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Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie:
zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der
modernen Lebenswissenschaften: Vorwort
Manzei, Alexandra; Gamm, Gerhard; Gutmann, Mathias
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Manzei, Alexandra ; Gamm, Gerhard ; Gutmann, Mathias: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie: zur
Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften: Vorwort. In: Manzei, Alexandra
(Ed.) ; Gamm, Gerhard (Ed.) ; Gutmann, Mathias(Ed.): Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie: zur
Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld : transcript Verl., 2005. -
ISBN 978-3-89942-319-8. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-51171-9
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Alexandra Manzei, Gerhard Gamm, Mathias Gutmann: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance
Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag, 2005.
VO R W O R T
Seit einigen Jahren ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Renaissance
der philosophischen Anthropologie zu beobachten. Sie verbindet sich weniger mit
den Namen Max Scheler oder Arnold Gehlen als mit der Anthropologie und
Gesellschaftstheorie Helmuth Plessners. Haben nach der neueren Dekonstruktion
der Natur des Menschen in Soziologie, Philosophie und Biologie seit den 1980er
Jahren Cyborgs, Hybride, Aktanten, datenverarbeitende Systeme oder andere
kommunizierende Maschinen die Wissenschaften bevölkert, so lässt sich parallel
dazu eine Diskussion beobachten, für die die Rede von ›dem Menschen‹ wieder
selbstverständlich erscheint. Während die Kulturanthropologie, die Ethnologie und
die historische Anthropologie, aber auch die Philosophie von den essenzialistischen
Deutungen und ahistorischen Diskursen über den Menschen Abstand nehmen und
auf den historischen Brüchen und kulturellen Differenzen der sozialen Akteure und
Kollektive bestehen, scheint der neuerliche Rekurs auf die philosophische
Anthropologie von dem Wunsch getragen zu sein, eine kritische und theoretisch
fundierte Begrenzung der historisch- relativistischen Denkformen zu entwickeln. Der
aktuelle Anlass dazu sind auf der einen Seite die ambivalenten
Machbarkeitsphantasien und Praktiken der biotechnologischen Medizin, auf der
anderen aber eine Kritik, die ihre zentralen Intuitionen aus der Unverfügbarkeit und
der Unausdeutbarkeit des menschlichen Lebens zieht. So vielgestaltig die Ansätze
im Einzelnen sind, sie eint der Versuch, nicht hinter die begründete Skepsis des
Sozialkonstruktivismus und der Anthropologiekritik zurückzufallen. Es ist heute weder
möglich noch der Sache dienlich, die normative Basis der Kritik in der Natur des
Menschen zu suchen. Jede positive Setzung einer unhintergehbaren Grenze würde
den Verdacht erregen, dogmatisch zu sein und die Existenz des Menschen um seine
technologischen Entfaltungsmöglichkeiten zu bringen. Ebenso bliebe ein Rekurs auf
die philosophische Anthropologie, der nicht die historische Differenz des
beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts für die Theorie und Kritik
berücksichtigt, selbst abstrakt und liefe der Inten- tion einer reflektierten Deutung und
Fortschreibung anthropologischtechnischer Möglichkeiten entgegen. Unsere Absicht
ist es daher, die angedeuteten Schwierigkeiten unter vier Gesichtspunkten zu
diskutieren, die sowohl für die Theoriearchitektur Plessners als auch für die
gegenwärtige Auseinandersetzungen mit der Biomedizin bedeutsam sind. So wird im
ersten Hauptstück versucht, die theoretischen Voraussetzungen der Anthropologie
Plessners zu klären. Gelingt es Plessner eine Theorie des Menschen zu formulieren,
die den cartesianischen Dualismus aufhebt, indem sie gleichermaßen natur- wie
kulturgeschichtliche Aspekte in Rechnung stellt? Und ist das Konzept der
›exzentrischen Positionalität‹, insofern es die menschliche Existenz als ebenso
kreatürlich wie symbolisch vermittelt begreift, anschlussfähig im Blick auf eine
kritische Auseinandersetzung mit den biotechnologischen Existenzweisen des
Menschen heute? Oder zeigt sich nicht vielmehr, dass auch Plessner eine
»Bestimmung des Menschen« theoretisch voraussetzen muss, um seine
Anthropologie zu fundieren? Und dass deshalb – auch aufgrund der historischen
Differenz – ein Rekurs auf die philosophische Anthropologie von Anfang an
Alexandra Manzei, Gerhard Gamm, Mathias Gutmann: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance
Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag, 2005.
problematisch ist? Auf ein verwandtes Problem stößt man, wenn man der
begründungstheoretischen Frage nach dem Konstitutionsverhältnis von
Anthropologie und Naturphilosophie nachgeht: Wie ist beider Bezug aufeinander zu
denken? Vor dem Hintergrund dieser Fragen untersucht Michael Weingarten in
seinem Beitrag das spezifische Philosophieverständnis der Plessner‘schen
Anthropologie. Die Analyse einer intensiv geführten zeitgenössischen Debatte
zwischen Helmuth Plessner und Josef König zeige nicht nur systematische
Unbestimmtheiten seiner philosophischen Anthropologie; mit dem Plessner‘schen
Zugeständnis, auch formallogische Widersprüche zuzulassen, erweise sich vielmehr
das Konzept im Ganzen bedroht. Volker Schürmann bietet eine alternative Deutung
zu den üblichen Lesarten des Plessner‘schen Ansatzes an, indem er die Stufen des
Organischen und der Mensch sowie Macht und menschliche Natur als gegenläufige
Denkbewegungen systematisch aufeinander bezieht. Die Figur der exzentrischen
Positionalität entwickelt er dabei als ein zentrales Bestimmungsstück, um sie als
Ausdruck der Reflexion der je eigenen Positionen aufzufassen. Im zweiten
Hauptstück wird die Bedeutung Plessners für eine mögliche Kritik der Soziologie
diskutiert. Unsere Vermutungen gehen dahin, dass alle soziologischen Theorien –
implizit oder explizit – anthropologische Deutungen voraussetzen; entweder indem
der Gegenstandsbereich der Soziologie auf menschliche Akteure beschränkt und
diese Voraussetzung nicht weiter reflektiert wird oder indem menschlichen Akteuren
wesentliche Eigenschaften wie Geist, Vernunft, Personalität etc. zugesprochen
werden, um sie wiederum von nicht-menschlichen Wesen abzugrenzen. Will man
diese anthropologischen Voraussetzungen der Soziologie problematisieren, bieten
sich, angelehnt an Plessner, verschiedene, scheinbar gegensätzliche Möglichkeiten
an. Alexandra Manzei plädiert in ihrem Beitrag dafür, die soziologischen
Grundbegriffe offensiv um anthropologische Deutungen zu erweitern. Sie zeigt
zunächst exemplarisch, dass auch die Rede von Subjekten, Personen, Individuen
oder Geschlechtern auf anthropologischen Annahmen beruht und identitätslogische
Verkürzungen nur scheinbar vermeidet. Mit Rekurs auf die ›entgrenzte‹ Positionalität
im Sinne Plessners ließe sich zur Frage nach dem Menschen Stellung beziehen,
ohne naturalistisch oder reduktionistisch argumentieren zu müssen. Dadurch
gewinne die Soziologie Deutungsmöglichkeiten, die eine Kritik biomedizinischer
Bestimmungen des Menschen überhaupt erst ermögliche. Im Gegensatz dazu
verfolgt Gesa Lindemann die umgekehrte Strategie und plädiert im Anschluss an
Plessners Theorie des Lebens für eine Entanthropologisierung der soziologischen
Kategorien. In ihrem Beitrag zeigt sie, dass seine Positionalitätstheorie nicht als
Anthropologie, sondern als Theorie personaler Vergesellschaftung verstanden
werden muss. Plessners Theorie gebe a priori keine Auskunft darüber, wer (oder
was) ein Mensch sei. Er zeige vielmehr, dass sich erst für exzentrisch organisierte
Lebewesen im sozialen Bezug aufeinander die Notwendigkeit ergebe, zu
entscheiden, »wer in den Kreis personalen Seins einzubeziehen sei und was aus
diesem Kreis herausfällt«. Exzentrische Positionalität sei daher nicht auf den Kreis
der Menschen beschränkt, sondern prinzipiell auch für andere Lebewesen denkbar.
Für Ulle Jäger liegt die Bereicherung, die die Soziologie durch Plessners
Positionalitätstheorie erfährt, in der Vermittlung konstruktivistischer und
Alexandra Manzei, Gerhard Gamm, Mathias Gutmann: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance
Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag, 2005.
naturalistischer Auffassungen leib-körperlicher Existenz. In ihrem Beitrag verbindet
sie das Habituskonzept Pierre Bourdieus mit den entsprechenden Überlegungen
Helmuth Plessners. Erst mit Letzteren lasse sich erklären, wie die Inkorporierung
sozialer Ordnung vonstatten gehe und wie der »körperliche Leib« die
Vermittlungsfunktion zwischen Individuum und Gesellschaft überhaupt wahrnehmen
könne, die ihm Bourdieu zuschreibe. Im dritten Hauptstück wird zum einen die Frage
nach der Bedeutung Plessners für die theoretische Biologie heute gestellt. Zum
anderen soll umgekehrt die Frage erörtert werden, inwieweit der Plessner‘ sche
Versuch, zeitgenössische biologische Positionen (insbesondere Jakob von Uexkülls)
zur Grundlage der Anthropologie und damit indirekt auch der Sozial- und
Gesellschaftstheorie zu machen, ge- lingt. Während die erste Frage – vermutlich
unstrittig – dahingehend beantwortet wird, dass sich weder aus der auf von Uexküll
fußenden Organismustheorie noch aus ihren Erweiterungen in die Theorie des
Humanums ernsthafte Revisionsanforderungen oder auch nur Anregungen für die
moderne Biologie (hier insbesondere für die laborgestützten Disziplinen) ergeben,
dürfte die Antwort auf die zweite Frage kontrovers ausfallen. Die hier vertretende
Skepsis gegenüber dem methodischen Aufbau des Plessner‘schen Programms soll
durch eine eingehende Analyse der empirisch-faktischen wie der normativen
Investitionen gestützt werden. Sie ergibt sich, wenn die Rede von Personalität – und
die daran anschließenden Konzepte von Sozialität und Kulturalität – an eine naturale
Bestimmung der Exzentrizität gebunden werden. Diese wird insbesondere unter
Rückgriff auf die Cassirer‘ sche Kritik des Kulturverständnisses der philosophischen
Anthropologie erläutert. Der Rede vom Leben und ihren Implikationen für die
Plessner‘ sche Anthropologie geht Mathias Gutmann nach. Im Zentrum seines
Beitrags steht die Rekonstruktion einer zuzeiten Plessners kaum wahrgenommenen
Auseinandersetzung zwischen dem aus der Göttinger Tradition stammenden König
und Plessner. Im Zentrum der Kontroverse steht der Streit um den methodologischen
Status des Lebensbegriffes. ›Leben‹ wird dabei mit König in der Dualität als
modifizierende und determinierende Redeform entwickelt. Auf der Grundlage dieser
Unterscheidung kann eine spezifische Verkürzung der logischen Grammatik
philosophischer Anthropologie nachgewiesen werden – eine Verkürzung, deren
Vermeidung zu einem grundlegend revidierten Programm der Lebenshermeneutik
führen sollte. Um einen systematischen Leitbegriff Plessners, der nicht nur für die
zeitgenössische Diskussion von Relevanz war, sondern auch für laufende Debatten
um das Verhältnis von Lebenswissenschaften und Philosophie von großer
Bedeutung sein dürfte, ist es Joachim Fischer in seiner Rekonstruktion der
»Positionalität« zu tun. Er zeigt, wie in der Verbindung von Ekstatik und Orgiastik als
spezifischen Momenten der Grenzregulierung eine wirkliche Durchbrechung und
Überwindung cartesischer Dualismen angestrebt wird. Die Entwicklung der
Positionalität würde demnach nicht nur einen kritischen Einspruch gegen
»wissenschaftlichen Radikalismus« erlauben, sie wiese vielmehr einen Weg für die
Grundlegung der Philosophie selber, gleichsam zwischen einem spekulativen
Naturbegriff auf der einen und einer mentalistischen Interpretation des Geistes auf
der andern Seite. Die biowissenschaftlichen Grundlagen von Plessners
Anthropologie bilden den Gegenstand der Untersuchung von Mathias Gutmann und
Alexandra Manzei, Gerhard Gamm, Mathias Gutmann: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance
Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld: transcript Verlag, 2005.
Michael Weingarten. Ausgehend von der eigentümlichen grammatischen
Verschränkung des generischen Singulars (der Mensch, das Tier, die Pflanze) mit
der Rede von »dem Menschlichen« zeigen die Autoren in Form von fünf Thesen,
dass die Nivellierung des Ausdruckes ›Leben‹ bei Plessner ein möglicherweise
notwendiger Bestandteil der philosophischen Anthropologie ist. Dieser Verdacht
erhärtet sich bei genauerer Betrachtung jener zeitgenössischen biologischen
Theoriestücke, die im Wesentlichen aus anti-darwinistischen und vitalistischen
Evolutions- bzw. Entwicklungsansätzen stammen. Mit dem vierten Hauptstück soll
eine bislang wenig beachtete Seite von Plessners Denken in das Zentrum der
Aufmerksamkeit gerückt werden: der Primat praktischer Vernunft in allen
Konzeptualisierungsfragen philosophischer Anthropologie. Er spiegelt sich in dem,
was Plessner als Korrespondenzbegriff zur exzentrischen Positionalität zuweilen das
»Verbindlichnehmen des Unergründlichen« nennt. In der Reflexion auf die
normativen Implikationen seiner Grundbegriffe (Freiheit, Menschenwürde usf.)
ergeben sich Begründungslasten ganz eigener Art; sie erweitern nicht nur die
herkömmlichen Konzepte von philosophischer Anthropologie, sie werfen auch ein
kritisches Licht auf sozialwissenschaftliche und philosophische Deutungen, die
glauben, sich die Frage nach den normativen Voraussetzungen ihrer Diskurse
ersparen zu können. In seinen Überlegungen zu den »Quellen der Normativität«
macht Gerhard Gamm den Versuch, eine moralphilosophische Antwort auf die Idee
der Unausdeutbarkeit des menschlichen Selbst zu formulieren: Wie könnte eine Ethik
aussehen, die in der »Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich« (Plessner)
ihren Ausgang hat? Wie lassen sich die beiden für Plessners Normativitätskonzept
zentralen Strukturmomente – Offenheit und Verbindlichkeit – in ihrer konstitutiven
Verschränktheit angemessen explizieren? Der Beitrag von Andreas Hetzel
thematisiert das Verhältnis von Anthropologie, Ethik und Politik im Denken Plessners.
Die Grundfrage der philosophischen Anthropologie, was der Mensch sei, wird von
Plessner weniger als wissenschaftliche denn als politisch-praktische Frage
aufgefasst. Der Mensch begegnet uns im Rahmen dieses Projekts als »praktischer
Anspruch«. Dieser Anspruch kann, so zeigt Heike Kämpf in ihrem Beitrag, nur in der
Verweigerung und Kritik anthropologischer Bestimmungen liegen, die zu fixieren
suchen, was den Menschen ausmache. In diesem Sinne sei er politisch. So sich mit
der Theorie Plessners die performative Macht anthropologischer Modelle zeigen
lasse, könne die verdinglichende Praxis szientifischer wie gesellschaftlicher
Deutungen des Menschen kritisiert werden.
Alexandra Manzei
Mathias Gutmann
Gerhard Gamm März
2005