornamentik
und figurierendem Schauspiel ist aber letztlich ein interpretativer Akt,
der faktisch parallel, aber systematisch später, nach der Wahrneh-
mung, vollzogen wird, nämlich im Zuge des Versuchs, auf der Basis
des Wahrgenommenen Sinnkohärenzen zu generalisieren. Diese
Nachträglichkeit der Unterscheidung figurativer und ornamentaler
Menschenbilder zeigt sich auf schlagende Weise, wenn man L’année
dernière mit dem Film The Matrix (1999) vergleicht, in dem ähn-
liche statuenhafte partielle Einfrierungen des Bewegungsbildes zu
beobachten sind, die aber nicht den Figurenstatus der gezeigten Men-
schenkörper problematisieren, sondern im Gegenteil, im Sinne des
kohärenten Handlungssinns, die Überlegenheit der protagonistischen
Figuren gegenüber dem Simulationsprogramm der Matrix ausstellen.
Allein auf der Ebene von Wahrnehmungsevidenzen sind diese unter-
schiedlichen Effekte gleichartiger Darstellungsformen nur schwer
und unter dem Gesichtspunkt der Anthropomorphie von Figuren gar
nicht zu erklären.
Auch wenn also eine komparatistische Morphologie der Figur sich
in ihren Analysen auf die wahrnehmbaren Formen der Darstellungs-
praktiken verlassen muss, ist sie in ihrem Gegenstandsverständnis auf
ein semiotisches Konzept der Subjektivität und der Handlungsträger-
schaft angewiesen, wenn sie nicht den Gegenstand reduktionistisch
verengen will. Die aktuellen theoretischen Reflexionen der Figuren-
kategorie (vgl. Jannidis, Eder) arbeiten genau an der Schnittstelle und
in dem schwer zu systematisierenden Übergangsfeld zwischen gegen-
standsneutralen darstellerischen Mitteln und anthropomorphem Re-
zeptionseffekt. In der Regel wird in diesen Arbeiten der Rezeptions-
effekt zum Ausgangspunkt der Analyse genommen und als ‚Zu-
schreibung‘ eines menschenähnlichen Verhaltens thematisiert:
Semiotik der Figur
385
»The Character is not a human being, but it resembles one.
It has no real psyche, personality, ideology, or competence
to act, but it does posess characteristics which make psy-
chological and ideological description possible« (Bal 1985,
80).
So aufschlussreich das Modell der ‚Zuschreibung‘ in vielerlei Hin-
sicht auch sein mag, es überbetont darstellungstechnisch das Moment
des Literarisch-Symbolischen und der rezeptiven Willkür (fassbar
schon im Begriff der Zu-Schreibung), wodurch die unwillkürlich und
sinnlich sich aufdrängenden Darstellungsformen und ihr Beitrag zur
Figurenkonstitution systematisch aus dem Blick geraten. Das Mo-
ment der Zuschreibung ist durchaus nicht für alle dargestellten artifi-
ziellen Subjekte konstitutiv, sondern allein für die Konstruktion der
‚Außenansicht‘ von Subjekten, der Konstruktion der 3.-Person-Per-
spektive, des ‚alter egos‘. Das weitaus interessantere und gewichti-
gere Subjektparadigma aber ist die Konstruktion der ‚Innenansicht‘
des Subjekts, der 1.-Person-Perspektive, des ‚egos‘. Denn diese Kon-
struktion erlaubt eine rezeptive Immersion in artifizielle Empfin-
dungswelten. Diese Art Subjekte werden darstellerisch nicht durch
sprachliche oder sprachanaloge Beschreibungen evoziert, sondern
durch Darstellungsformen der Plasizität, der eigendeterminierten
Veränderlichkeit, durch artifizielle Evokationen des Lebendigen,
durch Darstellungsformen also, die deskriptive Distanznahmen ge-
rade unterlaufen.
Das Subjekt als Ort der Affekte
Eine Handlung ist nicht einfach, was sie ist, vielmehr ist sie, was sie
ist, indem das Verhalten etwas Bestimmtes erreichen oder sich auf
eine bestimmte Weise vollziehen soll. Wegen dieser modalen Span-
nung können Handlungen, im Unterschied zu absichtslosen Verhal-
tenssequenzen, erfolgreich sein oder scheitern bzw. die sie leitende
Absicht bestätigen oder desavouieren. Und es ist diese Differenz, die
die Handlung begründet, nicht der Akt ihrer Attribuierung. Die Attri-
buierung von Handlung hat eine nachträgliche und keineswegs kon-
stitutive oder auch nur obligatorische Funktion. Mit dem einfachen
aber sehr effektiven Beispiel des Pflaumenkuchenbackens macht
Sebastian Rödl dies deutlich:
Jochen Venus
386
»Da ich den Vorteig ansetze, weiß ich, daß ich einen
Pflaumenkuchen backe. Ich weiß das, nicht indem ich
beobachte, daß etwas vor sich geht, das unter diesen Be-
griff fällt, sondern indem ich mit diesem Begriff handle.
Das sieht man daran, wie ich antworte, wenn mir jemand,
dem ich sage, daß ich Pflaumenkuchen backe, vorhält, „Du
sagst, du backst Pflaumenkuchen? Aber du nimmst ja
Schweineschmalz.“ Da sage ich nicht, „Sieh an, ich habe
mich geirrt. Ich backe gar keinen Pflaumenkuchen. Laß
uns sehen, was ich tue. Vielleicht brate ich ein Kotelett.“
Sondern ich sage: „Wie dumm von mir. Jetzt muß ich noch
einmal von vorne anfangen. Oder vielleicht kann ich es
noch retten und den Schmalz herausholen.“ Da ich das
sage, backe ich weiter Pflaumenkuchen« (Rödl 2006, 7).
Der Erfolg oder das Scheitern einer Handlung oder Teilhandlung, die
Bestätigung oder Desavouierung einer Absicht, begründet Zustände
der kognitiven Einstimmigkeit mit sich bzw. Zustände kognitiver
Dissonanz, Zustände, die wiederum die Absicht einer Folgehandlung
prägen, die, im Unterschied zum Verhaltensreflex, als absichtsvolle
Reaktion zu interpretieren ist und mit der vorausgehenden Handlung
in einem Motivzusammenhang steht. Absichten sind mithin Verhal-
tensgründe, die sich von außen nicht wahrnehmen lassen, die sich
nicht aus kopräsenten Sachverhalten ableiten lassen, und die sich
daher keineswegs auf eine Beschreibung absichtsvollen Handelns und
ihre Attribuierung auf einen Dritten reduzieren lassen. Absichten sind
modalisierte nichtsinnliche Versionen von Verhaltenssequenzen, die
sich als paralogische Schlüsse (Peirce würde sagen: Abduktionen)
begründen, deren ‚Prämissen‘ in vergangenen, situativ nicht präsen-
ten Handlungsergebnissen und ihren affektiven Bewertungen beste-
hen.
Mit Blick auf die Phänomenologie und kulturelle Semantik der
Gefühle und entlang der Motivgrammatik Kenneth Burkes (Burke
1945) kann man in einem ersten groben Zugriff folgende Zusammen-
hänge vermuten: Gelingt oder misslingt eine Handlung durch die
Natur des Handlungsträgers, moduliert dies die Affekte in den Polen
Rührung und Trauer, entscheiden dagegen die Gebrauchseigenschaf-
ten der Handlungsinstrumente, evoziert dies Affekte der funktionalen
Befriedigung bzw. der funktionalen Frustration; sind szenische
Aspekte ausschlaggebend, spannen sich die Affekte zwischen den
Semiotik der Figur
387
Polen Lust und Unbehagen auf, liegt die Crux im Vollzugsmoment
der Handlung, also in Aktion oder Passion, generiert dies Affekte
zwischen Hoffnung und Angst, während schließlich das Moment der
Handlungsabsichten, der moralisch-ideologischen Handlungskompo-
nenten, Affekte in der Polarität von Stolz und Scham moduliert.
Durch die situationsabstrakte Gegebenheit der Figuren werden die
durch ihr ‚Schicksal‘ hervorgerufenen Affekte auch situationsabstrakt
miterlebt, sie ähneln den Gefühlen, die durch eine Erinnerung an
eigenes Handeln hervorgerufen werden können.
Darstellungsformen der Intentionalität
Die Rekonstruktion der Figur kann sich daher nicht auf den Bezirk
reiner Symbolizität zurückziehen und einen abstrakten Code der
Subjektivitätsattribuierung entwerfen, der das formale Gesetz wäre,
nach dem Medien Figuren darstellen. Vielmehr ist an der Homologie
von Zeichen und Subjekt anzusetzen und deren allgemeine Phänome-
nologie zu entwickeln.
Phänomenologisch zeigt sich das Kriterium für Zeichen und Sub-
jekte, die sich selbst einschließende Bezugnahme, in der Form von
Intentionalität, von Gerichtetheit. Im Fall des Zeichens: als Gerichtet-
heit der Bedeutung; im Fall des Subjekts: als Gerichtetheit des Be-
wusstseins. Die modallogische Problematik des Zeichens und des
Subjekts zeigt sich phänomenologisch als prinzipielle Verborgenheit
und Verschlossenheit, als ‚innerer Zustand‘ des Bewusstseins oder
‚Inhalt‘ des Zeichens. Wie immer man die Evidenz der Zeichenhaf-
tigkeit und die Bewusstheit eines Gegenstands phänomenologisch
beschreiben und mit welchen Metaphern man dabei die Unverfügbar-
keit des operativen Sein-Sollens-Fehlschlusses, auf dem Intentionali-
tät beruht, andeuten mag; klar ist in jedem Fall, dass offenbar nur
problematische Bedingungen und Effekte der Intentionalität wahr-
nehmbar und damit für die Wahrnehmung darstellbar sind: mögli-
cherweise bedeutsame Zeichenträger, möglicherweise einsichtige
Wesen, möglicherweise absichtsvoll vollzogene Verhaltenssequen-
zen; das Prinzip von Zeichen, Subjekten und Handlungsträgern aber,
die sich selbst einschließende Bezugnahme, entzieht sich der Wahr-
nehmung. Vor diesem Hintergrund erscheint dann die Darstellbarkeit
dieses Prinzips, die sich in jedem medial vermittelten Zeichen und
jeder medial dargestellten Figur unzweifelhaft mitteilt, wie ein Wun-
Jochen Venus
388
der. Wie geht das? Wie kann man semiotische und subjektive Inten-
tionalität darstellen, obwohl sie nicht wahrnehmbar ist?
Der Schlüssel zu diesem Problem liegt in den ästhetisch motivier-
ten Artefakten selbst und in der evidenten Wahrnehmbarkeit ihrer
grundlegenden Darstellungsprinzipien. Indem nämlich ästhetisch
motivierte Artefakte durch das Zusammenspiel ornamentaler und
figurativer Formen einen Gegenstand oder eine Situation situations-
abstrakt vergegenwärtigen, exemplifizieren sie selbst eine spezifische
Form von Intentionalität; sie sind selbst ein (und man kann wohl
sagen: das einzige öffentliche) Paradigma für Intentionalität. Ihr Ge-
genstandsbezug ist genau derselbe, der alle Intentionalitätsphäno-
mene kennzeichnet. Das Dargestellte wird nicht reproduziert, son-
dern, genau wie der semantische Gehalt von Zeichen und der be-
wusste Gehalt von mentalen Zuständen, bloß formal aufgerufen und
zur Disposition gestellt, eben: intendiert. Weil auf diese Weise also
ein wahrnehmbares Paradigma für Intentionalität vorliegt, ist Inten-
tionalität auch darstellbar, nämlich als Darstellung 2. Ordnung. Indem
Darstellungen prinzipiell alles Mögliche hinsichtlich seiner wahr-
nehmbaren Strukturen darstellen können, können sie sich auch Dar-
stellungen zum Gegenstand machen und damit Intentionalität dar-
stellen. Dass sich die Evidenz einstellen kann, Zeichen und/oder
Subjekte wahrnehmen zu können, kann, wenn Darstellungen das
einzige öffentliche, wahrnehmbare Paradigma für Intentionalität sind,
nur auf dem Wahrnehmungseindruck beruhen, eine Darstellung 2.
Ordnung vor sich zu haben.
principium stilisationis
Darstellungen 2. Ordnung finden sich in der Kunst-, Musik- und Lite-
raturgeschichte bekanntlich en masse. Dabei hat sich der Kunst- und
Mediendiskurs vor allem von den iterativen Inszenierungen etablier-
ter Darstellungskategorien faszinieren lassen. In Darstellungen 2.
Ordnung ist es nämlich ohne Weiteres möglich, dass die dargestellte
Darstellung und das ästhetische Artefakt, das sie darstellt, auf dersel-
ben Darstellungsform beruhen, d.h. auf derselben Spezifikation des
allgemeinen Darstellungsprinzips, Ornamentik und Figuration in ein
darstellendes Verhältnis zu bringen. Dadurch werden Phänomene
möglich wie die Bühne auf der Bühne, das Bild im Bild, das Verhält-
nis von Rahmenerzählung und Binnenerzählung, das Phänomen mu-
Semiotik der Figur
389
sikalischer Darstellungen des Musizierens. Zusammen mit der ebenso
möglichen Inszenierung einer wechselseitigen Bezugnahme von Dar-
stellungskategorien wurde dies unter rhetorischen und strukturfunk-
tionalen Begriffen wie Metalepse, Metatextualität, ästhetische Selbst-
referenz, ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘ und Intermedialität
verhandelt.6
So bemerkenswert diese Phänomene auch sind, unter dem Blick-
punkt etablierter Darstellungsformen wird übersehen, dass sich hinter
der Möglichkeit von Darstellungen 2. Ordnung eine viel entscheiden-
dere Darstellungsoption verbirgt als nur die der darstellungstechni-
schen Selbst- und Fremdreferenz, nämlich die Darstellbarkeit von
Zeichen und Subjekten.
Denn eine Darstellung 2. Ordnung bedarf durchaus keiner darstel-
lungskategorialen Referenz um als solche erkannt zu werden. Es ge-
nügt, dass ein dargestellter Gegenstand Züge des Dargestelltseins
trägt, und dies ist schon dann der Fall, wenn die Strukturähnlichkeit,
auf der die Darstellung beruht, in der Darstellung derart differenziert
wird, dass bestimmte Strukturmomente gegenüber anderen hervorge-
hoben erscheinen. Bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften eines
Gegenstandes werden ins Zentrum der Darstellung gerückt, während
von anderen wahrnehmbaren Eigenschaften, die nach Anlage der
Darstellung durchaus präsentierbar wären, abgesehen wird.
Das drastischste Beispiel dieses Prinzips findet sich in der Karika-
tur, deren Konzentration auf individuierende Eigenschaften soweit
geht, dass die Auslassung der als weniger relevant erachteten Ähn-
lichkeitsmomente zu einem paradoxen Darstellungsbruch führt. Eine
Karikatur vermittelt den paradoxen Eindruck, dass so, wie sie einen
bestimmten Gegenstand zeigt, eigentlich gar kein wirklicher Gegen-
stand, sondern nur dieser bestimmte Gegenstand aussehen kann. Eine
Karikatur Winston Churchills vermittelt: So sieht eigentlich kein
wirklicher Mensch aus, so sieht nur Winston Churchill aus. Der dar-
gestellte Gegenstand wird im Rahmen der ihn präsentierenden figu-
rativen und ornamentalen Formen gleichsam noch einmal dargestellt,
indem am figurativen Aspekt der Darstellung noch einmal die Unter-
scheidung des Figurativen und Ornamentalen erkennbar ist, mlich
die zentrierten Ähnlichkeitsmomente und die darstellerischen Mittel,
welche die Differenz zentraler und peripherer bzw. nicht berücksich-
tigter Ähnlichkeitsmomente in Szene setzen, die den Eindruck des
Un- und Überwirklichen erzeugen.
6 Vgl. z.B. Walzel 1917, Voigt 1954, Waugh 1984, Paech 1998, Paech/Schröter 2008.
Jochen Venus
390
In weniger drastischer Form als in der Karikatur regiert dieses Prinzip
alle Darstellungen, an denen ein bestimmter Stil wahrnehmbar ist, der
die wahrnehmbaren Gegenstandsstrukturen, die in der Darstellung
präsentiert werden, gleichsam verzerrt. Stil ist hinsichtlich seiner
reflexiven Ornamentalität, im Moment seiner ästhetischen Selbstrefe-
renz, unabhängig vom Dargestellten und unabhängig vom einzelnen
ästhetisch motivierten Artefakt. Er kann als solcher also auch in ande-
ren ästhetisch motivierten Artefakten wiederauftauchen und so den
Gattungszusammenhang begründen, auf dem Darstellungskategorien
beruhen, die dann Gegenstand metaleptischer, metatextueller und
intermedialer Darstellungspraktiken sein können. Systematisch be-
wirkt die Darstellung 2. Ordnung zunächst also lediglich und weitaus
fundamentaler als in den metaleptischen, metatextuellen und interme-
dialen Verfahren die Emergenz von Stil und damit eine Steigerung
und Intensivierung des Ähnlichkeits-Unähnlichkeitsverhältnisses des
Dargestellten und einen Vergleichsgesichtspunkt ästhetisch moti-
vierter Artefakte. Der Darstellungsstil ist ein wahrnehmbares Moment
der Darstellung, das nicht nur die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der
Darstellung mit dem Dargestellten begründet, sondern auch die Ähn-
lichkeit und Unähnlichkeit der Darstellungen untereinander, und zwar
unabhängig vom jeweils Dargestellten.
Dargestellte Zeichen, dargestellte Subjekte und das
kontextuelle Kriterium ihrer Unterscheidung
Das Phänomen der Stilisierung hat rezeptiv einen mobilisierenden
Effekt: Das Dargestellte wird durch seine Stilisierung mit Nachdruck
dargestellt, die Darstellungsintention erscheint bekräftigt; zugleich
enthält sich die Darstellung vermöge ihres Stils auf wahrnehmbare
Weise anderer Darstellungsmöglichkeiten. Sie unterlässt deutlich
erkennbar die Darstellung anderer prinzipiell darstellbarer Eigen-
schaften des Dargestellten, ohne dass diese Unterlassung als eine
notwendige Implikation der wahrnehmbaren Struktur des ästhetisch
motivierten Artefakts erkennbar wäre. Auf diese Weise gewinnt das
Dargestellte Plastizität; seine aktuelle artifizielle Präsenz wird auf
Grund der wahrnehmbaren Stilisierungen im Kontext virtueller artifi-
zieller Präsenzen wahrgenommen, die in demselben Stil etwas ande-
res oder dasselbe in anderer Perspektive zeigen würden. Auf diese
Weise wird das Dargestellte mit Virtualität aufgeladen, es erscheint
Semiotik der Figur
391
als artifizielle Präsenz der Virtualisierung eines Aktuellen bzw. der
Aktualisierung eines Virtuellen, oder: als Darstellung eines Zeichens
bzw. eines Subjekts.
Die stilisierte Darstellung stellt nicht lediglich etwas dar, sondern
sie stellt ihren Gegenstand als etwas dar, durch den Stil wird der Dar-
stellungsgehalt perspektiviert. Dabei ist allerdings mit der stilisti-
schen Perspektivierung lediglich ein Intentionalitätsüberschuss mar-
kiert, ein Mehr der Darstellung, das qua stilisierter Darstellung unbe-
stimmt ist, das aber seine Bestimmung motiviert.
Diese offene Perspektivierung, die durch den Stil vermittelt wird,
dieses unbestimmte Als-etwas-darstellen, stimuliert rezeptiv eine
interpretative Antwort, eine Bestimmung des Sachverhalts, als der der
stilisierte Sachverhalt gezeigt wird. Dabei eröffnet die stilisierende
Darstellung genau zwei Bestimmungsmöglichkeiten des Intentiona-
litätsüberschusses. Ein Sachverhalt kann als ein anderer oder er kann
als ein selbiger bestimmt werden. Das Dargestellte kann als Reprä-
sentation von etwas anders Geartetem oder als Repräsentation seines
Wesens wahrgenommen werden. Damit tritt etwas in Erscheinung,
für das es an situativ konkret wahrnehmbaren Gegenständen und
Vorgängen kein wahrnehmbares Pendant gibt, nämlich ein Zeichen-
verhältnis (aliquid stat pro aliquo) oder ein Subjekt (Ich will so sein,
dass ich bin, wie ich sein will).
Wie ein stilisiertes Darstellungsobjekt im Licht seiner rezeptiven
Bestimmung wahrgenommen wird, ob als artifizielle Präsenz eines
interpretierbaren Zeichenträgers oder als artifizielle Präsenz eines
sich verwirklichenden Subjekts, liegt allerdings nicht in der Kompe-
tenz der Darstellung selbst, wie die semiotische Analyse schon zu
Beginn gezeigt hat: Zeichen und Subjekte sind homolog und wegen
der modallogischen Abstraktheit von Darstellungen lassen sich keine
Formen der Darstellung denken, anhand derer die Darstellung eines
Zeichens von der Darstellung eines Subjekts unterschieden werden
könnte. Ob es sich bei stilisierten Darstellungsobjekten um Zeichen-
oder um Subjektdarstellungen handelt, liegt vielmehr an kontextuel-
len Faktoren, daran, in was für einer Situation die situationsabstrakte
Gegebenheit des Dargestellten gegeben ist. Der modallogische Rich-
tungsunterschied, der Zeichen von Subjekten unterscheidet (vom
Wirklichen zum Problematischen im Zeichen, vom Problematischen
zum Wirklichen im Subjekt), entscheidet sich an korrelativen Wirk-
lichkeiten und Problematiken in der Situation, in der die Darstellun-
gen auftauchen. Je klarer und deutlicher das nicht wahrnehmbare,
Jochen Venus
392
problematische Moment, das mit der stilisierten Darstellung evoziert
wird, in der Gegebenheitssituation der Darstellung kontextuell ver-
standen wird, je leichter es sich als situativ bedingter pragmatischer
Sinn aussagen lässt, desto eher erscheint die Darstellung als Darstel-
lung eines bedeutungsvollen Zeichenträgers, dessen Bedeutung sich
in Bezug auf seine konkrete Gegebenheitssituation aussagen lässt.
Umgekehrt, je weniger prägnant sich ein situativ-pragmatischer Sinn
aufdrängt, desto eher wird die stilisierte Darstellung als Figur ver-
standen und das nichtwahrnehmbare Moment ihrer Konstitution in
die Artifizialität selbst projiziert.
Man kann sich den Unterschied an einem einfachen Problem ver-
deutlichen: Wie z.B. wird ein Text zum Redebeitrag einer Figur (also
zur Darstellung von Subjektivität), und wie wird eine stilisierte Dar-
stellung des Menschen zum bedeutungsvollen Piktogramm (also zur
Darstellung eines Zeichens)? Offenbar liegt dies am pragmatischen
Kontext, in dem diese ästhetisch motivierten Artefakte auftauchen.
Das Piktogramm zeigt in einem konkreten Gebäude einen Fluchtweg
an, seine Interpretation wird also als potenziell situativ handlungslei-
tend aufgefasst, während umgekehrt der Text zum Redebeitrag einer
Figur wird, indem eine solche potenzielle situative Handlungsleitung
nicht zu erkennen ist. Die modale Gegenläufigkeit von Zeichen und
Subjekt, die den Darstellungsformen von Intentionalität nicht zu ent-
nehmen ist, erschließt sich aus dem pragmatischen Kontext des äs-
thetisch motivierten Artefakts, nämlich ob sich der Situation, in der es
gegeben ist, entnehmen lässt, dass das principium stilisationis das
Dargestellte zum passenden Zeichenträger einer kontextuellen Inter-
pretation macht. Z.B. findet das einen Fluchtweg anzeigende Pikto-
gramm seine passende kontextuelle Interpretation in konkreten Leu-
ten, die im Notfall den angezeigten Weg gehen. Diese Vorstellung
markiert die dargestellte Intentionalität als artifizielle Präsenz eines
Zeichenträgers. Umgekehrt wird ein situationsabstrakt gegebener
Text als subjektive Form der Intentionalität, als artifizielle Präsenz
der problematischen Gegebenheit einer Einsicht oder Absicht wahr-
genommen, wenn dessen situative Gegebenheit keine Anzeichen
bietet, ihn auf eine virtuelle kontextuelle Interpretation zu beziehen,
wenn nicht ersichtlich ist, in welcher Weise er kontextuelle Verhal-
tensmöglichkeiten so zu spezifizieren geeignet ist, dass diese als pas-
sende kontextuelle Interpretationen des Textes wahrnehmbar sind.
Dabei kann es durchaus zu semiotisch-figuralen Bivalenzen kommen,
wenn etwa, wie im Fall eines Dramentextes, eine kontextuelle Inter-
Semiotik der Figur
393
pretation in Gestalt der Theateraufführung denkbar ist, der der Dra-
mentext als Partitur dient. In diesem Sinn handelt es sich bei dem
konkreten Dramentext um die Darstellung eines Zeichenträgers. Zu-
gleich gilt aber diese Reinszenierung einem Text, dessen mögliche
handlungsleitende Funktionen darüber hinaus relativ offen sind.
Grundsätzlich gilt, dass jede Zeichen- und Subjektdarstellung derart
dekontextualisiert und rekontextualisiert werden kann, dass sich der
darstellerische Status in sein Gegenteil verkehrt. Gleichzeitig gilt aber
auch, dass sich im Rahmen etablierter kultureller und medialer Prak-
tiken Situationstypen ergeben haben, in denen geradezu erwartet
wird, Figuren im Sinne einer artifiziellen Subjektivität gezeigt zu
bekommen.
Darstellungslogik und Darstellungspluralität
Eine Figur wahrnehmen heißt also, stilisierte Darstellungen, für die
sich situativ kein pragmatischer Deutungskontext anbietet, als artifi-
zielle Präsenz einer Figurenintention aufzufassen und d.h. zugleich
die Darstellung ihrer Verwirklichung und den affektiven Zustand, den
das Gelingen oder Misslingen impliziert, zu antizipieren. Figuren
stimulieren die Darstellungsphantasie und die emotionale Einbil-
dungskraft. Sie lassen eine weitere Darstellung erwarten, durch die
sich die Verwirklichung der Intention oder das Scheitern dieser Ver-
wirklichung dargestellt findet.
Die virtuelle artifizielle Präsenz, die gleichsam den imaginären
Hof der Figurenwahrnehmung bildet, fällt aber nicht vom Himmel.
Der imaginative Überschuss, auf dem die Figurenwahrnehmung be-
ruht, muss vorher akkumuliert sein, damit er sich situativ aktualisie-
ren kann. Der kontextuelle imaginative Überschuss besteht in rezep-
tiven eidetischen Variationen, deren Substanz nur aus dem kollekti-
ven, individuell mehr oder weniger gesättigt angeeigneten Darstel-
lungsgedächtnis bezogen werden kann. Figurenwahrnehmung setzt
ein kontextuelles kollektives Darstellungsgedächtnis voraus, aus des-
sen Formenrepertoire die eidetischen Variationen, durch die die Figur
in ihrer Plastizität erscheint, kombinatorisch ermittelt werden.
Dadurch wird die eigentümliche Faszinationskraft des Figurenphä-
nomens erklärbar: Figurendarstellungen binden die Leute an die Me-
dien, indem sie dazu einladen, durch sie in der Sicherheit der Artifi-
zialität die Exposition eigenen Selbstseins zu genießen; und sie kön-
Jochen Venus
394
nen dies nur sein, indem sie zugleich die morphologischen Passagen
medialer Assoziationen sind, durch die differente Medienangebote
Vergleichsgesichtspunkten unterworfen werden und gattungsmäßige
Ähnlichkeiten und Unterschiede offenbaren, so dass die regulative
Idee eines einheitlichen Systems der Medien und Künste und ein
ideeller Gesamtzusammenhang der Darstellungsgeschichte emergie-
ren kann. Figuren binden Leute an Medien, indem sie zugleich die
Medien an die Medien binden, sie sind der Kitt des Mediensystems.
Allerdings abstrahiert dieser Gedanke von konkreten historischen
Formen der Figur. Im konkret historischen Entwicklungszusammen-
hang der Künste und der Medien ist zu konstatieren, dass das kollek-
tive Darstellungsgedächtnis, das den Hintergrund der Figurenwahr-
nehmung bildet, in jedem Moment der medialen Produktions-, Distri-
butions- und Rezeptionswirklichkeit nur einseitig und partiell gege-
ben ist und das Interesse an der Inszenierung eigenen Selbstseins sich
bei den Leuten auf sehr verschiedene Arten spezifiziert. In histori-
scher Hinsicht relativiert sich die Logik der Figur in zweierlei Hin-
sicht, einerseits durch die Vielheit offener, dezentrierter kollektiver
Darstellungsgedächtnisse und andererseits dadurch, dass es keine
allgemeine Figur gibt, keine Darstellung des Subjekts, sondern die
Vielheit besonderer Figuren als Darstellungen besonderer Hand-
lungsträger. Das betrifft sowohl die Gegenstandsreferenzen der Figu-
rendarstellungen (hinsichtlich der manche Rezipienten eher starke
Reize, scharfe Kontraste, hart-kristalline Formen, andere eher das
Subtile, Weiche, Metamorphotische schätzen mögen) wie auch die
von Figuren aufgerufenen Affektbereiche.
So unterschiedlich Figuren also in ihrer äußerlichen Gestalt und in
ihren affektiven Valeurs gestaltet werden können und gestaltet wer-
den müssen, entsprechen sie auch mehr oder weniger den Präferenzen
von Rezipienten. Die Leute haben hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen
und Gefühle durchaus unterschiedliche Erinnerungs- und Einbil-
dungsinteressen. Und wie immer eng sich einzelne Angebote in die-
sem Zusammenhang an außermediale Vorbilder personaler Zuschrei-
bungen anlehnen mögen, klar ist: nicht jede Figur lädt jeden Rezi-
pienten gleichermaßen zur Identifikation ein. Eine Figur kann daher
prinzipiell über kein absolutes Identifikationsprofil verfügen. Die
Darstellungslogik der Figur ist notwendigerweise fuzzy.
In dieser Spannung zwischen einem systematisch begründeten
Interesse an Subjektdarstellungen und der Unsicherheit des Identifi-
kationsprofils konkreter Figuren liegt das Motiv einer morphologi-
Semiotik der Figur
395
schen Reflexivität der Figur. Das Interesse an Subjektdarstellungen
muss angesichts der Unsicherheit des Figurenprofils, der Unsicherheit
der Figurenidentität, reflexiv werden und seine Rationalität nicht in
der Ganzheit der Figur, sondern in ihren Teilen, in ihren Darstel-
lungsformen, suchen. Und wenn man die erstaunliche Promptheit
bedenkt, mit der Figuren funktionieren, wenn man sich das kollektive
Gelächter und die kollektiven Tränen vergegenwärtigt, die sich of-
fenbar seriell produzieren lassen, dann lässt sich dies vor dem Hinter-
grund offener, dezentrierter kollektiver Darstellungsgedächtnisse nur
so erklären, dass gar nicht die Gesamtheit der Figur wirksam ist, nicht
ihr Profil, sondern erprobte Profilelemente, die mit offenbar großer
Zuverlässigkeit immer wieder in neuen Figurenvarianten verbaut
werden können.
Die erprobten Profilelemente, aus denen Figuren zusammengesetzt
sind, lassen sich grundsätzlich rein komparatistisch auf der Basis von
Wahrnehmungsevidenzen ermitteln. Allerdings wird man wegen der
Vielheit und Dezentriertheit kollektiver Darstellungsgedächtnisse
kaum zu einem geschlossenen Formenset kommen, sondern zu einer
ungeordneten offenen Menge gattungsspezifischer Formevidenzen
der Figur.7 Der Aussagewert einer solchen unstrukturierten Formenli-
ste ist für sich außerordentlich begrenzt, wenn sie nicht kategorial
kreuzperspektiviert wird. Ähnlich wie auch die Bestimmung histori-
scher Textsorten (Brief, Roman, Glosse, SMS etc.) nur gelingen
kann, wenn man sie mit systematisch begründeten texttypologischen
Begriffen erschließt und damit weitergehenden funktionalen Analy-
sen zugänglich macht (z.B. Deskription, Narration, Exposition, Ar-
gumentation, Instruktion, Interrogation), so bedarf auch ein histori-
scher, am konkreten Material komparatistisch gewonnener Katalog
der Formen der Figur, einer systematischen Kreuzperspektive.
Diese systematische Perspektive kann nur semiotisch (oder in ei-
nem der Semiotik logisch äquivalenten Paradigma) begründet wer-
den, da Subjekte nur durch ihre Darstellung auf logisch unproblema-
tische, der Ratio zugängliche Art und Weise gegeben sind, und dar-
stellungslogisch, wie gesehen, dasselbe sind wie Zeichen. Allerdings
7 Wobei es an Versuchen solche Profilkataloge mehr oder weniger systematisch zu begrün-
den, nicht fehlt; besonders systematisch, aber hinsichtlich konkreter Darstellungsformen
und dargestellter Inhalte ohne Belang ist etwa Greimas’ Aktantenmodell (Greimas 1966).
Weniger systematisch, aber dafür leichter auf Wahrnehmungsparadigmen zu beziehen, sind
Typologien wie die von Christopher Vogler (1993). Völlig unsystematisch, aber orientiert
an konkretem medialem Material sind die verschiedenen medienspezifischen folksonomies
von stock characters, vgl. z.B. die Website TV Tropes.
Jochen Venus
396
muss mit den Mitteln einer gegenstandsabstrakten, d.h. reinen Se-
miotik gearbeitet werden.
Die relationale Deduktion der Zeichenkategorien nach
C.S. Peirce
Es gibt nur wenige Versuche, eine solche reine Semiotik zu entwer-
fen. Eine der konsequentesten Fassungen liegt mit der semiotischen
Kategorienlehre von Charles S. Peirce vor (Peirce 1902).
Peirce geht davon aus, dass es genau drei logische Relationen gibt,
die einander voraussetzen: Erstheit, Zweitheit und Drittheit. Drittheit
setzt Zweitheit und Erstheit voraus, umgekehrt ist eine Erstheit nur
möglich, indem sie als Voraussetzung einer Zweitheit gegeben ist,
deren Differenz zur Erstheit durch die Gegebenheit einer Drittheit
gegenwärtig wird. Was Peirce damit im Sinn hat, lässt sich durch
kategoriale Paraphrasen verdeutlichen: Erstheit meint Entität, die
Gegenwart eines wie immer gearteten Stücks Realität; Zweitheit
meint Differenz, die gegenseitige Begrenzung von Realitätsscken;
und Drittheit meint Inklusion, die Freistellung eines Stücks Realität in
einer sie rahmenden Realität (in ontologischer Hinsicht könnte man
auch von drei Modi sprechen: kontingent-assertorisch, determiniert-
kategorisch und motiviert-problematisch). Das Zeichen als eine sich
selbst einschließende Bezugnahme ist ein Phänomen der Drittheit und
enthält dementsprechend drei Relationen, eine Erstheit (es ist ein
Stück Realität, ein Repräsentamen), eine Zweitheit (das Repräsenta-
men ist als Quid-pro-quo in Differenz zu seinem Objekt bestimmt)
und eine Drittheit des Zeichens (die freigestellte Einheit der Differenz
zwischen Repräsentamen und Objekt, der Interpretant). Das Zeichen
als sich selbst einschließende Bezugnahme wird mithin durch das
Zusammenwirken dreier Relationen konstituiert, es ist relational
selbdritt: Es ist eine reale Entität als Repräsentamen, eine Differenz
als bestimmte Objekt-Signifikanz und eine Inklusion als rahmender
Interpretant, der die Disponibilität der Objekt-Signifikanz markiert.
Mit den drei Momenten des Zeichens ist allerdings lediglich Zei-
chenhaftigkeit als solche, jedoch noch nicht der kategoriale Raum
unterschiedlicher Zeichenklassen exponiert. Damit unter dem Begriff
des Zeichens verschiedene Zeichentypen subsumiert werden können,
muss unterstellt werden, dass die Wechselbeziehungen der Relatio-
nen, die den Sachverhalt des Zeichens konstituieren, variieren n-
Semiotik der Figur
397
nen. Und wenn man nichts weiter voraussetzen möchte als den Typus
der sich selbst einschließenden Bezugnahme, um eine von weiteren
Voraussetzungen absehende kategoriale Logik des Zeichens zu ent-
wickeln, dann können die drei Relationen nur in der Weise variieren,
wie sie das Zeichen als Phänomen der Drittheit selbst vorgibt, also in
den kategorialen Differenzen von Erstheit (Entität / Kontingent-As-
sertorisches), Zweitheit (Differenz / Determiniert-Kategorisches) und
Drittheit (Inklusion / Motiviert-Problematisches). Es ist also im Mo-
ment des Repräsentamens, des Objekts und des Interpretanten mit