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Kriminalistik 2/03
Kriminalistik
Kriminalistischer
Erkenntnisgewinn
durch „systematisches
Beobachten“
Erläutert an einem der sogenannten Anthraxbriefe
Von Henriette Haas
Am Beispiel eines „Anthrax-Briefes“ an die New York Post wird
eine Vorgehensweise erläutert, die in Kriminalfällen mit wenig
ergiebigen Spuren angewendet werden kann. Strukturiertes
systematisches Beobachten führt zu wissenschaftlich haltbaren
Arbeitshypothesen, die nach Plausibilitätsprüfung bedeutende
Weichenstellungen für fundierte weitere Ermittlungen liefern.
Schrift relativ ungeübt sei. Der erste
Verdacht, wo die Täterschaft der An-
thraxbriefe zu suchen sei, richtet sich
zweifellos auf die Al Qaïda. Die Frage
ist nun, inwiefern eine solch spontane
Hypothesenbildung nach kurzer Be-
obachtung wissenschaftlich gesehen
haltbar ist. Dazu möchte ich die Me-
chanismen der spontanen Wahrneh-
mung erläutern.
Prinzipien
der spontanen Wahrnehmung
Die sogenannten Gestaltpsychologen
(nicht zu verwechseln mit den Gestalt-
therapeuten) führten einige der ersten
psychologischen Experimente über die
verborgenen Gesetze der Wahrneh-
mung durch. Sie gingen von der An-
nahme aus, dass das, was wir als
Gestalt wahrnehmen, aus einer Form
auf einem Hintergrund besteht (Koffka
1935, S. 184). In diesem Sinne könn-
ten wir einen Kriminalfall als Gestalt
ansehen. Die Form eines Falles be-
inhaltet alle menschlichen Verhaltens-
weisen, die zu einer Tat (inklusive
deren Verheimlichung) führten. Der
Hintergrund besteht hingegen aus al-
len andern Geschehnissen und Verhal-
tensweisen, die zufällig am gleichen
Ort oder zur gleichen Zeit passierten
und mit der Tat verwechselt werden
in welche Richtung weiter ermittelt
werden soll?
Anhand des Briefes an die New
York Post möchte ich eine Vorgehens-
weise erläutern, die bei der ermitt-
lungspsychologischen Arbeit an unge-
lösten Kriminalfällen angewendet wer-
den kann. Sie besteht aus der Anwen-
dung von fünf Formeln, welche das
Beobachten systematisch strukturie-
ren. Die Formeln sollen im folgenden
aus der Wissenschaftstheorie und der
kognitiven Psychologie hergeleitet
werden.
Zu den abgebildeten Photos sollen
übungshalber einige (hypothetische)
kriminalistische Vorgaben unserer fik-
tiven Ermittlung gemacht werden: Ne-
ben dem Brief befanden sich im
Umschlag richtige, kriegstaugliche
Anthraxsporen, eine Substanz, die es
auf keinem Schwarzmarkt zu kaufen
gibt und die nur in wenigen Hochsi-
cherheitslabors existiert. Das Briefpa-
pier und der vorfrankierte Umschlag
werden in den USA in Millionenauf-
lage hergestellt. Der Poststempel (un-
leserlich auf dem öffentlich zugängli-
chen Photo) informiert, dass der Brief
am 18. Sept. 2001 aus Trenton in New
Jersey abgeschickt worden war. Neh-
men wir weiter an, dass sich weder
auf dem Umschlag noch dem Brief
DNS, Fasern oder Fingerabdrücke von
der Täterschaft fanden (nur Spuren
von Postangestellten). Die Schriftex-
perten erklärten, sie könnten nicht
beurteilen, ob die Handschrift dieses
Briefes verstellt sei oder von jeman-
dem stamme, der in der lateinischen
Abb. 1: Brief an die New York Post mit den
Anthraxsporen (der 2. Anthraxbrief)
Prof. Dr. Henriette
Haas, Université de
Lausanne
(Institut de police
scientifique et de
criminologie)
Popper (1991, S. 501) hat die Beob-
achtung als eine Wahrnehmung defi-
niert, aber als eine, die im Voraus
geplant worden war.
Das Geheimnis erfolgreicher Kri-
minalisten ist die sorgfältige Wahrneh-
mung aller Details. Anders als ihre
„Profiler Kollegen“ im Film müssen
wirkliche Ermittler hart arbeiten und
praktisch alle Einzelheiten eines Fal-
les auswendig kennen, damit sie ihre
Hypothesen im Detail sorgfältig über-
prüfen können. Wie jede menschliche
Tätigkeit ist Beobachten nicht einfach
eine angeborene Gabe, sondern muss
durch systematisches Vorgehen stän-
dig geübt und immer wieder verbes-
sert werden.
„Geheimnis“ erfolgreicher
Kriminalisten
Wie soll man in Kriminalfällen mit
technisch wenig ergiebigen Spuren
vorgehen, wenn beispielsweise einzig
das Corpus delicti vorliegt, etwa bei
Briefbomben? Wie soll man gerade
am Anfang eines Falles entscheiden,
94
2/03 Kriminalistik
Kriminalistik
muss systematischer vorgehen. Um
weiterzukommen, sind daher als Ers-
tes einige wissenschaftstheoretische
Grundlagen der kriminalistischen Tä-
tigkeit vonnöten.
Die Rekonstruktion eines
Ereignisses durch die Beobachtung
von Zeichen
Die Arbeit an einem Kriminalfall be-
deutet die Rekonstruktion eines ein-
zigartigen, historischen Tuns verschie-
dener Akteure, indem aus der Retro-
spektive verschiedene Zeichen erkannt
und interpretiert werden. Zuerst wird
ein sorgfältiger Ermittler alle poten-
tiellen Zeichen notieren, ohne über
ihre konkrete Relevanz zu urteilen.
Nordby (2000, S. 206) erklärt, dass ein
wichtiger Teil des Beobachtens im
Erkennen der Bedeutung eines Zei-
chens liegt und in der Aufgabe, es in
seinem Zusammenhang zu rekonstru-
ieren.
Zeichen in ihrer Bedeutung
erkennen
Was ist ein Zeichen? Eine einfache
Definition besagt, dass ein Zeichen für
etwas anderes steht. Für Pierce (1931,
S. 228) ist das Zeichen: „something
which stands to somebody for some-
thing in some respect or capacity“. De
Saussure definierte das Zeichen als
eine Einheit mit zwei Seiten: die Er-
scheinung („Signifikant“) und die Be-
deutung („Signifikat“). Die äußere Er-
scheinung eines Zeichens muss mit
seiner Bedeutung nichts gemein ha-
ben, zum Beispiel die Erscheinung des
linguistischen Zeichens bestehend aus
den sechs Buchstaben F-r-o-s-c-h hat
nichts mit irgend einem Tier zu tun,
hingegen ist das Wort „Frosch“ durch
die Konvention an das Tier gebun-
den.
Indizien (seien sie nun materieller
oder psychologischer Art) können als
Zeichen aufgefasst werden. Anders als
linguistische Zeichen, die eine univer-
selle Bedeutung haben, ist die Bedeu-
tung von Indizien meistens hochspezi-
fisch und vom individuellen Fall ge-
prägt. Fages (1967, S. 21, Überset-
zung hh) erklärt: „Das Indiz ist eine
unvollständige Spur [...] die durch
rückwirkende Überlegungen zum Zei-
chen wird.“ Welche Beziehung be-
steht zwischen der Erscheinung und
der Bedeutung von Indizien? Manche
sind ganz einfach Teile eines Ganzen.
Zum Beispiel ist eine Blutspur ein Teil
des Blutes einer Person oder eines
könnten. Es ist die Aufgabe der Poli-
zei, herauszufinden, was Form und
was Hintergrund in einer „strafrechtli-
chen Gestalt“ ist. Die Aufklärung einer
Tat ist ein komplexer Deutungspro-
zess, in welchem die polizeiliche Er-
mittlung nur das erste Stadium dar-
stellt. Die Gestalttheoretiker fanden in
Spontane Wahrnehmung
hat erhebliche Schwächen
ihren Experimenten, dass die spontane
Wahrnehmung gewissen Regeln folgt.
Die Erste ist die Regel der Nähe, die
besagt, dass benachbarte Objekte oft
als zusammengehörend empfunden
werden. Die zweite Regel besagt, dass
ähnliche Objekte (oder Ereignisse)
auch als zusammengehörig empfun-
den werden. Die dritte Regel entlarvt
die Tendenz unseres Denkens, unvoll-
ständige Formen zu geschlossenen
Konturen zu vervollständigen. Die
vierte Regel, das Gesetz der guten
Gestalt, besagt, dass man einfache
und symmetrische gegenüber zufälli-
gen, unregelmäßigen, komplexen und
unordentlichen Formen bevorzugt.
Die Gestaltgesetze erklären nun,
wieso die Hypothese einer islamisti-
schen Terrorattacke als Idee zur Täter-
schaft der Anthraxbriefe naheliegend
ist. Die Briefe wurden nur eine Woche
nach dem 11. September verschickt
(Regel der Nähe). Außerdem sind sich
alle diese Verbrechen in vielerlei Hin-
sicht ähnlich. Die Täter haben wahllos
unschuldige Zivilisten als Opfer ge-
wählt. Dazu wurden öffentliche
Dienstleistungen wie Post und Ver-
kehrsmittel als Waffen missbraucht,
um damit Panik zu säen. Schließlich
erforderte der Modus operandi aller
dieser Verbrechen ein höheres techni-
sches Wissen und eine Planung von
langer Hand. Die Interpretation von
sinnlich wahrgenommenen Stimuli an-
hand der Gestaltgesetze lässt einerseits
sehr schnell erste Schlussfolgerungen
zu. Andererseits besteht dadurch die
Gefahr, dass es bei einer rein oberfläch-
lichen Interpretation bleibt. Daher sind
die Mechanismen der spontanen Wahr-
nehmung für die kriminalpolizeiliche
Ermittlung eher ein Hindernis als eine
Hilfe. Die menschliche Neigung, Fak-
ten vorschnell zu interpretieren und ein
unvollständiges Bild mit spekulativen
Annahmen zu vervollständigen, ist
kein guter Ratgeber, wenn es um wis-
senschaftliches Beobachten geht.
Wer Dinge entdecken will, welche
die Durchschnittsperson nicht sieht,
Tieres. Andere Indizien bestehen aus
Zeichen, die genau das Gegenteil
ihres Äußeren bedeuten, weil sie näm-
lich täuschen sollen. Man denke etwa
an ein Geschenk, das in Wirklichkeit
als Bestechungsversuch gemeint ist.
Die Semiotik (die Wissenschaft der
Zeichen) unterscheidet natürliche und
künstliche Zeichen (Eco 1977, S. 67).
Natürliche Zeichen erscheinen ohne
besondere kommunikative Absicht;
zum Beispiel psychiatrische Sympto-
me, Fehler oder chemische Prozesse
in einer Leiche. Künstliche Zeichen
hingegen sind absichtlich verfasste
Nachrichten (z. B. Drohbriefe, Versu-
che, die Spuren eines Verbrechens zu
vertuschen). Im Profiling von unge-
klärten Gewaltverbrechen hat sich die
Unterscheidung zwischen natürlichen
und künstlichen Indizien für die kri-
minalpolizeiliche Ermittlung als zen-
tral erwiesen (Douglas & Munn in:
Douglas, Burgess & Ressler, 1992 S.
249 u. S. 259, Oevermann, 1994 S.
169).
Erste Formel:
Formelle und inhaltliche Aspekte
trennen
Aus der doppelten Natur des Zeichens
als äußere Form mit inhaltlicher Be-
deutung möchte ich nun die erste For-
mel der systematischen Beobachtung
herleiten. Wir müssen beim Beobach-
tungsgegenstand zwischen formellen
und inhaltlichen Aspekten unterschei-
den. Dies bedeutet, dass man jeweils
die formellen Aspekte von den inhalt-
lichen sauber trennt, beide nacheinan-
der abhandelt, damit weder das eine
noch das andere vergessen wird. Den
Umschlag des Anthraxbriefes werden
wir also zunächst auf seine formellen
Eigenheiten überprüfen (wie wurde
das Ganze zusammengestellt) und da-
nach auf seinen Inhalt (d. h. wer ist
eigentlich das Opfer).
Zweite Formel:
Vergleich mit Modellen
In der kriminalistischen Praxis trifft
man nicht selten auf Fälle, bei denen
man mit sehr wenig Information aus-
kommen muss. Nehmen wir uns den
Umschlag des Anthraxbriefes vor.
Ist es möglich, aus derart wenigen
Indizien irgend etwas abzuleiten? Ja,
und zwar indem man mögliche Stan-
dards und Modelle hinzuzieht. Sucht
man die Adresse aus dem Telefonbuch
oder von der Webseite der New York
Post (http://www.nypost.com/) als
Modell, so findet man:
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Kriminalistik 2/03
Kriminalistik
NYPOST.COM
1211 Avenue of the Americas
New York, NY 10036-8790
Verglichen mit der Adresse auf dem
Corpus delicti gibt es einen Unter-
schied in der Postleitzahl, der ohne das
Modell wohl unentdeckt geblieben
wäre. Für Ausländer außerhalb der
Vereinigten Staaten, die eine Adresse
Hypothesenbildung
aus der Form der Postleitzahl
auf dem Internet suchen, dürfte es
schwierig sein, zu erkennen, dass die
letzten vier Zahlen der Postleitzahl gar
nicht obligatorisch sind (der sogenann-
te ZIP+4 Code ist nur für Massensen-
dungen nötig). So kann der Vergleich
mit einem Modell zu einer Informa-
tion führen, die eine Hypothese über
die Vertrautheit des Täters mit der
amerikanischen Post zulässt.
Der nächste Schritt besteht in der
Betrachtung des Inhalts der Adresse,
das heißt der Frage, warum gerade
dieses Opfer ausgewählt wurde und
nicht ein anderes. Die „New York
Post“ ist nun ein lokales Skandalblatt,
welches, anders als das World Trade
Center oder das Pentagon, in den Au-
gen der Welt kein Sinnbild für die
Vereinigten Staaten darstellt. Diese
„New York Post“ ist nicht unbedingt
zum symbolträchtigen Ziel einer inter-
national agierenden Terrorgruppe prä-
disponiert
1
. Wir können deshalb mit
gutem Grund fragen, wieso die An-
thraxtäterschaft, wäre sie tatsächlich
mit der Al Qaïda verbunden, ihre Brie-
fe nicht an die New York Times, die
Washington Post oder CNN geschickt
hat, denn solche Mediengiganten wür-
den als Opfer möglicherweise noch
mehr internationale Aufmerksamkeit
erregen.
Herleitung der zweiten Formel
aus der modernen Wahrnehmungs-
psychologie
Um die Notwendigkeit der zweiten
Formel zu verstehen, müssen wir uns
zunächst mit der Wahrnehmungspsy-
chologie auseinandersetzen. Moderne
Theorien der Wahrnehmung berück-
sichtigen den aktiven Beitrag des Sub-
jekts an der Wahrnehmung. Ciccone
(1998, S. 17) schreibt: „Wahrnehmung
ist eine Aktivität. Das Wahrnehmen ist
nicht einfach ein passiver Abdruck der
Realität in eine Gussform, die dann
identische Replikas produzieren könn-
te. Wahrnehmung konstruiert und er-
findet erst die Realität im Laufe ihrer
Entdeckung.“ In der kognitiven Psy-
chologie gibt es zwei Hauptströmun-
gen. Diejenigen Forscher (genannt: di-
rect perceptionists), die von der Phy-
siologie ausgehen, behaupten, dass
Wahrnehmung ein physischer Prozess
ist, eine Reaktion auf äußere Stimuli.
Die andern, sie sogenannten Konstruk-
tivisten, nehmen an, dass die Wahr-
nehmung ein interaktiver Prozess zwi-
schen äußeren Stimuli und mentalen
Konzepten (oder Schemata) ist. Die
Frage, ob man etwas vollständig Neu-
es entdecken kann, wofür noch kein
Konzept existiert, steht im Zentrum
Wahrnehmung konstruiert
und erfindet die Realität
der wissenschaftlichen Kontroverse.
Diese ist auch das zentrale Problem
der kriminalpolizeilichen Ermittlung.
Glücklicherweise gibt es nun eine
Theorie des Wahrnehmungsprozesses,
die auf ihn selber rückwirken kann
und ihn damit deutlich verbessern lässt.
Neisser’s Synthese der sich widerspre-
chenden Wahrnehmungstheorien
(1976) beruht auf einem zirkulären
Modell der Wahrnehmungs-Aktivität.
Nach Eysenck und Keane (1995, S.
81) setzt Neisser Schemata, aktive Er-
forschung und stimulierende Umwelt
zu einander in Bezug. Die Schemata
bestehen aus der Ansammlung von
Erfahrungs-Wissen. Sie lenken die
Aufmerksamkeit auf die relevanten
Stimuli. Es gibt jedoch auch Informa-
tion aus der Umwelt, die den Schema-
ta nicht entsprechen. Dann muss das in
den Konzepten gespeicherte Wissen
entsprechend modifiziert werden.
Je nach Bedürfnis
können wir an einem
beliebigen Punkt des
Zyklus einsteigen.
Normalerweise be-
ginnen wir am Punkt
„Aktivität“ mit der
Beobachtung eines
Tatorts. Aber, und dar-
aus leitet sich die
zweite Formel des
systematischen Beob-
achtens her, wir kön-
nen auch am Punkt
„Gedächtnis“ einstei-
gen, indem wir zuerst
Schemata oder Mo-
delle aus der Literatur
konsultieren. Gerade
bei seltenen Verbre-
chen ist die Beziehung von statisti-
schen Daten zum Tatort und Täterpro-
fil (z. B. Harbort 1997, 1999, bei Se-
rienmord) zwecks Vergleich sehr wich-
tig. Ein Vergleich des in Frage stehen-
den Objekts mit Modellen oder mit
anderen Fällen kann die Präzision der
Beobachtung deutlich erhöhen, weil er
das Arsenal von erreichbaren Schema-
ta vergrößert. Die Suche nach geeig-
neten Vorbildern und nach anderem
Vergleichsmaterial soll übrigens schon
ganz am Anfang des Falles erfolgen,
damit man keine wichtigen Abklärun-
gen verpasst. Der Vergleich mit einem
Modell oder einem Standard wird die
Aufmerksamkeit einerseits auf Details
lenken, die sonst unbemerkt geblieben
wären, aber er leistet noch mehr, in-
dem er nämlich hilft, Differenzen zwi-
schen dem Beobachtungsgegenstand
und dem konsultierten Modell festzu-
stellen. Dies erlaubt es dem Beobach-
ter, auf neuartige und ungewöhnliche
Aspekte eines Falls zu stoßen.
Komplexe Gegenstände beobachten –
einige Betrachtungen
zum Strukturalismus
Die Ausgangslage der Beobachtung
des Briefumschlages war das Problem
der Dürftigkeit des Beobachtungsma-
terials, dem man (manchmal) durch
den Beizug von Modellen begegnen
kann. Modelle sollen aber auch dann
hinzugezogen werden, wenn man ge-
nügend Material hat. Indessen stellt
sich bei der Beobachtung von komple-
xeren Gegenständen ein weiteres Pro-
blem ein. Schauen wir uns dazu den
Brief (Abb. 1) an.
Man fragt sich nun, wo man mit der
Beobachtung dieses Briefes beginnen
soll und wie man wissen kann, ob alle
Eigenheiten vollständig erfasst wor-
Abb. 2: Der Wahrnehmungs-
zyklus nach Neisser (1976)
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2/03 Kriminalistik
Kriminalistik
Hand, Schreibmaschine, Computer)
und vielleicht auch Zeichnungen unter
die Lupe nehmen. In einem Videoin-
terview könnte man beispielsweise die
verbale von der nonverbalen Kommu-
nikation der Gesprächsteilnehmer un-
terscheiden und Bildspur, respektive
Tonspur, je einzeln ablaufen lassen.
Durch die Erfassung seiner Struktur
kann die Beobachtung des Anthrax-
briefes weiter getrieben werden. Of-
fensichtlich gibt es ganz verschiedene
Arten, wie man einen Brief in funktio-
nale Komponenten unterteilen kann.
Formelle Buchstaben
Aspekte Zahlen
Satzzeichen
Wörter
Sätze
Abschnitte
Inhalt Datum
Anrede
Inhalt
Grußformel
Unterschrift
Sprache Rechtschreibung
Grammatik
Semantik
Rhythmus und Reim
Layout Tinte
Flecken
Zeichnungen
Abb. 3: Verschiedene Arten, einen Brief in
strukturelle Einheiten zu zerlegen
Bei der Ermittlung in einem größe-
ren Fall sollte man jede Einheit der
verschiedenen Varianten von Struktu-
rierung einzeln beobachten, was natür-
lich aufwendig ist.
Notwendigerweise müssen wir uns
hier auf einige wenige Elemente be-
schränken. Wie hat beispielsweise der
Autor des Anthraxbriefes die hand-
schriftlichen Buchstaben, Zahlen und
Sätze gestaltet?
Zunächst sieht man, dass er soge-
nannte Kapitälchen benutzt, eine com-
puterspezifische typographische Funk-
tion. Weiter können wir feststellen,
dass die Zahl 1 einer europäischen
Handschrift ähnlich sieht, allerdings
weist sie ebenfalls eine typographi-
sche Spezialität auf, nämlich die soge-
nannten Serifen (die „Füßchen“) wie
bei 1 anstatt der gewöhnlichen euro-
den sind. Bierwisch (1966, S. 78)
meint: „[...] dass menschliche Äuße-
rungen und Verhaltensweisen nicht als
isolierte Einzelerscheinungen betrach-
tet werden, sondern auf dem Hinter-
grund eines systematischen Zusam-
menhangs, der ihre Struktur be-
stimmt.“ Für die Weiterentwicklung
der Prinzipien der systematischen Be-
obachtung müssen wir daher mehr über
Strukturen erfahren. Die Linguistik,
die Wissenschaft der Sprachstruktu-
ren, hat sich als Erste mit dem Pro-
blem der Unterteilung eines Objekts in
funktionale Einheiten befasst. So Gra-
witz (2001 S. 318): „Der Strukturalis-
mus hat eine eigenständige Konzep-
tion des linguistischen Systems: es
wird grundsätzlich als ein System von
Zeichen aufgefasst [...] Dieses System
entsteht als Netz von Unterschieden
zwischen den Zeichen [...] Linguisti-
sche Forschung besteht von da an vor
allem aus der Definition minimaler
Einheiten, welche durch ein Umwand-
lungs-Verfahren von einander getrennt
werden: alles was die Bedeutung ver-
ändert, wenn man es durch ein anderes
Element ersetzt, kann als minimale
Einheit aufgefasst werden.“ Minsky
(1990 S. 122) unterstreicht, dass jeder
Struktur Funktionen innewohnen und
ihre Komponenten entsprechende Un-
terfunktionen vertreten. Man kann nun
strukturalistische Prinzipien auf das
menschliche Verhalten schlechthin an-
wenden. Grawitz (2001, S. 431) be-
schreibt die Position des französischen
Ethnologen Lévi-Strauss (1958), der
diese Methode auf die Sozialwissen-
schaften angewendet hat: „[...], eine
Struktur impliziert eine begrenzte An-
zahl von Merkmalen. Deren Kombina-
tion und Transformation erlaubt es,
von einem System zum nächsten über-
zugehen und ihre Beziehungen zu ver-
stehen. Die Idee einer Struktur enthält
ein Element von Transformation und
Vorhersage.“
Dritte Formel der systematischen
Beobachtung: strukturelle Analyse
Wir wollen also einen Beobachtungs-
gegenstand in seine funktionalen
Grundelemente unterteilen, um dann
jede einzelne dieser Komponenten
(oder auch Dimensionen resp. Unter-
einheiten) separat im Hinblick auf sei-
ne Funktion zu analysieren. Für die
Kontrolle von Akten müssen zum Bei-
spiel Umschlag und Inhalt d. h. die
Seiten mit den Einträgen, die Briefe
und die Notizen separat erfasst wer-
den. Man kann aber auch das Papier,
die Tinte, die Art der Einträge (von
päischen Handschrift, die ohne Seri-
fen auskommt wie 1. Dann sehen wir
weiter, dass die 9 eher einer amerika-
nischen Handschrift ähnlich sieht,
denn sie hat unten keinen Bogen. Das
Datum wiederum ist in amerikanischer
Art geschrieben, die den Monat vor
den Tag setzt (09-11-01), im Vergleich
zu unserer Schreibweise (d. h. 11. 9. 01
für den 11. September).
Zahlen, Buchstaben und Sätze
„zum Sprechen bringen“
Der Verfasser dieses Textes macht
sehr kurze Sätze ohne Interpunktio-
nen. Jede Zeile hat genau drei Wörter.
Dies verleiht dem Ganzen eine Art
abgehackten Rhythmus. Der Eindruck,
dass dieser Brief sorgfältig arrangiert
wurde, wird weiter gefestigt durch die
graphische Erscheinung des Layouts,
die Ränder sind nämlich gut eingehal-
ten. Dieser Brief scheint also nicht in
großer Eile geschrieben worden zu
sein. Im Gegenteil, der Täter hat sich
zweifellos Mühe gegeben, nicht mehr
und nicht weniger mitzuteilen, als ge-
nau das, was er wollte.
Vierte Formel: Ungereimtheiten,
Irrtümer, Widersprüche und
Zufälle erforschen
Durch die gründliche Erforschung des
Beobachtungsgegenstandes in allen
seinen strukturellen Elementen gelan-
gen wir zu einem relativ umfassenden
Bild seiner Merkmale. Die Fakten, die
in der Ermittlung auftauchen, ergeben
aber nicht immer ein kohärentes Bild.
So muss man alle Indizien beobachten
und aufschreiben, auch und gerade
dann, wenn sie nicht ins Bild passen.
Eine gute Beschreibung wird allfällige
Ungereimtheiten weder ausgleichen,
noch übertreiben. Es kann sogar pas-
sieren, dass man mit absolut unerklär-
lichen Tatsachen konfrontiert wird.
Soll man diese nun beiseite lassen, um
zu vermeiden als jemand zu erschei-
nen, der nichts verstanden hat? Sicher
nicht! Es ist im Gegenteil ein Zeichen
der Souveränität, wenn jemand zuge-
ben kann, dass er etwas (noch) nicht
Normale Buchstaben K
APITÄLCHEN
GROSSBUCHSTABEN
This is next T
HIS
IS
NEXT
THIS IS NEXT
Take Penacilin Now T
AKE
P
ENACILIN
N
OW
TAKE PENACILIN NOW
Death to America D
EATH
TO
A
MERICA
DEATH TO AMERICA
Death to Israel D
EATH
TO
I
SRAEL
DEATH TO ISRAEL
Allah is great A
LLAH
IS
GREAT
ALLAH IS GREAT
Tab. 1: Die Buchstaben und Sätze des Anthraxbriefes
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Kriminalistik 2/03
Kriminalistik
verstanden hat. Kern der Wissenschaft
ist es gerade nicht, Allwissenheit vor-
zuspiegeln, sondern besonders auch
das Unverständliche zu notieren, sonst
Ungereimtheiten und
Unerklärliches dokumentieren
würde man ja immer nur das wieder-
finden, was man schon lange kennt
(sogenanntes „petitio principii“). Wei-
ter gehört natürlich zur persönlichen
Ehrlichkeit, dass man auch diejenigen
Details dokumentiert, die den eigenen
Erklärungen zunächst zu widerspre-
chen scheinen.
Die vierte Formel der Beobachtung,
diejenige der Aufklärung von Unge-
reimtheiten und Anomalien, ist sozu-
sagen die klassische Regel von Sher-
lock Holmes. Die Suche nach Anoma-
lien soll ebenfalls gründlich und aktiv
vorangetrieben werden, was auf dem
Hintergrund der bereits definierten
Struktur besser gelingt, als wenn man
sich vom Zufall leiten lässt. Im Ge-
gensatz zu den Ausführungen Conan
Doyles, ist das Aufdecken von Unge-
reimtheiten allerdings weder die einzi-
ge, noch die wichtigste Art logischer
Schlussfolgerungen, um einen Krimi-
nalfall zu lösen. Vor allem steht sie
nicht am Anfang des Beobachtungs-
prozesses, sondern erfolgt erst nach
seiner Strukturierung. Kriminalisten
schenken den Anomalien vor allem
darum viel Beachtung, weil sie den
Verdacht hegen, es könnte sich dabei
um künstliche Zeichen handeln. Künst-
liche Zeichen besitzen einen systema-
tischen Stellenwert, insofern als der
Täter sie absichtlich gelegt hatte, um
eine Mitteilung zu machen, um die
Spuren zu verwischen oder gar die
Polizei in die Irre zu führen. Nichtsde-
stoweniger führen künstliche Zeichen
nicht immer zum Täter. Andere (un-
schuldige) Verdächtige lügen aus vie-
len verschiedenen Gründen und ver-
stecken viele Dinge, die mit dem Ge-
genstand der Ermittlung überhaupt
nichts zu tun haben. Die Erforschung
von Widersprüchen, von Ungereimt-
heiten oder merkwürdigen Zufällen
findet ihren Platz erst nach der struk-
turierten Beobachtung, weil solche
Anomalien nur innerhalb des Gesamt-
zusammenhangs der verschiedenen
Elemente, interpretiert werden dürfen.
Ein Schreibfehler hat eine andere Be-
deutung, wenn er in einem gelehrten
Text steht als wenn er einer von Dut-
zenden von grammatikalischen Feh-
lern ist.
In Anbetracht der vorhergehenden
Ausführungen zum Anthraxfall, näm-
lich dass der Absender des Briefes
seine Mitteilung mit einer gewissen
Sorgfalt verfasst hat, und angesichts
der Tatsache, dass Anthraxsporen nur
einem kleinen Kreis ausgewiesener
Experten zugänglich sind, gibt es ei-
nen auffallenden Fehler: Wieso ist das
Wort Penicillin („penacilin“) falsch
geschrieben? Wie kommt es, dass eine
Person, die die Sicherheitsvorkehrun-
gen im Umgang mit Anthrax kennt
(wozu ganz besonders auch der Um-
gang mit Penicillin gehört), das Wort
Nur ein Rechtschreibefehler?
„Penicillin“ nicht buchstabieren kann?
Penicillin ist ja nicht nur eine viel
gängigere Substanz, das Wort ist auch
viel bekannter als „Anthrax“. Warum
ist das „i“ im Wort als „a“ geschrie-
ben? Anders als in der amerikanischen
Aussprache des Worts penicillin, wür-
de man in andern Sprachen nie das „i“
mit einem „a“ verwechseln (zum Bei-
spiel im Deutschen, Französischen
oder Italienischen). Für eine sorgfäl-
tige Deutung dieses Schreibfehlers
müsste man allerdings auch einen Spe-
zialisten für Arabisch und andere ori-
entalische Sprachen zuziehen. Die
grundlegende Frage hier ist aber, ob
der Rechtschreibefehler des Wortes Pe-
nicillin ein natürliches Zeichen ist;
man müsste dann davon ausgehen,
dass der Täter ev. unter Legasthenie
leidet, oder ob er ein künstliches Zei-
chen darstellt, eine Botschaft zwecks
Irreführung der Leser.
Wenn am Anfang eines Falles Wi-
dersprüche auftauchen, oder wenn sie
sich in den Zeugenaussagen finden,
sind sie für den Ermittler oft sehr
willkommen, denn sie geben ihm einen
Grund für weiteres Nachforschen. Hin-
gegen kann es auch vorkommen, dass
Widersprüche und Anomalien
nicht „wegerklären“
subtile Widersprüche und Anomalien
einen vermeintlich offensichtlichen
Fall stören. Dann ist man eher geneigt,
über sie hinwegzusehen. Solche Zei-
chen sind ärgerlich, denn sie könnten
dem Ermittler seine „schöne Lösung“
zerstören. So Giddens (1984, S. 167):
„Die Arbeiten von Kuhn und andern
Autoren zeigen, dass Wissenschaftler
oft solche Ergebnisse von Experimen-
ten oder Beobachtungen ignorieren
oder ,wegerklären‘, die später als in-
kompatibel mit anerkannten Theorien
– oder als sie falsifizierend – erkannt
werden“. Daher bedeutet die Beach-
tung dieser Regel, dass man sich gege-
benenfalls der Notwendigkeit von
langwierigen Zusatzabklärungen stel-
len muss.
Fünfte Formel: Das allfällige Fehlen
wichtiger Zeichen
Das letzte Merkmal, welches den her-
vorragenden Beobachter vom mittel-
mäßigen unterscheidet, ist die Fähig-
keit zu sehen, was fehlt. Das Fehlen
wichtiger Zeichen wird übrigens auch
in der Medizin als Symptom und somit
als Indiz gewertet. Zum Beispiel wird
in der Psychiatrie bei der Diagnose der
Schizophrenie ein allfälliger Mangel
an adäquaten emotionalen Reaktionen
als sogenanntes „negatives“ Symptom
erfasst. Dagegen werden als „produk-
tive“ Symptome, solche Phänomene
bezeichnet, die beim Gesunden nicht
vorkommen und spezifisch durch die
Störung produziert sind, z. B. Halluzi-
nationen (Andreasen 1990). Nordby
(2000, S. 63) bemerkt zum Unter-
schied zwischen Beweis und Indiz in
der Kriminalistik folgendes: „Die Ab-
wesenheit von Beweisen ist kein Be-
weis für deren Nichtexistenz, aber die
Abwesenheit eines Indizes kann selber
ein Indiz sein.“
Die fünfte Formel der systemati-
schen Beobachtung, die Erfassung von
Negativ-Indizien kommt in verschie-
denen Bereichen zur Anwendung.
Oevermann et al. (1994, S. 172) er-
wähnen, dass Ermittler in Einbruchs-
fällen nicht etwa nur die gestohlenen
Gegenstände notieren sollten, sondern
auch diejenigen, die trotz eines gewis-
sen Wertes verschmäht wurden. So
kann man zu interessanten Hinweisen
über die Fähigkeiten des Einbrechers
gelangen: ist er ein Anfänger, ein Dro-
gensüchtiger oder musste er fliehen,
weil er gestört wurde? In einem Fall
mit mehreren Zeugen, die nicht alle
gleich kooperativ sind, kann man sys-
tematisch herausfiltern, was von wem
ausgelassen wurde, um für die folgen-
den Einvernahmen mehr Material für
Vorhalte zur Verfügung zu haben. Der
Mangel an angemessener emotionaler
Reaktion von angeblichen Verbre-
chensopfern kann ebenfalls ein wichti-
ger Hinweis sein, dass etwas mit ihren
Aussagen nicht ganz stimmt. Die so-
genannte Statement Analysis, eine lin-
guistische Methode, um Mängel an
Glaubwürdigkeit aufzudecken, schenkt
dem Unausgesprochenen einer Kom-
98
2/03 Kriminalistik
Kriminalistik
munikation viel Beachtung (vgl.
Adams 1996, Sapir 1998, Smith &
Shuy 2002). Sehr verdächtig ist es
etwa, wenn Eltern ein Kind als ver-
misst melden und bereits nach kurzer
Zeit die grammatikalische Vergangen-
heitsform benutzen. Adams schreibt
(1996): „Wenn Kinder verschwinden,
bleiben sie im Herzen ihrer Eltern
Dem Unausgesprochenen
Beachtung schenken
außerordentlich lange am Leben, oft
sogar jenseits jeglicher Vernunft.“ El-
tern, die beispielsweise sagen, dass ihr
Kind immer so zutraulich gewesen sei,
lassen somit die natürliche und außer-
ordentlich starke Hoffnung, ihr Kind
bald wiederzufinden, vermissen. Dies
macht sie verdächtig.
Zur Erkennung fehlender Zeichen
sind der Beizug von Modellen und die
Unterteilung des Beobachtungsobjekts
in seine strukturellen Elemente uner-
lässlich. Weil schwere Kriminalfälle
relativ selten und sehr individuell ge-
prägt sind, muss die forensische Lite-
ratur dafür unbedingt hinzugezogen
werden, zum Beispiel das Crime Clas-
sification Manual, und andererseits die
Erfahrung von Kollegen, die bereits
einen ähnlich Fall untersucht hatten.
Was können wir durch die Anwen-
dung der fünften Formel der systema-
tischen Beobachtung zur Abwesenheit
wichtiger Zeichen im Anthraxbrief sa-
gen?
Als Modelle ziehen wir andere
Selbstbezichtigungsschreiben hinzu.
Ein solcher Brief wurde nach dem
Bombenattentat in Atlanta 1997 ver-
schickt (www.fbi.gov) und fängt mit
folgendem Satz an : „The bombings in
Sandy Springs and Midtown were car-
ried out by units of the Army of God.
The abortion was the target of the first
device. The murder of 3.5 million
children every year will not be ,tolera-
ted‘ ...“ etc. Im Gegensatz dazu er-
wähnt der Schreiber der Anthraxbriefe
keine Gruppe; er macht bloß Andeu-
tungen, dass die Briefe aus dem isla-
mischen Kulturkreis stammen könn-
ten. Auch der Zweck der Attacke wird
im Gegensatz zum Attentat von Atlan-
ta nicht explizit gemacht. Mit der
Sapir’schen Methode der Statement
Analysis würde man dieses Zeichen
als ein Fehlen von Verbindlichkeit
(englisch: lack of commitment) inter-
pretieren. Warum, wenn sie nicht ge-
nau sagen will, was sie tut und welche
Interessengruppe dahinter steht, sen-
det die Täterschaft die tödlichen Spo-
ren nicht einfach ohne Kommentar?
Wozu dient eigentlich dieses angebli-
che Selbstbezichtigungsschreiben?
Um schlussendlich zur Analyse des
Inhalts zu gelangen, können wir wie-
derum diesen Fall mit andern Fällen
vergleichen, bei denen sich Täter mit
erpresserischen Methoden an die Me-
dien gewendet haben. Zum Beispiel
Ted Kaczynski, der sogenannte UNA-
Bomber der 80er Jahre, der seine Pam-
phlete mit seitenlangen ideologischen
Ergüssen in der New York Times pu-
bliziert haben wollte. Dies ist hier
ebenfalls nicht der Fall, die Nachricht
der Anthraxtäterschaft ist ziemlich
kryptisch und enthält keinerlei Beweis
dafür, dass sie tatsächlich arabischer
Herkunft ist (etwa indem Allah ist
great oder auf Arabisch Allah u akhbar
geschrieben wäre).
Von der Beobachtung zur Deutung
– Hypothesen auf ihre Plausibilität
prüfen
Kind schreibt (1987, S. 43): „[...] the
identification of pattern in crime inve-
stigation may perhaps be defined sim-
ply as the identification of a determini-
stic sequence in a series of apparently
chance events.“ Die hier entwickelte
Methode der systematischen Beobach-
tung birgt allerdings eine gewisse Ge-
fahr in sich: wie kann man wissen, ob
man sich nicht allzu sehr in Spekula-
tionen verrannt hat? Was tun, wenn
eine Kontroverse über verschiedene,
konkurrierende Hypothesen entsteht?
Nordby (2000, S. 206) erklärte, wie-
so verschiedene Beobachter zuweilen
im selben Fall zu ganz verschiedenen
Ergebnissen kommen: „Part of seeing
a sign involves recognizing its signifi-
cance und building it into an infe-
rence. Dismissing signs and what fol-
lows deductively from them as irrele-
vant along one path, and including
Gesammeltes Material
kritisch mustern
them as relevant along another, may
result in contradictory conclusions
drawn from the same observations“.
Darauf basierend können wir festhal-
ten, dass der Prozess der Beobachtung
und der Interpretation aus zwei entge-
gengesetzten Denkvorgängen besteht:
ein Vorgang der möglichst viele Infor-
mationen einschließt, d. h. Indizien
sammelt, und ein zweiter Vorgang, der
das gesammelte Material kritisch mus-
tert. Leider können wir vor der end-
Kriminalistik
99
Kriminalistik 2/03
Kriminalistik
Tab.2: Checkliste für den Plausibilitätsvergleich der Hypothesen
2
Hypothese H0: der Verfasser des Anthraxbriefes gehört einer islamistischen Terror-Gruppe an
gültigen Auflösung des Falles nicht
mit Bestimmtheit wissen, welche In-
formationen nun wichtig sind und wel-
che nicht. Da Indizien, wie gesagt,
nicht unbedingt für sich selber spre-
chen, ist man oft gezwungen, das Wis-
sen über einen Fall (d. h. sowohl sei-
ner Form als auch seines Hintergrunds)
möglichst zu vervollständigen. Dies
wird durch die systematische Beob-
achtung erreicht. In der nächsten Pha-
se des Interpretationsvorgangs müssen
wir die diversen Hypothesen kritisch
beurteilen, um allzu spekulative Ideen
auszuschalten. Auch dabei soll nichts
dem Zufall überlassen bleiben. Der
Denk-Prozess wird systematisch an-
gegangen, am besten mit einer Check-
liste aller Indizien.
Der Plausibilitätsvergleich zeigt
nun, dass vier Zeichen in die Richtung
einer Täterschaft innerhalb einer isla-
mistischen Terrorgruppe zeigen. Je-
doch werden zwei dieser Indizien
durch eine innere Ambivalenz aufge-
wogen. Andererseits haben wir fünf
klare Indizien, die für eine amerikani-
sche Täterschaft sprechen; eine Täter-
schaft, die entweder aus persönlichen
Gründen oder aus innenpolitischen
Motiven handelt. Diese Hypothese
wird durch den Eindruck der ziemlich
nebulösen Qualität dieses angeblichen
Bekennerschreibens noch zusätzlich
untermauert. Solche Zeichen sind näm-
lich recht typisch für ein sogenanntes
Staging, d. h. am Tatort eines Verbre-
chens wird versucht, den Eindruck
eines anderen Verbrechens zu erwe-
cken, um die wahren Motive und die
Identität der Täterschaft zu verschlei-
ern. In unserem didaktischen Beispiel
ist die Hypothese „Nachahmungstä-
ter“ daher plausibler als diejenige isla-
mistischer Terroristen.
Zusammenfassung
Die fünf einfach zu merkenden For-
meln der systematischen Beobachtung
helfen dem Ermittler gründlicher hin-
zusehen und sicher zu gehen, dass
nichts vergessen wurde. Es sind dies:
I. Trenne formelle und inhaltliche
Aspekte des Beobachtungsgegenstan-
des und erfasse immer beide getrennt
in der Beobachtung.
II. Vergleiche das Beobachtungsob-
jekt mit Modellen, mit Standards und
mit ähnlichen Fällen und den Informa-
tionen der kriminalistischen Literatur.
III. Zerlege das Objekt in die funk-
tionalen Elemente seiner Struktur und
erforsche jedes einzeln. Es können
verschiedene Strukturen gleichzeitig
denkbar sein (vergleiche dazu die
Strukturen von Modellen).
IV. Erforsche alle Ungereimtheiten,
Widersprüche, Fehler und erstaunli-
chen Zufälle (im Vergleich zu den
Modellen und nach der Unterteilung
des Objekts in seine Grundelemente).
V. Entdecke die eventuelle Abwe-
senheit wichtiger Zeichen (mithilfe
von Modellen und nach der Untertei-
lung des Objekts in seine Grundele-
mente).
Unnütze Arbeit ersparen
Es lässt sich nicht leugnen, dass die
gründliche Anwendung dieser Formeln
zunächst einen erheblichen Arbeits-
aufwand erfordert, den man sich nur in
wichtigen Fällen leisten kann. Sobald
ihre Anwendung dem Kriminalisten
aber in Fleisch und Blut übergegangen
ist, wird er schon auf den ersten Blick
sehr viel mehr erfassen als vorher und
sich damit unnütze Arbeit ersparen
können, die entsteht, wenn die Ermitt-
lung auf ein falsches Geleis gerät.
Durch den Prozess der systemati-
schen Erfassung aller Details sind wir
in der Lage, erste Hypothesen zu for-
mulieren. Die gefundenen Hypothesen
sollten dann, in einem zweiten Schritt
einer Plausibilitätsprüfung unterzogen
werden, indem sie systematisch aufge-
listet werden. Um eine klarere Sicht
über den Fall zu erlangen, muss für
jedes Zeichen bestimmt werden, in
wiefern es eine bestimmte Hypothese
Zeichen, die gegen die Neutrale Zeichen Zeichen, die für die
Hypothese H0 sprechen Hypothese H0 sprechen
Anthrax- und WTC-Attentat
erforderten einen ausgefeil-
ten hoch-technischen Modus
operandi.
Der Anthraxbrief gibt vor, am Anthrax- und WTC-Attentat
11. Sept. geschrieben worden wurden innerhalb einer
zu sein, wurde aber erst eine guten Woche begangen.
Woche später verschickt.
Anthrax- und WTC-Attentat
sind ähnlich, weil unschul-
dige Zivilisten auf hinter-
hältige Art getötet wurden.
Die Kenntnisse des Täters
über amerikanische Postleit-
zahlen implizieren, dass er
dort zumindest eine Weile
gewohnt hat.
Falls „penacilin“ ein Schreib- Der Täter könnte an Legas-
fehler ist, wäre er typisch thenie leiden.
amerikanisch.
Keine Gruppe wird explizit Ein Selbstbezichtigungs-
benannt, die Anspielungen schreiben mit Anspielungen
bleiben vage. Für ein Selbst- auf den Islam.
bezichtigungsschreiben be-
steht ein Mangel an Verbind-
lichkeit.
Die Täter des 11. September
haben keine solchen Selbst-
bezichtigungsschreiben ver-
fasst.
Die Täterschaft liefert keinen
Beweis für die Kenntnis der
arabischen Sprache oder für
die Zugehörigkeit zu Al Qaida.
Das Opfer ist kein internatio-
nales Symbol für die USA
Die Täterschaft scheint eine
nicht-amerikanische Schrift
simulieren zu wollen (die
Zahl 1), allerdings erfolglos.
100
2/03 Kriminalistik
Kriminalistik
unterstützt oder eher zu widerlegen
scheint.
Zur Zeit des Redaktionsschlusses
ist der Anthraxfall noch immer unge-
löst. Der Stand der Ermittlungen und
das auf dem vollständigen Material
beruhende Profil kann auf der Websei-
te des FBI (http://www.fbi.gov) einge-
sehen werden.
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Recht aktuell
1. Der Zugriff auf eine Mailbox stellt eine Überwachung und Aufzeichnung
der Telekommunikation dar und bedarf deshalb eines richterlichen Beschlus-
ses gemäß den §§ 100a, 100b StPO.
2. Im Falle einer rechtswidrigen – ohne richterliche Anordnung – durchge-
führten Maßnahme im Sinne des Leitsatzes 1 besteht ein Beweisverwertungs-
verbot nur dann, wenn der Verdacht einer „Katalogtat“ (gem. § 100a StPO)
von vornherein nicht bestand. (Nichtamtl. Leitsätze)
Anmerkung:
Im Rahmen einer Durchsuchung wurde bei der Ehefrau eines der Geldwäsche und
Betruges Beschuldigten eine Liste von so genannten E-Mail-Konten aufgefunden
und sichergestellt. Die Liste enthält E-Mail-Adressen für eine Mailbox des
Beschuldigten. Die dort gespeicherten E-Mails wurden heruntergeladen und ausge-
druckt und zu den Akten genommen. Für diese Maßnahme lag kein – weiterer –
richterlicher Beschluss vor. Das LG wertet den Zugriff auf die Mailbox als Eingriff
in das durch Art. 10 GG geschützte Fernmeldegeheimnis; dieses schütze die
Vertraulichkeit jeder Form der Übermittlung von Informationen unter Raumüber-
windung in nichtkörperlicher Weise mittels technischer Einrichtungen. Demgemäß
sei auch die Übermittlung von Informationen per E-Mail durch die Grundrechtsga-
rantie erfasst. Mangels eines richterlichen Beschlusses (beziehungsweise einer in
Eilfällen genügenden staatsanwaltschaftlichen Anordnung) war der Eingriff rechts-
widrig. Allerdings folgt nach Ansicht des Gerichts aus diesem Rechtsverstoß nicht
automatisch ein Verbot, die dadurch erlangten Informationen zu verwerten. Ein
allgemeines Beweisverwertungsverbot sei dem Strafverfahrensrecht fremd. Erfor-
derlich sei vielmehr eine Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalles,
insbesondere der Schwere des Grundrechtseingriffs und des Verfahrensverstoßes
sowie des Strafverfolgungsinteresses. Im vorliegenden Falle erschöpfe sich der
Mangel der Maßnahme in der fehlenden richterlichen Anordnung; die materiellen
Voraussetzungen nach § 100a StPO seien demgegenüber erfüllt gewesen. Unter
diesen Umständen sei der Grundrechtseingriff „relativ gering, er beschränke sich
auf die Kenntnisnahme des Inhalts der Mitteilungen in der Mailbox. Die Ermitt-
lungsbehörden hätten zudem nicht willkürlich gehandelt, sondern angenommen,
dass der vorliegende Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss auch den
Zugriff auf die Mailbox abgedeckt habe.
LG Mannheim, Beschl. v. 30. 11. 2001 – 22 Kls 628 Js 15705/00 –
NPA 2002 StPO § 100a Bl. 15 (Nr. 507). jv.
Zugriff auf Mailbox
im Rahmen
strafrechtlicher Ermittlungen
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Anmerkungen:
1 Bei einer richtigen Ermittlung müsste man das
Opfer viel genauer unter die Lupe nehmen, was
hier aus Platzgründen unmöglich ist.
2 Anmerkung: in einer wirklichen Ermittlung
müsste man erstens alle vier Anthrax-Briefe
analysieren, zweitens viele Zeichen noch sorg-
fältiger abklären und drittens weitere Hypothe-
sen in Betracht ziehen.