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Journal für Entwicklungspolitik XVII/1, 2001, S. 47–67
Elisabeth Aufhauser und Rosa Diketmüller
Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungs-
politik Wohlstand?
Was Familienplanung angeblich für die Armutsbekämpfung
leistet
Elisabeth Aufhauser und Rosa DiketmüllerÜberbevölkerung Macht Armut – schaff t Bevölker ungspoliti k Wohlstand?
1. Einleitung
Für das Entstehen, die Persistenz und die Dynamik von Armut gibt es eine
Vielzahl an Erklärungsmustern. Das Phänomen ist recht komplex – und dennoch
fällt es vielen Menschen leicht, primär einmal ,,die vielen Kinder, die die Men-
schen in den Entwicklungsländern haben“ für deren Verarmung verantwortlich
zu machen. In unserem Beitrag wollen wir nachvollziehen, wie es die internatio-
nale Bevölkerungslobby schaffte, in unseren Köpfen zu verankern, dass der
Armut weltweit am besten mit Familienplanung zu begegnen ist – und dass wir,
die Menschen des industrialisierten Nordens, die ethische Pflicht haben, den armen
Frauen im Süden den Zugang zu modernen Kontrazeptiva zu ermöglichen.
In Kapitel 1 geht es darum, wer denn eigentlich diejenigen sind, die das
,,Weltbevölkerungsproblem“ und dessen Bedeutung für die Verarmung so her-
vorragend inszenieren und mit wessen Geldern und welchen Geldsummen
internationale Bevölkerungspolitik tatsächlich betrieben wird. Anschließend wird
in aller Kürze nachgezeichnet, welche Geschichte der Begriff ,,Überbevölkerung“
im Zusammenhang mit Armutsphänomenen und deren Bewältigung hat. Kapitel
3 fasst zusammen, mit welchen Strategien die ,,Bevölkerungslobby“ im Verlauf
der Nachkriegszeit arbeitet, um Familienplanung als zentralen Ansatzpunkt zur
Bekämpfung von Armut in den Ländern des Südens zu verankern, Kapitel 4
erörtert die Argumente, mit denen ,,den Armen“ Familienplanung als bester Weg
aus der Verarmung verkauft wird.
2. ,,Regisseure“ der internationalen Bevölkerungspolitik
Nicht alle Menschen scheinen davon überzeugt zu sein, dass Überbevölkerung
und Verarmung direkt zusammenhängen und dass Familienplanung ,,die Lö-
sung“ für die weltweite Armut ist. Bis weit in die 60er Jahre hinein ist sogar die
Annahme, dass das weltweite Bevölkerungswachstum überhaupt ein Problem
darstelle, äußerst umstritten (Heim/Schaz 1996: 161). Das Szenario der über-
bevölkerten Erde und die daraus ableitbare Verarmung der Weltbevölkerung
muss daher von der internationalen Bevölkerungslobby im Verlauf der Nach-
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kriegszeit immer wieder neu inszeniert und die Notwendigkeit von weltweiten
bevölkerungspolitischen Aktivitäten immer wieder neu legitimiert werden.
Wer von den Personen und Organisationen, die in der Entwicklungzusam-
menarbeit eine Rolle spielen, ist nun aber eigentlich zu den ,,Regisseuren“ der
internationalen Bevölkerungspolitik, zu den Lobbyisten pro Familienplanung zu
zählen? Wer spielt im bevölkerungspolitischen Spektakel eine zentrale Rolle,
insbesondere bei der Verteilung der Gelder? Wer hält sich eher am Rand und
übernimmt nur gelegentlich eine Nebenrolle?
2.1 US-AID
In der Selbstdarstellung der US-Auslandshilfe wird die Unterstützung von Fami-
lienplanungsprogrammen auch heute noch als ,,das Revolutionärste, was die
Vereinigten Staaten je gemacht haben“ (Heim/Schaz 1994) bezeichnet. Diese
Bezeichnung scheint insofern gerechtfertigt, als unter republikanischen Präsi-
denten (wie etwa derzeit George W. Bush), die Unterstützung familienplaneri-
scher Aktivitäten immer wieder in Frage gestellt und bevölkerungspolitische
Bugdetmittel gekürzt werden, insbesondere dann, wenn es auch nur im entfern-
testen danach ausschaut, dass mit den Mitteln Abtreibungen finanziert werden.
Wichtigstes Argument für das Engagement im Bereich der Verhütung ist in den
ersten Nachkriegsjahrzehnten die Sicherung des Weltfriedens: mittels Gebur-
tenkontrolle soll die Armut in den Ländern der Dritten Welt hintangehalten, die
bestehende Machtbalance zwischen industrialisierten und sich entwickelnden
Ländern aufrechterhalten und die westliche Zivilisation vor Krieg bewahrt wer-
den. Heute wird stärker an die ethische Verantwortung der Industrieländer
appelliert, mittels Familienplanungsprogrammen den Menschen in der Dritten
Welt bei der Bekämpfung von Armut ,,Hilfe zur Selbsthilfe“ zu gewähren.
2.2 Internationale Entwicklungszusammenarbeit
In der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit spielen Ausgaben für explizit
bevölkerungspolitisch ausgerichtete Programme vom Finanzvolumen her eine
relativ geringe Rolle. Ihr Anteil an der Entwicklungshilfe der sogenannten Geber-
länder liegt derzeit insgesamt bei rund 3 Prozent (UN 2000). Nur sieben Länder
geben 1997/98 mehr als 4 Prozent der offiziellen Entwicklungsgelder explizit für
Aktivitäten im Bevölkerungsbereich aus: die USA (rund 8 Prozent), Finnland,
Norwegen, Schweden, Luxemburg, Australien und die Niederlande. Fast die
Hälfte der nationalen Geldmittel für bevölkerungspolitische Programme wird von
US-AID bereitgestellt (1997 $US 662 Millionen). Andere größere Geberländer
für bevölkerungspolitische Programme sind die Niederlande, Deutschland und
Großbritannien, Japan und die EU, die nordeuropäischen Länder Norwegen,
Schweden, Dänemark sowie Australien und Kanada.
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Österreich zählt zu den Geberländern mit den geringsten Anteilen an Ent-
wicklungshilfegeldern, die explizit für Bevölkerungsprogramme verwendet wer-
den (1996: 0,13 Prozent; UNFPA 1998). Die von Österreich bereitgestellten
Gelder laufen überwiegend über internationale Organisationen. Demgegenüber
ist das ,,Bremsen des weltweiten Bevölkerungsanstieges“ expliziter Schwer-
punkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (BMZ 2000). Derzeit gibt
Deutschland etwa 1,5 Prozent seiner Entwicklungshilfegelder für bevölkerungs-
politische Programme aus, mittlerweile wird mehr als die Hälfte der Gelder über
die bilaterale Entwicklungshilfe vergeben (UNFPA 1998).
2.3 Finanzströme im Bereich bevölkerungspolitischer Aktivitäten
Der gesamte Geldfluss aus den Ländern des Nordens zur Unterstützung bevöl-
kerungspolitischer Aktivitäten in Ländern des Südens beträgt derzeit etwa $US 2
Milliarden und ist damit nominell rund doppelt so hoch wie in den Jahren vor der
Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994. Etwa drei Viertel der Gelder kommen
aus den nationalen Entwicklungshilfebudgets der Geberländer, knapp 3 Prozent
des Geldes kommen aus den Budgets multilateraler Organisationen, etwa 5
Prozent der Gelder stammen aus privaten Quellen (UNFPA 1998). Etwa ein
Fünftel des Geldes sind Kredite von Entwicklungsbanken (im wesentlichen der
Weltbank), die für bevölkerungspolitische Programme zur Verfügung gestellt
werden. Etwa ein Viertel der Gelder wird über multilaterale Organisationen (wie
UNICEF oder WHO) vergeben. Allein über den Bevölkerungsfonds der Verein-
ten Nationen (die UNFPA) werden 1997 $US 284 Millionen verteilt.
In der Finanzierung von Bevölkerungsprogrammen spielten private Gelder
aus den Stiftungsfonds US-amerikanischer Großindustrieller immer eine wichti-
ge Rolle. Auch im letzten Jahrzehnt werden im Schnitt rund $US 100 Millionen
jährlich aus privaten Stiftungsgeldern für bevölkerungspolitische Aktivitäten
bereitgestellt. Die größten privaten Geberorganisationen sind die Ford Founda-
tion, Marie Stopes International, die Rockefeller Foundation, der Population
Council, sowie die MacArthur, die Hewlett und die Mellon Foundation. Der
Großteil der Gelder aus den privaten Stiftungen wird über international tätige
private Organisationen verteilt, die sich auf Aktivitäten im bevölkerungspoliti-
schen Bereich spezialisiert haben: Family Health International, Population Ser-
vices International, Management Sciences for Health, Pathfinder International,
International Planned Parenthood Federation, John Snow Inc., Ford Foundation
(geordnet nach der Höhe der 1996 für Aktivitäten im Bereich von Familienpla-
nung, reproduktiver Gesundheit und Vorsorge gegen sexuell übertragbare
Krankheiten ausgegebenen Gelder; UNFPA 1998).
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2.4 Lobbying für Bevölkerungspolitik
Private Stifterorganisationen und die auf bevölkerungspolitische Aktivitäten
spezialisierten, international tätigen Nichtregierungsorganisationen stecken
nicht nur selbst sehr viel Geld in die Entwicklung und Verbreitung von Verhü-
tungsmethoden, sie betreiben auch massives Lobbying für die Umlenkung
bilateraler und multilateraler Entwicklungshilfegelder. Auch in Österreich sind
derzeit zwei Institutionen aktiv darum bemüht, Fragen des globalen Bevölke-
rungswachstums verstärkt zu thematisieren. Die Österreichische Stiftung für
Weltbevölkerung und Internationale Zusammenarbeit wurde 1998 durch den
deutschen Unternehmer DI Erhard Schreiber gegründet. Nach eigener Definition
hat sich die Stiftung das Ziel gesetzt, ,,Fragen der globalen Bevölkerungsent-
wicklung, der reproduktiven Gesundheit, des weltweiten Ressourcenverbrauchs
und der nachhaltigen Entwicklung in der österreichischen Öffentlichkeit stärker
zu thematisieren.“ (SWI 2001a). Darüber hinaus soll auch der öffentliche Sektor
zu ,,einem stärkeren Engagement bei der Lösung einer der größten Herausfor-
derungen der Zukunft“ bewegt werden. Auch die Österreichische Gesellschaft
für Familienplanung ist darum bemüht, ,,in Österreich das Bewußtsein für den
Bereich der reproduktiven Rechte und Gesundheit und für Familienplanung in
den Ländern des Südens zu heben“ (ÖGF 1999).
Primär der gezielten Informationspolitik der privaten Stiftungen und bevölke-
rungspolitischen Organisationen ist es zu verdanken, dass die ,,Überbevölke-
rung der Erde“ für viele Leute heute eine unumstrittene Tatsache darstellt, die
Bewältigung des rapiden Bevölkerungswachstums als ,,Schlüsselfrage für die
Zukunft der Menschheit“ gilt, die mit allen ,,anderen wichtigen Themen – Um-
weltschutz, Verfügbarkeit von Ressourcen, Verbesserung der Lebensqualität“
aufs engste verknüpft ist und ,,der uneingeschränkte Zugang zu Familienplanung
... den Schlüssel zu einer menschenwürdigen Verlangsamung des Bevölke-
rungswachstums darstellt“ (DSW 2001).
2.5 Selbstfinanzierung von Bevölkerungsprogrammen
Bevölkerungsprogramme werden heute überwiegend von den Ländern im Sü-
den selbst finanziert. Während die Industrieländer nur etwa ein Drittel der auf
der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 gemachten Zusagen zur Finan-
zierung des Aktionsprogramms erfüllen, liegen die Ausgaben der ,,ärmeren
Länder“ für Familienplanung, für Basiseinrichtungen im Bereich reproduktiver
Gesundheit und für STDs/HIV/AIDS-Projekte (STD steht für ,,sexually transmit-
ted deseases“) mit geschätzten $US 8,6 Milliarden (UNFPA 1998) mehr als
viermal so hoch wie die Beiträge der Industrieländer und erreichen in etwa drei
Viertel der in Kairo ,,an Eigenbeitrag der Entwicklungsländer“ vereinbarten
Summe. Allein die Bevölkerungsprogramme in China, Indien, Indonesien, Me-
xiko und im Iran summieren sich 1996 auf $US 5,5 Milliarden. Die bevölkerungs-
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politischen Aktivitäten in den Ländern Asiens und des Pazifiks sind mittlerweile
zu 90 Prozent, jene in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik zu drei Viertel
,,selbstfinanziert“. Über externe Entwicklungshilfe werden derzeit primär die
Programme in Ländern Afrikas südlich der Sahara finanziert (UNFPA 1998; UN
2000).
Insgesamt werden mittlerweile je ein Drittel der Gelder für Bevölkerungspro-
gramme für Aktivitäten im Bereich der Familienplanung und für Einrichtungen
im Bereich der reproduktiven Gesundheit ausgegeben, je etwa ein Sechstel der
Gelder werden für Aktivitäten zur STDs/HIV/AIDS-Vorsorge und für Forschung
verwendet (UNFPA 1998). Die flächendeckende Versorgung mit modernen
Kontrazeptiva ist gerade in den Ländern, die selbst sehr massiv bevölkerungs-
politische Programme finanzieren, weiterhin das zentrale Anliegen. Etwa die
Hälfte der Mittel, die die Länder Asiens 1998 für bevölkerungspolitische Maßnah-
men bereitstellen, fließen explizit in Maßnahmen zu Familienplanung (UN 2000).
3. Historische Einbettung des Modells Familienplanung zur
Lösung des Problems von Überbevölkerung und Armut
,,Überbevölkerung“ gilt heute als eines der großen globalen Probleme und als
zentraler Erklärungsansatz für Armut schlechthin. Mit der Regulierung des
Bevölkerungswachstums über Familienplanung scheint für viele ein umsetz-
barer Lösungsansatz gefunden. Nur – Lösungen für den Prozess der Hintan-
haltung der Armut in Form von versuchten Einflussnahmen auf das Bevölke-
rungswachstum werden schon seit rund zwei Jahrhunderten hindurch prokla-
miert und politisch umgesetzt, ,,verbessert“ haben sie bislang jedoch nur wenig.
Der utopische Glaube an die Regulierbarkeit des ,,Problems“ hält dennoch an
und vor ,,Überbevölkerung“ wird heute wie damals aus je unterschiedlichen
historischen, wirtschaftlichen sowie ,,macht“umgebenden Vorzeichen argumen-
tiert. Im Folgenden wird in Form eines kurzen historischen Abrisses nachge-
zeichnet, in welcher Weise mit Bevölkerungsdruck und Bevölkerungswachstum
bislang umgegangen wurde.
3.1 Auswanderung und/oder Ausweitung des Nahrungsspielraumes:
die räumliche Strategie im Umgang mit Überbevölkerung und
Armut
Armut wird in der vorindustriellen Zeit mit Knappheit an Nahrungsmitteln gleich-
gesetzt. Zuwenig davon zu haben bedeutet den Tod, es sei denn, man zieht es
vor, weiter zu wandern in Gebiete, in denen es mehr Nahrungsmittel gibt.
Migration ist also in der Geschichte eine zentrale Strategie, Überbevölkerung
abzubauen und der Armut in einem begrenzten Lebensraum entgegenzuwirken.
Um der Verarmung durch Lebensmittelknappheit zu entgehen wird darüber
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hinaus der notwendige Nahrungsspielraum ausgeweitet – durch Krieg, Lander-
oberung, Landgewinnung und – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von
besonderer Bedeutung – durch die Intensivierung und Modernisierung der
Landwirtschaft über Grüne Revolution und Gentechnologie.
3.2 Verhungern und Enthaltsamkeit als ,,gottgewollte“
bevölkerungspolitische Strategien
1798 schreibt der englische Theologe Thomas Malthus vor dem historischen
Hintergrund der industriellen Revolution, die auch in England zur Entstehung
eines Industrieproletariats führt, und der französischen Revolution seinen be-
rühmten Essay on the Principle of Population. In diesem Essay macht er die
wachsende Schere zwischen einer exponentiell wachsenden Bevölkerung und
linear wachsenden Nahrungsmittelressourcen für die Armut der Industriearbei-
terInnen verantwortlich. Dem Staat empfiehlt Malthus die Einstellung der Armen-
hilfe, da diese nur die Zahl der Kinder bei den Armen fördere. Durch Hungerka-
tastrophen würde sich Überbevölkerung auf natürlichem Weg regulieren. Den
Armen selbst empfiehlt er sexuelle Enthaltsamkeit. Auch wenn Malthus’ Thesen
noch zu seinen Lebzeiten als widerlegt gelten, werden Abwandlungen davon
immer wieder zur Legitimierung bevölkerungspolitischer Maßnahmen herange-
zogen, insbesondere wenn es um die Einführung von Maßnahmen geht, die
einzelne Gruppen (die Armen) diskriminieren und diese Gruppen selbst für ihre
Probleme (ihre Armut) verantwortlich gemacht werden sollen.
3.3 Genozid – die menschenverachtende Strategie im Umgang mit
vermeintlicher Überbevölkerung und Armut
Im Zweiten Weltkrieg brechen die Deutschen die Begrenzungen in der bevölke-
rungspolitischen Diskussion in doppelter Richtung auf (Heim/Schaz 1996: 39),
indem sie sowohl die Sterbe- als auch die Geburtenrate entsprechend den
ideologischen und politischen Zielen zu beeinflussen suchen. Der Idee der
,,Menschenökonomie“ (Weikert 2001: i.d.H.) folgend werden in der Zeit des
Nationalsozialismus Zwangssterilisationen, Erbgesundheitsberichte, Ehetaug-
lichkeitszeugnisse und ,,Blutschutzgesetze“ eingesetzt, um sowohl dem Gebur-
tenrückgang des deutschen Volkes durch Förderung ,,wertvollen“ Bevölkerungs-
zuwachses als auch der Überbevölkerung (durch den von ,,außen“ hereingetra-
genen Bevölkerungsdruck) durch selektive Fürsorge entgegenzuwirken. Das
bevölkerungspolitische Prinzip intendierte eine optimale Leistungsentfaltung
des Volkes, indem das ,,Bevölkerungspotential“ mit der Verminderung der
Leistungsunfähigen und Leistungswilligen wachse. Bisherige Formeln und Trag-
fähigkeitsberechnungen zur Bekämpfung der Überbevölkerung werden durch
Rückgriff auf geläufige ,,Qualitäts“-Kategorien und rassistische Vorurteile erwei-
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tert (Heim/Schaz 1996: 65). Auch vor dem Mittel des Massenmordes schreckt
man nicht mehr zurück. Möglich wird die Beseitigung des Tabus der Ermordung
der sogenannten ,,Überzähligen“ und ,,unproduktiven Mitesser“ durch die Ver-
knüpfung von Bevölkerungspolitik mit rassistischer Diskriminierung und mit der
Argumentation der potentiellen Verarmung.
3.4 Fertilitätsregulierung als Diristissima aus der Armut in den
Wohlstand?
Ausgehend von den USA verlagert sich die Diskussion um die Überbevölkerung
von der Flüchtlingsproblematik Westeuropas im Verlauf der 50er Jahre hin zur
,,Dritten Welt“, deutlich geprägt vom Kalten Krieg und der Konkurrenz um
Rohstoffe. Überbevölkerung wird von den Demographen vorerst jedoch nicht
primär wegen der Armut, sondern vor allem wegen der unterschiedlichen
Reproduktionsrate zwischen ,,weißen und farbigen Völkern“ als problematisch
bezeichnet (Heim/Schaz 1996: 108). Weltweit agierende Institutionen beginnen
im Verlauf der 50er Jahre, Maßnahmen zur Bekämpfung von Überbevölkerung
zu initiieren und deklarieren diese als Beiträge zum Erhalt des Weltfriedens. In
seinem Buch ,,The Population Bomb“ (1968) spricht der Biologe Paul Ehrlich von
zwei Wahlmöglichkeiten, um die prognostizierte Bevölkerungsexplosion zu ent-
schärfen: eine Lösung über die ,,Geburtenziffern“, sprich durch die mehr oder
weniger zwanghafte Regulierung der Geburtenrate, oder eine Lösung über die
,,Sterbeziffern“, sprich durch Kriege, Hungersnöte und Seuchen (Nuscheler
1996: 216). Geburtenkontrolle, auch wenn sie zwanghaft durchgesetzt werden
muss, scheint da den meisten Leuten doch die ,,ethisch vertretbarere“ Lösung.
Die Beeinflussung der Fertilität durch Familienplanung in Form der Distribution
von Verhütungsmitteln wird aus diesem Grund in der Nachkriegszeit zum
zentralen Ansatzpunkt in der internationalen Bevölkerungspolitik.
Während zu Beginn des Jahrhunderts Migrations- und Siedlungspolitik die
wichtigsten Ansatzpunkte sind, um der ,,Armut durch Überbevölkerung“ zu
begegnen, verändert sich die Situation mit der Erfindung der Massenverhü-
tungsmittel grundlegend. Laut den Aussagen der Bevölkerungslobby erweitert
sich das Spektrum der Eingriffsmöglichkeiten mit der Erfindung von Pille, Spirale
und Hormonimplantaten, aus historischer Perspektive betrachtet, hat es sich
real jedoch deutlich verringert: Internationale Migration ist den Menschen in den
Ländern des Nordens ,,nicht mehr zuzumuten“, Siedlungspolitik würde nur zu
neuen, potentiellen Kriegsherden führen, über Genozid wird offiziell nicht ge-
sprochen ... bleibt die Konzentration auf die Fertilität der Frauen.
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4. Die Inszenierung des Überbevölkerungsdogmas in der
Nachkriegszeit
Bis zum Zweiten Weltkrieg ist auch unter Demographen unumstritten, dass die
Zahl der Kinder, die Menschen haben, primär einmal von der Kultur und den
ökonomischen Umständen abhängt. ,,Sieht man von Nazi-Deutschland ab, so
wären die Bevölkerungspolitiker nicht auf die Idee gekommen, daß man die
Geburtenraten verändert, bevor sich nicht die kulturellen und ökonomischen
Bedingungen ändern.“ (Heim/Schaz 1996: 150) Werden demgegenüber die
Broschüren des Bevölkerungsestablishments betrachtet, so scheint es, als ob
moderne, einfach zu handhabende Kontrazeptiva bzw. ,,ausreichende Angebote
und Wahlmöglichkeiten im Bereich der Empfängnisverhütung“ (SWI 2001b)
jenes zentrale Element darstellen, von dem die Kinderzahlen der in den Ländern
des Südens lebenden Menschen abhängen. Unumstritten und selbstverständ-
lich ist diese Annahme jedoch nicht. Die Menschen in den Industrieländern
vertrauen insgesamt immer wieder mehr ihren ureigenen Erfahrungen und jenen
wissenschaftlichen Untersuchungen die zeigen, dass kulturelle und ökonomi-
sche Rahmenbedingungen noch immer einen deutlich stärkeren Effekt auf
Kinderzahlen haben als der Zugang zu modernen Kontrazeptiva (Nuscheler
1996: 217). Aus diesem Grund kommt es auch immer wieder zum ,,schleichen-
den Rückzug der Industriestaaten aus der Familienplanung“ (DSW 1998). Um
die Menschen in den sogenannten Geberländern zu überzeugen, dass es in
ihrem Interesse ist und in ihrer Verantwortung liegt, die Versorgung der Men-
schen im Trikont mit modernen Verhütungsmitteln sicherzustellen, muss das
,,Überbevölkerungsdogma“ im Verlauf der Nachkriegszeit immer wieder neu
inszeniert werden. Das Bevölkerungsestablishment setzt dabei sehr professio-
nelle Marketingstrategien ein, um den ,,ungedeckten Bedarf an Familienpla-
nung“ (Münz/Plichta 2000: 13) zum globalen Thema zu machen.
4.1 Globalisierung des Problems
Thematisiert wird im Verlauf der Nachkriegszeit nicht mehr die Überbevölkerung
einzelner Regionen oder Länder, sondern jene des ganzen Erdballs. Indem die
Bewältigung des rapiden Weltbevölkerungswachstums zur Schlüsselfrage der
Menschheit erklärt wird, kann auch in jenen Industrieländern, in denen verant-
wortliche Politiker immer wieder über zu geringe Kinderzahlen klagen, Betrof-
fenheit und indirekte Mitverantwortung erzeugt werden. Sprich: Um der Überbe-
völkerung der Erde und aller damit verbundenen Probleme, die auch die
Menschen in den Industrieländern treffen könnten, Herr zu werden, müssen
diese bereit sein, den Millionen von Frauen zu helfen, die ihre ,,Fruchtbarkeit
kontrollieren wollen“ (SWI 2001b).
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4.2 Abschiebung der Hauptverantwortung
Indem das Weltbevölkerungswachstum zum zentralen Schlüssel für die Lösung
so ziemlich aller globalen Probleme erklärt wird, können sich die Menschen in
den Industrieländern entspannt zurücklehnen und müssen ihr Handeln, sprich
ihren Lebensstil, nicht umstellen. Verantwortlich für die globalen Probleme sind
ja die Armen, die Menschen in den Entwicklungsländern, die Frauen, die zu viele
Kinder kriegen, sprich soziale Gruppen, die sich mit selbstbestimmtem und
verantwortungsbewusstem Handeln angeblich schwer tun. Wie die Liste der
Gründungsväter des Bevölkerungsestablishments (vgl. Aufhauser: i.d.H.) recht
gut zeigt, fühlen sich die reichen Männer in den Industrieländern immer wieder
berufen, die armen Frauen in den Entwicklungsländern ,,Auf dem langen Weg
zur Zwei-Kinder-Familie“ (Münz/Plichta 2000: 10) zu begleiten.
4.3 Dramatisierung des Problems
Wird von Weltbevölkerung gesprochen, so ist immer gleich von Milliarden von
Menschen die Rede, sprich es wird mit Zahlen hantiert, über die es leicht ist,
das Bild einer Menschenmasse zu transportieren, die exponentiell wachsend
,,wie eine Lawine“ auf uns zurollt. Um die Gefahr zu verdeutlichen, ticken auf
allen Homepages der großen Bevölkerungsorganisationen – als modernisierte
Variante des in den 50er und 60er Jahren propagierten Bildes von der ,,Bevöl-
kerungsbombe“ – Weltbevölkerungsuhren, die angeben, wieviele Menschen ,,in
dieser Minute“ gerade auf dem Planeten Erde leben. Der 12. Oktober 1999 wird
vom internationalen Bevölkerungsestablishment zum Tag der ,,6 Milliarden“
erklärt, weniger jedoch um miteinander zu feiern, als einen medialen Anknüp-
fungspunkt zu haben, über den verdeutlicht werden kann, dass die ,,Zeit für
Entscheidungen“ (UNFPA 1999) gekommen ist. Sinn der Dramatik, die über die
Zahlen und sprachlichen Bilder immer wieder vermittelt wird, ist es, die Men-
schen im Norden davon zu überzeugen, dass sie weiter auf Geburtenkontrolle
in den Ländern des Südens pochen müssen, da die Welt nicht darauf warten
kann, bis der sozio-ökonomische Wandel zu einem Rückgang der Kinderzahlen
führt. Denn: schon ,,Die sechste Milliarde“ (Leisinger 2000) gefährdet die nach-
haltige globale Entwicklung.
4.4 Glaube an die Machbarkeit
Die Bevölkerungslobby, die in den 60er Jahren Themen wie Verhütung und
Familienplanung in den außenpolitischen Diskurs der USA einbrachte, besteht
aus Industriellen, Wissenschaftlern und Generälen, die von der rational planba-
ren Gestaltbarkeit der Welt überzeugt sind. Sie sahen ,,nahezu alle Probleme,
einschließlich der Geburtenregulierung unter der ländlichen Armutsbevölkerung
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der Dritten Welt, lediglich als technische oder administrative Aufgabe“ (Donald-
son 1990). Die technische Lösung des Problems Familienplanung besteht nach
Ansicht der Bevölkerungslobby und der hinter ihr stehenden Arzneimittel-
industrie auch heute noch in der fortwährenden Weiterentwicklung moderner,
für Frauen in den Entwicklungsländern einfach handhabbarer, möglichst lang-
fristig wirkender und der kurzfristigen Selbstkontrolle der Frauen entzogener
Kontrazeptiva. Die administrativen Lösungen zur Durchsetzung effizienter Familien-
planung bei den ,,Armen der Dritten Welt“ sind weniger eindeutig und auch immer
stärker umstritten. Die Experimente reichen vom einfachen Verteilen von Kon-
trazeptiva bis zur Zwangssterilisation, von der lokalen Hebamme, die von Haus
zu Haus geht und für jede Frau, die sie zum Einsetzen der Spirale überreden
kann, belohnt wird, bis zur Bindung von Kreditvergaben der Weltbank an
nationale Bevölkerungskampagnen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die starke Orientierung am
Effizienzdenken es dem Bevölkerungsestablishment immer wieder erleichtert,
die Argumentation pro Familienplanung und den Grundtypus ihrer Projekte an
den gesamtgesellschaftlichen und entwicklungspolitischen Normenwandel an-
zupassen. So zählen etwa die privaten Organisationen, die sich im Bereich der
Bevölkerungspolitik engagieren, zu den ersten in der Entwicklungszusammen-
arbeit, die erkennen, dass die Effizienz ihrer Maßnahmen sehr stark von der
Zusammenarbeit mit den Frauen abhängt – und diese Erkenntnis auch in ihren
Projekten umsetzen. Im Zuge des Nachfolgeprozesses zur Weltbevölkerungs-
konferenz in Kairo 1994 kommt es zu einem besonders auffälligen ,,Facelifting“
(Wichterich 1995: 111). Fast alle großen Organisationen haben den Begriff
,,Familienplanung“ mittlerweile aus ihren Selbstdarstellungen gestrichen und
durch Begriffe aus dem Bereich der ,,reproduktiven Gesundheit“ ersetzt.
4.5 Wissenschaftliche Untermauerung der Ideologie
Um eine anerkannte Basis für bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen
zu schaffen, wird von den großen privaten Lobbyisten für Bevölkerungspolitik
seit Anfang der 50er Jahre der Population Council finanziert. Zu den Gründungs-
mitgliedern zählen die Rockefeller Foundation, die Ford Foundation, die Carne-
gie Stiftung, der Commonwealth and Community Found, der Mott Trust, die
Mellons-Gruppe und Lewis Strauss. Er widmet sich primär der wissenschaftli-
chen Erforschung der Bevölkerungsentwicklung in den Ländern des Südens und
der Entwicklung von neuen hormonellen Kontrazeptiva und ist bis heute einer
der größten privaten Träger von Bevölkerungsprogrammen. Das wissenschaft-
liche Ansehen des Population Council hat viel dazu beigetragen, die ,,Bevölke-
rungskontrollprogramme“ (Kozuch 1999: 139) in einflussreichen Schichten der
USA zu legitimieren.
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4.6 Weben eines engen internationalen Lobbying-Netzes
Internationale Vernetzung ist von Beginn an von zentraler Bedeutung dafür, dass
Familienplanung zu einem ,,globalen Anliegen“ wird. So ging etwa die 1952
gegründete International Planned Parenthood Federation (IPPF) aus einem
Zusammenschluss der Planned Parenthood Federation of America mit achtzig
anderen Organisationen weltweit hervor.
Die finanzielle und personelle Vernetzung der Institutionen der Bevölke-
rungslobby ist auch über die verschiedenen Trägerorganisationen hinweg
enorm hoch und lässt sich heute am besten anhand der wechselseitigen
Verweise zu den ,,Kooperationspartnern“ auf den Homepages der Organisatio-
nen studieren. Heim und Schaz (1996: 153) sprechen von einem ,,personalpo-
litischen Drehtürsystem“, in dem die Macher und Experten ständig zwischen
Stiftungen, wissenschaftlichen Einrichtungen und staatlichen oder UN-Institutio-
nen wechseln. Nur diese enge personalpolitische Vernetzung und das dadurch
mögliche intensive Lobbying erklärt zum Beispiel, wieso es 1969 zur Gründung
eines eigenes Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen kommt, obwohl in den
ersten Nachkriegsjahrzehnten ein heftiger Streit in der internationalen Organi-
sation tobt, ob hohes Bevölkerungswachstum die Entwicklung überhaupt behin-
dere oder nicht doch eher fördere, und die meisten Gremien auch Ende der 60er
Jahre mehrheitlich (noch) eine Einmischung in Bevölkerungsangelegenheiten
ablehnen (Heim/Schaz 1996: 162ff).
Gut lässt sich die Effizienz der Vernetzung auch am Beispiel des Lobbying
für eine feministische Bevölkerungspolitik im Umfeld der Bevölkerungskonfe-
renz von Kairo nachzeichnen.
4.7 Einbindung von einheimischen ExpertInnen und NRO’s
Frank Notestein, Leiter des ersten großen demographischen Forschungsinsti-
tuts an der Princeton University, Vorstandsmitglied im Population Council und
erster Chef der 1946 neugegründeten Bevölkerungsabteilung des UN-Sekreta-
riats, erkennt schon früh, dass westliche Experten nur geringe Chancen haben,
die öffentliche Meinung in den Ländern der Dritten Welt zu beeinflussen
(Heim/Schaz 1996: 152f). Von der Bevölkerungslobby wird daher die einschlä-
gige Ausbildung des akademischen Nachwuchses aus den Entwicklungslän-
dern in Demographie, Statistik und Familiensoziologie an den renommierten
Universitäten der USA sowie der Aufbau von Zentren für Demographie in den
Ländern des Südens massiv finanziell unterstützt. Bereits ab den frühen 70er
Jahren werden Nichtregierungsorganisationen ,,vor Ort“ in die Projektarbeit
integriert, um den Programmen ein stärkeres Image von Basisnähe, Fortschritt
und Persönlichkeitsentfaltung zu verleihen. Die doch recht großen ,,Geldströme,
die sich an einem Strom entlang bewegen, der ,Bevölkerung‘ heißt“ (Dunlop, zit.
nach Heim/Schaz 1994: 148) haben so auch dazu geführt, dass nicht wenige
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der Feministinnen und/oder ihre Organisationen in Nord und Süd, die der
etablierten Bevölkerungspolitik grundsätzlich immer sehr skeptisch gegenüber-
standen, bereits Anfang der 90er Jahre von den Geldern des bevölkerungspo-
litischen Establishments abhängig sind (Kozuch 1999: 39).
4.8 Weltbevölkerungskonferenzen
Die Weltbevölkerungskonferenzen sind für die Bevölkerungslobby extrem wich-
tig um den Diskurs zu Überbevölkerung und Familienplanung auf internationaler
Ebene in Gang zu halten. Schon die Abhaltung einer ersten Konferenz unter
Regie der UNO in Rom 1954 ist als Erfolg der Lobby zu werten, da zu einem
Zeitpunkt eine heftige Kontroverse zwischen den US-amerikanischen Demogra-
phen und ihren Widersachern aus den sozialistischen (und katholischen) Län-
dern um die Frage tobte, ob das Bevölkerungswachstum überhaupt ein Problem
darstelle. Bis zur Weltbevölkerungskonferenz in Belgrad 1965 ist dann zumin-
dest die US-Regierung von der Notwendigkeit überzeugt, dass Familienplanung
in den Ländern der Dritten Welt zu unterstützen ist, und das Ereignis wird primär
dazu genutzt, auch den ,,Ostblock“ in die Verantwortung zu nehmen. Auf der
Bevölkerungskonferenz in Bukarest 1974, der ersten die explizit von den Ver-
einten Nationen und nicht von Bevölkerungsorganisationen ausgerichtet wird,
äußern die Länder des Südens noch einmal laut ihre Skepsis und Ablehnung
gegenüber einer von der internationalen Staatengemeinschaft geförderten Be-
völkerungspolitik. Mit der Gründung des Bevölkerungsfonds der Vereinten Na-
tionen (UNFPA) im Jahr 1969 ist die internationale Flagge für Familienplanungs-
programme real bereits gesichert.
Auf der Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko 1984 wird auch von den
Ländern des Südens nicht mehr angezweifelt, dass eine Reduzierung des
demographischen Wachstums unumgänglich ist, um Armut hintanzuhalten und
politische Stabilität zu sichern. Ab diesem Zeitpunkt werden Familienplanungs-
programme von den Schlüsselländern im Süden auch großteils selbst national
finanziert. Auf der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 kommt es unter
Bezugnahme auf die Konzepte ,,Sicherung der reproduktiven Rechte“, ,,Bereit-
stellung von Angeboten zur Sicherung der reproduktiven Gesundheit“, und
,,Einbettung der Projekte in einen breit angelegten Ansatz, der dem Empower-
ment der Frauen verpflichtet ist“, zum Konsens mit einem Teil jener Feministin-
nen, die die Praxis der Bevölkerungspolitik lange Zeit massiv kritisierten.
4.9 ,,Menschenrechtliche“ Rahmung der bevölkerungspolitischen
Aktivitäten
Bereits Ende der 60er Jahre initiiert John D. Rockefeller III, dass die ,,freie und
verantwortliche Entscheidung der Paare über Zahl und Abstand ihrer Kinder“
58 Elisabeth Aufhauser und Rosa Diketmüller JEP, Jg. XVII
auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Teheran zu einem Menschenrecht
erklärt wird (Heim/Schaz 1996: 169). Das ,,Menschenrecht auf Familienplanung“
spielt seither immer eine wichtige Rolle bei der Legitimierung bevölkerungspo-
litischer Programme. Im Abschlussdokument von Kairo 1994 setzt sich die
Menschenrechtsrhethorik gemischt mit einer feministischen Rhetorik dann voll
durch. An die Stelle des Menschenrechtes auf Familienplanung treten das
,,Menschenrecht auf reproduktive Gesundheit“ und das ,,Menschenrecht auf
Wahlmöglichkeit“.
5. ,,Hohes Bevölkerungswachsum und Armut sind eng
miteinander verknüpft und bilden einen Teufelskreis“
Argumentationen des Bevölkerungsestablishments pro
Familienplanung
Während viele Bevölkerungsökonomen auch heute noch mit Adam Smith der
Meinung sind, dass die Zahl der – jungen, gut gebildeten – Menschen in einem
Land jenen ,,Wohlstand der Nationen“ ausmacht, auf dem eine dynamische
Entwicklungspolitik aufbauen kann und soll, etwa weil die Nachfrage stimuliert
wird, die Vorteile der Massenproduktion besser genutzt werden können, techni-
scher Fortschritt angeregt wird, die Anreize für die Schaffung von Infrastruktur
erhöht werden und sich die Bildungsstruktur der Arbeitskräfte insgesamt durch
die Verjüngung verbessert (vgl. zusammenfassend inklusive Gegenargumenten
Leisinger 2000: 88ff), ist ein hohes Bevölkerungswachstum in den Augen der
meisten DemographInnen etwas, das den Ländern des Südens unweigerlich
Armut und Verarmung beschert.
Im Verlauf der letzten 50 Jahre ändert sich die Grundargumentation im
Diskurs des Bevölkerungsestablishments nicht: Maßnahmen im Bereich der
Familienplanung werden mit dem Verweis darauf gerechtfertigt, dass weniger
Kinder in den Entwicklungsländern und/oder bei Armen in der eigenen Bevölke-
rung der (einzig/e) richtige Weg aus der Verarmung sind. Gewandelt haben sich
im Verlauf der Zeit jedoch jene Argumente, über die ,,den Armen“ die Familien-
planung als Weg aus der Verarmung plausibel gemacht wird.
5.1 Viele Kinder bringen Armut, weil die Nahrungsmittel knapp werden
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts warnte Thomas Malthus davor, dass die
steigende Zahl von Menschen bald nicht mehr ernährt werden könne. Bislang
ist Malthus’ Prognose nicht eingetreten. Die weltweite Nahrungsmittelproduktion
ist in den letzten Jahrzehnten aufgrund von Mechanisierung, Modernisierung
und Intensivierung der Landwirtschaft und Flächenausweitungen für die Nah-
rungsproduktion immer in stärkerem Maße gestiegen, als die Bevölkerung
1/2001 Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungspolitik Wohlstand? 59
wuchs. Die verheerendsten Hungersnöte der letzten Jahre und Jahrzehnte und
die steigende Unterernährung in verschiedenen Ländern des Südens sind auf
alle Fälle nicht auf eine, im Vergleich zur Bevölkerungsentwicklung, weltweit zu
geringe Nahrungsmittelerzeugung zurückzuführen, sondern primär einmal auf
wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, Kriege, ökologische Krisen und die von
Weltbank und Internationalem Währungsfonds geforderte Strukturanpassungs-
politik in vielen Ländern. Aus diesem Grund ist es heute insgesamt typischer,
den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Verarmung auf-
grund von Nahrungsmittelknappheit über den Umweg des ,,ökologischen Nie-
dergangs“ (Leisinger 2000: 178) herzustellen. ,,Das Bevölkerungsproblem ist
zwar nicht in erster Linie ein Ernährungsproblem, dennoch wächst die Zahl der
Staaten, die sich nicht mehr aus eigener Kraft ernähren können, weil der
Bevölkerungsdruck zu einer Verknappung und Überstrapazierung der Böden
führt. Die Steigerung der Produktivität auf den bereits genutzten Flächen ver-
langt einen höheren Kapitaleinsatz, der gerade die ärmsten Länder mit den
größten Nahrungsdefiziten überfordert.“ (Nuscheler 1996: 211)
5.2 Viele Kinder bringen Armut, weil der gesellschaftliche
Modernisierungsprozess mit einer schnell wachsenden
Bevölkerung nicht Schritt halten kann
In den ersten Nachkriegsjahren wird von den EntwicklungspolitikerInnen argu-
mentiert, dass ein Rückgang des Bevölkerungswachstums Kapital für produktive
Investitionen freisetze, das andernfalls konsumiert werden würde. Die Unterstüt-
zung familienplanerischer Maßnahmen in den Ländern des Südens stellt dann
insofern eine effiziente Form der Entwicklungshilfe dar, als mehr nationale
Geldmittel für die ,,nachholende“ (industrielle) Modernisierung zur Verfügung
stehen, wenn die Geburtenzahlen sinken. Heute dominiert das Argument, dass
die einzelnen Staaten überfordert sind, die im und für den Modernisierungspro-
zess notwendige soziale und verkehrstechnische Infrastruktur in ausreichender
Schnelligkeit bereitzustellen, wenn die Bevölkerung zu schnell wächst. Es findet
sich auch an prominenter Stelle im Abschlussdokument der Weltbevölkerungs-
konferenz von Kairo 1994 (Kapitel 3.15). Wichtig ist, dass sich mit dieser
Argumentationslinie auch bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahmen als ,,im
Sinne des Gemeinwohls notwendige Maßnahmen“ rechtfertigen lassen.
5.3 Wenige Kinder bringen Wohlstand, weil sich die individuellen
Chancen auf Partizipation am Modernisierungsprozess und die
daraus resultierenden Wohlstandsgewinne vergrößern
Da sich bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahmen immer schwerer verkaufen
lassen, muss den Paaren in den Entwicklungsländern, die zur Verwendung
60 Elisabeth Aufhauser und Rosa Diketmüller JEP, Jg. XVII
moderne Kontrazeptiva angehalten werden sollen, der persönliche Nutzen, den
sie aus Familienplanung ziehen, nahegebracht werden. Vor allem die nationalen
Bevölkerungsprogramme in den Schwellenländern sind darauf ausgerichtet,
den jungen Paaren deutlich zu machen, dass die Beschränkung der Kinderzahl
der beste Weg ist, an jenem gesellschaftlichen Wohlstand zu partizipieren, der
durch den Modernisierungsprozeß in Gang gesetzt wird. Argumentiert wird, dass
sie als Eltern ein oder zwei Kind finanziell und ideell besser fördern können.
Dadurch erhöhen sie deren berufliche Startschancen – und indirekt ihre eigenen
Chancen auf Absicherung im Alter.
Die Werbekapagnen, die auf diese Weise für eine bewusste Beschränkung
der Kinderzahl werben, haben einen gravierenden Nebeneffekt: Da Buben in
den meisten Ländern eine deutlich bessere Aussicht auf Wahrnehmung der
Chancen haben, die die Modernisierung bietet, kommt es zu massiven Abtrei-
bungen weiblicher Föten sowie zur Vernachlässigung neugeborener Mädchen.
Heute ,,fehlen“ in den Ländern des Südens fast hundert Millionen Frauen
(Leisinger 2000: 63). Der Bubenüberhang ist vor allem in Ländern wie China
und Indien mittlerweile unübersehbar.
5.4 Viele Kinder bringen Armut, weil sie die Unterdrückung der Frauen
fördern
Anfang der 70er Jahre wird klar, dass das Marketing der Familienplanung
zumindest die Männer in den Entwicklungsländern nicht wirklich zu Veränderun-
gen in ihrem sexuellen Verhalten und Kinderwunsch veranlasst. Die Mütter sind
für Argumentationen, die das Wohl der Kinder betreffen, deutlich empfänglicher.
Um die Effizienz der Programme zu erhöhen, wird das Marketing der modernen
Kontrazeptiva zunehmend auf Frauen ausgerichtet. Aufgriffen wird dazu auch
eine alte Argumentationslinie der Feministinnen: Weniger Kinder wirken sich
nicht nur positiv auf die Gesundheit der Frauen aus, sie erhöhen auch ihre
Erwerbsfähigkeit, ihre Chancen auf soziale und räumliche Mobilität und ihre
politischen und sozialen Partizipationsmöglichkeiten, sprich geringere Kinder-
zahlen sind im Regelfall Voraussetzung für die Emanzipation der Frauen.
Von vielen Feministinnen wird diese Argumentationslinie heftig kritisiert –
obwohl, oder gerade weil sie auf alte Forderungen und Argumente der westli-
chen Frauenbewegung Bezug nimmt. Zu kritisieren ist vor allem, dass basierend
auf dieser Argumentation immer mehr Lebensbereiche von Frauen bevölke-
rungspolitischen Zielen unterworfen werden. Darüber hinaus stimmt die
Grundargumentation nicht einmal. Zu beobachten ist, dass gerade unter den
,,modernisierten“ patriarchalen Verhältnissen in den Entwicklungsländern die
Zahl der Kinder zunehmend wieder den Wert einer Frau bestimmt (Mertens
i.d.H.). Für das ,,Empowerment“ der Frauen sind nicht primär Investitionen in
Gesundheitseinrichtungen, die Kontrazeptiva anbieten, notwendig, erforderlich
ist vielmehr die Unterstützung und Durchsetzung von Maßnahmen, die die
1/2001 Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungspolitik Wohlstand? 61
soziale Stellung der Frauen insgesamt absichern und unabhängiger von der Zahl
der Kinder machen, die sie geboren hat: sprich die Sicherung der Subsistenz,
die Ermöglichung einkommensschaffender Aktivitäten, die Sicherung des Zu-
ganges zu Wasser, die Sicherung einer allgemeinen und nicht nur einer einseitig
auf die Reproduktion ausgerichteten Gesundheitsvorsorge. ,,Es ist zynisch, auf
den Wunsch von Frauen nach Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung mit
Bevölkerungspolitik zu reagieren.“ (Kritik der Schweizer Frauengruppe Antigena
auf die Erklärung Women’s Voices, vgl. Kozuch 1999, 92ff.)
5.5 Viele Kinder führen in die Verarmung, weil es zur Übernutzung der
(natürlichen) Ressourcen kommt
In den letzten Jahren nimmt die ökologische Argumentation, dass es durch die
rapid wachsende Weltbevölkerung zu einer immer spürbareren Übernutzung der
natürlichen Ressourcen der Erde kommt, in den Darstellungen des Bevölke-
rungsestablishments, insbesondere jenen im deutschsprachigen Raum, zuneh-
mend Platz ein.
Die Argumentation, die sich um den Zusammenhang von Bevölkerungsdy-
namik, ökologischer Dynamik und Verarmungsdynamik rankt, verläuft dabei
grundsätzlich auf zwei Schienen: Wenn über oder für die Entwicklungsländer
gesprochen wird, so wird argumentiert, dass Bevölkerungskontrolle notwendig
ist, um Hungerkatastrophen zu vermeiden, die durch eine Übernutzung der
Böden und sonstigen natürlichen Ressourcen ausgelöst werden. Wenn die
Bevölkerung in den Ländern des Nordens angesprochen ist, die Geldmittel für
die Finanzierung bevölkerungspolitischer Maßnahmen bereitstellen soll, dann
wird damit argumentiert, dass die Weltsicherheit in Gefahr ist, weil die ökologi-
schen Katastrophen zu kaum mehr kontrollierbaren Flüchtlingsströmen und
Kriegen führen. Aus einer derartigen Perspektive tragen die Frauen die Verant-
wortung für Kriege und Genozid und die Kontrolle ihrer Fertilität wird zum
Eckpfeiler für die globale Sicherheit (Hartmann 1999: 12).
Selten bis gar nicht thematisiert wird in den Darstellungen des Bevölke-
rungsestablishments der echte Beitrag der Industrieländer zur ökologischen
Übernutzung der Erde. Unerwähnt bleibt in den Darstellungen des Bevölke-
rungsestablishments im allgemeinen auch jener Beitrag, den die Industrieländer
über ihre Verantwortlichkeit für sinkende Terms of Trade, von der Weltbank
verordnete Strukturanpassungsprogramme, Exportrinderhaltung, Forcierung
des Exportblumenanbaus u.ä.m. zur ökologischen Krise gerade in jenen Län-
dern Schwarzafrikas ,,leisten“, die heute den Schwerpunkt der internationalen
bevölkerungspolitischen Aktivitäten darstellen.
62 Elisabeth Aufhauser und Rosa Diketmüller JEP, Jg. XVII
5.6 Viele Kinder führen in die Armut, weil sie die Gesundheit der Frauen
beeinträchtigen
In den letzten Jahren wird für die Unterstützung von Familienplanungsmaßnah-
men zunehmend damit geworben, dass diese Leben rettet. Auch von den
Frauenorganisationen im Süden wird diese Argumentationslinie gerne genutzt,
um den Menschen in den Industrieländern den ,,persönlichen moralischen
Nutzen“, den sie aus einem Engagement im bevölkerungspolitischen Bereich
ziehen können, nahezubringen. Insgesamt wird argumentiert, dass der Zugang
zu Verhütungsmitteln, Schwangerenvorsorge, Geburtshilfe und Informationen
zum Schutz vor HIV/AIDS ungewollte Schwangerschaften verhindert, Frauen
vor dem Tod in Zusammenhang mit unsachgemäßen Abtreibungen und bei der
Geburt rettet, und die Überlebenswahrscheinlichkeit der Kinder aufgrund von
größeren Geburtenabständen erhöht.
Um die Verbindung zur Verarmung herzustellen: Da Frauen weltweit die
Haupternährerinnen ihrer Familien sind, hängt das Wohl der Menschen, insbe-
sondere jenes der Kinder, tatsächlich massiv vom Erhalt der Gesundheit der
Frauen ab – und viele Frauen in den Ländern der Dritten Welt sind ausgelaugt.
Aus feministischer Sicht ist vor allem zu kritisieren, dass sich die Hilfe der
Industrieländer primär darauf konzentriert, die Frauen aus einem möglichen Tod
durch Schwangerschaft und Geburt zu retten, anstatt Rahmenbedingungen für
eine bessere Ernährung zu schaffen. Der Anstieg der Sterblichkeit von Frauen,
der in Ländern wie Indien, den Philippinen oder Südkorea derzeit zu beobachten
ist, ist weniger auf Kindesgeburten zurückzuführen, als auf die mit den Struktu-
ranpassungsprogrammen verbundenen Effekte wie das Zurückschrauben der
Sozialausgaben, die gestiegene Arbeitsbelastung von Frauen, ihre zunehmen-
de Verarmung und die darauf basierende Unterernährung, die hohen Kosten für
Gesundheitsvorsorge, den Anstieg von Infektionskrankheiten, die Arbeitsbedin-
gungen in der Exportzonen- und Sexindustrie, Selbstmedikation und die hohen
Kosten für die Medikamente nach der internationalen Marktliberalisierung.
6. Für einen Armuts- und Entwicklungsdiskurs abseits von
Bevölkerungspolitik
Darüber, dass die Armut in vielen Ländern der Erde noch lange nicht ,,bekämpft“
ist, herrscht im entwicklungspolitischen Diskurs relativer Konsens. Stärker um-
stritten ist, ob, inwiefern und in welchem Ausmaß Armut und Verarmungspro-
zesse damit zu tun haben, dass die Frauen in den Ländern des Südens ,,zu viele
Kinder“ gebären und ob, inwiefern und auf welche Weise eine Bevölkerungspo-
litik, die sich auf Maßnahmen im Bereich der Familienplanung konzentriert,
geeignet ist, die Armut der Armen tatsächlich zu reduzieren und Verarmungs-
prozesse zu stoppen.
1/2001 Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungspolitik Wohlstand? 63
Eine kleine aber relativ finanzstarke Gruppe aus Großindustriellen und
BevölkerungswissenschafterInnen, im Artikel auch als Bevölkerungslobby be-
zeichnet, schafft es im Verlauf der Nachkriegszeit immer wieder, die Armut in
den Ländern des Südens direkt mit der Dynamik des Bevölkerungswachstums
in Verbindung zu bringen und die Dringlichkeit von familienplanerischen Maß-
nahmen zur Reduzierung des ,,Weltbevölkerungsproblems“ auf internationaler
Ebene zu thematisieren. Treibende Kräfte hinter dem finanziellen und ideellen
Einsatz pro Familienplanung sind ein aufklärerischer Glaube an die geplante
Machbarkeit der Welt, Freude an einer Betrachtung der Welt und ihrer Probleme
aus statistischer Perspektive, handfeste unternehmerische Interessen der Arz-
neimittelindustrie und die Sicherung des machtpolitischen Gleichgewichts auf
der Welt für die Länder des Nordens.
Rund um die Bevölkerungslobby und ihre finanzielle und autoritative Basis,
die sich in Stiftungen wie z.B. der Rockefeller Foundation und in Organisationen
wie z.B. dem Population Council sammelt, etabliert sich im Verlauf der Nach-
kriegszeit eine Reihe an nationalen und internationalen Organisationen, die
primär im Bereich familienplanerischer Aktivitäten tätig sind. Zum sogenann-
ten Bevölkerungsestablishment zählen unter anderen der Bevölkerungs-
fonds der Vereinten Nationen (UNFPA), eigene Abteilungen für Bevölke-
rungspolitik in internationalen Organisationen wie der UNICEF, der WHO
oder der Weltbank, international tätige Nichtregierungsorganisationen wie
z.B. Family Health International oder die International Planned Parenthood
Federation. Die grundlegende ,,Mission“ der Einrichtungen hat sich im Laufe
der letzten Jahrzehnte nicht geändert. Um die Finanzierung und die Aktzep-
tanz der Maßnahmen sicherzustellen, wird die ,,Verpackung“ der finanzierten
Projekte jedoch sehr gezielt an die Punktuationen der Weltbevölkerungskonfe-
renzen angepasst.
Die offzielle Entwicklungszusammenarbeit zwischen den Ländern des Nor-
dens und des Südens konzentriert sich, gemessen an der medialen Bedeutung,
die dem Phänomen ,,Überbevölkerung“ beigemessen wird, in erstaunlich gerin-
gem Ausmaß tatsächlich auf Bevölkerungspolitik. In der entwicklungspolitischen
Szene werden die Katastrophenbilder, die von der Bevölkerungslobby gezeich-
net werden, ebenso abgelehnt wie die Forcierung familienplanerischer Maßnah-
men: Weil die Bilder, die gezeichnet werden, das weltweite Problem ,,überzeich-
nen“, weil sie die Menschen im Süden nicht zu Partnern machen, weil andere
Phänomene ursächlicher für die Verarmung sind, weil die Zahl der Kinder nicht
primär durch Angebote im Bereich der Familienplanung, sondern am ehesten
durch soziale und ökonomische Absicherung gesenkt wird, weil moderne Kon-
trazeptiva nicht Hauptbestandteil sondern nur ergänzendes Angebot in Entwick-
lungsprojekten darstellen können. ,,Bevölkerungsprobleme“ in den Ländern des
Südens werden in der Entwicklungszusammenarbeit und der zugehörigen wis-
senschaftlichen Literatur primär aus der Perspektive thematisiert, dass eine zu
große Bevölkerungsdynamik die Lösung anderer Probleme wie etwa die ökolo-
gische Übernutzung erschwert.
64 Elisabeth Aufhauser und Rosa Diketmüller JEP, Jg. XVII
Bevölkerungspolitik in Form von Familienplanung lässt sich den Menschen
in den Industrieländern des Nordens recht gut als sinnvolle und großzügige Form
der Entwicklungshilfepolitik verkaufen. Wenn die vielen Kinder für die Armut der
Menschen in den Ländern des Südens verantwortlich gemacht werden und nicht
die ungerechten Verteilungswirkungen der Weltökonomie, so liegt die Verant-
wortung für die Verarmung bei den Armen selbst. Bevölkerungspolitik in Form
von Projekten, die eine moderne Familienplanung propagieren, wird heute von
den Regierungsverantwortlichen in den Ländern im Süden selbst am beharrlich-
sten verfolgt und finanziert. Bevölkerungslobby und der Druck der großen
internationalen Finanzorganisationen haben dafür gesorgt, dass die ,,Reduzie-
rung der hohen Geburtenzahlen“ heute offizielles Ziel der Politik in vielen
Ländern des Südens darstellt.
Feministinnen zählen jahrzehntelang zu den größten Kritikerinnen der inter-
nationalen Bevölkerungspolitik. Ein Teil der stärker institutionalisierten Frauen
arrangiert sich auf der Konferenz in Kairo 1994 mit dem Grundanliegen des
internationalen Bevölkerungsestablishment (der Reduzierung der Zahl der Ge-
burten) und dessen Geld und setzt mittels gekonntem Lobbying durch, dass
Bevölkerungspolitik heute tatsächlich immer weniger unter dem Schlagwort
,,Familienplanung“ und immer häufiger unter jenem der ,,reproduktiven Gesund-
heit“ betrieben wird.
Dieser Artikel folgt der Überzeugung, dass ,,Überbevölkerung“ als Hauptur-
sache von Verarmung von der Bevölkerungslobby immer wieder diskursiv
hergestellt wird. Aus feministischer Perspektive schließen wir uns der Kritik der
Schweizer Frauengruppe Antigena an, die auch die Art der Feminisierung von
Bevölkerungspolitik, wie sie seit Kairo erfolgt, ablehnt. Unter anderem weil (vgl.
die Dokumentation in Kozuch 1999: 92ff)
Bevölkerungspolitik immer darauf ausgerichtet ist ,,überflüssige Arme“ abzu-
schaffen anstatt für eine gerechtere Verteilung des Reichtums zu sorgen;
Bevölkerungspolitik immer gegen Frauen gerichtet ist, weil, wer die Anzahl
der Menschen reduzieren will, die Gebärfähigkeit der Frauen kontrollieren
muss;
die Integration von Bevölkerungspolitik in Entwicklungspolitik immer auf eine
Instrumentalisierung von Entwicklung für bevölkerungspolitische Zwecke
hinausläuft;
eine Bevölkerungspolitik, die reale Herrschaftsverhältnisse umgeht, nie ethi-
schen Postulaten genügen kann;
das Recht auf ein Leben in Würde, welches die sexuelle Integrität, eine
geachtete soziale Stellung und eine gesicherte ökonomische Basis beinhal-
tet, ein Grundrecht an sich und nicht mit Bevölkerungspolitik zu verknüpfen
ist;
Frauen ein funktionierendes Basisgesundheitswesen brauchen und die For-
derung nach einem speziell ihre Reproduktionsfähigkeit betreffenden Ge-
sundheitssystem nur aus einem bevölkerungspolitischen Kontext einsichtig
ist.
1/2001 Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungspolitik Wohlstand? 65
Abstracts
Argumentation in this paper is based on the assumption that ,,the fact that
overpopulation is the main cause for poverty and pauperization in the south“ is
reproduced continually in a discursive way. It is shown which financial
ressources, strategies and lines of argumentation are being used by the
international population lobby to impress upon people that family planning is the
best way to deal with global poverty.
Im Artikel wird davon ausgegangen, dass ,,Überbevölkerung“ als Hauptursache
von Verarmung in den Ländern des Südens immer wieder diskursiv hergestellt
wird. Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, mit welchen Geldmitteln, mit welchen
Strategien und mit welchen Argumenten es der internationalen Bevölkerungs-
lobby gelingt, in unseren Köpfen zu verankern, dass der Armut weltweit am
besten mit Familienplanung zu begegnen ist.
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e-mail: rosa.diketmueller@univie.ac.at
1/2001 Überbevölkerung Macht Armut – schafft Bevölkerungspolitik Wohlstand? 67
Chapter
This chapter establishes the theoretical foundation of the study, integrating hegemony analysis with poststructuralist approaches to ecofeminism to explore the gendered climate policy identities of India and the European Union. By enhancing Martin Nonhoff’s hegemony analysis with ecofeminist perspectives, this innovative approach allows the systematically deconstruction of gendered discourse elements and subject positions within climate policy discourses. Judith Butler’s theory of subjectivation is introduced to address individual and group subject positions, enriching the later analysis. The chapter also outlines the research design of the study, including the conceptual framework that connects the various elements of discourse, subject positions and hegemony, providing a comprehensive approach in order to understand the construction and stabilisation of the climate change policy identities of different entities such as national states and regional organisations.
Article
PIP This paper critically examines the literature on the interaction between population, the environment, and development. It posits that population pressure and resource scarcities are unfairly blamed for internal conflicts in Africa, Asia, and Latin America. Internal conflicts are, in fact, affected by underlying economic and political causes (international companies, development assistance agencies, and military). This reasoning implies that the national security threats are environmental groups, poor women, and social change groups, which in fact should be integrated within solutions to poverty, environmental destruction, and violence. The US military's focus on "neutralizing environmental consequences that could lead to instability" and promoting sustainable development is misspecified and falls within the domain of civilian agencies. Use of military satellites by the US Central Intelligence Agency in environmental surveillance raises questions about the management of secret archives. The scarcity-conflict model has an indirect role in misshaping public opinion, legitimizes population control as a top priority, neglects gender issues, and dehumanizes refugees. Evidence indicates that the conflicts in Rwanda were the result of institutional failure and ethnic divisions. Homer-Dixon's model fails due to weak definitions of scarcity, ignorance of the role of colonial history and economic inequities, idealized views of the state, and neglect of external factors. The scarcity-conflict model is popular due to opportunism and political pragmatism. For the military, it provides new rationales for a huge budget.
Industriestaaten halten ihre Zusagen nicht ein: Schleichender Rückzug aus der weltweiten Familienplanung
  • Deutsche Stiftung
Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW). 1998.,,Industriestaaten halten ihre Zusagen nicht ein: Schleichender Rückzug aus der weltweiten Familienplanung?" Pressetext vom Juni 1998 (http://www.dsw-online.de/pressetexte98.html#jahresende; 21.01.01).
Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung -Kritik einer Debatte. Berlin/Göttingen: Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Strasse
  • Susanne Heim
  • Ulrike Und
  • Schaz
Heim, Susanne und Ulrike Schaz. 1996. Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung -Kritik einer Debatte. Berlin/Göttingen: Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Strasse.
Das Revolutionärste, was die Vereinten Staaten je gemacht haben' -Vom Aufstieg des Überbevölkerungsdogmas
  • Susanne Heim
  • Ulrike Und
  • Schaz
Heim, Susanne und Ulrike Schaz. 1994.,,,Das Revolutionärste, was die Vereinten Staaten je gemacht haben' -Vom Aufstieg des Überbevölkerungsdogmas". In: Christa Wichterich. Hg. Menschen nach Maß: Bevölkerungspolitik in Nord und Süd. Göttingen: Lamuv, 129-150.
Zwischen Gebärzwang und Zwangssterilisation. Die bevölkerungspolitische Debatte in der internationalen Frauenbewegung
  • Karin Kozuch
Kozuch, Karin. 1999. Zwischen Gebärzwang und Zwangssterilisation. Die bevölkerungspolitische Debatte in der internationalen Frauenbewegung. Münster: Unrast.
Die sechste Milliarde
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Leisinger, Klaus. 2000. Die sechste Milliarde. Weltbevölkerung und nachhaltige Entwicklung. München: Beck (2. unv. Auflage).
Lern-und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik
  • Franz Nuscheler
Nuscheler, Franz. 1996. Lern-und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. Bonn: Dietz (4. aktualisierte Auflage).
Postfeministische Politik bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo
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Wichterich, Christa. 1995.,,Postfeministische Politik bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo." beiträge zur feministischen theorie und praxis 38, 110-130.
Auf der Schmelz 6, A-1150 Wien e-mail: rosa.diketmueller@univie.ac
  • Rosa Diketmüller
Rosa Diketmüller, Institut für Sportwissenschaften, Universität Wien, Auf der Schmelz 6, A-1150 Wien e-mail: rosa.diketmueller@univie.ac.at 1/2001