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Schneidewind und Singer-Brodowski messen Hochschu-
len als „institutionalisierten Reflexionsorten“ in moder-
nen Gesellschaften eine besondere Bedeutung zu, gerade auch
im Hinblick auf die Herausforderungen im Zusammenhang
mit nachhaltigen Entwicklungsprozessen (2014). Statt lediglich
weiterer funktionaler Ausdifferenzierungen benötige die Ge-
sellschaft auch Formen der Reflexion und Integration in be-
sonderem Maße. Als „Brückenbauer zwischen den Systemen“
(ebd.) könnten dabei gerade Hochschulen wesentliche Refle-
xions- und Transformationsaufgaben für die Gesellschaft er-
füllen. Wie Schneidewind und Singer-Brodowski betonen, ist
hier nicht nur die Forschung, sondern auch die Lehre ange-
sprochen (ebd.). Wie aber können junge Menschen dazu be-
fähigt werden, gesellschaftliche Entwicklungen so zu reflek-
tieren, dass sie an verantwortlicher schöpferischer Gestaltung
aktiv teilhaben können? In diesem Beitrag diskutieren wir dies
kurz in erkenntnistheoretischer Hinsicht und markieren vor
diesem Hintergrund einige institutionelle Herausforderungen.
Dabei nehmen wir besonderen Bezug auf die Lage der ökono-
mischen Bildung.
Ökonomische Bildung
und Pluralität
Gegenwärtig wird in der ökonomischen Bildung vielfach der
Ruf nach Pluralität erhoben. Für uns geht es dabei nicht allein
um eine Pluralität der Erkenntnisgegenstände, sondern auch
um eine reflektierte Pluralität von Erkenntnisprozessen unter
Wahrung eines Wahrheitsanspruches (Anders 1993). Hierzu
ist wiederum nicht allein eine Theorienvielfalt vonnöten (auch
wenn dies bereits vielfach einen Fortschritt in der ökonomi-
schen Bildung darstellte). Weit zentraler erscheint uns, Stu-
dierende zum Umgang mit grundsätzlich unterschiedlichen
Erkenntnisformen zu befähigen. Hierbei sind zumindest fünf
Formen zu unterscheiden (siehe Abbildung 1), die sich wech-
selseitig bedingen, nicht aber ersetzen:
Beeinflusste Erkenntnis
Polanyi (1977) schreibt, dass der hauptsächliche Einfluss der
Wissenschaft auf den modernen Menschen nicht durch den
Fortschritt der Technologie ausgeübt würde, sondern durch die
„imaginären Effekte“ der Wissenschaft auf unsere Weltanschau-
ung. Diese imaginären Effekte wirken allerdings zumeist nicht
auf der Ebene des Bewusstseins, sondern bleiben überwiegend
unbewusst. In der Sprache der Kognitionsforschung kann Wis-
senschaft gedankliche Deutungsrahmen, Frames genannt, prä-
gen, die ihrerseits beeinflussen, was von Einzel personen oder
Gesellschaften überhaupt als relevante Fakten und Informatio-
nen wahrgenommen und verarbeitet werden kann.
Eine neue Studie (Graupe 2017) zeigt am Beispiel von Paul
Samuelsons Economics und Mankiws Economics, zwei der
weltweit wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Standard-
lehrbücher, wie die ökonomische Bildung gerade auf die-
ser vorreflexiven Ebene die Meinungsbildung und damit die
grundlegenden Denk- und Wahrnehmungsweisen umgestal-
Orte transformativ-reflexiver Bildung
Wissenschaftliche Pluralität
meint Pluralität der Erkenntnisformen
In Zeiten erheblichen gesellschaftlichen Wandels
braucht es an Hochschulen mehr, als existie-
rendes Wissen zu vermitteln. Studierende sind
zur Reflexion und Gestaltung der Gewinnung
von Wissen, das heißt von Erkenntnisprozessen
selbst, zu befähigen, damit sie in der Welt
von morgen die richtigen Fragen stellen können.
Welche Plura lität von Erkenntnisformen spielt
eine Rolle und vor welchen Herausforderungen
steht die Wissenschaftslandschaft?
Von Silja Graupe und Harald Schwaetzer
sinnstiftend objektiv
kreativ beeinflusst
Existentielle
Entscheidung
Abbildung : Formen von Erkenntnisprozessen (eigene Darstellung)
25ÖkologischesWirtschaften . ()
SCHWERPUNKT: TRANSFORMATIVE WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN?
DOI ./OEW
ÖkologischesWirtschaften .
()
| DOI ./OEW
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ten kann. Dies geschieht dabei bis zur Ebene der „Deep Sea-
ted Frames“, „die unser generelles Verständnis von der Welt
strukturieren, unsere Annahmen von der Welt zum Beispiel
aufgrund unserer moralischen und politischen Prinzipien, die
für uns schlicht ‚wahr‘ sind– die also unseren eigenen Com-
mon Sense ausmachen“ (Lakoff/Wehling 2016). Problematisch
wird solche Beeinflussung vor allem dann, wenn sie manipula-
tiv ist, das heißt für Studierende tatsächlich unsichtbar verläuft
und keinen offenen Raum der Aneignung eröffnet, sondern ge-
zielt persönlichkeitsverändernde Prozesse in Gang setzt, die
sich unterhalb des wachen Bewusstseins und seines kritischen
Vermögens abspielen sollen.
Objektive Erkenntnis
Auch hier ist stets schon entschieden, welche vorgegebenen
Erkenntniswege Studierende zu verfolgen haben, aber zumin-
dest sind diese Wege bewusst zu beschreiten. Ziel- und Flucht-
punkt ist dabei, kurz gesagt, jenseits aller Erfahrung rein lo-
gisch zu argumentieren und insbesondere abstrakt zu rechnen.
Jeder Erfahrungsbezug ist dem Primat formaler Strukturen
zu opfern. Denn objektiv zu denken heißt, sich bewusst von
subjektiven Bezügen (der Genese) zu distanzieren und einen
„Blick von nirgendwo“ (Thomas Nagel) (als Blick der Geltung)
einzunehmen, das heißt, sich mit kühlem Gleichmut Bilder
von der Welt zu machen, die allerdings im Extremfall reine
Scheinwelten darstellen können. In gegenwärtigen Diskussio-
nen wird die Realitätsferne der ökonomischen Theorie oft kri-
tisiert.
Doch im Reich der Objektivität stellt diese Ferne keinen Un-
fall dar, sondern ist eine bewusst zu vollbringende Verstandes-
leistung. Diese Leistung hilft, sich vom alltäglichen Common
Sense und seinen „Deep Seated Frames“ zu distanzieren. Zu-
dem erlaubt sie es, sich über Voraussetzungen und Grenzen
abstrakter Theorien und Modelle aufzuklären (ein Reflexions-
wissen, das etwa in der letzten Finanzkrise systematisch im
Hinblick auf die auf Optionsmärkten zur Anwendung kom-
menden finanzmathematischen Modelle fehlte). Jenes oft still-
schweigende Wissen vermag aber auch hier nicht in den Blick
zu geraten.
Unsere Sorge ist, dass sich die ökonomische Standardbil-
dung gegenwärtig überwiegend in den in der Abbildung dar-
gestellten rechten Quadranten vollzieht: Studierende werden
durch das Erlernen mathematisch-objektiver Modelle einer-
seits zur Distanzierung von der Welt angeleitet (Objektivität)
und andererseits zu unwillkürlichen Reaktionen im Denken
und Handeln auf der Basis von Weltanschauungen verleitet,
die ihnen selbst nicht reflexiv zugänglich sind (Beeinflus-
sung). Weltferne und Indoktrination drohen sich so verbinden
zu können, insbesondere wenn die Beeinflussung manipula-
tiv erfolgt. Wir plädieren vor diesem Hintergrund dafür, die
(wirtschafts)wissenschaftliche Bildung wesentlich um die Be-
fähigung zur sinnstiftenden und kreativen Erkenntnis zu erwei -
tern.
Sinnstiftende Erkenntnis
„To talk about sensemaking is to talk about reality as an on-
going accomplishment that takes form when people make
retroperspective sense of the situations in which they find
themselves and their creations. There is a strong reflexive qua-
lity to these processes. People make sense of things by see-
ing a world on which they already imposed what they believe“
(Weick 1995).
Beeinflusste Erkenntnis kennt schnelle, automatisch-unbe-
wusste Reaktionen auf Vorstellungsbilder, objektive Erkennt-
nis lediglich den bewussten Nachvollzug formal vorgegebener
Verstandesoperationen. Sinnstiftende Erkenntnis richtet sich
nun unmittelbar auf die Prozesse der Entstehung von Vorstel-
lungen, Konzepten und Bildern, durch die sich Weltanschau-
ung (im doppelten Sinne) vollzieht. Vom Bewusstsein beglei-
tetes Denken setzt hier ein, bevor ein konkreter Sinn gestiftet
ist, weil es im Erkenntnisvollzug selbst aktiv tätig wird. „A fo-
cus on sensemaking induces a mindset to focus on process“
(Weick 1995).
Sinnstiftende Erkenntnis meint selbstreflexive, dynamische
Erkenntnisprozesse, in denen (anders als aus der sicheren Di-
stanz der Objektivität) einerseits gedankliche Deutungsrah-
men in ihrer konstitutiven Bedeutung für Welt und Mensch,
andererseits Welt (etwa in einer phänomenologischen Natur-
philosophie) in Erscheinung treten. Soll Bildung zu Sinnstif-
tung befähigen, muss der Entstehungsprozess der Sinnstif-
tung selbst zum Reflexionsort werden. So kann manipulati-
ver Beeinflussung entgegengewirkt und Beeinflussung selbst
reflektiert werden. Hierfür bedarf es etwa der Schulung eines
umfassenden Geschichtsbewusstseins, um denkbar werden zu
lassen, wie wir aus der Vergangenheit herkommend in der Ge-
genwart sein können.
Kreative Erkenntnis
Hier geht es um die schöpferisch-dynamische Seite des
Erkenntnisvollzugs, der sich auf die Zukunft ausrichtet. Wie
können wir erkennen, wie wir in Zukunft denken wollen? Wie
schaffen wir eine prinzipielle Offenheit des Erkennens für
das Neue und Überraschende, für das Noch-Nicht-Seiende,
aber Sein-Sollende? Kreative Erkenntnis ist wesentlich eine
fragende Haltung: Wie können wir heute lernen und lehren,
morgen die richtigen Fragen stellen zu können? Um sich sol-
chen Fragen stellen zu können, bedarf es auch moralischer Ent-
schlossenheit.
Existentielle Entscheidung
Aus unserer Sicht gibt die heutige Bildung an Hochschu-
len der Sinnstiftung und Kreativität auch und gerade in den
Wirtschaftswissenschaften zu wenig Raum. Sollen Hochschu-
len aber tatsächlich zu „Reflexionsorten“ werden, die transfor-
mativ in der Gesellschaft wirken, so müssen sie nicht nur diese
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SCHWERPUNKT: TRANSFORMATIVE WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN?
beiden Felder transformativ-reflexiver Bildung in die Lehre in-
tegrieren. Es geht um noch mehr: Darum, Studierende zu befä-
higen, sich von Situation zu Situation für die eine oder andere
Erkenntnisform entscheiden zu können. Dies aber ist keine
rationale Wahl, weil weder ein gegebener Möglichkeitsraum
noch gegebene innere Entscheidungsregeln bestehen. Es ist
eine „existentielle Entscheidung“ (Barth 2016), da sie immer
auch die Frage betrifft, wie Studierende leben und sich zur Welt
und sich selbst verhalten wollen. Die Fähigkeit zu einer sol-
chen Art der Entscheidung zu schulen, ist auch und gerade
Aufgabe der Bildung.
Institutionelle Herausforderungen
Uns ist bewusst, dass dies die gegenwärtige (ökonomi-
sche) Bildung an Hochschulen vor Herausforderungen stellt.
Schneidewind und Singer-Brodowski schlagen vor, „‚Inseln
der Heterodoxie‘ im deutschen Wissenschaftssystem zu kul-
tivieren“ (2014). Wir haben die Cusanus Hochschule mitge-
gründet und entwickeln sie kontinuierlich fort, um eine sol-
che „Insel“ zu schaffen, die Studierende in Ökonomie und
Philosophie gleichsam zur Exzellenz in der existentiellen Ent-
scheidung im vorgenannten Sinne befähigt (Graupe/Schwa-
etzer 2015). Diese und weitere „Inseln“ gilt es zunächst insti-
tutionell wie finanziell zu stärken, wobei nicht nur an Hoch-
schulen, Institute oder Studiengänge, sondern etwa auch an
Studierendeninitiativen (wie das Netzwerk Plurale Ökonomik)
zu denken ist. Zugleich ist ein Netz solcher „Inseln“ zu bilden
und zu kultivieren– auch und gerade über die Grenzen der
Hochschulen hinaus. Dabei kann für Hochschulen die Zusam-
menarbeit mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen
eine besondere Rolle spielen, um Studierende in transdiszipli-
näre Lehr- und Forschungskontexte einzubinden. Fernziel ist,
die so neu entstandenen Bildungsformen in der Hochschul-
landschaft insgesamt fruchtbar zu machen und so, um in der
Metapher zu bleiben, tatsächlich Bildungsneuland zu gewin -
nen.
Literatur
Anders, G. (): Mensch ohne Welt. Schriften zur Literatur und Kunst.
München, Beck.
Barth, H. (): Grundriß einer Philosophie der Existenz. Herausgegeben
von Christian Graf, Cornelia Müller und Harald Schwaetzer. Regensburg,
Roderer.
Graupe, S. (): Beeinflussung und Manipulation in der ökonomischen
Bildung. Düsseldorf, FGW (im Erscheinen).
Graupe, S./Schwaetzer, H. (Hrsg.) (): Bildung gestalten. Akademische
Aufgaben der Gegenwart. Coincidentia Beiheft . Münster, Aschendorff.
Lakoff, G./Wehling, E. (): Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische
Sprache und ihre heimliche Macht. Heidelberg, Carl-Auer.
Polanyi, M./Prosch, H. (): Meaning. Chicago/London. University of
Chicago Press.
Schneidewind, U./Singer-Brodowski, M. (): Transformative Wissenschaft.
Marburg, Metropolis.
Weick, K.
E. (): Sensemaking in Organizations. Thousand Oaks, Sage
Publications.
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innerhalb Deutschlands bestellbar unter www.oekom.de
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Dr.
Silja Graupe ist Vizepräsidentin der
Cusanus Hochschule und Professorin für
Ökonomie und Philosophie.
Dr.
Harald Schwaetzer ist Vizepräsident
der Cusanus Hochschule und Professor
für Philosophie.
Cusanus Hochschule, Mandatstr.
,
Bernkastel-Kues. Tel.: +--,
E-Mail: silja.graupe@cusanus-hochschule.de,
harald.schwaetzer@cusanus-hochschule.de
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