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Naturerleben und Achtsamkeit

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Bewegung, Erholung, soziale Kontakte, Selbstwirksamkeit, Luftqualität, Klima – Naturräume haben Einfluss auf die individuelle und kollektive Lebensqualität. Gerade die Folgen der Globalisierung und der industriellen Entwicklung rücken die Natur als Lebensgrundlage des Menschen immer stärker in den gesellschaftlichen Fokus. Die gesundheitsstiftende Wirkung von Naturerfahrungen ist bereits vielfach wissenschaftlich untersucht und belegt. Wie man Natur wahrnimmt und wie gut sie sich zur Erholung eignet, hängt jedoch nicht nur von äußeren Kriterien, sondern auch von einer persönlichen Haltung ab. Das Konzept der Achtsamkeit erfährt in diesem Kontext zunehmend Beachtung. Der Zusammenhang zwischen Naturerfahrungen und einem achtsamen Bewusstseinszustand besteht dabei auf zwei Ebenen: Auf der einen Seite erleichtern natürliche Umgebungen den Zugang zu einem achtsamen Bewusstseinszustand. Auf der anderen Seite können Naturerfahrungen die individuelle wie interpersonale Achtsamkeit fördern und ermöglichen so, Natur sowie deren Schönheit und Schutzbedürftigkeit wahrzunehmen. Im Kontext beschleunigter Lebenswelten kommen Erholung und achtsamer Lebensführung im Sinne einer Gesundheitsförderung und Prävention besondere Bedeutung zu. Erkenntnisse zu diesen Teilgebieten psychologischer Forschung finden im therapeutischen Kontext zunehmend Verwendung. Auch im Hinblick auf eine gesellschaftliche Problematisierung der Mensch-Natur-Beziehung, die sich beispielsweise am Verbrauch natürlicher Ressourcen ablesen lässt und die im Diskurs über eine Naturentfremdung ihren Ausdruck findet, können Achtsamkeit und Naturerleben fruchtbare Anknüpfungspunkte bieten. Mögliche Anwendungsbezüge für den Naturschutz sind bisher jedoch kaum erschlossen.
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Kerstin Ensinger, Eva Simminger, Matthias Wurster,
Andreas Wilhelm Mues und Norbert Wiersbinski (Hrsg.)
Naturerleben und Achtsamkeit
BfN-Skripten 459
2017
Naturerleben und Achtsamkeit
Herausgegeben von
Kerstin Ensinger
Eva Simminger
Matthias Wurster
Andreas Wilhelm Mues
Norbert Wiersbinski
Titelbild: Nahaufnahme eines verwitterten Baumes mit dem Wald der Insel Vilm im Hintergrund
(S. Schmidt).
Adressen der Herausgeberinnen und Herausgeber:
Dr. Kerstin Ensinger Nationalpark Schwarzwald
Schwarzwaldhochstraße 2, 77889 Seebach
E-Mail: Kerstin.Ensinger@nlp.bwl.de
Eva Simminger Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg
Matthias Wurster Wonnhaldestraße 4, 79100 Freiburg
E-Mail: Eva.Simminger@forst.bwl.de
Matthias.Wurster@forst.bwl.de
Andreas Wilhelm Mues Bundesamt für Naturschutz
Konstantinstr. 110, 53179 Bonn
E-Mail: Andreas.Mues@bfn.de
Dr. Norbert Wiersbinski Bundesamt für Naturschutz
Internationale Naturschutzakademie Insel Vilm
18581 Putbus/Rügen
E-Mail: Norbert.Wiersbinski@bfn.de
Fachbetreuung im BfN:
Andreas Wilhelm Mues Fachgebiet I 2.2 Naturschutz und Gesellschaft
Dr. Norbert Wiersbinski INA Internationale Naturschutzakademie Vilm
Diese Veröffentlichung wird aufgenommen in die Literaturdatenbank „DNL-online“ (www.dnl-
online.de). BfN-Skripten sind nicht im Buchhandel erhältlich. Eine pdf-Version dieser Ausgabe kann
unter http://www.bfn.de heruntergeladen werden.
Diese Veröffentlichung wird aufgenommen in die Literaturdatenbank „DNL-online“
(www.dnl-online.de).
BfN-Skripten sind nicht im Buchhandel erhältlich. Eine pdf-Version dieser Ausgabe kann unter
http://www.bfn.de/0502_skripten.html heruntergeladen werden.
Institutioneller Herausgeber: Bundesamt für Naturschutz
Konstantinstr. 110
53179 Bonn
URL: www.bfn.de
Der institutionelle Herausgeber übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit, die Genauigkeit und Voll-
ständigkeit der Angaben sowie für die Beachtung privater Rechte Dritter. Die in den Beiträgen geäu-
ßerten Ansichten und Meinungen müssen nicht mit denen des institutionellen Herausgebers überein-
stimmen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des institutionellen Herausge-
bers unzulässig und strafbar.
Nachdruck, auch in Auszügen, nur mit Genehmigung des BfN.
Druck: Druckerei des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
(BMUB)
Gedruckt auf 100% Altpapier
ISBN 978-3-89624196-2
DOI 10.19217/skr459
Bonn - Bad Godesberg 2017
3
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 4
Tabellenverzeichnis ........................................................................................ 5
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 6
1 Vorwort ................................................................................................... 7
2 Einleitung ................................................................................................ 9
3 Achtsamkeit .......................................................................................... 12
3.1 Einführung in das Konzept der Achtsamkeit ........................................... 12
3.2 Berichte aus den Kleingruppendialogen ................................................. 28
Praxis der Achtsamkeit ............................................................... 28 3.2.1
Achtsamkeit in der Arbeit mit Kindern ......................................... 43 3.2.2
Achtsamkeit und Forschung methodische Zugänge ................. 49 3.2.3
Vom Sprechen über Achtsamkeit: zwischen Wissenschaft und 3.2.4
Spiritualität .................................................................................. 58
3.3 Achtsamkeit Quellkraft für den Wandel hin zu einer zukunftsfähigen
Zivilisation? ............................................................................................ 68
4 Naturerleben ......................................................................................... 78
4.1 Naturerleben, Erholung und Wohlbefinden ............................................. 78
4.2 Achtsamkeitspraxis in der Natur Aktionsbeschreibungen und
individuelle Eindrücke ............................................................................. 90
Aktionsbeschreibung: Erfahrungsprozess - Verlebendigende 4.2.1
Praxis in Zeiten des Wandels ...................................................... 90
Aktionsbeschreibung: Achtsame Wahrnehmung der Natur (und) 4.2.2
des Selbst ................................................................................... 92
Aktionsbeschreibung: Yoga als direkter Zugang zu Achtsamkeit 4.2.3
und zur Natur .............................................................................. 94
5 Achtsamkeit und Natur ........................................................................ 97
5.1 Achtsamkeit und Naturerfahrungen ........................................................ 97
5.2 Achtsamkeit: Chance für eine naturverträglichere Gesellschaft ............ 109
5.3 Diskurs und Ausblick ............................................................................ 117
6 Literaturverzeichnis ........................................................................... 119
7 Anlage ................................................................................................. 127
7.1 Über die Autorinnen und Autoren
7.2 Programm der Tagung
7.3 Evaluation
4
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Sonnenaufgang auf Vilm. .....................................................................10
Abb. 2: Der Morgengruß ...................................................................................11
Abb. 3: Teilnehmerin bei der Essensmeditation. ...............................................27
Abb. 4: Ergebnis der Übung „Etwas Schönes zum Abschluss“ aus dem
Workshop auf Vilm ...........................................................................................41
Abb. 5: Stichworte auf die Frage: Wie haben Sie als Kind Natur erlebt? ...........48
Abb. 6: Ausgewählte Fragen der Deutschen Adaptation der Mindfulness
Attention Awareness Scale. ..............................................................................51
Abb. 7: Ausgewählte Fragen des Freiburger Fragebogens zur Achtsamkeit .....52
Abb. 8: Pause-Taste auf der Computer-Tastatur. .............................................57
Abb. 9: Kommunikationsquadrat nach FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN ............61
Abb. 10: Stellen wir uns vor, wir hätten noch nie eine Blume gesehen .............70
Abb. 11: Wie kommt ein wesenhaft Neues in die Welt?. ...................................74
Abb. 12: Rangreihe der Umwelten in Hinblick auf ihre Erholungseignung.........82
Abb. 13: Mitten drin ..........................................................................................89
Abb. 14: Gedanken zum Erfahrungsprozess bei H. Kurt ...................................90
Abb. 15: Achtsames Gehen auf der Insel Vilm..................................................93
Abb. 16: Yogaübung in der Natur. ....................................................................96
Abb. 17: Laborbedingung. .............................................................................. 101
Abb. 18: Naturkontakt ..................................................................................... 102
Abb. 19: Route durch den Schlossgarten Münster .......................................... 105
Abb. 20: Achtsamkeit, positiver und negativer Affekt im zeitlichen Verlauf ...... 106
Abb. 21: Kalligraphie von Helmut Wetzel. ....................................................... 108
Abb. 22: Gesamtindikator "Bewusstsein für biologische Vielfalt" nach Sinus-
Milieus. ........................................................................................................... 114
Abb. 23: Eichenmächtigkeit ............................................................................ 116
5
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Interviewübung zu zweit: Erzählen und Erzählen lassen. .................54
Tabelle 2: Erzählung im Interview. ....................................................................55
Tabelle 3: Art und Anteil der abgebildeten Fläche. ...........................................82
Tabelle 4: Auswahl der unterschiedlichen Waldgebiete. ...................................84
Tabelle 5: Überblick über die Untersuchungsbedingungen und die Aufteilung
der TeilnehmerInnen (N=196). .........................................................................85
Tabelle 6: Vergleich der vorher- und nachher- Messung von Wohlbefinden in
situ-Bedingung (n=97). .....................................................................................85
Tabelle 7: Vergleich der vorher- und nachher- Messung von Wohlbefinden
Labor-Bedingung (n=98)...................................................................................86
Tabelle 8: Vergleich der Wohlbefindensmesswerte zwischen in situ-
Bedingungen „verwilderter“ und „gepflegter“ Wald (n=97). ...............................87
Tabelle 9: Vergleich der Wohlbefindensmesswerte zwischen Labor-
Bedingungen „verwilderter“ und „gepflegter“ Wald (n=98). ...............................87
6
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
BfN Bundesamt für Naturschutz
BMUB Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
BDI Beck Depression Inventory
bspw. beispielsweise
bzw. beziehungsweise
d.h. das heißt
engl. englisch
etc. et cetera
FFA Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit
FVA Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg
kVT kognitive Verhaltenstherapie
LOHAS Lifestyles of Health and Sustainability
MAAS Mindfulness Attention Awareness Scale
MBSR Mindfulness Based Stress Reduction
PANAS Positive and Negative Affect Schedule
PRS Perceived Restorativeness Scale
usw. und so weiter
vgl. vergleiche
z.B. zum Beispiel
7
1 Vorwort
Bewegung, Erholung, soziale Kontakte, Selbstwirksamkeit, Luftqualität, Klima
Naturräume haben Einfluss auf die individuelle und kollektive Lebensqualität.
Gerade die Folgen der Globalisierung und der industriellen Entwicklung rücken
die Natur als Lebensgrundlage des Menschen immer stärker in den
gesellschaftlichen Fokus.
Die gesundheitsstiftende Wirkung von Naturerfahrungen ist bereits vielfach
wissenschaftlich untersucht und belegt.
Wie man Natur wahrnimmt und wie gut sie sich zur Erholung eignet, hängt
jedoch nicht nur von äußeren Kriterien, sondern auch von einer persönlichen
Haltung ab. Das Konzept der Achtsamkeit erfährt in diesem Kontext zunehmend
Beachtung. Der Zusammenhang zwischen Naturerfahrungen und einem
achtsamen Bewusstseinszustand besteht dabei auf zwei Ebenen: Auf der einen
Seite erleichtern natürliche Umgebungen den Zugang zu einem achtsamen
Bewusstseinszustand. Auf der anderen Seite können Naturerfahrungen die
individuelle wie interpersonale Achtsamkeit fördern und ermöglichen so, Natur
sowie deren Schönheit und Schutzbedürftigkeit wahrzunehmen.
Im Kontext beschleunigter Lebenswelten kommen Erholung und achtsamer
Lebensführung im Sinne einer Gesundheitsförderung und Prävention besondere
Bedeutung zu. Erkenntnisse zu diesen Teilgebieten psychologischer Forschung
finden im therapeutischen Kontext zunehmend Verwendung. Auch im Hinblick
auf eine gesellschaftliche Problematisierung der Mensch-Natur-Beziehung, die
sich beispielsweise am Verbrauch natürlicher Ressourcen ablesen lässt und die
im Diskurs über eine Naturentfremdung ihren Ausdruck findet, können
Achtsamkeit und Naturerleben fruchtbare Anknüpfungspunkte bieten. Mögliche
Anwendungsbezüge für den Naturschutz sind bisher jedoch kaum erschlossen.
Aus diesem Grund hat das Bundesamt für Naturschutz (BfN) diesen Themen
ein Modul innerhalb einer dreiteiligen Workshop-Reihe „Psychologie im
Naturschutz“ gewidmet. Die Konzeption der über drei Jahre angelegten Reihe
(2014 - 2016) war eine Zusammenarbeit des BfN, der Forstlichen Versuchs-
und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) und der Abteilung
Sozialpsychologie der Universität Leipzig. Die Reihe verfolgt das Ziel, eine
Bewusstseinsbildung hinsichtlich der Bedeutung psychologischer Prozesse für
den Naturschutz voranzutreiben. Zu diesem Zweck sollen Erkenntnisse der
modernen Psychologie für die Naturschutzarbeit und -kommunikation
aufbereitet und für AkteurInnen und MultiplikatorInnen aus Wissenschaft,
Verwaltung, Kommunikation und Bildung nutzbar gemacht werden.
8
Das vorliegende Skript dokumentiert den Workshop „Naturerleben und
Achtsamkeit“, der 2015 als zweites Modul der Reihe in einer Kooperation von
BfN, FVA und dem Nationalpark Schwarzwald organisiert wurde. Die anderen
beiden Veranstaltungen widmeten sich den Themen „Psychologie in der
Naturschutzkommunikation“ (2014), sowie „UmweltpsychologInnen im
Naturschutz: Arbeitsfelder und Methoden“ (2016).
Da Achtsamkeit als Bewusstseinszustand und Haltung besser erfahren als
abstrakt verstanden werden kann, beinhaltet das Skript neben theoretischen
und praxisbezogenen Fachtexten zahlreiche Eindrücke persönlicher
Achtsamkeitserfahrungen der Workshop-Teilnehmenden.
Wir bedanken uns bei allen AutorInnen für ihre Beiträge zu diesem Band und
bei den Workshop-Teilnehmenden für die Einblicke in ihre persönlichen
Erlebnisse. Wir blicken zurück auf eine spannende Tagung und eine fruchtbare
Zusammenarbeit mit allen Mitwirkenden und Teilnehmenden, für die wir noch
einmal unseren besonderen Dank aussprechen möchten.
Kerstin Ensinger,
Eva Simminger,
Matthias Wurster,
Andreas Wilhelm Mues
und Norbert Wiersbinski
„Ich atme ein und kehre zurück zu der Insel, die in mir liegt.
Wunderschöne Bäume stehen hier, reines Wasser fließt.
Da sind Vögel im Sonnenschein und die Luft ist klar.
Ich atme aus und fühle mich geborgen.
Wie wunderbar, zu meiner Insel zurückzukehren.“
THICH NHAT HANH (2013)
9
2 Einleitung
Autorin: Dr. Kerstin Ensinger
Es hat große Freude bereitet gemeinsam mit dem Organisationsteam diesen
Workshop zu planen und an diesem wunderbaren Ort, auf dem Vilm,
durchzuführen und zu gestalten. Es war etwas ganz Besonderes in diesen
Tagen gemeinsam mit allen Beteiligten Achtsamkeit zu leben, zu lehren, zu
erfahren und zu verinnerlichen. An dieser Stelle möchten wir die Gelegenheit
ergreifen, um die Konzeption und den Aufbau der Tagung transparent werden
zu lassen.
Achtsamkeit ist ein erfahrungsbezogenes Verfahren, das nur schwer sprachlich
zu fassen ist (SCHMIDT 2014). Deshalb wurde bei der Planung und Konzeption
des Workshops der Schwerpunkt auf die individuelle Erfahrungsmöglichkeit von
Achtsamkeit in der Natur gesetzt. Die Praxis der Achtsamkeit sollte somit
lediglich durch theoretische Einschübe in Form von Fachvorträgen,
thematischem Austausch (Kleingruppen im Dialog) und Diskussion (im Plenum)
unterbrochen werden. Gleichzeitig war beabsichtigt, Einblicke in die
lebenspraktische und informelle Praxis der Achtsamkeit zu geben. Somit
begannen die Tage mit dem offenen Angebot einer Achtsamkeitsmeditation.
Weitere Möglichkeiten Achtsamkeit während des Workshops zu erfahren, waren
ein Essen in Stille beim Mittagessen oder das Erleben eines durch die INA
(Internationale Naturschutzakademie Vilm) initiierten Klavierkonzerts am Abend.
Drei unterschiedliche Zugänge zur Achtsamkeitspraxis in der Natur durch
erfahrene PraktikerInnen zeigten die Vielfalt des Konzepts und boten
gleichzeitig alternative individuelle, aber auch interaktionale
Erfahrungsmöglichkeiten. Angeboten wurde ein Erfahrungsprozess zum Thema
„inneres Atelier“, Übungen im Freien zum Thema achtsame Wahrnehmung
sowie Yoga in der Natur. Das Angebot sollte gleichzeitig Stringenz und
Durchlässigkeit ermöglichen, so dass zwischen den einzelnen Angeboten
gewechselt werden konnte, Ein- und Ausstiege möglich waren. In diesem Sinne
wurde auch der Dialog in den Kleingruppen gestaltet, um Anliegen der
Teilnehmenden ad hoc aufgreifen zu können, d.h. damit umzugehen, was ist.
Auch auf methodischer Ebene wurde versucht, der Idee der Achtsamkeit
gerecht zu werden: Um Einblicke in das individuelle Erleben der Tagung zu
erhalten, wurden die Teilnehmenden dazu eingeladen, die Tagung aus eigener
Sicht in einem Wahrnehmungstagebuch zu dokumentieren. Zusätzlich haben
wir kurze persönliche Statements der Tagungsteilnehmenden zu spezifischen
Themen erhalten. Ergänzend zur standardisierten Evaluation der Tagung
wurden Telefoninterviews mit einzelnen Teilnehmenden durchgeführt, um
10
weitergehende Rückmeldungen zur Wirkung der Veranstaltung zu sammeln.
Auszüge dieser persönlichen Reflexionen finden sich auch in der vorliegenden
Broschüre. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre und hoffen, Ihnen
die achtsame Haltung, die während des Workshops allgegenwärtig war, damit
etwas näher bringen zu können.
Achtsamkeitsmeditation zum Sonnenaufgang am Meer
Unsere Achtsamkeitsmeditation zum Sonnenaufgang am Meer hatte trotz der
frühen Stunde viele Teilnehmende angelockt. Schon die Gehmeditation, die uns
auf schmalem Weg zum Meditationsplatz führte, brachte uns ganz in den
gegenwärtigen Augenblick.
Der Platz war überwältigend: hoch oben mit Blick auf das Meer standen wir auf
einer ganz kleinen Lichtung zwischen Bäumen. Der frische Wind ließ die Blätter
rascheln, in der Nase den Geruch von Meer und Wald.
Die Augen geschlossen und die Wahrnehmung ganz auf den Atem gerichtet
hatten wir versucht, uns in Achtsamkeit zu üben. Aber es war kühl und windig
und deshalb begannen wir unsere Morgenmeditation mit Bewegung. Mit dem
„Morgengruß“ und mit den 10 Bewegungen des „Ich bin ich“ konnten wir uns
etwas aufwärmen. Aufmerksamkeit auf Bewegung und Atem und die
Verbindung von Bewegung und Atem im Bewegungsablauf sind eine große
Hilfe, in die Achtsamkeit zu kommen. So wurde es uns nicht nur warm, sondern
wir wurden auch konzentrierter und aufmerksamer. Angekommen im Hier und
Jetzt, blieben wir noch einige Minuten in der Stille.
Meditation zum Sonnenaufgang und wo war die Sonne? Die Sonne ging auf,
aber sie versteckte sich hinter den Wolken. Trotzdem fühlten wir eine tiefe Ruhe
und Zufriedenheit und machten uns auf den Rückweg, um das leckere
Frühstück zu genießen.
Auszug aus einem Wahrnehmungstagebuch.
Abb. 1: Sonnenaufgang auf Vilm (Foto: Ralph Vetter).
11
Abb. 2: Der Morgengruß (Bild: Dagmar Fischer).
12
3 Achtsamkeit
3.1 Einführung in das Konzept der Achtsamkeit
Vortrag von PD Dr. Stefan Schmidt an der Internationalen
Naturschutzakademie, Insel Vilm (13.10.2016)
Meine Aufgabe ist es an dieser Stelle, Ihnen eine erste Beschreibung und
begriffliche Konzeption dessen zu liefern, was unter dem Schlagwort
„Achtsamkeit“ gemeint ist. Ein Begriff, der in letzter Zeit vermehrt die Runde
macht.
Zunächst möchte ich erklären was Achtsamkeit eigentlich ist. Welche Idee steht
dahinter, wie wird praktiziert, woher stammt das Konzept? Ich werde dies tun,
obwohl es sich dabei eigentlich um ein paradoxes Unterfangen handelt. Denn
eigentlich kann man über Achtsamkeit gar nicht sprechen, man kann sie nur
durch eigene Praxis erfahren und nachvollziehen. Ich sehe es als Ziel, Sie darin
zu unterstützen, das Konzept auch intellektuell zu erfassen, einzuordnen und
mit anderen Dingen zu verknüpfen. Aber dies kann nur ein orientierender Schritt
hin zur Achtsamkeit sein, verstehen und begreifen kann man Achtsamkeit nur in
der eigenen Praxis. Weiterhin werde ich auf die Säkularisierung des Konzepts
eingehen und einen Einblick in die Diskussion darüber geben, was mit einem
solchen Schritt einhergeht. Diese Diskussion ist immer dann relevant, wenn
Achtsamkeit in einen neuen Kontext eingebettet werden soll so wie es hier mit
dem Thema Naturschutz geschieht.
In einem weiteren Schritt möchte ich ganz kurz etwas zum wissenschaftlichen
Zugang zur Achtsamkeit anmerken. Ich bin selbst in der Wissenschaft tätig und
forsche zum Thema Achtsamkeit. Ich möchte das Thema nicht zu groß machen,
da es sich, wie bereits gesagt, um ein erfahrungsbezogenes Konzept handelt
und der wissenschaftliche oder auch rationale Zugang zum Thema daher auch
kritisch hinterfragt werden kann. Die wissenschaftliche Erforschung von
Achtsamkeit schreitet jedoch voran und ist für die gesellschaftliche Akzeptanz
nicht unerheblich, daher möchte ich dieses Thema auch kurz anreißen.
Am Schluss möchte ich darauf eingehen, warum Achtsamkeit gerade so populär
ist und welche Rolle die aktuell vorherrschenden kulturellen Rahmen-
bedingungen dabei spielen. Was passiert denn gerade in unserer Kultur, dass
sich so viele Menschen den Themen Meditation, Spiritualität oder eben auch
Achtsamkeit zuwenden?
Zunächst möchte ich Sie jedoch zu einer Übung einladen: Stellen Sie sich
bequem hin: die Füße schulterbreit auseinander, beide Beine gleich belastet.
Wenn Sie wollen, können Sie die Augen schließen, andernfalls lassen Sie sie
offen. [Pause] Spüren Sie in Ihren Körper hinein und lenken Sie Ihre
13
Aufmerksamkeit zu Ihrer linken Fußsohle. Beobachten Sie, wie diese sich
gerade anfühlt. [Pause] Tun Sie das mit einer Haltung der Neugier, so als ob
Sie zum allerersten Mal in diese Stelle Ihres Körpers hineinspüren. Dann
beobachten Sie einfach was passiert, was sich verändert. Und was auch immer
Sie da erleben, spüren und beobachten, ist, so wie es ist, in Ordnung. [Pause]
Dann versuchen Sie mal mit Ihrer Aufmerksamkeit um die Fußsohle
herumwandern zu lassen, auf den Fußrücken, auf den Spann. Ganz langsam,
immer in Kontakt mit der Erfahrung, in Kontakt mit dem Spüren bleiben. [Pause]
Als nächstes springen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu Ihrer rechten Handfläche
und machen dort das Gleiche. Beobachten so, als ob Sie noch nie diese
Handfläche gespürt haben. Manchmal dauert es ein bisschen bis der Kontakt
hergestellt ist. Was spüren Sie? Was verändert sich? [Pause] Und springen Sie
ein weiteres Mal mit Ihrer Aufmerksamkeit und hören jetzt in Ihre Umgebung
nach draußen. Hören Sie so, als ob Sie noch nie gehört hätten. Hören Sie
einfach und achten Sie auf die Atmosphäre Ihrer Umgebung; auf das was
gerade passiert, was Sie spüren. [Pause] Und dann beenden Sie diese Übung
bitte wieder, öffnen die Augen, dehnen und strecken sich. Sie können sich dann
wieder setzen.
Was haben Sie nun gerade erlebt?
Wahrscheinlich haben Sie gemerkt, dass Sie hin und wieder den Anweisungen
folgen konnten, teilweise aber in Gedanken unterwegs waren. Worüber ich hier
spreche hat also mit Aufmerksamkeitsregulierung zu tun und die scheint nicht
ganz in unserer Hand zu liegen. Das ist überraschend: Normalerweise denken
wir, wir könnten unsere Aufmerksamkeit bewusst lenken, aber offensichtlich gibt
es hier eine gewisse Autonomie. In der Psychologie sagt man, die
Aufmerksamkeit sei semi-automatisch. Teils können wir sie also steuern und
teils hat sie ihre eigene Dynamik. Bei der Praxis der Achtsamkeit beschäftigen
wir uns mit dieser Dynamik. Wir bemühen uns die Aufmerksamkeit öfter
bewusst zu steuern und auf diese Art das Abschweifen der Gedanken oder das
Tagträumen zu reduzieren. Wenn Sie es dann schaffen, ganz in der Gegenwart
zu bleiben, wenn Sie in Kontakt mit der Erfahrung sind, dann können sich Ruhe
und Entspannung einstellen.
Was Sie noch erlebt haben könnten ist, wie fremdartig es sich anfühlt, manche
Körperteile bewusst wahrzunehmen. Wir laufen den ganzen Tag auf unseren
Fußsohlen herum, aber offensichtlich ist es ungewöhnlich, wenn wir sie spüren.
Scheinbar begegnen wir unserer eigenen Wahrnehmung gegenüber selten mit
dieser beobachtenden Neugierde. In einer solchen Neugierde wiederum liegt
immer auch etwas Liebevolles und diese liebevolle Zuwendung zum Erlebten
ist eine weitere zentrale Komponente dessen, was mit Achtsamkeit gemeint ist.
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Am Ende, als ich nach der Atmosphäre gefragt habe, könnten Sie Ruhe,
Harmonie oder eine Verbundenheit mit der Außenwelt gespürt haben. Wichtig
ist aber vor allem, dass Sie etwas in Ihrer Umgebung wahrgenommen haben;
dass sich Ihre Wahrnehmung der Umwelt verfeinert oder gar gewandelt hat.
All das zielt auf eine Erkenntnis ab: In der Achtsamkeit geht es um eine
veränderte Bewusstseinsqualität. Diese Veränderung vollzieht sich nicht nur in
Ihnen individuell, sondern kann auch kollektiv in einer Gruppe stattfinden. Durch
einen veränderten Aufmerksamkeitsfokus kann sich die gesamte Atmosphäre in
einem Raum verändern. Während der Vorgang der Aufmerksamkeitslenkung
selbst recht trivial zu sein scheint ist das, was durch sie passiert es
keinesfalls! Das ist im Grunde das Spannungsfeld in dem sich Achtsamkeit
bewegt: es ist auf der einen Seite etwas ganz Einfaches, aber in seinem
Gelingen kann es einen erstaunlichen Effekt haben. Ich möchte nun versuchen,
diesen Effekt zu beschreiben trotz der Schwierigkeiten, die der sprachliche
Zugang zu Achtsamkeit birgt.
Was Sie eben in der Übung getan haben war, sich Dinge bewusst zu machen:
Sie haben bewusst Ihren Fuß gespürt. Das Ungewöhnliche dieser Situation
hatte ich ja schon erwähnt. Man läuft den ganzen Tag mit den Füßen, aber die
Fußsohlen selbst spürt man nicht. Eben hatten Sie die Instruktion, diese
Kontaktfläche des Fußes mit dem Boden in Ihr Bewusstsein hineinzurufen. Das
heißt, Sie haben sich bewusst gemacht, was Sie gegenwärtig tun. Sie wurden
sich dessen gewahr; das Wort Gewahrsein beschreibt diesen Sachverhalt sehr
gut. Sie holen das Spüren der Fußsohle und deren Kontakt mit dem Boden also
aktiv in Ihren Aufmerksamkeitsfokus hinein dies verdeutlicht auch, dass der
Aufmerksamkeitsfokus nicht immer überall sein kann und auch nicht immer
gegenwärtig ist. Körper und Geist können sehr weit voneinander getrennt sein.
Durch diese Aufmerksamkeitslenkung haben Sie gleichzeitig die Haltung einer
Beobachterin eingenommen. Ich spreche bewusst von Beobachtung, nicht von
Interaktion. Denn Sie sollten wirklich versuchen, es bei diesem Beobachten zu
belassen. Also nicht, wie es sonst unsere Gewohnheit ist, die Beobachtung
weiter verarbeiten, sprich kognitive Konzepte und Erinnerungen heranziehen
und damit verknüpfen oder abgleichen. Denn Kognitionen sind kleine
Einladungen für das Bewusstsein vom direkten Spüren und bloßen Beobachten
wegzuwandern. Wenn Sie das merken: „ah, jetzt kommt eine Erinnerung sehr
angenehm“, dann versuchen Sie direkt wieder zurückzugehen zu dem direkten
Kontakt mit der gegenwärtigen Erfahrung. Das ist also die konkrete Aufgabe bei
der Praxis der Achtsamkeit: die innere Stimme, den Strom der Gedanken, zur
Ruhe und das Bewusstsein damit wieder in den gegenwärtigen Moment zu
bringen.
15
Eine weitere Komponente ist es, akzeptierend und nicht wertend zu sein: Was
immer Sie jetzt gerade auch erleben, ist so wie es ist in Ordnung. Das ist die
Grundhaltung, die sich eigentlich direkt aus dem relativ nüchternen Beobachten
ergibt, weil es die implizite Erkenntnis birgt, dass es ja sowieso da ist. Sie haben
oft recht wenig Einfluss darauf, was Sie gerade erleben es ist wie es ist. Da
Sie nun gar nicht versuchen Einfluss darauf zu nehmen, akzeptieren Sie es.
Dieses Akzeptieren wird manchmal als ein „Gutheißen“ missverstanden, als
müsste man alles was da ist, gut finden. Das ist nicht gemeint. Wenn Sie
beispielsweise einen Schmerz an sich wahrnehmen, dann bedeutet das nicht,
dass es gut ist, dass es schmerzt, aber Sie akzeptieren dass der Schmerz da
ist. Das ist etwas anderes als ihn weg zu drücken oder zu ignorieren. Oder
wenn in einem Moment der Ruhe und Kontemplation zum Beispiel ein
Elektrogerät rauscht, dann rauscht es eben, dann ist das so. Dieses
Nichtwerten ist etwas ganz Besonderes und das ist uns oft gar nicht bewusst
weil wir nämlich dazu tendieren, im Alltag jede Beobachtung und jede
Wahrnehmung mit einer Bewertung zu versehen. Sogar wenn Sie sich bewusst
vornehmen und es üben, ist es extrem schwierig, das Werten zu unterlassen.
Da macht es manchmal Sinn, sich vor Augen zu führen, dass man gerade
bewertet, um es dann bewusst wieder fallen zu lassen.
Wie Sie alle merken konnten, geht es in der Achtsamkeit immer wieder darum,
an Ihre sensorischen Erfahrungen anzudocken. Diese können gute Anker für
eine achtsame Haltung sein. Es hilft, sich immer wieder die aktuelle Situation
vor Augen zu führen, in der Sie sich befinden und sich zu fragen: „bin ich jetzt
gerade sinnlich verankert?“. Spüren Sie Ihren Körper oder sind Sie nur in
Gedanken unterwegs? Achtsamer zu werden bedeutet immer, den Anteil an
sensorischen und erfahrungsbasierten Erlebensmomenten im Alltag zu
erhöhen. Und das können Sie nicht nur während bestimmter Übungen
praktizieren, sondern in jeder Alltagssituation vollziehen.
Ich habe nun schon wiederholt betont, dass Achtsamkeit eine Erfahrung ist.
Alles was ich Ihnen über Achtsamkeit erzählen kann, hilft Ihnen zwar dabei das
theoretische Konzept zu begreifen, nicht aber dabei Achtsamkeit als solche zu
verstehen. Dies ist ein Unterscheid, der mir sehr am Herzen liegt, deshalb
möchte ich ihn an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich vor,
ich wäre kein Psychologe in den Gesundheitswissenschaften, sondern
Schokoladenforscher und Sie kommen aus einem Land in dem es keine
Schokolade gibt. Ich teile mit Ihnen mein gesamtes Wissen über Schokolade
und erkläre Ihnen, was genau das ist. Wir fangen an bei der Kakaopflanze und
der Kakaobohne, weiter über Ernte und Lagerung zu Herstellung und
Zubereitungsarten, die verschiedenen Geschmackssorten, wie man sie
aufbewahrt, was für Marken es gibt, wie sie verkauft wird und so weiter und so
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fort. Dann wissen Sie nach einer Weile alles über Schokolade und sind gut
informiert. Ganz am Schluss meines Vortrages gebe ich Ihnen dann ein Stück
Schokolade zum Probieren. Erst jetzt machen Sie die Erfahrung der
Schokolade. Das ist der Unterschied zwischen kognitivem Wissen über die Welt
und einer gelebten Erfahrung. Die Erfahrung wie es ist, Schokolade zu
schmecken, ist in dem propositionalen Wissen über die Schokolade schlicht und
einfach nicht enthalten. Ein weiteres, einfaches Beispiel: es ist ein großer
Unterschied zu wissen, dass der Nachbarshund gefährlich ist, oder es zu
erfahren. Achtsamkeit, das ist der ganz zentrale Punkt hier, hat immer diesen
Erfahrungsbezug.
Jetzt muss ich kurz vorgreifen, denn damit sind wir bei dem Grund angelangt,
warum es ungewöhnlich und vielleicht sogar gefährlich ist aus der Praxis der
Achtsamkeit, ein Forschungsobjekt, einen wissenschaftlichen Untersuchungs-
gegenstand zu machen: es besteht die Gefahr eine zentrale Komponente,
nämlich den Erfahrungsbezug aus den Augen zu verlieren. Es ist eine
Herausforderung einem solchen Untersuchungsgegenstand in Gänze gerecht
zu werden.
Jetzt wissen Sie und haben es in der Übung auch erlebt, was die Grundidee der
Achtsamkeit ist, ich möchte Ihnen nun noch einige Anknüpfungspunkte zum
besseren Verständnis geben. Auch wenn es unterschiedliche Auffassungen
dazu gibt, ich verstehe Achtsamkeit als eine Grundhaltung. Es ist die Haltung zu
der Frage „wie stehe ich im Leben, wie gehe ich in die Welt hinein?“. Die
Antwort betrifft meine Umwelt, sie betrifft jedoch auch mich selbst. „Wie verhalte
ich mich mir und meinen Empfindungen gegenüber? Wie verhalte ich mich zu
dem, was mir von der Welt entgegenkommt?“
Was Achtsamkeit ganz sicher nicht ist, wäre eine Zauberformel um besser mit
Stress umzugehen oder in einer schwierigen Situation schneller
zurechtzukommen. Ich erhalte recht häufig Anfragen wie: „Herr Schmidt, bei uns
in der Schule, wir haben so viel Stress im Kollegium können Sie nicht her
kommen und uns ein paar Tipps und Tricks geben wie wir mit Achtsamkeit
diesen Stress bewältigen?“. Das ist der Wunsch nach schnellen Lösungen ohne
viel Aufwand oder tiefgreifende Veränderungen des eigenen Tuns, der tief in
unserer Gesellschaft verankert ist. Er kann jedoch an dieser Stelle nicht in
Erfüllung gehen, weil es bei Achtsamkeit eben um den Erfahrungsbezug geht,
um eine Grundhaltung, um ein anderes im Leben stehen. Und die Idee ist, dass
sich durch eine solcherart veränderte Grundhaltung viele andere Dinge
ebenfalls ändern aber das ist ein Prozess, der Übung, Ruhe und Gelassenheit
bedarf.
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Falls Sie sich nach all diesen Erläuterungen dennoch eine Kurzdefinition von
Achtsamkeit wünschen: die Grundkomponenten, auf die sich Achtsamkeit
reduzieren lässt, sind Präsenz und Akzeptanz. „Ich bin mit meiner
Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt, alle Erfahrungen, die mir entgegenkommen,
nehme ich, so wie sie sind.“ Diese scheinbar einfache Grundformel muss aber
wie gesagt in eine Haltung eingebettet werden.
Sie wissen vermutlich alle, dass Achtsamkeit etwas mit Meditation zu tun hat
und es die sogenannte Achtsamkeitsmeditation gibt. Deshalb nur ganz kurz
ohne es zu vertiefen: die Idee dahinter ist, sich in die Meditation zu begeben um
im Stillen Achtsamkeit zu üben, also einen möglichst nicht abgelenkten Zustand.
Ich suche mir einen ruhigen Raum und übe meinen Geist und meine innere
Haltung im Achtsam-Sein, mit der Idee, dass dieser Zustand dadurch auch im
Alltag häufiger eintritt. Dies beruht auf einer der buddhistischen Einsichten in die
Funktionsweisen des Geistes: worin auch immer ich meinen Geist übe, also
alles was ich viel mit ihm tue, das wird er noch öfter tun. Wenn Sie also den
ganzen Tag in Eile sind, dann bleibt Ihr Geist selbst dann in Unruhe, wenn Sie
bereits gemütlich auf dem Sofa sitzen denn er ist den ganzen Tag auf diese
Weise stimuliert worden. Aus dieser Beobachtung heraus entstand die Idee,
einen gewünschten Geisteszustand in der Meditation einzuüben, um ihn dann
im Alltag realisieren zu können. Deshalb gibt es auch eine Mitgefühlsmeditation
in der ich mich in Mitgefühl übe. Das Paradox ist hier: Man übt sich alleine im
Mitgefühl für andere. Man versucht also seinen Geist in eine mitfühlende
Haltung zu bringen, mit der Idee, sich im Alltag im Umgang mit anderen
Menschen daran zu erinnern.
Doch warum sollte man das tun, was ist der tiefere Sinn einer solchen
Achtsamkeitspraxis? Es gibt mehrere Gründe: Wenn Sie mit Achtsamkeit an
Dinge herangehen und Dinge bewusst erleben, die Sie sonst automatisch
machen, ergeben sich beispielsweise viele Einsichten. Dadurch dass Sie das
automatische Handeln hinter sich lassen und sich und die Welt von einer
neutralen Haltung aus beobachten, erkennen Sie auf einmal bestimmte
Zusammenhänge. Man spricht hier auch von erfahrungsbasierten Einsichten.
Sie fangen an, verschiedene Dinge in der Welt aus einer neuen Perspektive zu
sehen einfach dadurch, dass Sie mit diesem frischen, neugierigen Blick darauf
schauen. Das ist eine Chance, ein „zurück-zum-Start“, das Ihnen die
Gelegenheit gibt, bislang automatisiert und routinemäßig getroffene
Entscheidungen noch einmal neu zu betrachten und basierend auf neuen
Einsichten vielleicht sogar anders zu treffen. In der buddhistischen Tradition ist
dieses einsichts- und erfahrungsbasierte Lernen der Schlüssel zum Verständnis
der Welt. Der entscheidende Unterschied ist, dass man sich nicht mit
westlichen, kognitiven Konzepten ein Verständnis erarbeitet, sondern aus der
18
direkten Erfahrung heraus zum Verständnis gelangt. Eine solche
erfahrungsbezogene Einsicht birgt ein echtes Verständnis der Welt und ist der
Schlüssel zu Veränderungen.
In der Praxis unterscheidet man zwischen der formellen und der informellen
Achtsamkeit. Formelle Achtsamkeit bedeutet, sich in die Meditation
zurückzuziehen. Sich also explizit Zeit zu nehmen in der man sich in
Achtsamkeit übt. Dies geschieht mit der Idee, eine so geübte achtsame Haltung
in der Folge auch im Alltag besser realisieren zu können. Informelle
Achtsamkeit wiederum bedeutet, beim Ausführen einer beliebigen praktischen
Tätigkeit mit dem Bewusstsein an die auftretenden sensorischen Empfindungen
anzudocken. Wäsche aufhängen kann ein Beispiel für eine informelle
Achtsamkeitsübung sein: Wie fühlt es sich an eine Wäscheklammer
anzufassen, wie fühlt sich die feuchte Wäsche an, wie fühlt sich Ihr Körper an,
wenn Sie sich aufrichten, wie fühlen sich Ihre Arme an, wenn Sie das
Wäschestück spannen? Normalerweise führen Sie eine solche Tätigkeit
nebenbei aus, sind in Gedanken vielleicht schon bei dem, was Sie als nächstes
tun wollen. Es handelt sich also um eine Spaltung von Denken und Handeln.
Die Einladung der Achtsamkeit ist es, bei solchen Tätigkeiten mit der
Aufmerksamkeit in die gegenwärtige Erfahrung zurückzukommen sei es beim
Geschirrwaschen, Treppensteigen oder Duschen. In Kontakt zu gehen mit dem
jetzigen, lebendigen Moment, ihn bewusst zu erleben und sich dadurch
gleichzeitig in der achtsamen Haltung zu üben.
Es stellt sich nun die Frage, worauf man die Achtsamkeit richten soll. Ich habe
bereits viel über Körper und sensorische Erfahrungen gesprochen, das ist die
sogenannte Körperachtsamkeit. Das ist der erste mögliche Fokus. Die
bekannteste Übung hierzu ist es, den eigenen Atem zu beobachten oder einen
Body-Scan zu machen. Ein Body-Scan bedeutet, die Körperteile Stück für Stück
durchzugehen. Was Sie zu Beginn mit Ihrer linken Fußsohle und Ihrer rechten
Hand gemacht haben, war sozusagen ein kleiner prototypischer Ausschnitt von
einem Body-Scan. Das Zweite habe ich auch schon angesprochen: Sie können
auf die sogenannte Gestimmtheit achten. Wenn Sie eine neue Wahrnehmung
machen, läuft im ersten Moment immer so ein kleiner „Ton“ mit: Angenehm,
unangenehm, egal. Seinen Fokus auf diese Gestimmtheit zu richten, ist die
zweite Verankerung der Achtsamkeit. Die dritte Verankerung richtet sich auf die
Geistestätigkeit. Zur Geistestätigkeit gehören gemäß buddhistischer Weltsicht
auch die vollentwickelten Emotionen. Das heißt, Sie sind sich bewusst: „Was für
eine Emotion ist momentan vorherrschend? Ist da gerade Ärger, Wut, Trauer,
Freude, Angst…?Das können Sie beispielsweise machen, indem Sie sich die
Frage stellen, „Wie ist gerade meine gefühlsmäßige Befindlichkeit?“ Sind Sie
sich dessen bewusst? Und das gleiche Prinzip gilt für die Gedankentätigkeit. Sie
19
können eine beobachtende, leicht distanzierte Aufmerksamkeit darauf lenken,
was Sie gerade für Gedanken haben. Das heißt nicht nur zu denken, sprich
nicht nur in irgendwelchen Gedankenläufen zu stecken, sondern sich auch
dessen gewahr zu werden, dass Sie gerade Gedanken zu diesem Thema
haben. Sie werden also auf dieser Ebene zum Beobachter oder zur
Beobachterin der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt. Genauso funktioniert es
mit Bildern und Erinnerungen: Sie können entweder darin aufgehen oder aber
Sie behalten diese innere Beobachtungsposition. Ein guter Vergleich für diesen
Unterschied ist das Kino. Wenn Sie im Kino sitzen, dann können Sie sich in
dem Film entweder ganz verlieren oder sich der Position gewahr bleiben, dass
Sie im Kino sitzen und einen Film sehen. Diese Perspektive können Sie auf Ihre
eigene Geistestätigkeit einnehmen.
Die Praxis der Achtsamkeit wie wir Sie hier diskutieren stammt aus dem
Buddhismus. Die Lehrreden des Buddha wurden nach seinem Tode zunächst
mündlich übertragen und dann ungefähr 100 v. Christus im sogenannten Pali-
Kanon verschriftlicht. In diesen Schriften sind vor allem zwei Quellen relevant.
Die Lehrrede von der Verankerung der Achtsamkeit (Satipaţţhāna Sutta) und
die Lehrrede vom achtsamen Atmen (Anapanasati Sutta). In diesen Texten wird
der Ablauf der Achtsamkeitspraxis Stück für Stück beschrieben. Das sind die
historischen Quellen auf die wir uns, wenn wir die buddhistische Achtsamkeit
praktizieren, heute berufen können. Sie sind frei im Internet verfügbar
(www.palikanon.com). Die hier beschriebene Praxis der Achtsamkeit wurde in
einem religiösen, spirituellen Kontext in diesem Fall dem Buddhismus geübt
und war dort eingebettet. Im Westen wird dieser Kontext nicht immer gesehen.
Die Intention im Buddhismus ist es, eine Selbst-Transformation bzw.
Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit zu bewirken.
Daher wird die Spiritualität des Buddhismus auch wieder zum Thema, wenn es
um Transformationen in der Gesellschaft geht. Der Buddhismus stellt demnach
ein System dar, das einen Weg anleitet, wie man sich selbst verändern kann:
das ist die spirituelle Transformation. Die oberste Zielsetzung der buddhistisch
ausgerichteten Transformation ist die Befreiung von der Bedingtheit in diesem
Leben. Das zweite große Ziel ist es, Mitgefühl mit allen Wesen zu entwickeln.
Die Achtsamkeitspraxis ist ein Element dieses Weges zur inneren Befreiung
und Mitgefühl. Sie ist eines der acht Glieder des „achtfachen Pfades“. Andere
Praktiken dieses Pfades sind Weisheitslehren, andere Praktiken, ethische
Prinzipien und Prinzipien der allgemeinen Lebensführung. Nicht töten, nicht
lügen, keine bewusstseinstrübenden Stoffe zu sich nehmen. Diese Prinzipien
und Praktiken orientieren sich am Leben zur Entstehungszeit des Buddhismus.
Sie wurde gemeinsam entwickelt und sind aus buddhistischer Perspektive nicht
von Achtsamkeit zu trennen. Wenn Sie nach einem buddhistischen Ansatz
20
Achtsamkeit praktizieren, dann gehören dazu also auch eine ganze Gruppe von
weiteren Prinzipien, Richtlinien, Praktiken und Weisheiten. Im Westen wird
Achtsamkeit, also dieses eine Achtel des achtfachen Pfades, herausgeschnitten
und isoliert. Das bringt entscheidende Unterschiede mit sich und man sollte
diese beiden Praktiken nicht unreflektiert gleichsetzen.
Achtsamkeit hat aber nicht nur buddhistische Wurzeln. Bei genauerer
Betrachtung findet sich in jeder spirituellen Tradition ein Achtsamkeitsprinzip.
Das zeigt sich zum Beispiel in einem Spruch, der Meister Eckhard
zugeschrieben wird und also der christlich-mystischen Tradition entstammt:
„Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste
Mensch der, der dir gerade gegenüber steht; immer ist die wichtigste Tat die
Liebe“. Ähnliche Prinzipien und Orientierungen können Sie auch im Islam finden
und in den anderen Weltreligionen. Dieses Prinzip von Gegenwärtigkeit und von
Liebe, Präsenz und Akzeptanz als spiritueller Grundlage, als Ausgangspunkt
einer menschlichen Transformation ist überall zu finden. Das Besondere am
Buddhismus ist aus meiner Sicht, dass er mit der Praxis der Einübung einer
solchen Haltung in der Meditation, eine Antwort auf die Frage gibt „wie kann ich
zu einer solchen Haltung der Liebe und Präsenz kommen?“. Während in den
anderen Weltreligionen nur das Gebot formuliert wird, gibt der Buddhismus eine
präzise Praxisanleitung zur Entwicklung dieser Qualitäten.
Ich möchte Ihnen jetzt zeigen, wie der Achtsamkeitsbegriff in unterschiedlichen
historischen und gesellschaftlichen Kontexten präsent war und heute ist. Damit
möchte ich auch eine historische Linie nachzeichnen von den Lehrreden des
Buddhas vor ca. 2500 Jahren bis zur heutigen Modewelle der Achtsamkeit. Ich
glaube, dass eine solche historische Kontextualisierung sehr wichtig ist, um das
Achtsamkeitskonzept in seiner Vielfalt verstehen zu können. Der Ursprung liegt
wie schon gesagt in den Lehren Buddhas ca. 400 v. Chr. und somit in einem
spirituellen Kontext. In den nächsten 2.400 Jahren wurde diese Praxis und
deren Beschreibung und Bedeutung als ein zentraler Inhalt der buddhistischen
Lehre weitergegeben. Der Buddhismus hat sich jedoch weiterentwickelt und in
verschiedene buddhistische Strömungen aufgespaltet, die zum Teil
geographisch weit voneinander entfernt sind. Da es wenig Austausch zwischen
diesen Buddhismen gab, haben sich auch einige Unterschiede ergeben. So wird
das Achtsamkeitskonzept zum Beispiel im tibetischen Buddhismus ein bisschen
anders gehandhabt als in der koreanischen Zen-Tradition. Es ist aber in allen
Strömungen immer ein zentrales Konzept.
Im nächsten Schritt kam ein Kulturtransfer in mehreren Wellen, so kam der
Buddhismus auch auf unterschiedlichen Wegen in den Westen. Die
Achtsamkeitswelle, mit der wir hier grade zu tun haben, hat hauptsächlich
nicht ausschließlich damit zu tun, dass sich in den USA der 1960er und
21
1970er-Jahre relativ viele Menschen nach Asien gewandt haben. Sei es als
Flucht vor oder als Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, oder aus
anderen Intentionen heraus in Asien lernten diese Menschen den Buddhismus
kennen und brachten ihn mit zurück in die USA. Hierbei handelte es sich primär
um junge, weiße, intellektuelle und gut gestellte Menschen, also eigentlich
genau die Schicht, die den Buddhismus im Westen populär gemacht hat. Im
Westen angekommen wurde die Praxis der Achtsamkeit dann das erste Mal
säkularisiert eingesetzt: 1979 wurde sie erstmals in einem klinischen Kontext
eingesetzt, und dabei die religiöse Orientierung abgestreift. Dahinter steht die
Erkenntnis, dass der Ansatz, wie man mit schwierigen Emotionen und
Schmerzen umgehen kann, auch Patientinnen und Patienten helfen kann.
Außerdem stellte sich die Frage ob man in den USA des Jahres 1979
Klangschale und Räucherstäbchen verwenden konnte, wenn man Patienten
behandelt und ob man das überhaupt alles benötigt. Geht es nicht eigentlich
nur um die konkrete Praxis, um die Übungen? Und kann man diese nicht auch
einfach so anwenden ohne sich an der buddhistischen Lehre zur orientieren?
Hier liegt der Ursprung der Säkularisierung von Achtsamkeit. Diese Entwicklung
und besonders die begleitende Forschung in der klinischen Medizin, anhand
derer Effekte belegt werden konnten, haben vor 10 bis 15 Jahren zu einer
Popularisierung des Themas geführt. Ausgehend von dieser klinischen
Anwendung kam dann auch die Achtsamkeit in der Pädagogik auf, sie ging in
die Arbeitswelt ein und wird in immer neuen Feldern angewendet. Hier in
diesem Kontext kommen das Naturerleben und der Naturschutz hinzu.
Durch diese Fülle der Anwendungsbereiche kommt es nach und nach zu einer
Dekontextualisierung. Damit kommt der Begriff der Bewusstseinskultur ins
Spiel. Dieser wird besonders durch Thomas Metzinger, einen Philosophen aus
Mainz, diskutiert und beinhaltet, dass sich unsere ganze Gesellschaft die Frage
stellt, „in welchem Bewusstsein oder mit welcher Grundhaltung will ich mein
Leben führen und welche Haltung nehme ich ein?“ Wir haben ja immer eine
Haltung mit der wir im Leben stehen, diese ist jedoch normalerweise kein
gesellschaftliches sondern ein privates Thema. Die kollektive Haltung wird
selten hinterfragt, manchmal vielleicht im Sinne einer beruflichen Haltung: Wenn
Sie eine Ausbildung zur Pflegerin oder zum Pfleger machen, könnte die Frage
aufkommen, was denn eigentlich die Grundhaltung in der Pflege ist. Aber das ist
eher eine Ausnahme. Es ist eine eher neue Entwicklung, dass wir uns
individuell mit unserer Haltung zum Leben auseinandersetzen, dass wir uns
fragen, wie wir in der Welt stehen, dass wir unsere Grundhaltung auch
thematisieren und Veränderungswünsche an diese haben. Mit dieser
Entwicklung, uns unabhängig vom konkreten Erlebensinhalt in einem ganz
allgemeinen Sinne mit unseren inneren Prozessen zu beschäftigen, nähern wir
22
uns dem an, was Buddha eigentlich ursprünglich gemeint hat; hier schließt sich
der Kreis.
Es ist wichtig dies zu thematisieren, da der durch seine Popularität unscharf
gewordene Begriff der Achtsamkeit sehr unterschiedlich verstanden wird. Daher
ist es meiner Ansicht nach immer wichtig, auch den jeweiligen Kontext zu
benennen auf den man sich bezieht. Sonst droht sich alles zu vermischen,
sodass letztendlich jeder von Achtsamkeit spricht und jeder etwas anderes
darunter versteht. Es gibt ja zusätzlich auch noch den umgangssprachlichen
Gebrauch, etwas das besonders vorsichtig und umsichtig gemacht wird, als
achtsam zu bezeichnen. Wenn eine auf diese Art verstandene Achtsamkeit
dann mit der buddhistisch geprägten Praxis vermengt wird, gibt es ein großes
Durcheinander.
Als nächstes möchte ich mich dem Thema Säkularisierung und Gesundheit
zuwenden. Der amerikanische Molekularbiologe JON KABAT-ZINN hatte die Idee,
die Praxis der Achtsamkeit für Patientinnen und Patienten anzuwenden. Er hat
die Techniken, die er im burmesischen Buddhismus gelernt hatte, in einen
säkularen achtwöchigen Kurs umgesetzt. Dieser Kurs heißt:
„Achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung“ auf Englisch „Mindfulness-Based
Stress Reduction“ (MBSR). Das ist ein Begriff, den viele von Ihnen vielleicht
schon gehört haben.
Jetzt möchte ich kurz auf die Rolle der Wissenschaft in diesem Kontext
eingehen. Die Achtsamkeitswelle hat ihre Popularität unter anderem dem zu
verdanken, dass dieser Acht-Wochen-MBSR-Kurs aufgrund seiner
Standardisierung relativ gut erforscht werden konnte, und dass man dadurch
klinische Daten über seine Wirksamkeit unter den unterschiedlichsten
Bedingungen und bei unterschiedlichen Zielgruppen gewinnen konnte. Im Zuge
dieser Forschungsarbeiten sind unzählige Presseartikel erschienen, wie
„Achtsamkeit macht gesund“ oder „Achtsamkeit verändert das Gehirn“. Dadurch
fand eine Art Legitimierung statt. Man kann den dahinterliegenden Prozess als
soziales Spiel begreifen: der Wissenschaft kommt dabei die Rolle zu, bedingt
durch eine Säkularisierung die Legitimation dafür bereitzustellen, dass ein eher
randständiges, esoterisches Thema mehr und mehr ins Zentrum der
Gesellschaft rückt. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass Wissenschaft
keine „göttliche Instanz“ oder ähnliches ist sie ist eine soziale Praktik. Wir
selbst als Gesellschaft bestimmen die Bedeutung der Wissenschaft. Ich möchte
dies mit zwei Zitaten verdeutlichen. Das erste stammt von LINUS PAULING, dem
doppelten Nobelpreisträger, der sagt: „Wissenschaft ist Irrtum auf den letzten
Stand gebracht“. Wenn also mal wieder etwas Neues wissenschaftlich
bewiesen wird, dass Joghurt beispielsweise gut für Sie ist oder Kaffee schlecht,
denken Sie an LINUS PAULING, das wird helfen. Ein zweiter, großer Denker hat
23
das auch und wie ich finde fast noch treffender auf den Punkt gebracht,
ALBERT EINSTEIN: „Je mehr eine Kultur begreift, dass ihr aktuelles Weltbild eine
Fiktion ist, desto höher ist ihr wissenschaftliches Niveau.“ Es gilt also zu
begreifen, dass all das, was wir hier tun eine Konstruktion ist. Eine Konstruktion
dessen, was wir gemeinschaftlich sehen oder haben wollen und was
letztendlich auch nur durch soziale Praktiken entstanden ist.
Trotz dieser Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnis, möchte ich Ihnen
trotzdem kurz darstellen, wie an das Thema in der Forschung herangegangen
wird. Zunächst führen viele verschiedene WissenschaftlerInnen viele
verschiedene klinische Studien mit PatientInnen zu MBSR durch. Dann werden
oft in einem nächsten Schritt diese einzelnen Studien in einer sogenannten
Metaanalyse zusammengeführt. Aus diesen Metaanalysen ergibt sich ein Maß
für die Größe der mittleren Veränderungen in allen berücksichtigten Studien,
das wird Effektstärke genannt. Diese Effektstärken liegen für MBSR, je
nachdem wie man den Kurs untersucht, bei ungefähr einer halben
Standardabweichung. Das wird allgemein als ein kleiner bis mittelgroßer Effekt
interpretiert. Das heißt, Sie können relativ gut nachweisen, dass durch
Achtsamkeitspraxis etwas passiert. Das heißt aber wiederum nicht, dass Sie
erwarten dürfen, einen Kurs zu besuchen und acht Wochen später all Ihre
Lebensprobleme los zu sein; das wäre eine deutlich größere Effektstärke. Bei
der Interpretation ist zu beachten, dass es sich um Mittelwerte handelt. Das
heißt, dass den vielen Personen, deren Leben sich durch einen solchen Kurs
oder durch Achtsamkeitspraxis im Allgemeinen grundlegend verändert, auch
andere gegenüberstehen, die nur wenig oder gar nichts damit anfangen
konnten. Das Spektakuläre aus einer psychologischen Forschungssicht ist
dabei, dass der Kurs generisch ist, dass er überhaupt keinen klinischen Bezug
hat. JON KABAT-ZINN sagt noch nicht mal, dass es sich um eine Therapieform
handelt und erreicht dennoch in acht Wochen durch ein Gruppenprogramm
fast die gleichen Effektstärken wie ein Einzelpsychotherapieverfahren, das
störungsspezifisch ist, viele Wochen dauert und mit viel größerem Aufwand
einhergeht. Hierin liegt die eigentliche Sensation.
Um besser zu verstehen, wie man unterschiedliche Effektgrößen bewerten
kann, muss man die Forschungslogik bei solchen Studien verstehen: Ein erster
Zugang ist, dass man misst, wie es den Teilnehmenden vor und wie nach einer
Behandlung geht, also eine sogenannte Prä- und eine Post-Erhebung
durchführt. Dieses Verfahren ist jedoch nur begrenzt aussagekräftig. Wenn man
einen Schnupfen hat, dafür ein Medikament nimmt und der Schnupfen danach
besser wird, weiß man nicht ob es an dem Mittel lag. Der Schnupfen könnte ja
auch von alleine ausgeheilt sein. Deswegen benötigt man eine Kontrollgruppe,
die auch den Schnupfen hat, aber zum Beispiel kein oder ein anderes Mittel
24
nimmt. Nur so kann man einen aussagekräftigen Vergleich treffen. Im
vorliegenden Fall muss man also untersuchen, ob bei Patienten ohne MBSR-
Kurs auch eine Veränderung eintritt. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die
gar keine Therapie bekommt, verbessert sich der Zustand der MBSR-
Kursteilnehmenden um eine halbe Standardabweichung. Zusätzlich vergleicht
man die Messungen mit Erhebungen bei aktiven Kontrollgruppen, also solchen,
die beispielsweise acht Wochen lang ein Entspannungstraining machen. Es
zeigt sich, dass die Probanden auch vom Entspannungstraining profitieren der
Unterschied zur Effektstärke von MBSR ist hier also etwas kleiner. Vergleicht
man schließlich mit einer Kontrollgruppe, die für denselben Zeitraum eine
kognitive Verhaltenstherapie (kVT) erhält, zeigt sich eine nahezu gleichgroße
Effektstärke wie bei MBSR. Es gibt zwar einen kleinen Unterschied dieser ist
für die PatientInnen subjektiv jedoch nicht spürbar. KVT gilt zurzeit als der
Goldstandard dessen, wie man PatientInnen mit klinischen Diagnosen wie
Depressionen oder Angststörungen therapieren kann. Dass MBSR hierfür eine
ähnliche Effektstärke erzielt, ist also wirklich bemerkenswert.
Die größten Effekte konnte man beim Umgang mit den negativen Emotionen,
Angst, Ärger, Traurigkeit und Depression nachweisen. Daraus ergeben sich
viele klinische Anwendungsfelder, auf die hier nicht im Detail eingegangen
werden kann (zu klinischen Anwendungsfeldern des Achtsamkeitskonzeptes
siehe KABAT-ZINN 2001, HEIDENREICH & MICHALAK 2004 und SEGAL et al. 2008).
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die kulturelle Einbettung des
Achtsamkeitskonzeptes eingehen. Warum sind meditationsbasierte Ansätze
gerade so populär? Womit hat es zu tun, dass sie aus einem esoterisch
randständigen Bereich auf einmal in der Mitte der Gesellschaft ankommen? Als
einen möglichen Ausgangspunkt für den anstehenden Workshop möchte ich
Ihnen aufzeigen, wodurch sich die (post-)moderne Gesellschaft auszeichnet. Es
gibt mehrere zentrale Faktoren, die die (Post-)Moderne auszeichnen: Zunächst
leben wir hier im Westen in einer Zeit des kompletten Überangebots. Wir haben
immer zu viel seien es Suchergebnisse bei Google oder Teebeutel im
Lebensmittelladen, wir sind umgeben von einem absoluten Überangebot. Wir
leben in einer Zeit der sozialen Beschleunigung, das heißt, unsere Abläufe
seien es berufliche, familiäre oder unsere Bewegungsabläufe beschleunigen
sich zunehmend. Diesen Trend kann man bereits ungefähr seit 1700
beobachten und diese Beschleunigung ist selbstverstärkend. Wir leben mit
ungeheuren Individualisierungsbemühungen, geradezu mit einem
Individualisierungsdruck. Dieses schöne Wort Alleinstellungsmerkmal, die
Aufgabe sich von anderen zu unterscheiden, wird immer zentraler und wichtiger
was sehr viel Stress und Druck auslösen kann. Wir leben in einer Zeit der
extremen Funktionalisierung. Dieser Punkt ist für das Verständnis von
25
Achtsamkeit und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung besonders wichtig: Sie tun
immer mehr Dinge um zu… Durch dieses Um-zu sind Sie, ist Ihr Geist, dem
gegenwärtigen Moment enthoben. Sie sind mit Ihrer Aufmerksamkeit bereits
beim Ziel. Ein streng funktionalisierter Zustand verträgt sich demnach nicht mit
einem gegenwärtigen Erleben. Je funktionalisierter unser Alltag ist, umso
entspannender und erfüllender erleben wir daher den achtsamen
Geisteszustand. Dadurch, dass wir durch elektronische Medien mehr und mehr
Lebensräume in unserem Alltag funktionalisieren können, werden
entfunktionalisierte Räume, Mußeräume wie wir sagen, immer seltener. Dazu
kommen noch die gesellschaftlichen Trends zu Rationalisierung und
Kapitalisierung... Und es ist einfach Fakt, dass der Mensch für diese
Entwicklung unserer Kultur eigentlich nicht gemacht ist.
Ich gebe zu, das stimmt nur zum Teil, schließlich haben wir unser Stresssystem,
mit dem wir reagieren können. Mit diesem können wir relativ viel bewegen,
können eigentlich alles schaffen aber man darf nicht vergessen, dass dieses
Stresssystem generisch ist; dass alle Säugetiere seit Millionen von Jahren
immer mit der gleichen Stressantwort reagieren, egal um was für einen
„Stressor“ es sich handelt. Es besitzt keinerlei spezifische Adaptation und es hat
sich eigentlich für akute Überlebenssituationen in der Natur entwickelt. Das
bedeutet, dass diese Reaktion nach zwei, drei, vier Stunden spätestens vorbei
sein sollte länger als vier Stunden kann man einfach nicht vor einem Tiger
weg rennen. Unser Alltag aber, unsere Alltagsstresssituation, hört nicht nach
vier Stunden auf. Das führt dazu, dass das ganze Stresssystem sei es mental,
sei es physiologisch an seine Grenzen geführt wird und dann eben zu
übermäßigem Stress, zu Burnout und chronischen Erkrankungen führt. Genau
das ist die Problemstellung, an der Achtsamkeit ansetzt.
Fassen wir es noch einmal zusammen: Warum also Achtsamkeit? Im Kontext
des Buddhismus würde man sagen: zur Selbsttransformation, um Mitgefühl zu
entwickeln, um sich von der eigenen psychischen Bedingtheit zu befreien. Im
Kontext von Gesundheit würde man sagen: zur Reduktion von Stress und
Leiden, zur Bewältigung von chronischen Erkrankungen, um einen Umgang mit
schwierigen Situationen zu entwickeln. Im Kontext der Postmoderne würde man
sagen: als eine Grundhaltung in einer aus den Fugen geratenen Welt. Um eine
Antwort auf die Frage zu finden: „Was kann ich denn hier noch tun und wie kann
ich in dieser Welt sein?“
Hier und heute stellt sich die Frage nach dem Kontext Naturerleben. Die
Antwort darauf, wollen wir gemeinsam mit Ihnen in den nächsten Tagen finden.
Mit diesen Anregungen und Einblicken möchte ich Sie jetzt in den weiteren Teil
des Seminars entlassen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
26
Weiterführende Literatur:
BANZHAF, H. und SCHMIDT, S. (2015): Meditieren heilt: Vorbeugen und gesund werden durch
Achtsamkeit. Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag.
KABAT-ZINN, J. und KESPER-GROSSMAN, U. (2004): Die heilende Kraft der Achtsamkeit (Buch
mit 2 CDs). Freiamt: Arbor Verlag.
KORNFIELD, J. (1995): Frag den Buddha - und geh den Weg des Herzens. München: Kösel-
Verlag.
MEIBERT, P. (2014): Der Weg aus dem Grübelkarussell: Achtsamkeitstraining bei Depression,
Ängsten und negativen Selbstgesprächen. Das MBCT-Buch. München: Kösel-Verlag.
ROSENBERG, L. (2000): Mit jedem Atemzug. Freiamt: Arbor Verlag.
SALZBERG, S. (2006): Metta Meditation. Buddhas revolutionärer Weg zum Glück (2).
Frankfurt: Wolfgang Krüger Verlag GmbH.
SCHMIDT, S. (2011): Achtsamkeit und gesunde Lebensführung. In HOEFERT, H.-W. und
KLOTTER, C. (Hg.): Gesunde Lebensführung -
kritische Analyse eines populären
Konzepts. Bern: Huber, 192208.
VON ALL MEN, F. (2000): Di
e Freiheit entdecken. Grundlagen buddhistischer
Einsichtsmeditation für den Westen. Freiamt: Arbor Verlag.
WILLIAMS, J. M., TEASDALE, J. D., SEGAL, Z. V. und KABAT-ZINN, J. (2009): Der achtsame Weg
durch die Depression. Freiburg: Arbor.
ZIMMERMANN, M., SPITZER, C. und SCHMIDT, S.
(2012): Achtsamkeit. Ein buddhistisches
Konzept erobert die Wissenschaft - mit einem Beitrag S.H. des Dalai Lama. Bern:
Huber.
27
„In der Hand eine Traube… Ich schaue sie mit den Augen eines Kindes an…
Dieses satte Grün, die glatte Oberfläche, die Mulde am Stielansatz… Auf der
Hand ist sie kühl… Es ist ganz schwer sie nicht gleich in den Mund zu
stecken… ich lasse mir Zeit sie zu betrachten, sie zu riechen… Ich beiße
vorsichtig rein und höre auf das Geräusch, was dabei entsteht… Ich fühle, wie
es ist, wenn das Stückchen Traube am Gaumen ist… Ich kaue sie vorsichtig
und schmecke den Saft… Die Haut schmeckt anders als das Fruchtfleisch… Ich
schlucke vorsichtig und schmecke nach…
Persönliche Reflexion zur „Essensmeditation“.
Abb. 3: Teilnehmerin bei der Essensmeditation (Foto: Eva Simminger).
28
3.2 Berichte aus den Kleingruppendialogen
Praxis der Achtsamkeit 3.2.1
Autoren: Dr. Helmut Wetzel, PD Dr. Stefan Schmidt
„Tag und Nacht, was immer euch begegnet es ist euer Leben“
UCHIYAMA (2007)
Der nachfolgende Text soll einen Einstieg in die Achtsamkeitspraxis bieten.
Nach einer kurzen Einführung in das Thema, finden sich im zweiten und dritten
Teil praktische Achtsamkeitsübungen. Die meisten dieser Übungen wurden mit
den Workshop-Teilnehmenden auf der Insel Vilm im Freien erprobt1.
Praxis der Achtsamkeit eine Einstimmung
Der Einstieg in die Praxis der Achtsamkeit beginnt mit der schönen Kunst des
Innehaltens. Dies scheint zunächst gar nichts Besonderes zu sein: nichts tun -
nur sitzen, liegen, gehen. Die einfache Aufgabe der Achtsamkeitsmeditation
lautet seit Jahrtausenden: "Sie müssen nur sitzen und atmen", sich von all den
wunderbaren Dingen eines einzigen Moments berühren und das Leben auf sich
wirken lassen. Das ist einfach gesagt. Aber wenn Sie sich einmal auf einem
Spaziergang durch den Park oder im Wald beobachten, werden Sie selbst
sehen, wie schwierig es ist, so eine simple Anweisung zu befolgen. Im nicht
eigens achtsamen Normalzustand führt unser Geist nämlich ein erstaunliches
Eigenleben: er ist dauernd mit irgendwelchen Dingen beschäftigt, „erzählt“ uns
Geschichten, produziert Bilder, springt von einem Gedanken zum anderen.
Salopp könnte man sagen: das ist ja auch sein Job. Aber wo bleibt der „Rest“?
1 Die Übungen in diesem Text stammen aus vielen Quellen: Lehrreden der Meister ver-
schiedener Traditionen, insbesondere aus der von Master Trung Quang Nhat Hanh, aus
Workshops und Seminaren, an denen wir teilgenommen haben, sowie praxisbezogenen
Veröffentlichungen. Wir haben sie als Lehrende selbst erprobt und finden sie für unsere
eigene Arbeit sehr hilfreich.
Die wichtigsten veröffentlichten Quellen, aus denen wir Auszüge verwendet haben, sind
in der weiterführenden Literatur am Ende dieses Kapitels sowie im Literaturverzeichnis
aufgeführt.
29
Unser Körper ist eigentlich der Teil der Natur, der uns immer der nächste bleibt,
und doch ist er für viele Menschen der fernste. Wir gehen durch den Wald, sind
aber in Gedanken ganz wo anders: bei der Liebsten in Hamburg, zuhause am
Schreibtisch bei der Steuererklärung, schon in der morgigen Teamsitzung, beim
letzten Titelfoto des „Spiegel“.
Wenn wir Achtsamkeit praktizieren und kultivieren, geht es nicht um
Erleuchtung oder irgendeine ungewöhnliche Erfahrung. Wir sammeln nur
unseren umherfliegenden Geist wieder ein und versuchen erst mal, wieder zu
uns zu kommen, wieder ganz zu werden. Das Herz der Praxis ist jeder einzelne
Atemzug, jede Bewegung, jedes Gefühl, jeder Gedanke, alles, was im Moment
mit uns in Beziehung steht, oder was für uns gerade von Bedeutung ist. Der
kleine, aber entscheidende Unterschied ist, dass wir alles, was uns begegnet,
was wir tun und sind, aufmerksam und konzentriert in den Blick nehmen, es
achtsam betrachten. Wir berühren das Leben und die Welt ganz bewusst, mit all
unseren geöffneten Sinnen.
Unser Atem ist dabei das wichtigste Werkzeug und die Brücke, die Körper,
Geist und Rede wieder zu ihrer natürlichen Einheit zusammenführt.
Probieren Sie es einfach aus: Atmen Sie einige Minuten in diesem Geist, und
sie werden sehen, ihr Atem verändert sich ganz von selbst, wird ruhiger,
leichter, gelassener, sanfter, langsamer, tiefer, mit einem Wort natürlicher.
Wenn Körper und Geist wieder zusammenkommen werden Sie sich spürbar
wohler fühlen. Die Praxis der Achtsamkeit hilft uns, wieder mehr unserer
Lebendigkeit gewahr zu werden.
Doch was ist eigentlich mit Achtsamkeit gemeint?
Die Weisheit des Körpers
Achtsamkeitspraxis ist ein über mehr als 2000 Jahre erprobter spiritueller
Übungsweg, der ausschließlich und unabdingbar körperlich verankert ist. Der
Körper ist der Träger potentieller motorischer und emotionaler Energien, die
jederzeit mobilisiert, benutzt und transformiert werden können. Sie sind der
Stoff, aus dem Gefühle sind. Der Körper ist auch der Träger der
Grundbausteine des Lebens, die die ganze „Weisheit der Evolution“ enthalten.
So „weiß“ er im Grunde besser als wir, was ihm gut tut und was er gerade
bräuchte, um sich gesund zu entwickeln wenn „wir“ auf „ihn“ hören. Üben Sie
daher ohne Pläne und Absichten. Es gilt grundsätzlich bei allen
körperbezogenen Übungen das Prinzip: lieber weniger, als zu viel lieber
langsam, als zu schnell. Steigern kann man immer. Es können heftige Gefühle
oder Erinnerungen angestoßen werden, die man nicht mehr einfach
zurücknehmen kann. Gefühle brauchen Raum und nehmen sich diesen auch.
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Es ist eine Grundregel, für alle Übungen: Es braucht immer eine gute
emotionale Rahmung, in der sich alle sicher fühlen können und falls nötig
jederzeit Unterstützung bekommen.
Achtsamkeit ist die „Verabredung mit dem Leben“ (THICH NHAT HANH)
Achtsamkeit gilt im Buddhismus als der königliche Geisteszustand
Achtsamkeit ist der Schlüssel zu Selbstkenntnis und Selbsterfahrung
Achtsamkeit ist eine seit Jahrtausenden bewährte Methode und kann
daher trainiert werden
Aus der Achtsamkeit wird die Weisheit geboren
Achtsamkeit heilt
Achtsamkeit ist der Weg zum Glück
Achtsamkeit ist ein zentrales Konzept der Lehre Buddhas
Eine kleine Auswahl an Bildern und Metaphern
Achtsamkeit ist wie der Hirte, der umherschweifende Kühe zur Herde
zurückholt
Achtsamkeit ist der aufmerksame Wächter am Tor des Geistes
Achtsamkeit ist wie das offene, weite Herz einer Mutter, die zärtlich und
warmherzig ihr Kind betrachtet, es in ein weiches warmes Tuch hüllt
und liebevoll im Arm hält
Achtsamkeit ist wie eine ältere Schwester, die sich um ihr kleines
Brüderchen kümmert und es sorgsam hütet
Achtsamkeit ist wie die wärmende Frühlingssonne. Sie öffnet die
Knospen und lässt die Blume erblühen. Alle Pflanzen, auf die sie
scheint verändern sich, beginnen zu treiben und wachsen
…und eine erste, vorläufige Definition
Achtsamkeit ist wie ein Akt der Gastfreundschaft. Sie heißt alle Gedanken und
Gefühle willkommen, die das Haus unseres Bewusstseins betreten. Jede Übung
ist eine Einladung zu sehen, wer sich gerade in unserem inneren Wohnzimmer
niedergelassen hat.
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Daher kann man im Grund in jedem Augenblick und an jedem Ort mit der Praxis
beginnen, im Seminarraum, in der Meditationshalle, in der Natur, auf dem
Bahnsteig.
Bevor wir einen bunten Strauß von Achtsamkeitsübungen zusammenstellen,
eine kleine Anmerkung vorweg: Die Übungen in diesem Text stammen aus
vielen unterschiedlichen Quellen, Lehrreden der Meister verschiedener
Traditionen, aus Seminaren, an denen wir teilgenommen haben und
Veröffentlichungen. Manche haben wir für unsere Zwecke modifiziert und haben
sie alle als Übende selbst erprobt. Die wichtigsten veröffentlichten Quellen, die
wir zu Rate gezogen haben, führen wir in der Literatur-Liste auf. Sie dient zur
Vertiefung und Weiterführung.
Die folgenden drei Aussagen, alle aus der Lehrtradition des Zen-Meisters THICH
NHAT HANH sind ein hilfreicher Wegweiser und bieten eine erste
Orientierungshilfe
1. Go home to yourself restore peace within take care of yourself!
Sie atmen ruhig und schauen, was gerade um Sie herum und in Ihnen
passiert
Sie schauen Ihrem Geist bei der Arbeit zu und sehen, wie er
funktioniert, womit er sich gerade ohne großes Zutun beschäftigt
Sie bringen freundlich Ihren Geist dahin, wo Ihr Körper gerade ist
(Embodied Mind)
Sie hören in sich hinein
Sie lassen Ihren inneren Raum wachsen, spüren die Weite in Ihnen
Der Klang einer Glocke kann Ihnen dabei helfen und bringt Sie immer
wieder zu sich zurück
2. Be aware and stand with your feelings
Wenn Sie während einer Übung eine Veränderung bemerken, die
einen für Sie spürbaren Unterschied macht, haben Sie den Einstieg
geschafft
Solange Sie sich dabei gut fühlen, sind Sie auf dem richtigen Weg
3. Before acting, feel comfortable and at peace
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Praxis der Achtsamkeit einige grundlegende Übungen
1. Erste Begegnung mit dem achtsamen Ich
Die folgenden drei kleinen Übungen sind ein einfacher Einstieg in die Praxis der
Achtsamkeit. Sie brauchen dafür höchstens einige Minuten Zeit. Wenn Sie
wollen, können Sie dazu ihre Augen schließen.
Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit hoch zu Ihrer Stirn, versuchen Sie
sie bewusst zu glätten und zu entspannen. Nun schwenken Sie mit
Ihrer Aufmerksamkeit auf den Bereich zwischen Ihren Augenbraunen
und lassen auch ihn ein wenig weiter und weicher werden.
Dann lauschen Sie einfach, öffnen sich und hören, was gerade der
„Sound“ in der Welt da draußen ist.
Und nun gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu Ihrem Gesicht,
entspannen Ihre Gesichtsmuskeln. Beginnen Sie mit der Augenpartie,
gleiten über Ihre Wangen zum Mund und entspannen Ihren Unterkiefer.
Heben sie ganz leicht Ihre Mundwinkel zu einem „kleinen Lächeln“.
2. Der „Anfänger-Geist-Körper“
Die einfachste und die am wenigsten riskante Körperübung ist es, dass man
sich auf dem Platz, auf dem man sitzt, unter Anleitung bequem hinsetzt, seine
Haltung überprüft und seinen Atem beobachtet. Dabei ist es egal, ob Sie gerade
auf einem Stuhl, einem Kissen, einer Wiese oder auf der „nackten“ Erde sitzen.
Es reicht schon, wenn Sie spüren können, wie es sich anfühlt in einer normalen,
aufrechten Haltung zu sitzen, wenn sich im Lichte der Achtsamkeit Wirbelsäule,
Hals, die Schultern und die Hände ein wenig entspannen.
Schon Aufstehen intensiviert das Körperempfinden.
Eine weitere schöne und ganz einfache Übung ist es, sich im Stehen noch
einmal ganz bewusst zu strecken und sich aufzurichten:
Beobachten Sie Ihren Atem, ohne ihn zu verändern,
gehen Sie beim Ausatmen leicht in die Knie und kommen Sie mit dem
Einatmen wieder in Ihre „normale“ Ausgangsposition zurück.
Jetzt stellen Sie sich vor, wie Sie am Scheitelpunkt Ihres Kopfes von
unsichtbaren Schnüren wie eine Marionette ganz leicht nach oben
gezogen werden. Wachsen Sie ein wenig in den Himmel! Spüren Sie
die ganze Länge Ihres Körpers von den Fußsohlen bis zum
Scheitelpunkt, der höchsten Stelle Ihres Kopfes.
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3. Einige nützliche Prinzipien
In dieser ersten Phase sollten Übungen nie länger als drei bis fünf Minuten Zeit
brauchen. Auch kleinste Bewegungen bringen uns erstaunlich schnell in
unseren Körper zurück. Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihren Körper zu
spüren, finden es hilfreich, wenn man kurze und klare Anweisungen gibt, wie
z.B.:
Atmen Sie durch die Nase ein und atmen Sie durch den Mund aus.
Schenken Sie auch der Pause dazwischen kurz Ihre Aufmerksamkeit.
Experimentieren Sie ein wenig und finden den für Sie besten Rhythmus
Ihres Atems.
Es ist ein gutes Prinzip, zunächst spielerisch anzufangen und die Menschen
einzuladen, einfach mal etwas Neues zu probieren. Bitten Sie daher gerade in
der Anfangsphase immer wieder um ein kurzes Feedback.
Kleine Bewegungen mit den Füßen, Beinen, Händen oder Schultern helfen den
Übenden mit ihrem Körper vertrauter zu werden. Zwischen allen Übungen ist es
immer wieder wichtig, Momente der Ruhe und der Sammlung vorzusehen. Nach
jeder Übung geben Sie den Übenden Zeit, dass sie ihre Körper wieder
ausrichten und nach-spüren können.
Planen Sie Übungen möglichst ohne Anstrengung. Gehen Sie keinesfalls bis an
eine Schmerzgrenze. Wenn Sie „richtig“ üben, werden Ihre Haltungen und
Bewegungen ohnehin leichter, fließender und sichtbar ästhetischer.
4. Die erste Verankerung der Achtsamkeit
Ob im Sitzen, liegen, stehen, gehen, wir beginnen immer mit dem Atem. Und
wenn wir ihn „verlieren“, kehren wir immer wieder zu ihm zurück, ohne uns
anzustrengen. Er ist das grundlegende Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung der
Achtsamkeit. In der buddhistischen Tradition werden zahlreiche Methoden der
Atembetrachtung gelehrt.
Hier ein Beispiel:
„Sei immer achtsam, wenn du einatmest und achtsam wenn du ausatmest.
Wenn du tief einatmest, dann wisse >ich atme tief ein<. Wenn du tief
ausatmest, dann wisse >ich atme tief aus<. Wenn du kurz einatmest, dann
wisse >ich atme kurz ein<. Wenn du kurz ausatmest, dann wisse >ich atme kurz
aus<.“
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Anfängern hilft es sehr der Länge ihres Atems zu folgen. Am leichtesten ist es,
dies im Liegen einfach auszuprobieren:
Legen Sie sich bequem und entspannt auf eine weiche Unterlage.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Bauchdecke und beobachten
einfach wie sie sich rhythmisch hebt und senkt. Sie werden bemerken,
dass sie sich nach etwa zwei Drittel des Einatmens bereits wieder
senkt und sich Ihr Brustkorb weitet.
Nach einigen Atemzügen sind Sie mit der „Länge und Tiefe“ Ihres
Atems vertraut. Durch einfaches Zählen „messen“ Sie, wie lange der
Prozess des Einatmens und des Ausatmens dauert.
Bewusstes Atmen erzeugt immer die Energie der Achtsamkeit.
5. Im Körper zuhause: einige grundlegende Lockerungsübungen
Knie- und Fußgelenk lockern:
o Atmen Sie aus und gehen Sie dabei langsam in die Knie
o Beim Einatmen richten Sie sich wieder auf und strecken sich
Freie Fußgelenke
o Stellen Sie sich beim Einatmen auf die Zehenspitzen
o Beim Ausatmen stellen Sie sich wieder flach mit der ganzen
Sohle auf die Erde
Bewegliche Hüfte
o Verlagern Sie beim Einatmen das Gewicht auf das linke Bein,
danach heben Sie das rechte Bein langsam vom Boden,
winkeln es an, bewegen es wie beim Gehen und berühren mit
Ihren Zehenspitzen den Boden, ohne dabei aufzutreten. Für
einen kurzen Moment verweilen Sie in dieser Haltung. Beim
Ausatmen machen Sie diese Bewegung rückwärts und setzen
Ihr rechtes Bein wieder neben dem linken auf. Dann verlagern
Sie das Gewicht wieder auf beide Beine
Bewegliches Becken
o Stützen Sie beide Arme in die Hüfte und kippen Sie das Becken
langsam vorwärts und rückwärts
o Lassen Sie die Hüfte (wie eine Bauchtänzerin) kreisen
Schultern frei lassen
o Ziehen Sie beide Schultern hoch, halten einen Moment lang die
Spannung und lassen sie laut ausatmend wieder fallen
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6. Den Körper „aufwecken“
Strecken Sie den rechten Arm etwa mit einem Winkel von 45 Grad
nach vorne aus, die Handfläche zeigt nach oben. Legen Sie jetzt die
linke Handfläche auf die rechte. Führen Sie ganz sanft klopfend die
linke Handfläche an der Innenseite des rechten Armes hoch bis zur
Schulter und dann an der Außenseite wieder zurück zum Handrücken
zurück. Spüren Sie kurz nach.
Und nun die andere Seite: legen Sie die rechte Handfläche auf die linke
Handfläche des nach vorne gestreckten linken Armes… usw.
Nun legen Sie beide Handflächen bequem auf Ihren Unter-Bauch und
klopfen mit beiden Händen simultan nach außen um das Becken und
führen sie bis zum Rücken im Bereich der Nieren. Sie spüren kurz
bewusst diese Berührung. Dann beginnen Sie wieder sanft klopfend:
von der Rückseite ausgehend über den Po, die Beine hinunter bis zu
den Fersen. Führen Sie weiter klopfend ihre Handflächen langsam
weiter nach vorne, rund über die Knöchel auf den Fußrücken an der
Innenseite der Beine hoch, zurück zum Bauch in die Ausgangslage.
Atmen Sie bewusst ein und aus und spüren Sie den Kontakt zwischen
Ihren Händen und Ihrem Bauch.
Legen Sie Ihre rechte Hand aufs Herz und klopfen diagonal weiter, die
Vorderseite über den Solarplexus und die rechte Leiste hinunter und
weiter über die Beinaußenseite, hinunter zum Fuß, über den
Fußrücken die Vorderseite des Beines hoch, wieder zurück zum Herz
und Schlüsselbein.
Das gleiche machen Sie jetzt mit der linken Hand, die Sie auf die
rechte Brustseite legen.
7. Verbindung mit sich selbst suchen: Die Self-Self-Übung
Auch diese Übung können Sie im Liegen oder Sitzen ausführen.
Legen Sie Ihre dominante Hand auf eine Stelle Ihres Körpers, wo
immer Sie wollen.
Spüren Sie wie Ihre Handfläche Ihren Körper berührt, werden Sie sich
der ganzen Fläche des Kontakts gewahr. Gibt es Unterschiede in der
Intensität des Kontakts, Punkte oder Bereiche, die sich von anderen
unterscheiden?
Spüren Sie und versuchen, soweit es geht auch die Verbindung
zwischen den beiden Teilen Ihres Körpers zu visualisieren. Bleiben Sie
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bei dem, was Sie gerade erfahren und vergessen Sie dabei nicht, ihren
Atem. Versuchen Sie zu spüren, wie es ist, gleichzeitig berührt zu
werden und zu berühren, „gebend“ und „nehmend“ zugleich zu sein.
8. Unterschieden nachspüren
Verlassen Sie für einen kurzen Moment das Gewohnte, den
„unterstützenden“ Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen, stehen Sie auf und
spüren einfach den Unterschied. Versuchen Sie nicht zu werten. Wie
fühlt es sich an, plötzlich frei und aufrecht auf den eigenen Füßen zu
stehen und nicht mehr „getragen“ zu werden? Wie stehen Sie?
Gehen Sie mit ihrer Aufmerksamkeit zu Ihren Knien. Haben Sie sie
durchgedrückt oder leicht angewinkelt? Ist Ihr Rücken gerade? Spüren
Sie Ihre Fußsohlen im Kontakt mit dem Boden?
Drehen Sie sich jetzt kurz um und betrachten Sie den leeren Stuhl, der
Sie eben noch getragen hat. Gibt es einen Gedanken, der Ihnen durch
den Kopf geht, spüren etwas, kommt ein Impuls oder eine Geste?
Je vielfältiger die wahrnehmbaren Unterschiede an einem Ort sind, desto
leichter ist diese Übung zu erweitern und zu differenzieren. Der Wald oder ein
weiter Platz sind geradezu ideale Orte für Achtsamkeitsübungen.
9. Die tägliche Atempause
Anregungen für eine kleine Achtsamkeits-Praxis
Verabreden Sie sich einmal jeden Tag zu einem Rendezvous mit sich selbst.
Eine Checkliste für „Eilige“
o Wo befinden Sie sich gerade?
o „Checken“ Sie kurz Ihre Körperhaltung
o Beobachten Sie die nächsten drei Atemzüge
o Und schauen Sie dann wo Ihr Geist gerade weilt, womit haben
„Sie“ sich gerade beschäftigt?
Die Kunst des Innehaltens
Halten Sie mindestens einmal inne und spüren bewusst, wie es ist, am
Leben zu sein.
Suchen Sie sich auf dem Weg zu Ihrer Arbeit eine kurze Wegstrecke,
die Sie jeden Tag bewusst und achtsam zurücklegen.
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Lebendigkeit kultivieren
Wenn Sie unter Druck oder in Stress geraten, versuchen sie Ihre
Stresspunkte im Körper zu spüren: wo im Körper ballt sich Energie, an
welchen Stellen spüren Sie Druck oder Spannung?
Versuchen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zurück zu Ihrem Atem zu
kommen und atmen Sie dreimal bewusst ein und aus.
Achten sie mindestens einmal am Tag bewusst darauf, wer Ihnen gut
tut und in wessen Gesellschaft Sie sich wohl fühlen.
Begegnen Sie mindestens einem Menschen am Tag mit Herzlichkeit,
Freundlichkeit und Mitgefühl.
Spezielle Übungen im Freien: Die Rendezvous mit der Natur
Viele Menschen bewegen sich gerne in der Natur, sie genießen die Ruhe,
können abschalten, freuen sich an Bäumen und Blüten doch die wenigsten
begegnen ihrer Umgebung mit allen Sinnen und ganz bewusst. Dabei kann
Achtsamkeit ein Weg sein, um die lebendige natürliche Umwelt intensiv zu
erleben und sich von ihr faszinieren zu lassen. Erinnern Sie sich nur, wie Sie als
ein Kind ganz in die Natur eintauchen konnten, wie Sie im Wald gespielt oder
auf Wiesen getobt haben. Die grundlegenden und die nun folgenden speziellen
Übungen helfen Ihnen dabei, eine empfangende, achtsame Geisteshaltung der
Natur gegenüber einzunehmen (siehe auch HUPPERTZ & SCHATANEK 2015, die
eine sehr umfangreiche Sammlung zusammengestellt haben). Viel Spaß beim
kindlichen Staunen!
1. Pendeln „Innen-Außen“
Bitte suchen Sie sich in der Natur ein Objekt aus, das Sie besonders anspricht,
ein Baum, ein Blatt, ein Ast, und betrachten es in aller Ruhe und nehmen dann
einfach wahr, was dabei gerade in Ihrem Körper und Geist passiert. Und nun
pendeln Sie einfach in Ihrem Tempo zwischen Ihren eigenen körperlichen
Empfindungen (>ich spüre gerade…<) und dem was, Sie gerade an dem von
Ihnen ausgesuchten Objekt wahrnehmen (>ich sehe..<). Verweilen Sie bei
dieser Pendelbewegung und beobachten einfach, wohin Sie Ihre Wahrnehmung
führt, ohne es zu bewerten. Und wenn es doch passiert, bemerken Sie es kurz
(>ah, ich denke und bewerte<), lassen Sie den Gedanken wieder los und fahren
fort: (>ich sehe… ich spüre… <). Stecken Sie für den Anfang Ihre Ziele nicht zu
hoch. Drei- bis fünfmal genügen völlig.
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2. Berühren und Verbinden
Die folgenden kleinen Übungen helfen uns, ganz bewusst mit der Welt in
Verbindung zu treten. Wir beginnen wieder mit einer kurzen
Entspannungsübung und fokussieren auf unseren Atem:
„Einatmend bin ich mir bewusst, dass ich einatme - ausatmend bin ich
mir bewusst, dass ich ausatme“, so die klassische Anweisung wie sie
schon der historische Buddha gelehrt hat.
Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit jetzt zu Ihren Augen: Im
Gewahrsein meiner Augen, atme ich ein im Gewahrsein des Waldes
(der Wiese) atme ich aus
Schließen Sie jetzt bitte Ihre Augen und gehen mit Ihrer
Aufmerksamkeit zu Ihren Ohren: Im Gewahrsein meiner Ohren atme
ich ein im Gewahrsein eines Geräuschs (eines Klanges, der Stille)
atme ich aus
Schließen Sie bitte Ihre Augen und gehen jetzt mit Ihrer
Aufmerksamkeit zu Ihrer Haut. Spüren Sie die Oberfläche Ihres
Körpers: Im Gewahrsein meiner Haut atme ich ein ausatmend, spüre
ich den Wind (den Stoff der Kleider, die Wärme der Sonne, die Kühle
des Wassers, die Rinde eines Baumes) auf meiner Haut.
Auf diese Weise können Sie mit all Ihren Sinnen experimentieren und neue
Erfahrungen sammeln. Welcher Ihrer Sinne ist am erfahrungsnächsten und
welcher am erfahrungsfernsten? Was ist Ihr sensorisches „Haupttor“ für die
Wirklichkeit?
3. Einen Ort körperlich erfahren
Suchen Sie sich in der Natur einen für sie guten und angenehmen
Platz, einen Wald oder eine Wiese. Stehen Sie locker und entspannt.
Lassen Sie sich Zeit, kommen Sie zur Ruhe und folgen Sie Ihrem
Atem. Jetzt versuchen Sie dem Ort, der Sie aufnimmt und Ihnen
„Heimat“ gewährt Ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Sehen Sie
sich um, drehen sich langsam einmal um Ihre ganze Achse, und
nehmen den Naturraum einfach wahr, beobachten Sie aufmerksam,
was sich vor Ihren Augen „abspielt“. Spüren Sie wie der Boden unter
den Füßen Sie trägt, wie er Ihren Körper im wahrsten Sinne des
Wortes unterstützt.
Nun wählen Sie ein Objekt in der Landschaft, das Ihr Interesse weckt,
das Sie „anspricht“, das sich buchstäblich auch in Ihrer Reichweite
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befindet. Entwerfen Sie zunächst in Ihrer Vorstellung einen Plan, wie
Sie sich diesem Objekt nähern, wie Sie es berühren, wie es sich
anfühlen könnte.
Führen Sie Ihren Plan aus. Tun Sie dies langsam und achtsam. Und
nachdem Sie Ihren Plan ausgeführt haben: Gibt es Unterschiede
zwischen Ihren Plänen und Erwartungen und der wirklichen Aktion und
dem realen Objekt, das Sie gerade berühren?
4. Hören
Suchen Sie sich einen Ort in der Natur und achten Sie nur auf
Geräusche. Wenn es für Sie einfacher ist, können Sie auch Ihre Augen
dabei schließen. Sind es Geräusche oder Klänge? Welche können Sie
unterscheiden? Kurze und länger dauernde, angenehme, neutrale,
unangenehme?
5. Den Fokus wechseln (Gruppenübung)
Stellen Sie sich locker hin, spüren Sie den Boden unter sich und
nehmen Sie Ihren Atem wahr. Bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit für
drei Atemzüge bei Ihrem Atem. Nun strecken Sie beide Arme in
Augenhöhe nach vorne und formen mit Daumen und Zeigefinger der
linken und rechten Hand jeweils einen Kreis, wie ein „Linse“, durch die
Sie einen kleinen Ausschnitt der Landschaft vor Ihnen beobachten.
Betrachten Sie eine Weile alles was Sie sehen, auch kleine
Einzelheiten mit großer Aufmerksamkeit. Bewegen Sie dann langsam
beide Hände nach außen und öffnen so immer weiter Ihren Blickwinkel
und Horizont, als würde sich langsam der Vorhang öffnen und die
gesamte Bühne der Natur wird sichtbar. Achten Sie dabei auf alle
Veränderungen, die Sie bei sich wahrnehmen, während Sie ihr
Blickfeld langsam vergrößern.
Stellen Sie sich wieder locker hin. Nun schauen Sie sich um und
achten darauf welcher Gegenstand, welche Pflanze, welcher Teil einer
Pflanze Ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine Teilnehmerin oder ein
Teilnehmer beginnt das Objekt präzise, mit Richtungs- und Ortsangabe
laut zu benennen, so dass alle anderen in der Gruppe auch ihre
Aufmerksamkeit auf dieses richten können. Nach etwa 30 Sekunden
beginnt eine andere Person aus der Gruppe und bestimmt so den
gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus. Tempo und Reihenfolge der
Zurufe bestimmt die Gruppe spontan.
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6. Mit allen Sinnen: die 3-2-1- Übung
Sehen Sie sich um in der Landschaft und achten Sie nacheinander auf
drei Dinge, die Sie sehen, dann auf drei Geräusche, die Sie hören, jetzt
riechen Sie einmal bewusst und achten auf drei verschiedene Gerüche
und schließlich spüren Sie Ihre Haut und achten auf drei
unterschiedliche Empfindungen.
Und jetzt wiederholen Sie dies bitte mit zwei Dingen, die Sie sehen,
zwei Geräuschen, zwei Gerüchen, zwei Empfindungen auf Ihrer Haut.
Machen Sie diese Übung ohne Druck, immer Neues zu finden. Sie
könne gerne auch bei dem bleiben, was sie schon wahrgenommen
haben.
Und nun „surfen“ sie von einer Sinnesmodalität zur anderen: sehen,
hören, riechen, spüren.
Welcher Ihrer Sinne ist am erfahrungsnächsten, welcher am
intensivsten, welcher am nachhaltigsten? Was ist Ihr sensorisches
Haupttor für die Realität? Wie kommen Sie am besten zur Erfahrung
der Wirklichkeit?
7. Der Blinden-Spaziergang (Eine Paar-Übung)
Suchen Sie sich eine Partnerin oder einen Partner. Die Aufgabe ist,
dass eine Person die Augen schließt und sich von der anderen blind
und achtsam durch die Natur führen lässt. Legen Sie gemeinsam fest,
wer zuerst welche Rolle übernimmt. Achten Sie bewusst darauf, wie
sich Ihre ganze Aufmerksamkeit und Ihre Sinne reorganisieren, wenn
Sie nichts mehr sehen und sich ganz einem Blindenführer anvertrauen
müssen. Was nehmen Sie jetzt von ihrer Umgebung war, welcher Sinn
übernimmt die Führung beim Erkunden der Umwelt?
8. Etwas Schönes zum Abschluss (Gruppenübung)
Erkunden Sie in aller Ruhe mit Genuss und unbeschwerter Leichtigkeit,
neugierig wie ein Vorschulkind ein Waldstück. Nehmen Sie sich ca. 20
Minuten Zeit. Streifen Sie durch die Landschaft und lassen Sie sich von
der Schönheit der Natur ansprechen. Halten sie Ausschau nach
schönen Dingen und entscheiden Sie sich für eines es dürfen auch
zwei sein das im Moment Ihre Kriterien von „schön“ erfüllt, bringen es
mit und legen es auf ein Tuch (Abb. 4).
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Die Gruppe versammelt sich und alle die möchten können zu ihrer
Wahl und zu ihrem „Objekt“ etwas erzählen.
Fall sich jemand aus der Gruppe zu einem Gedicht, Spruch, einer
kleinen Geschichte oder einem Lied angeregt fühlt, kann dies ein
schönes Abschlussritual einer achtsamen Erkundungsreise in der Natur
sein.
„Versäume nicht deine Verabredung mit dem Leben.“
THICH NHAT HANH (2013)
Abb. 4: Ergebnis der Übung „Etwas Schönes zum Abschluss“
aus dem Workshop auf Vilm (Foto: Stefan Schmidt).
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Weiterführende Literatur:
DEWULF, D. (2010): Das Arbeitsbuch der Achtsamkeit. Freiburg: Arbor Verlag.
SANTORELLI, S. (1999): Zerbrochen und doch ganz. Die heilende Kraft der Achtsamkeit.
Freiamt: Arbor.
STEVENS, J. O. (1976): Die Kunst der Wahrnehmung. München: Kaiser.
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Achtsamkeit in der Arbeit mit Kindern 3.2.2
Achtsamkeitspraxis mit Kindern als Mittel zur Förderung von
Naturschutzverhalten im Erwachsenenalter
Autorin: Alexandra Halaskova
„Wir haben die Erde von unseren Eltern nicht geerbt, sondern wir
haben sie von unseren Kindern nur geliehen.“
Indianisches Sprichwort
1. Einleitung
Besonderer Wert der Natur in der Entwicklung von Kindern
Natürliche Strukturen besitzen eine Vielzahl von Eigenschaften, die für die
psychische Entwicklung von Kindern förderlich sind: die Natur verändert sich
ständig z.B. im Wechsel der Jahreszeiten; bietet zugleich Kontinuität und die
Erfahrung von Verlässlichkeit (GEBHARD 2001). In der Natur können sie
selbstwirksam sein und sich auf Augenhöhe selbst organisieren (RENZ-POLSTER
& HÜTHER 2013), denn beim Spiel in der Natur sind sie meist ohne Aufsicht und
Kontrolle. Neue Situationen zu bewältigen, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten
spielerisch in der Natur zu erproben, gewährt ein Gefühl der Kompetenz und die
Erlangung der nötigen Flexibilität, um sich später in den verschiedenen
Lebenssituationen zurechtzufinden. Die Vielfalt der Formen, Materialien und
Farben regt zudem ihre Phantasie an der Gestaltungsraum ist offen und kann
nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen geschaffen werden. Die Natur
stellt somit für Kinder einen idealen Entwicklungsraum dar.
Einfluss von Naturerleben auf die kindliche Nähe zur Natur
Nicht nur ist die Natur für eine gesunde psychosoziale Entwicklung von Kindern
förderlich, Naturerleben in der frühen Kindheit führt bereits im Kindesalter zu
einer höheren subjektiven Wichtigkeit von Naturschutz (HALLMANN et al. 2005).
In den frühen Jahren spielen vor allem die emotional positiven Erlebnisse in der
Natur eine wesentliche Rolle bei der Aufnahme und Verarbeitung von Wissen
über die Natur (HALLMANN et al. 2005). Neben dieser direkten Erfahrung ist der
Umgang der Eltern (oder anderer Bezugspersonen) mit der natürlichen
Umgebung ein entscheidender Faktor für die Entstehung von kindlicher Nähe
und der kindlichen Konzepte über die Natur (CHENG & MONROE 2012). Jedoch
ist hierbei anzumerken, dass Eltern nur dann wirklich Vorbilder sind, wenn sie
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authentisch das tun, was sie gerne tun auch in Bezug auf den Umgang mit der
Natur (RENZ-POLSTER & HÜTHER 2013).
Kinder und Achtsamkeit
Der Alltag der Kinder ist in Zeiten von Computerspielen und sozialen Medien
viel stärker von Außenreizen und Ablenkungen gekennzeichnet als es bei
früheren Generationen der Fall war. Es ist deshalb für sie von enormer
Bedeutung, zur Ruhe zu kommen und diese in sich selbst zu erleben. Wenn sie
lernen, achtsam im gegenwärtigen Augenblick zu sein, bei dem, was sie gerade
tun oder erleben, kommen sie mit den Herausforderungen des zunehmend
digitalisierten Lebens besser zurecht. In dieser Hinsicht bietet die Natur
vielfältige Möglichkeiten zur Ruhe zu kommen und das eigene Ich mitten im
natürlichen (analogen) Umfeld zu relativieren. Sie schafft Raum für
Selbstreflexion und -erkenntnis in jedem Alter.
Betrachtet man nun den positiven Einfluss des Aufenthaltes in der Natur auf die
kindliche Entwicklung sowie den positiven Effekt der frühen Kontakte mit der
Natur auf die Einstellung ihr gegenüber, wird die äußerst positive
Wechselwirkung für Mensch und Natur offensichtlich. Wird bei dieser
Wechselwirkung die achtsame Haltung der Kinder gefördert, kann dies zu noch
stärkeren Effekten auf beiden Seiten führen.
2. Praktischer Teil Übungen für Kinder im Alltag
Während eines Workshops im Rahmen der hier dokumentierten Veranstaltung
hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich über ihre eigenen Erfahrungen
in der Arbeit mit Kindern auszutauschen. Da die Gruppe bezüglich ihrer
Zusammensetzung sehr vielfältig war, war der Austausch sehr anregend. Die
während der gemeinsamen Zeit gesammelten Beispiele werden zusammen mit
den während des Workshops auf Vilm angepassten Übungen im Folgenden
vorgestellt.
„Achtsames Essen“
Mit der Übung des achtsamen Essens lässt sich allgemein sehr gut
verdeutlichen, wie intensiv informelle Achtsamkeit erlebt werden kann. Auch
Kinder kann man in der Erfahrung des achtsamen Essens anleiten, jede
Mahlzeit lässt sich so in eine Achtsamkeitsübung verwandeln. Dafür kann das
Kind den Beginn der Übung selbst, z.B. mit einer Glocke, einläuten. Ab diesem
Augenblick wird die Aufmerksamkeit schweigend auf die Mahlzeit gerichtet: Wie
sind die Farben und Strukturen der verwendeten Nahrungsmittel? Was kann
man riechen? Wie ist der Geschmack der einzelnen Bestandteile? Wie fühlen
sich die Happen in der Mundhöhle und bei den Kaubewegungen an?
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Das Kind kann dann nach einer gewissen Zeit mit der Glocke die Übung
beenden. Anschließend kann man sich wieder unterhalten und über die
gemachten Erfahrungen austauschen.
„Momente der Stille“
Kleine achtsame Momente eignen sich als Ruheinseln im Alltag und das vor
allem nach intensiven Erlebnissen wie z.B. nach dem Schulbesuch oder nach
einem spannenden Tag vor dem Einschlafen. Das Kind kann sich dabei auf den
eigenen Atem konzentrieren und spüren wo man ihn im Körper fühlt. Eine
aufgelegte Hand auf dem Bauch kann beim Spüren der Atembewegung helfen.
Danach kann man dem Kind optional die Frage stellen, wie sich der Körper
anfühlt, welche Gedanken ihm durch den Kopf gehen oder was es von diesem
Tag oder Ereignis besonders in Erinnerung behält.
In der Konzentration auf die eigene Wahrnehmung kann das Kind zu innerer
Ruhe kommen. Genauso gut kann man aber auch gemeinsam mit dem Kind
eine Tätigkeit in Stille ausüben, wie z.B. ein Bild ausmalen, etwas basteln oder
im Garten gemeinsam die Blumen versorgen.
„Mandalas gestalten“
Mandalas eignen sich ebenfalls sehr gut für einen stillen Augenblick bzw. ein
Stille-Ritual (Vorlagen kann man im Internet finden, oder man entwirft ein
eigenes Exemplar). Sie können nicht nur mit Buntstiften gezeichnet sondern
ebenfalls mit Naturmaterialien gestaltet werden. So kann man entweder direkt in
der Natur gemeinsam mit den Kindern ein Mandala auf dem Boden vorzeichnen
und mit unterschiedlichen Materialien (Steine, Stöcke, Blätter, Samen etc.)
gestalten, oder aber man nimmt die Materialien mit und bildet ein Mandala auf
der heimischen Terrasse oder im Garten. Falls sie in der Natur geformt werden,
kann man die Vergänglichkeit oder eben das Überdauern dieser Kunstwerke
beim nächsten Spaziergang bewundern.
„Wahrnehmen der Natur mit einem Sinn“
Man sucht sich gemeinsam einen geeigneten Ort (Garten, Wiese, Wald oder
auch Park) und leitet das Kind darin an, die Umgebung mit einem vorher
vereinbarten Sinn zu erkunden. Nach einiger Zeit werden die gesammelten
Eindrücke ausgetauscht. Je nach Sinn gibt es unterschiedliche
Schwierigkeitsstufen riechen, sehen, tasten/spüren bilden die einfacheren und
können von dem Kind ohne Schwierigkeiten geübt werden. Hören am besten
mit geschlossenen Augen erfordert die Fähigkeit, für etwa zwei Minuten still
und ruhig sein zu können (wie lang diese Zeit auch für Erwachsene sein kann,
kann man einfach am eigenen Leibe erleben). Hier spielt auch die
Persönlichkeit oder die momentane Tagesform des Kindes eine wichtige Rolle.
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Die Umsetzung dieser Übung in der Gruppe kann durch die gegenseitige
Ablenkung erschwert sein (auch hier gibt es natürlich individuelle Unterschiede).
Bei fortwährender Übung ist es jedoch eine sehr geeignete Methode die
eigenen Sinne zu schärfen und sensibler das eigene Umfeld wahrzunehmen.
2.1 Übungsvorschläge von Workshop-Teilnehmenden und ReferentInnen
„Der magische Moment“ - Anregungen von Dagmar Fischer
Bei einem Spaziergang durch die Landschaft in den Nachmittags- und
Abendstunden kann man sich auf die Vogelstimmen fokussieren und dem
letzten Zwitschern des Tages lauschen. War dies der letzte Laut? Oder kann
man in der Ferne noch einen vernehmen? Das genaue Hinhören schult die
Aufmerksamkeit, die Erwartung des letzten Zwitscherns führt zu einer positiven
Gespanntheit. Die Stille nach dem letzten Vogelzwitschern hat dann etwas
Magisches.
Anregungen von Christiane Stephan
"Der Geruchsinn ist derjenige unserer fünf Sinne, der dem Drängen der
Vergangenheit am stärksten Folge leistet. Eine Geruchswahrnehmung kann
einen tatsächlich an einen anderen Ort versetzen. Sehen, Hören, Fühlen und
Schmecken besitzen längst nicht die gleiche Intensität wie eine
Geruchswahrnehmung, um einen Augenblick des Erlebens aus der
Vergangenheit zurückzuholen... Das Schöne an der Erinnerung durch Gerüche
ist, dass das Gefühl, davon hinweg getragen zu werden, aufhört, sobald der
Geruch verfliegt und dementsprechend keine Nachwirkungen hinterlässt. Es ist
eine saubere und klare Form der Erinnerung." ANDY WARHOL 2006
„Achtsames Riechen“
Für diese Übung wird folgendes Material benötigt: Zugbandbeutel aus
Baumwolle oder Beutel aus Organza oder Schraubgläser oder Filmdöschen und
verschiedene Düfte, beispielsweise getrocknete Pflanzenteile. Eventuell können
auch ätherische Öle, Harze, frische Pflanzenteile verwendet werden.
Variante 1: jeweils zwei Stoffsäckchen mit demselben "Duft" füllen und
verschließen. Nun muss man die zwei gleichen Düfte finden
also die klassische Memory-Variante.
Variante 2: Getrocknet versus frisch. Wenn man bestimmte Pflanzen, z.B.
auf einer Wiese, Waldstück, Wegesrand kennt und diese
ebenfalls in getrockneter Form hat, kann man die
entsprechende Pflanze suchen lassen. Hier spielen natürlich
die Jahreszeit und der Standort eine große Rolle.
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Variante 3: Pflanzenteile, ob getrocknet, frisch oder als ätherisches Öl
benennen lassen (Vorsicht mit ätherischen Ölen, hier ist ggf.
besonderer Umgang/Wissen erforderlich).
Variante 4: Wurzeln nach Geruch identifizieren. Sie sind besonders
anspruchsvoll, aber auch sehr interessant, wie z.B. die Wilde
Möhre als Vorfahre unserer heutigen Karotte.
Variante 5: Übung für Supernasen. Es können z.B. verschiedene
Minzearten (oder Salbeiarten) nur über den Duft erkannt
werden. Die Pflanzen sehen mitunter sehr verschieden aus
und unterscheiden sich z.B. bei der Blattgröße
und -beschaffenheit voneinander.
Hinweise:
Es besteht die Möglichkeit, Pflanzen aus der Natur und/oder dem Garten zu verwenden.
Beim Sammeln in der Natur sollte natürlich der geltende Naturschutz beachtet werden. Viele
heimische Pflanzen kann man aber auch im Garten kultivieren.
Um Verwechslungen zu vermeiden ist es empfehlenswert, Kräuter und Pflanzen zu nehmen,
die man selbst eindeutig identifizieren kann, wie z.B. Lavendel, Salbei, Lindenblüten, Holun-
derblüten, Rosenblüten.
Weiterführende Literatur, zusammengestellt von Christiane Stephan
AUENHAMMER, G., DAWIDOWSKI, M., KIPP, A. (2013): Deko-Ideen NATUR. Schönes zum
Selbermachen. Freiburg, Christophorus.
BAILEY, E. T.
(2014): Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. München, Piper
Taschenbuch.
BURCKHARDT, C. (2013): Alles aus Wildpflanzen. Kochen & konservieren, heilen & vorbeugen,
waschen & färben, räuchern & zaubern. Stuttgart, Verlag Eugen Ulmer.
FISCHER-RIZZI, S. (2007): Blätter von Bäumen. Heilkraft und Mythos einheimischer Bäume.
Aarau und München, AT Verlag.
FROMMHERZ, A. (2015): Naturwerkstatt, Samen und Gemüse. Spielerisch die Welt der Samen
und Gemüse entdecken. Aarau und München, AT Verlag.
HÄFELE, A. (2011): Landart für Kinder: Mit Natur-Kunst durch die Jahreszeiten. Mülheim an
der Ruhr, Verlag an der Ruhr.
HOSMANN, C. (2012): Naturkinder: Ideen, Rezepte und Aktionen für drinnen und draußen.
Bern, Haupt Verlag.
KÖTTER, E. (2014): Schnecken im naturnahen Garten. Schwarzenbek, Cadmos Verlag.
LOUIS, L. (2014): Wilde Waldküche. Weil der Stadt, Hädecke Verlag.
MANN, CH., STRICKLER, F. (2013): Aus dem Reich der wilden Kräuter. Darmstadt, Pala Verlag.
WARHOL, A. (2006): Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück. Berlin, Fischer
Taschenbuch Verlag.
WITT, R., NYNCKE, H. (2006): Wir entdecken die Natur. Naturführer für Kinder. Ravensburg,
Ravensburger Bücherverlag.
48
Abb. 5: Stichworte auf die Frage: Wie haben Sie als Kind Natur erlebt? (Foto: Stephanie
Bethmann)
49
Achtsamkeit und Forschung methodische Zugänge 3.2.3
Autorinnen: Dr. Stephanie Bethmann, Dr. Kerstin Ensinger
Achtsamkeit kann Wahrnehmungen und Erfahrungen hervorrufen, die komplex
sind und sich sprachlich fast nicht beschreiben lassen (SCHMIDT 2014). Das
Konzept Achtsamkeit lädt dazu ein, kategoriale Zuordnungen der
Wahrnehmung und Bewertung bewusst aufzulösen oder zurückzustellen: „Wir
können sagen, dass Achtsamkeit das ist, was sich zeigt, wenn wir absichtsvoll
und nicht-urteilend unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment
richten, so als würde unser Leben davon abhängen. Und was sich dann zeigt,
ist das Gewahrsein selbst.“ (vgl. KABAT-ZINN 2013: 29). Entsprechend schwierig
ist es, das Erleben von Achtsamkeit (nachträglich) in kategorisierende Worte
zu fassen. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich ein Workshop während der
Tagung mit folgenden Fragen:
Welche methodischen Herausforderungen bringt Achtsamkeit für die
Sozialforschung und für Evaluationen mit sich?
Wie kann man allgemein Wahrnehmungen von Menschen mithilfe von
Befragungsmethoden erfassen?
Lassen sich daraus Erfahrungswerte auch zur Erfassung von
Achtsamkeit in der Naturschutzkommunikation ableiten?
Welche bewährten Erhebungsinstrumente zur Erfassung von
Achtsamkeit gibt es?
Zu Beginn des Workshops berichteten die Teilnehmenden von ihren
Erwartungen, wie sich sozialwissenschaftliche Methoden für ihre Arbeit nutzen
lassen. Es zeigte sich, dass das Interesse an solchen Methoden sehr breit
gestreut ist, von universitären Forschungsprojekten über eher künstlerisch und
journalistisch geprägte Befragungsprojekte bis hin zur internen betrieblichen
Erforschung von MitarbeiterInnen-Bedürfnissen und einem allgemeinen
Interesse für Kommunikationsstrategien im Umgang mit der Bevölkerung.
Quantitative Methoden
In der sozialwissenschaftlichen Umfrage- und Evaluationsforschung lassen sich
prinzipiell zwei Zugänge unterscheiden: quantitative bzw. qualitative
Befragungen.
Bei quantitativen Untersuchungen ist beabsichtigt, eine möglichst große Anzahl
von Personen zu befragen, um hypothesengeleitet repräsentative und
generalisierbare Aussagen treffen zu können (vgl. BORTZ & DÖRING 2006). Dies
50
geschieht in der Regel mit standardisierten Methoden, d.h. die Befragten
können einen Fragebogen ausfüllen und vorgegebene Antwortalternativen oder
Bewertungen ankreuzen.
Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist neben der Möglichkeit der
Dokumentation und Erfassung des Konstrukts die Wirkung
achtsamkeitsbasierter Verfahren standardisiert zu analysieren bzw. zu
evaluieren. Somit können Aussagen bspw. über den Sinn, die Wirkung und die
Bedeutung achtsamkeitsbasierter Interventionen getroffen werden.
Im psychotherapeutischen und medizinischen Kontext wird dem Konzept
Achtsamkeit in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt.
Anwendungsfelder sind u.a. die Bewältigung chronischer Erkrankungen (REINER
et al. 2013), der Umgang mit Angststörungen (MILLER et al. 1995) und
Depression (MICHALAK et al. 2009), aber auch die Rückfallprophylaxe bei
Suchterkrankungen (BEIGLBÖCK et al. 2013). Dementsprechend existiert eine
Vielzahl an quantitativen Fragebogen. Die Herausforderung einer
Operationalisierung und somit möglichen empirischen Erfassung besteht bereits
in der Notwendigkeit einer Definition. Erst wenn überprüfbare Kriterien
vorhanden sind, werden Veränderungen und Wirkmechanismen
achtsamkeitsbasierter Verfahren bzw. der Einfluss der Achtsamkeit
nachvollziehbar und kontrollierbar.
Um eigene Erfahrungen machen zu können und darüber hinaus für die
Herausforderungen quantitativer Forschung im Kontext von Achtsamkeit zu
sensibilisieren, wurden im Workshop ausgewählte Fragen der Deutschen
Adaptation der Mindfulness Attention Awareness Scale (MAAS) sowie des
Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FFA) aus der Kurzversion von den
Teilnehmenden ausgefüllt.
Im MAAS wird ein besonderer Aspekt der Achtsamkeit betont: Die
Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment. Somit liegt der Schwerpunkt
der Achtsamkeitsdefinition auf der Wahrnehmung innerer und äußerer Reize.
Alle Items im MAAS sind negativ gepolt und in Richtung einer „achtlosen“
Haltung formuliert, so dass eigentlich „Unachtsamkeit“ gemessen wird.
Der FFA nimmt explizit Bezug zur buddhistischen Wurzel des Begriffes
Achtsamkeit (Vipassana Meditation). Unterschiedliche Aspekte des
Achtsamkeitsbegriffs wie Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Annehmen von
Empfindungen (Wahrnehmung), prozesshaftes, einsichtsvolles Verstehen
(„innere Distanz“) werden beschrieben. Die Items des FFA sind sowohl positiv
als auch negativ formuliert (WALACH et al. 2009).
Bereits dieser kleine Einblick in die (unterschiedliche) Operationalisierungen des
Konstrukts verweist auf die Herausforderungen der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit Achtsamkeit.
51
Abb. 6: Ausgewählte Fragen der Deutschen Adaptation der Mindfulness Attention
Awareness Scale (MAAS).
Im buddhistischen Kontext beinhaltet der Begriff der Achtsamkeit stets eine
ethische Komponente. Es geht nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um
die Entfaltung von Mitgefühl und Offenheit, die sich nur schwer
operationalisieren und objektiv messen lässt. Auch kann die Selbsteinschätzung
der Achtsamkeit kritisch hinterfragt werden, da die Erfahrung mit
achtsamkeitsbasierten Verfahren eine wesentliche Rolle spielen kann. Wer
gerade einen Achtsamkeitskurs besucht hat, kennt die „richtigen“ Antworten.
Und der Wunsch achtsamer als zu Kursbeginn zu sein ist nachvollziehbar. Die
Antworten spiegeln daher möglicherweise den Wunsch wider, achtsam zu sein,
und nicht unbedingt die Realität. Zudem können Menschen abhängig von ihrer
Erfahrung mit dem Thema Achtsamkeit zu unterschiedlichen Interpretationen
der gestellten Fragen kommen (BELZER et al. 2013). Auch sollten Komponenten
wie bspw. die Aufklärung über mögliche Stressverarbeitung in einem MBSR
Kurs, die über die Erfahrung der Achtsamkeit als solche hinausgehen,
berücksichtigt werden.
52
Abb. 7: Ausgewählte Fragen des Freiburger Fragebogens zur Achtsamkeit (FFA).
Qualitative Methoden
Das zentrale Merkmal qualitativer Methoden der Sozialforschung ist das der
„Offenheit“ (STRÜBING 2015, KRUSE 2014, PRZYBORSKI & WOHLRAB-SAHR 2010):
Die Sichtweisen der Befragten sollen hierbei verstehend nachvollzogen werden,
eigene Vorannahmen werden zurückgestellt und Wahrnehmungs- und
Denkstrukturen unterschiedlichster Personen und sozialer Gruppen in ihrer
Vielfalt erfasst. Damit hat qualitative Forschung in gewisser Weise eine
‚Wahlverwandtschaft‘ zur Achtsamkeit. Gute Interviewführung und Auswertung
erfordert, wenn man so will, die Qualitäten des so genannten „Anfängergeistes“
in der Achtsamkeitspraxis (SUZUKI 1975): das Beobachten und Erfahren des
Moments wie durch Kinderaugen, jedes Mal neu, frisch und
unvoreingenommen. Dies beinhaltet auch den Verzicht auf vorgefasste
Meinungen, abstrakte Bezeichnungen und Namen, um stattdessen die Welt und
ihre Ereignisse unmittelbarer zu erfahren. In der qualitativen Forschung ist das
Ziel, zu verstehen, wie die Befragten die Welt und ihre Ereignisse subjektiv
erfahren, denn Wahrnehmung kann situativ und individuell sehr unterschiedlich
sein. Die Forschenden vermeiden kategoriale Vorabdefinitionen und lassen die
Befragten ihre Erfahrungen in eigenen Worten zum Ausdruck bringen.
In aller Kürze wurden im Workshop verschiedene Ansätze zur Erzeugung von
Offenheit in der qualitativen Forschung diskutiert, durch die man sich konkreten
Erfahrungen von Menschen annähern und diese verstehend nachvollziehen
kann:
53
a) narrations-generierende Fragetechniken im qualitativen Interview
b) Zeile-für-Zeile-Auswertung von Interview-Erzählungen
a) narrations-generierende Fragetechniken im qualitativen Interview
Qualitative Interviews vermeiden jegliches Abfragen (vgl. hierzu und im
Folgenden auch ENSINGER et al. 2013). Sie schaffen einen Raum, in dem eine
Vielzahl von Erlebnissen und Wahrnehmungen zur Sprache kommen kann,
ohne dass die Befragten diese zuerst selbst analytisch ordnen und
rationalisieren müssen. Hierfür eignet sich besonders die Sprachform der
Erzählung und somit die Methodik des narrativen Interviews (SCHÜTZE 1983,
LUCIUS-HOENE & DEPPERMANN 2004). Diese Interviewform basiert auf der
Annahme, dass „Erzählungen Ausdruck […] selbst erlebter Erfahrungen [sind]“,
mit deren Hilfe man „Eigenerlebtes einem anderen nahe [bringt].“ (SCHÜTZE
1987: 77) Die Befragten können im Erzählen das eigene „Relevanzsystem“
(SCHÜTZ 2004: 163) ihre spezifischen Wahrnehmungsweisen
eigenstrukturiert entfalten. Erinnerungen werden aktiviert und Erlebnisse in den
eigenen Worten wiedergegeben. Dabei werden in der Regel en passant auch
Einstellungen (z.B. zu Naturschutz und Naturerfahrung) zum Ausdruck
gebracht. Um Erzählungen zu erzeugen, verwendet man offene, so genannte
„erzählgenerierende Fragen“ bzw. Erzählaufforderungen.
Um solche Fragetechniken kennenzulernen und einzuüben, machten die
Teilnehmenden im Workshop eine Interviewübung zu zweit, in der es um das
Erzählen von Achtsamkeitserfahrungen ging.
Sowohl die Interviewenden als auch die Interviewten erlebten Offenheit in der
praktischen Übung als Herausforderung. Beide Seiten müssen ein einseitiges
Rederecht aushalten. Der/die Interviewende bemüht sich vorurteilsfrei
wahrzunehmen, was das Gegenüber erzählt und dabei eigene, spontane
Deutungen und Gedanken während des Zuhörens zurückstellen. Der/die
Befragte wiederum erlebt, welch hohe Anforderung es ist, sich jemand
Fremdem zu öffnen, der oder die in der Situation selbst wenig von sich
preisgibt. Wie ein Teilnehmer feststellte, das offene Zuhören im Interview – sich
nicht wertend und aufmerksam einem/r anderen zuzuwenden gleicht einer
achtsamen Haltung. Und methodisch schafft solches Zuhören zudem eine
besonders günstige Voraussetzung, um Menschen die Gelegenheit zu geben,
von ihren persönlichen Erfahrungen zu sprechen ohne ihre Wahrnehmung in
vorgefasste Kategorien zu zwingen.
54
Tabelle 1: Interviewübung zu zweit: Erzählen und Erzählen lassen.
Text für die Interviewführung
Ebenen der Ansprache
Herzlichen Dank, dass Sie sich bereit erklärt
haben (1), mir von Ihren persönlichen Erfah-
rungen (2) zum Thema „Achtsamkeit“ zu er-
zählen (3). Ich habe ein paar Fragen an Sie
und gerne können Sie mir ausführlich alles
erzählen (4), was Ihnen dazu in den Sinn
kommt. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie sie
möchten.
Später wird das Interview abgetippt und für
unsere Evaluation ausgewertet (5). Wenn wir
etwas zitieren, ist es anonymisiert (6) und aus
dem Zusammenhang gerissen, so dass keine
Rückschlüsse auf Ihre Person möglich sind.
Haben Sie von Ihrer Seite noch Fragen? (ab-
warten) (7) Gut, dann fangen wir an. (8)
(1) Wertschätzung für den/die Befragte/n
(2) Adressierung auf der persönlichen Ebene
(3) konkreter Erzählgegenstand (Achtsam-
keit)
(4) Erwartung an die Leistung des/der Be-
fragten („erzählen“); Rederecht zuteilen;
Freiheit der Themensetzung und Ausführ-
lichkeit
(5) Transparenz über den Umgang mit den
Daten
(6) Anonymisierung; Sicherheit und Ver-
trauen schaffen
(7) Gestaltungsmacht über die Situation
abgeben (der/die Befragte entscheidet über
den Beginn des Interviews)
(8) strukturieren und moderieren
Bitte erzählen Sie mir (9), wie Sie das erste
Mal (10) mit Achtsamkeit in Berührung ge-
kommen sind. Gibt es ein prägendes Erlebnis
(11), das Sie dazu in Erinnerung haben?
(9) zum Erzählen auffordern; Beziehung
herstellen; Zuhörersignal („Sie mir“)
(10, 11) konkrete Situationen als erzählba-
ren Gesprächsgegenstand
Wenn die Erzählung beendet wird (längeres
Schweigen, erwartungsvoller Blick, Abschluss-
markierungen wie: „Ja, das war’s eigentlich“)
(12) können Sie danach noch allgemeine
Nachfragen stellen, z.B.:
Wie ging es dann weiter? Können Sie mir das
noch ausführlicher beschreiben? Gab es noch
ein weiteres Erlebnis, das Ihnen dazu einfällt?
(13)
(12) aufmerksames Zuhören und Reagieren
auf Signale des/der Befragten
(13) Nachfragen ermutigen zum ausführli-
cheren Erzählen; sie sind offen formuliert
und zielen darauf, dass noch mehr erzählt
wird (keine Ja/Nein-Fragen, keine Warum-
Fragen); es werden keine Rationalisierungen
/ Begründungen / Erklärungen / abstrakten
Aussagen gefordert
Während des Interviews selbst ist es schwierig, wirklich alle Facetten der
Erzählung zu hören und spontan richtig aufzufassen also das Relevanzsystem
der Befragten zu erkennen, anstatt schnell mit eigenen Deutungen und
Vorurteilen bei der Hand zu sein. Deshalb ist es gerade bei narrativen
Interviews unverzichtbar, dass diese als Audiodatei aufgenommen und
anschließend abgetippt (transkribiert) werden (KRUSE 2014). In der Auswertung
transkribierter Daten kann man sich in aller Ruhe und Langsamkeit mit den
Inhalten auseinandersetzen und eigene Vorannahmen durch datenbasierte
Erkenntnisse ersetzen. Interviews offen zu führen, ist dann sinnvoll, wenn man
der Komplexität der entstehenden Daten auch in der Auswertung gerecht
werden kann. Um das zu verdeutlichen, wurde im Workshop ein Auszug aus
einem Interviewtranskript gemeinsam bearbeitet:
55
Tabelle 2: Erzählung im Interview.
„mit gezogenem GewehrAuszug aus einem Interview der Studie „Erholung im
Wald“, FVA Baden-Württemberg
Interviewer: Gibt es auch Erfahrungen im Wald, die Sie besonders negativ in Erinne-
rung haben?
Befragte: Ja: Wir waren morgens laufen… und plötzlich steht ein Jäger mit gezoge-
nem Gewehr vor uns, und hat gesagt wir müssen äh den Weg wechseln, es wär ir-
gendeine Treibjagd oder sowas. Im ersten Moment sind wir ehrlich erschrocken.
Nachher haben wir gelacht und gesagt, ok, ja, aber im ersten Moment, wo der da vor
uns steht mit dem riesen Gewehr, da waren wir erschrocken. Aber das war jetzt
spontan (lacht) aber wir waren auch früh und vielleicht... ja, aber es gibt ja keine Zeit,
wo man in den Wald darf oder nicht oder?
Die exemplarisch diskutierte Interview-Passage gibt eine sehr kurze Erzählung
über ein negatives Erlebnis im Wald wieder. Die Frage zielt auf Erfahrungen ab
und regt damit bewusst zum Erzählen an. Auf den ersten Blick könnte man
meinen, dass an dieser Stelle der Jäger schlecht weg‘ kommt und seine
Tätigkeit im Wald Unmut erregt schließlich handelt es sich um ein negatives
Erlebnis, das die Befragte erschreckt. Dass das Interview aufgezeichnet und
abgetippt (transkribiert) wurde, ermöglicht aber eine Auswertung, die sich ganz
genau der Struktur der Erzählung widmet. Dann wird die größere Komplexität
deutlich (Analyse im Folgenden in Anlehnung an BETHMANN & WURSTER 2016):
die Erzählung über eine negative Erfahrung endet mit einer deutlichen
Relativierung. Im Nachhinein verwandelt sich die Bedrohlichkeit des negativ
konnotierten Gewehrs in eine amüsante Anekdote. Der negative Eindruck („im
ersten Moment“) ist also nicht von Dauer. Die Befragte sucht daraufhin nach
einer Erklärung für den unangenehmen Zusammenstoß. Dabei stellt sie
überhaupt nicht das Recht des Jägers in Frage, „plötzlich … mit gezogenem
Gewehr“ vor ihr zu stehen sondern die Angemessenheit ihrer eigenen
Waldnutzung („aber wir waren auch früh“). Sie mutmaßt, ob das eigene
Verhalten überhaupt legitim war.
Dieses Erzählmuster ist durchaus typisch für negative Erfahrungen mit der Jagd
und / oder Forstwirtschaft und zeigt, dass Menschen aus der Bevölkerung oft
mit einer geringen Anspruchshaltung in den Wald gehen. Wenn sie mit
forstwirtschaftlichen Handlungen konfrontiert sind, neigen sie dazu, diesen
spontan eine Sinnhaftigkeit unterstellen im zitierten Beispiel: Reduktion der
Population, legitime Tageszeit für Jagd.
Die beispielhafte Analyse macht deutlich, dass man auch in der Auswertung von
qualitativen Interviewdaten schnelles Kategorisieren vermeidet, wenn man sich
auf die „Gesamtgestalt“ der Erzählungen einlässt und hierfür die Daten Wort-für-
56
Wort („sequenzanalytisch“) auswertet (LUCIUS-HOENE & DEPPERMANN 2004,
KRUSE 2014). Erst im Gesamtzusammenhang der Äußerungen wird deutlich,
wie differenziert und widersprüchlich Erfahrungen erlebt und bewertet werden.
Das sind Nuancen, die im schnellen, alltäglichen Modus des Zuhörens oft
unerkannt bleiben, sich aber dem „Anfängergeist“ offenbaren können.
Achtsamkeit und qualitative Forschung stehen keineswegs in einem
notwendigen Zusammenhang. Methodische Zurückhaltung im Interviewen und
strenge Regeln der datenzentrierten Auswertung lassen sich ganz
unterschiedlich begründen und auch ohne Achtsamkeit umsetzen. Doch viele
Techniken der qualitativen Forschung sind nützlich für das Einüben einer
allgemeinen, achtsamen Gesprächsführung. Und wer zu Achtsamkeit forscht
oder die Wirkung von Achtsamkeitsangeboten evaluieren möchte, findet in der
qualitativen Forschung spezifische Zugänge zum Erleben und Erfahren der
Menschen.
Zusammenfassung
Im Workshop konnten die Teilnehmenden einen Einblick in den
unterschiedlichen Nutzen verschiedener Methoden zur Erfassung von
subjektiven Wahrnehmungen gewinnen und mit Blick auf die besonderen
Herausforderungen einer Erforschung oder Evaluierung von
Achtsamkeitserfahrungen diskutieren. In den quantitativen Methoden gibt es für
die Erforschung von Achtsamkeit bereits seit einigen Jahren gut erprobte
Erhebungsinstrumente, mit denen sich arbeiten lässt. Wichtig ist es, sich dabei
zu vergegenwärtigen, was der jeweilige Fragebogen erfasst und wo seine
Grenzen liegen. Manche Komponenten von Achtsamkeit bspw. die
Überwindung sprachlicher Kategorien, die ethische Dimension, Gewahrsein des
aktuellen Moments verhalten sich sperrig zu einer standardisierten Erfassung.
Qualitative Methoden können die Erfahrungsqualität von Achtsamkeit in einer
größeren Offenheit und Vielfalt repräsentieren. Die Offenheit des Instruments
bedeutet aber auch, dass man nicht auf fertige Erhebungsinstrumente
zurückgreifen kann. Vor allem für unerfahrene EvaluatorInnen ist die
Herausforderung groß, mit offenen Fragen eine gute Interviewführung zu
bestreiten. Noch voraussetzungsvoller ist die Auswertung der transkribierten
Daten, die den Forschenden erhebliche Methoden- und Deutungskompetenzen
abverlangt, wenn sie nicht nur Impressionen bündeln, sondern wissenschaftlich
solide, verallgemeinerbare Aussagen hervorbringen soll. Auch eine Kombination
von qualitativer und quantitativer Befragung kann in einzelnen Fällen sinnvoll
sein, zum Beispiel um aus den offenen Interviews heraus einen eigenen
standardisierten Fragebogen zu entwickeln oder umgekehrt, offen gebliebene
Fragen aus einer quantitativen Untersuchung qualitativ zu beantworten.
57
Nachdem in der Achtsamkeitsforschung zunächst vorwiegend quantitative
Instrumente eingesetzt wurden, gibt es derzeit erste Studien mit einem solch
komplexen Methodendesign (vgl. ORELLANA & SCHMIDT 2015).
Beide im Workshop behandelten Methoden basieren letztlich auf sprachlichen
(schriftlichen oder mündlichen) Befragungen. Achtsamkeit muss also in jedem
Fall von den Befragten in Worte gefasst werden. Um die nicht-sprachlich
organisierten Anteile der Achtsamkeit nicht zu vernachlässigen, kann es
hilfreich sein, Befragungen mit weiteren Methoden zu kombinieren: etwa
teilnehmender Beobachtung (qualitativ), systematischer Verhaltensbeobachtung
(quantitativ) oder physiologischen Messungen.
Während der Tagung wurde wiederholt kontrovers diskutiert, ob Achtsamkeit
und Wissenschaft überhaupt vereinbar sind. Vielleicht ist das auch Vorurteilen
gegenüber der Wissenschaft geschuldet, die ja kein homogener Apparat,
sondern methodisch und erkenntnistheoretisch vielfältig ist. Sich mit
verschiedenen wissenschaftlichen Methoden der Erfassung von
Achtsamkeitserfahrungen vertraut zu machen, ist ein erster Schritt, um
Potentiale und Grenzen konkret auszumachen. Und nicht zuletzt gibt es auch
geteilte ethische Ansprüche in beiden Bereichen: Bei beiden geht es (zumindest
dem Ideal nach) darum, einen klaren, offenen Geist zu behalten, Dinge
vorurteilslos und unvoreingenommen zu untersuchen und nicht vorschnell zu
bewerten.
Pause Taste
„Ich schaue öfter mal auf diese Pause-Taste auf der Tastatur und weiß immer
noch nicht wofür die da istFrau Ensinger hat darauf aufmerksam gemacht,
glaube ich. Aber allein wenn ich die sehe, denke ich „da war ja was“ und halte
kurz inne. Dann schaue ich mal aus dem Fenster... Da draußen sitzen dreizehn
Seidenschwänze die hätte ich fast verpasst.“
Zitat aus einem Telefoninterview
Abb. 8: Pause-Taste auf der Computer-
Tastatur (Foto: Kerstin Ensinger).
58
Vom Sprechen über Achtsamkeit: 3.2.4 zwischen Wissenschaft und Spiritualität
Autorin: Eva Simminger
Egal ob es um Zwiegespräche mit KollegInnen, KooperationspartnerInnen,
Workshop- bzw. Studienteilnehmenden geht oder ob man in einem Pressetext
oder einer Veranstaltungsbeschreibung mit der Öffentlichkeit kommuniziert:
Wenn man (im Naturschutz) praktisch mit Achtsamkeit arbeitet, so ist es nahezu
unvermeidlich auch über das Thema zu sprechen. Deshalb soll mit dem
vorliegenden Text das Bewusstsein dafür erhöht werden, worauf hierbei zu
achten ist und welche Chancen oder Fallstricke verschiedene
Kommunikationsstrategien bergen.
Achtsamkeit in der öffentlichen Wahrnehmung
Achtsamkeit ist ein Modethema: Eine kulturelle Praxis aus dem asiatischen
Raum, die älter ist als die christliche Religion, mausert sich im Westen
zunehmend zu einem gesellschaftlichen Trend. Wellness, Entspannung,
Quality-Time… verknüpft mit derartigen Schlagworten, dafür oft losgelöst von
seinem kulturellen Ursprung wabert der Begriff durch die Medienwelt, füllt
Lifestyle-Ratgeber und Ärzte-Blättchen.
Diese Entwicklung hat wie so oft zwei Seiten:
Einerseits etabliert sich vor allem eine säkularisierte Achtsamkeit in weiten
Teilen der Gesellschaft zunehmend als ein adäquates Mittel um selbstwirksam
das persönliche Wohlbefinden zu steigern. In der Medizin und Psychotherapie
hat es schon seit längerem an Bedeutung gewonnen, und diese klinischen
Befunde zur Wirkung von Meditation und anderer achtsamkeitsbasierter
Verfahren erhöhen deren gesellschaftliche Akzeptanz zusätzlich.
Andererseits führt die Omnipräsenz des Begriffes bei Einzelnen zu
Übersättigung und Abwehr. Immer wieder wird Achtsamkeit von der Presse mit
dem Schlagwort Nachhaltigkeit verglichen selten jedoch wegen seiner
möglichen Implikationen für den Naturschutz. Viel mehr kommt darin zum
Ausdruck, dass beide Konzepte durch ihre inflationäre Verwendung an
Trennschärfe verlieren, dass sie als Schlagworte für eine Bewegung hin zu
einem „besseren“ Leben stehen und das obwohl viele keine Vorstellung davon
haben, was sie genau bedeuten. Ihr Symbolcharakter macht sie sehr breit
anwendbar und gleichzeitig angreifbar.
Dies wird dadurch zugespitzt, dass die Popularität des Themas immer mehr
selbsternannte AchtsamkeitsexpertInnen auf den Plan ruft, die Mythen und
Halbwahrheiten verbreiten. Hinzukommen die persönlichen Meinungen von
59
JournalistInnen, die um eine Stellungnahme zu einem so viel diskutierten
Thema kaum noch herumkommen. Auch hier polarisiert der Begriff: Neben
euphorischen Heilsverkündungen finden sich zahlreiche kritische Stimmen
von einer wilden Panikmache vor Meditationserfahrungen, die Drogentrips
gleichen1 bis hin zu Abneigungsbekundungen gegen dieses „weiche widerliche
Wort“2. In der Drastik der Darstellungen wird deutlich: egal ob Befürworter oder
Skeptiker, die individuelle Haltung zu Achtsamkeit hat in der Regel einen
emotionalen Gehalt. Als Folge werden wissenschaftliche Befunde in der
Medienlandschaft teilweise hinter persönlichen und teils polemischen
Meinungen unsichtbar, trotz wachsendem Erkenntnisstand können sich
Vorurteile und Fehlannahmen in der Gesellschaft manifestieren.
Eine neutrale Darstellung des Konzeptes wird zusätzlich dadurch erschwert,
dass es in verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen unterschiedlich
bewertet und verstanden wird. In dieser Beobachtung deutet sich ein
Charakteristikum gesellschaftlicher Wertehaltungen und öffentlicher Meinungen
an: Sie entstehen niemals in einem sozialen Vakuum, sind Produkte von
Abgrenzung und Aushandlung, und können auf diese Weise auch als Merkmal
gesellschaftlicher Gruppierungen verstanden werden. Eine gemeinsame
Haltung zu Achtsamkeit kann demzufolge Produkt kollektiver
Aushandlungsprozesse sein und in der Folge als soziale Norm die
Verhaltensregeln einer Gruppe prägen3. Beispielsweise wenn sich ein Kreis von
KollegInnen über Achtsamkeit unterhält und dadurch eine Meinung etabliert, ob
eine solche Praxis (il)legitim ist und sich vielleicht gar zu gemeinsamen
Übungen verabredet. Gleichzeitig kann eine bereits definierte Haltung zum
Thema als Gemeinsamkeit erkannt werden und so als identitätsstiftendes
Element zur Bildung einer sozialen Gruppe beitragen. Ein Beispiel hierfür wäre
eine Meditationsgruppe, deren Mitglieder beginnen, sich auch in anderen
Kontexten zu treffen und andere Themen zu diskutieren.
Da die Rezeption der buddhistischen Tradition im Westen oft mit esoterischen
Interessen Hand in Hand ging, wird auch Achtsamkeit häufig in diesem Kontext
verortet. Doch der Begriff der Esoterik hat in den letzten zwanzig Jahren eine
1 http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/meditation-achtsamkeit-hat-
nebenwirkungen-a-989682.html. Abgerufen am 27.01.16
2 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/silke-burmester-ueber-achtsamkeit-a-
931333.html. Abgerufen am 27.01.2016
3 Zum Einfluss sozialer Normen auf individuelles Naturschutzverhalten vgl. REESE et al.
2015.
60
starke Abwertung erfahren und ist heute mehr und mehr Sammelbegriff für vom
Mainstream stark abweichende Theorien und Praktiken. Alles was sich in dieser
Sphäre bewegt, kann daher auf Außenstehende mystisch oder gar unseriös
wirken. Für Anhänger esoterischer Weltanschauungen hingegen kann diese
Verortung eine besondere Qualität des Achtsamkeitskonzeptes bedeuten, auf
eine inhaltliche Nähe zu eigenen Werten und Praktiken verweisen. Eine andere
Gruppe, in der das Konzept besonders hohe Resonanz zu finden scheint, kann
in Anlehnung an die Marktforschung als sogenannte LOHAS beschrieben
werden. In der Bedeutung des Akronyms „Lifestyles of Health and
Sustainability“ (Lebensstile von Gesundheit und Nachhaltigkeit, vgl. HELMKE et
al. 2016) lässt sich ablesen warum: das säkularisierte Verständnis des
Achtsamkeitskonzeptes verweist besonders stark auf dessen
gesundheitsfördernde Wirkung einerseits, auf einen gesellschaftlichen Mehrwert
im Sinne eines bewussten und damit auch nachhaltigen Umgangs mit
natürlichen Ressourcen andererseits1. Damit fügt es sich also sehr gut in die
sozialen Normen dieser Strömung ein.
Ob als Gegenstand einer mystifizierten Kultur oder als pragmatisches Mittel zur
Selbst- und Gesellschaftsoptimierung aus diesen Beispielen wird deutlich,
dass Achtsamkeit auch im Falle einer positiven Aufgeschlossenheit dem Thema
gegenüber sehr unterschiedlich rezipiert werden kann. Verschiedene
Rezeptionsmöglichkeiten werden dabei nicht nur von den Medien und dem
direkten gesellschaftlichen Umfeld angeboten: alle AkteurInnen, die praktisch
mit dem Thema arbeiten, positionieren sich dazu und bieten mit der Gestaltung
und gerade mit der Beschreibung bzw. Bewerbung ihrer Angebote Lesarten des
Themas an. Letztendlich haben also alle auf Achtsamkeit bezogenen
Kommunikationsprozesse das Potential, die weitere gesellschaftliche Rezeption
des Begriffes zu beeinflussen.
Vielschichtigkeit von Kommunikationsprozessen
Um eine Aussage hinsichtlich des Achtsamkeitskonzeptes möglichst gezielt und
klar zu formulieren, ist es von großer Bedeutung die Vielschichtigkeit eines
jeden Kommunikationsprozesses zu verstehen und zu berücksichtigen. Zu
diesem Zweck soll eine scheinbar schlichte, positive Aussage, wie sie in einem
Informationstext über naturbezogene Achtsamkeit vorkommen könnte, genauer
1 Zur Wirkung von Achtsamkeit auf umweltschützendes Verhalten oder nachhaltigen
Konsum gibt es immer mehr Forschungsgruppen (z.B. das Forschungsverbundprojekt
„BiNKA Bildung für nachhaltigen Konsum durch Achtsamkeitstraining“, URL:
http://achtsamkeit-und-konsum.de), gesicherte Erkenntnisse stehen noch aus.
61
analysiert werden: „das Einnehmen einer achtsamen Geisteshaltung intensiviert
das Naturerleben“. Hierzu dient aus einer Vielzahl existierender Modelle
beispielhaft das Kommunikationsquadrat von Friedemann SCHULZ VON THUN
(1981). Diesem Modell zufolge wird jede Nachricht von einem Sender an einen
oder mehrere Empfänger1 übermittelt und enthält „stets viele Botschaften
gleichzeitig“ (SCHULZ VON THUN 1981). Demnach weist jeder
Kommunikationsprozess vier „Seiten“ oder Ebenen auf: Sachinhalt,
Selbstkundgabe, Beziehungshinweis und Apell (siehe Abb. 9).
Abb. 9: Kommunikationsquadrat nach FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN (1981). (Bild:
Eva Simminger)
Der Sachinhalt ist in den meisten Fällen die augenscheinlich beabsichtigte
Botschaft eines Kommunikationsprozesses, der sachliche Informationsgehalt. In
der gewählten Beispielaussage stecken verschiedene Informationen, die Sie
aus der Lektüre der vorliegenden Broschüre bereits gewonnen haben dürften,
so beispielsweise: Die achtsame Haltung ist kein selbstverständlicher
Grundzustand, sie muss gezielt eingenommen werden; Achtsamkeit schärft die
Wahrnehmung und intensiviert das Erleben, wodurch auch eine vertiefte
Wahrnehmung natürlicher Umwelten möglich wird.
Auf der Ebene der Selbstoffenbarung positioniert sich die Senderin in unserem
Beispiel zu achtsamkeitsbasierten Verfahren, indem sie ihre Überzeugung von
deren Wirkung preisgibt. Möglicherweise bringt der Sender außerdem zum
1 SCHULZ VON THUN verwendet die Rollenbeschreibungen „Sender“ und „Empfänger“ als
Fachbegriffe. Im Sinne eines geschlechterneutralen Sprachgebrauchs wechsele ich im
Folgenden zwischen der männlichen und weiblichen Form.
62
Ausdruck, dass er ein gesellschaftliches Defizit intensiver Naturerfahrung
erkannt zu haben glaubt. Wie bereits umrissen ist die Selbstoffenbarung in
Bezug auf Achtsamkeit ein besonders wichtiges Moment: Achtsamkeit wird im
öffentlichen Diskurs häufig subjektiv und emotional diskutiert. Deshalb ist die
Überzeugungskraft einer Position neben ihren sachlichen Argumenten in
besonderem Maße davon abhängig, wie die Senderin durch den Empfänger
bewertet wird. Die Zugehörigkeit zu einer ähnlichen oder im Gegenteil zu einer
in ihren Werten von der eigenen stark abweichenden sozialen Gruppe könnte
diese Bewertung beispielsweise maßgeblich beeinflussen. Gehört die
Empfängerin etwa zu jenen, die Achtsamkeit auf negative Weise als esoterische
Praktik verstehen, wird sie den Aussagen eines Senders, der z.B.
Meditationsworkshops durchführt, von vorneherein skeptisch gegenüber stehen.
Die Beziehungsebene einer Botschaft wiederum enthält eine Positionierung zur
Empfängerin und gibt insofern ebenfalls Informationen über den Sender, sie
hängt also eng mit der Selbstkundgabe einer Botschaft zusammen. Man könnte
vermuten, die Beziehungsebene einer Botschaft spiele nur bei direkten „face-to-
face“-Kommunikationen eine Rolle, doch auch einander fremde Personen
stehen immer in einer bestimmten Beziehung zueinander so stellt sich die
Senderin also auch in der Öffentlichkeitsarbeit in ein bestimmtes Verhältnis zu
ihren potentiellen Empfängern. Doch was verrät das gewählte Beispiel über das
Verhältnis von Senderin und Empfänger? Zunächst wird deutlich, dass die
Senderin mit ihrer Botschaft auf jemanden abzielt, der weniger Kenntnisse zum
Thema Achtsamkeit hat als sie selbst, sie will ihrem Gegenüber also etwas
beibringen. Darüber hinaus lässt sich analog zur Selbstoffenbarung annehmen,
dass der Sender in der Empfängerin eine Person mit defizitärer
Naturwahrnehmung adressiert. Im gewählten Beispiel ist diese Unterstellung
höchstens implizit und damit sehr vorsichtig enthalten. Je nach Textart wäre es
auch denkbar, ein defizitäres Naturverhältnis offensiver zu thematisieren,
beispielsweise durch eine direkte Ansprache: „wenn Sie Ihre
Naturwahrnehmung schärfen möchten, sollten Sie bei Ihrem nächsten
Waldspaziergang eine achtsame Geisteshaltung einnehmen.“ Dies würde nicht
nur deutlich mehr Vorwissen seitens des Empfängers voraussetzen es
impliziert darüber hinaus, dass die Senderin hier von einem Empfänger
ausgeht, der nicht nur eine defizitäre Naturwahrnehmung hat, sondern der sich
dieser auch noch bewusst ist. Hierbei wird deutlich, dass man sich vor der
Formulierung vergegenwärtigen sollte, welche Personen man primär
ansprechen möchte, da ein Kommunikationsprozess je nach Zielgruppe anders
gestaltet werden sollte. Während wir uns in realen Gesprächen meist intuitiv auf
unsere GesprächspartnerInnen einstellen, wird diese Dimension in öffentlichen
Kommunikationsprozessen oft vergessen gerade wenn die Senderin wenig
Erfahrung mit Öffentlichkeitsarbeit hat.
63
Die letzte Seite der Botschaft, die es zu betrachten gilt, ist der Appell. Auch
wenn das gewählte Beispiel keine Aufforderung im klassischen Sinne darstellt,
ist es wie jede Kommunikation mit einer bestimmten Absicht verbunden. Man
möchte beispielsweise Teilnehmende für einen Achtsamkeitskurs gewinnen, die
öffentliche Akzeptanz von Achtsamkeit vergrößern oder die Anwendung des
Konzeptes in der Umweltbildung fördern. Der im Beispiel enthaltene konkrete
Appell wurde durch die Variation im letzten Absatz bereits deutlicher: der
Sender möchte die Empfängerin dazu motivieren, ihre Naturwahrnehmung
durch Achtsamkeitspraktiken zu intensivieren. Welche übergelagerte Intention
der Sender damit verfolgt, wird in dem kurzen Beispiel nicht deutlich. Vermutlich
möchte er der angenommen gesellschaftlich defizitären Naturwahrnehmung
entgegenwirken oder durch die Verknüpfung des Konzeptes mit einem
weitverbreiteten Freizeitverhalten zur allgemeinen Akzeptanz von Achtsamkeit
beitragen.
Natürlich ist selbst größte Umsichtigkeit in der Umsetzung von
Kommunikationsmaßnahmen kein Garant dafür, dass die Botschaft von der
Empfängerin so verstanden wird, wie der Sender sie gemeint hat. Jegliches
Verständnis vollzieht sich subjektiv, bedient sich bekannter Kategorien, greift
themenbezogen auf individuelle wie kollektive Meinungen, Wissensbestände
und Erfahrungen zurück. Letztendlich entscheidet immer die Empfängerin über
den Gehalt der Botschaft. Wenngleich Missverständnisse nie ganz
ausgeschlossen werden können, soll mit dem folgenden Abschnitt das
Verständnis für potentiell auftretende achtsamkeitsspezifische Darstellungs-
probleme vergrößert werden.
Besonderheiten in der Kommunikation über Achtsamkeit
Ein bedeutendes Merkmal der Rezeption des Achtsamkeitskonzeptes im
Westen liegt in seiner Verortung im Spannungsfeld zwischen intersubjektiver
Wissenschaft und persönlicher Haltung: Auf der einen Seite werden immer
mehr wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Achtsamkeit generiert, auf
der anderen Seite handelt es sich seinem Wesen nach um ein
erfahrungsbasiertes und daher subjektives Konzept. Aus dieser Spannung
ergeben sich besondere Herausforderungen für die Kommunikation über das
Thema.
Zunächst ist ein erfahrungsbasiertes Konzept abstrakt nur schwer vermittelbar
und damit durch einen Kommunikationsprozess nicht in all seinen Facetten
darzustellen. Um sie wirklich zu verstehen, muss man Achtsamkeit also
praktizieren. In Bezug auf die großen Vorbehalte in manchen Teilen der
Gesellschaft ergibt sich hier ein Dilemma: gerade um Skeptikern die positiven
64
Implikationen der Achtsamkeitspraxis näherzubringen, wäre es hilfreich, sie
dazu zu animieren selbst Achtsamkeitsübungen auszuführen um sie zu
bewegen diese auszuprobieren, müsste man es jedoch zunächst
bewerkstelligen, ihnen das Konzept näherzubringen. Eine mögliche Chance auf
einen Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, Inhalte sehr persönlich und
erfahrungsbasiert, also emotional zu kommunizieren. Wie zu Beginn
beschrieben, wird die gesellschaftliche Debatte zum Thema bereits zu großen
Teilen auf dieser Ebene geführt, was auch negative Folgen hat. Polemik ist
hierbei nicht die einzig problematische Implikation, auch positive
Beschreibungen können zu Abwehrreaktionen beim Empfänger führen. Denn
die Beschreibung von Emotionen wird normativ eher im privaten Raum verortet,
in öffentlichen Debatten wird Emotionalität schnell mit Irrationalität
gleichgesetzt. Gerade bei Personen, die das Verbergen von Emotionen als
besonders wichtig (in ihrem sozialen Umfeld) erachten, könnte eine solche Art
der Ansprache deshalb statt einer erwünschten thematischen Annäherung auch
Irritation und Abwendung zur Folge haben. Es ist jedoch davon auszugehen,
dass gerade subjektive Erfahrungsberichte von Personen, die das
Achtsamkeitskonzept selbst verinnerlicht haben und einen normativ als
besonders seriös und vertrauenswürdig geltenden beruflichen Hintergrund
haben z.B. Ärzte, (Natur-)Wissenschaftler, etc. einen großen Beitrag leisten
nnen, um das Konzept weiter vom Verdacht mystischer Inhalte zu befreien
und seine Popularisierung voranzutreiben.
Selbst ein Kommunikationsansatz, der auf persönliche, emotionale Inhalte
verzichtet und sich auf wissenschaftliche Rationalität beruft, hat jedoch Tücken:
angesichts der fortschreitenden Technisierung und Entmystifizierung der
westlichen Gesellschaft wird in manchen Reihen Skepsis gegenüber der
Autorität wissenschaftlicher Deutungsmuster laut (vgl. hierzu auch den Vortrag
von KURT, H. in diesem Band). Dies hat selbstverständlich nicht nur
Auswirkungen auf die Bewertung eines Senders emotionaler Botschaften;
gerade wissenschaftliche Erkenntnisse werden in diesen Kreisen hinsichtlich
ihrer Qualität und Legitimation in Frage gestellt. Es bleibt jedoch festzuhalten,
dass es sich hierbei um Ausnahmen handelt. In den größten Teilen der
Gesellschaft wirken die Erkenntnisse zur physischen und psychischen
Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Verfahren, allen voran des MBSR-
Programms (Mindfulness-Based Stress Reduction, vgl. LEHRHAUPT & MEIBERT
2010), als Legitimation für die Anwendung von Achtsamkeit.
Dieser Exkurs macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, sich vor einem
Kommunikationsprozess genau zu überlegen, welche Botschaft vermittelt und
welche Zielgruppe erreicht werden soll. Soll Achtsamkeit im Kontext
wissenschaftlicher Rationalität dargestellt werden oder seine emotionale
65
Qualität im Vordergrund stehen? Handelt es sich bei der Zielgruppe um
Personen, die dem Thema bereits aufgeschlossen gegenüber stehen und oder
sollen SkeptikerInnen überzeugt werden? Im Sinne der Beziehungsebene einer
Botschaft ist es wichtig, dass sich die Senderin so zu den Empfängern
positioniert, dass sie sie dort abholen kann wo sie stehen. Mit „stehen“ ist hier
ebenso ihre normative Verortung Achtsamkeit gegenüber gemeint wie ihr
tatsächlicher Wissensstand über das Konzept. An das Vorwissen (oder die
Vorurteile) der Empfängerinnen anzuknüpfen ist wichtig um zu gewährleisten,
dass die Botschaft verstanden werden kann. Im Sinne einer
Aufmerksamkeitsgenerierung ist die Position der AdressatInnen jedoch schon
früher von Bedeutung: Sie sollen sich angesprochen und dadurch motiviert
fühlen, den Text zu lesen bzw. die Veranstaltung zu besuchen. Wenn man
Menschen „abholen“ möchte, die Achtsamkeit im Buddhismus verorten, kann
dies beispielsweise bedeuten die Ausführungen mit dem Ursprung des
Konzeptes zu beginnen. Mit einem Verweis auf neuste medizinische Befunde
einzusteigen wäre wiederum sinnvoll, wenn der Leserschaft bereits ein
säkularisiertes Achtsamkeitsverständnis unterstellt wird. Eine gezielte
Ansprache kann aber ebenso bedeuten, an Vorurteile anzuknüpfen, mit ihnen
zu spielen und sie durch Kontrastierungen aufzubrechen: Ein Artikel, der die
Anwendbarkeit von Achtsamkeit für den Naturschutz thematisieren möchte,
könnte beispielsweise Menschen mit Vorurteilen zum Lesen einladen, indem er
ihre Meinung aufgreift und mit dem überspitzten Bild Bäume umarmender
Hippies beginnt um im nächsten Moment pragmatisch die erwarteten
Verhaltensweisen achtsamer Menschen auf die wirtschaftliche Frage nach einer
effizienten Ressourcennutzung zu beziehen.
Hier enthalten ist eine weitere Kommunikationsstrategie, die schon in einigen
der genannten Beispielen implizit mitschwingt: das Sprechen über die konkreten
individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen der Achtsamkeitspraxis als
Werbung für das Konzept. So vielversprechend diese Möglichkeit auch ist, man
sollte sich zweier Risiken dieser Strategie bewusst sein: 1. Die westliche
Gesellschaft kann auch charakterisiert werden als eine Konsumgesellschaft;
geprägt durch die Vorstellung, dass alle Bedürfnisse schnell und dank
finanzieller Ressourcen ohne viel Aufwand befriedigt werden können. Reduziert
man Achtsamkeit auf ihren möglichen Nutzen, könnte sie als Konsumprodukt
verstanden werden; die Erkenntnis, dass sie tatsächlich viel Zeit und Disziplin
verlangt, könnte Enttäuschung und Abwendung zur Folge haben. 2. Die
Vorstellung ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, steht im radikalen Gegensatz zur
Absichtslosigkeit, die eines der Hauptcharakteristika der achtsamen
Geisteshaltung darstellt (SCHMIDT 2015A). Ein dadurch geweckter falscher
Ehrgeiz könnte es Interessenten also gar erschweren eine achtsame
Geisteshaltung einzunehmen.
66
Verfolgt man den Kommunikationsansatz einer Fokussierung auf die positive
Wirkung von Achtsamkeit dennoch weiter, so lässt sich hier möglicherweise
eine Strategie finden, um gerade die immer wieder angesprochenen Skeptiker
für das Thema zu erreichen. Diese Strategie könnte in einer Vermeidung des
Achtsamkeitsbegriffes selbst liegen. Denn Menschen, deren Vorurteile dem
Konzept gegenüber stark manifestiert sind, können nicht mehr durch inhaltliche,
selbst wissenschaftliche Argumente erreicht werden, da bereits die
Begrifflichkeit zu Abwendung führt. So wäre es beispielsweise denkbar, einen
Workshop zum Thema Naturerleben zu konzipieren und damit zu werben, in
dessen Rahmen die Wahrnehmung zu schärfen und das Erleben zu
intensivieren ohne auf den Ursprung oder den Namen der hierzu
herangezogenen Techniken hinzuweisen. Ein ähnliches Modell wäre für einen
Workshop zur Erholung von Alltagsstress denkbar. Eine solche
Dekontextualisierung der Achtsamkeitspraxis impliziert jedoch mehr als die
Entscheidung für eine bestimmte Wortwahl. Betrachten wir die Säkularisierung
des Begriffes einmal genauer: Bereits hier bietet sich die Chance, eine
Akzeptanzsteigerung durch eine Verschiebung des Kontextes in diesem Falle
durch das Ausklammern eines spirituellen Rahmens zu erreichen. Gleichzeitig
bedeutet dies jedoch auch eine Reduktion des Konzeptes. Die mit der
Achtsamkeit eng verknüpfte ethische Dimension, besonders der Anspruch des
Mitgefühls für andere, geht verloren oder wird ersetzt durch einen
(selbst)therapeutischen Ansatz (SCHMIDT 2015B). Eine Geisteshaltung wird
zunehmend in Verhaltensweisen übersetzt das Risiko von Missverständnissen
wie der beschriebenen Konsumhaltung oder Zielvorstellung steigt dadurch an.
Eine weitere Ablösung der Praktiken von ihrem theoretischen Überbau kann
demnach als Chance begriffen werden, sollte jedoch hinsichtlich ihrer
Implikationen kritisch hinterfragt werden.
Fazit
Das Sprechen über Achtsamkeit ist komplex. Dies wurde hier anhand dreier
grundlegender Faktoren aufgezeigt: 1. Gesellschaftliche Charakteristika wie die
Heterogenität sozialer Gruppierungen und deren Vorstellungen und Vorurteile
müssen beachtet werden, eine weit verbreitete Konsumhaltung kann
Missverständnisse verschärfen. 2. Die Vielschichtigkeit des Kommunikations-
prozesses stellt eine Herausforderung dar, jede Botschaft sollte hinsichtlich ihrer
Aussage auf allen vier „Seiten“ einer Nachricht konzipiert werden. 3.
Eigenheiten des Achtsamkeitskonzeptes wie Erfahrungsbezug und
Absichtslosigkeit sind ungewohnte Konzeptionen und somit schwer zu
verbalisieren.
67
Es hat sich gezeigt, dass je nach thematischem Fokus oder gewähltem
Sprachgebrauch andere Menschen angesprochen und für das Thema erreicht
werden können. Es kann sinnvoll sein, Achtsamkeit persönlich oder
wissenschaftlich zu beleuchten, bestimmte Aspekte des Themas in den
Vordergrund zu stellen oder auszuklammern und es kann ebenso eine Strategie
sein, Reizworte zu vermeiden oder gar gezielt auf sie Bezug zu nehmen.
Welche Kommunikationsstrategie die richtige ist, muss nicht nur in Bezug auf
die anvisierte Zielgruppe entschieden werden sondern hängt von der
beabsichtigten Aussage ab. Steht die Popularisierung des Achtsamkeitsthemas
im Vordergrund? Sollen Menschen zu einer erhöhten Selbstwirksamkeit oder
einem intensiveren Naturerleben befähigt werden? Oder geht es darum eine
durch Achtsamkeitspraxis vermutete Steigerung umweltschützenden Verhaltens
herbeizuführen?
Achtsamkeit ist ihrem Wesen nach absichtslos das Sprechen über sie ist es
nie.
„Ich habe im Entwicklungsprozess eine ganze Zeit lang gedacht, es wäre
wichtig, dass ich das Thema Achtsamkeit möglichst wissenschaftlich und
objektiv aufbereite inzwischen sehe ich das sehr anders und habe das Gefühl
es lebt gerade davon, dass ich mich als Persönlichkeit da auch stärker
miteinbringe und überhaupt die Dimension des persönlichen Praktizierens in
den Vordergrund rücke.“
Zitat aus einem Telefoninterview.
68
3.3 Achtsamkeit Quellkraft für den Wandel hin zu einer
zukunftsfähigen Zivilisation?
Vortrag von Dr. Hildegard Kurt an der Internationalen
Naturschutzakademie, Insel Vilm (13.10.2016)
Grundlage dieses Vortrags ist der seit Joseph Beuys erweiterte Kunstbegriff,
wonach jeder Mensch sich als schöpferisch als Künstler verstehen darf. Das
hiermit verbundene Bild einer »neuen Muse«, die vor dem Hintergrund der
Industriemoderne zu verwandelndem, Zukunft stiftendem Handeln inspiriert,
kann auch ein Sinnbild für Achtsamkeit im Sozialen sein. Von da aus beleuchtet
der Vortrag Zukunftsfähigkeit als eine in Achtsamkeit gründende, empfangende
Geisteshaltung, kraft derer es möglich wird, im gesellschaftlichen Feld aus der
nur linearen Zeit, die stetig beschleunigt und verengt, in eine umfassendere,
verlebendigende Zeitdimension zu treten.
Die Internationale Naturschutzakademie Vilm, Gastgeberin dieser Tagung,
befasst sich eingehend mit Landschaftsfragen. Das öffnet den Blick auf einen
oft übersehenen Zusammenhang, nämlich: Bevor es irgendwo auf diesem
Planeten eine industriell verursachte Monokultur gegeben hat, ist eine andere
Monokultur entstanden etwas, das die indische Physikerin und Aktivistin für
bäuerliche Landwirtschaft Vandana Shiva eine »monoculture of the mind«
nennt. Mit der Aufklärung setzte in der westlichen Welt ein Prozess ein, in
dessen Verlauf unter allen Quellen von Wissen und von Erkenntnis schließlich
nur noch die Ratio volle Anerkennung fand.
Zu römischer Zeit bedeutete »ratio« »kaufmännische Rechnungslegung«. Das
rationale Denken ist mithin ein rechnendes Denken, ein Denken, das die Welt
durchweg planbar machen will und sie damit oft planiert wie es zum Beispiel
in agrarindustriell genutzten Landschaften geschieht. Von ihrer überwiegend
rechnenden Denkweise aus hat die Industriemoderne ihren Fokus auf das
Machbare und das Objekthafte, Objektivierbare gerichtet; auf das technisch
Machbare, das Messbare, Zählbare, Greifbare, Nutzbare, Vermarktbare. Das
hat zu überwältigenden Erfolgen geführt, insbesondere in der Wissenschaft und
der Technik. Und natürlich wäre es verfehlt, die Moderne der letzten 200 Jahre
auf diesen Fokus zu reduzieren. Denn von der Aufklärung her hat sie auch
Werte wie Freiheit, Mündigkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit verfolgt.
Doch ist spätestens seit Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung«
erkennbar geworden, wie sehr, wie unausweichlich die bloße Ratio, wenn sie
als zweckinstrumentelles Denken einseitig auf allen gesellschaftlichen Feldern
vorherrscht, in Entfremdung und Fremdbestimmung führt, in ein Verdinglichen,
Verzwecken und Vernutzen letztendlich der gesamten Welt.
69
Die »neue Muse« Sinnbild für Achtsamkeit?
Vor diesem Hintergrund trat ab den frühen 70er Jahren jemand auf den Plan,
der zu einem der international renommiertesten deutschen Künstler der
Nachkriegszeit werden sollte und zugleich ein Pionier der Umweltbewegung,
auch Mitbegründer der Partei Die Grünen war: JOSEPH BEUYS. Bekannt wurde
er nicht zuletzt durch die längst abgedroschene, aber im Grunde nach wie vor
rätselhafte Formel »jeder Mensch ist ein Künstler«.
Als Teil einer Installation namens »Hirschdenkmäler« legte BEUYS in den 80er
Jahren ein Manifest vor, worin von einer »neuen Muse« die Rede ist. Jetzt sei
die Lage der Welt so kritisch geworden, dass eine Inspirationskraft auftrete, die
sich nicht mehr mit den Traditionsbereichen der Kunst befasse. Sie stehe für ein
neues Verständnis von Kunst, das jeden einzelnen Mensch als fähig und
berufen erachtet, gestaltend mitzuwirken am großen Wandel hin zu einer Welt,
die überhaupt erst human wäre human im Sinne von menschenwürdig und
wünschenswert. Mithin lädt diese »neue Muse« vor dem Hintergrund des
notwendigen Umgestaltens unserer nicht zukunftsfähigen Zivilisation in den so
aufregenden Prozess ein, aus dem industriemodernen Bann des Verdinglichens
und Vernutzens herauszutreten. Sie lädt dazu ein, das eigene In-der-Welt-Sein
zu ent-automatisieren. Sie lädt in Gestaltungsräume jenseits von
Pfadabhängigkeiten, von so genannten Sachzwängen und Systemlogiken ein.
Damit dürfen wir die »neue Muse« auch als künstlerisches Sinnbild für
Achtsamkeit Achtsamkeit im Sozialen sehen. Und während die traditionellen
Musen in der griechischen Antike als Töchter von Zeuys und von Mnemosyne,
Göttin der Erinnerung, eher in der Vergangenheit wurzeln, verkörpert die neue
Muse ein Vermögen, das weniger von der Vergangenheit als vielmehr von der
Zukunft her einwirkt, nämlich Zukunftsfähigkeit.
Der Mensch hat ja die erstaunliche Fähigkeit, Phänomene nicht nur auf der
Grundlage bisheriger Erfahrungen und von bislang Gewesenem
wahrzunehmen, sondern auch in ihren Potenzialen in dem, was sie noch nicht
sind. Wir können auf die Zukunft hin denken, oder, bedeutsamer noch, von der
Zukunft her. Und in der Art, wie wir das, was noch nicht Wirklichkeit ist,
wahrnehmen, für wahr nehmen oder auch nicht, formen wir es mit.
Zukunftsfähig sein heißt daher, Orientierung nicht allein aus dem zu beziehen,
was faktisch vorliegt, sondern empfänglich zu sein für die Werdekräfte der Welt,
die solche Bewusstheit Achtsamkeit brauchen.
Wie findet ein wesenhaft Neues in die Welt?
Hier nun kommt diese Rose ins Spiel, die für den heutigen Vortrag mit mir auf
die Insel Vilm gereist ist. »Ohne die Rose machen wir gar nichts«, hieß es auf
70
der documenta 6 im Jahr 1977, wo BEUYS zu einer 100 Tage währenden
»permanenten Konferenz« einlud, bei der Menschen, die am Umgestalten de-
formierter gesellschaftlicher Verhältnisse in der Wirtschaft, im Bildungswesen,
in der Demokratiefrage arbeiteten, sich austauschen konnten. Stets gab es
dabei eine solche langstielige rote Rose. Bei denen, die wie ich auf dem Feld
des Erweiterten Kunstbegriffs tätig sind, werden Sie ihr immer mal wieder
begegnen.
Man könnte einen ganzen Vortrag über die Verbindung zwischen der Rose und
Prozessen des Wandels halten. Unsere heutige Frage aber lautet: Wie ließe
sich eine nicht zukunftsfähige Zivilisation umgestalten? Oder, zugespitzt
formuliert: Wie kommt etwas wesenhaft Neues in die Welt?
Abb. 10: Stellen wir uns vor, wir hätten noch nie
eine Blume gesehen (Foto: nter Klarner).
Dazu lade ich Sie in ein kleines Experiment ein. Und zwar umschließe ich die
Blüte mit beiden Händen so, dass nichts mehr von ihr zu sehen ist. Und nun
versuchen wir uns vorzustellen, wir hätten noch nie im Leben eine Blume
gesehen. Versuchen wir das mal und widmen uns dann dem, was hier vorliegt.
71
Schauen wir uns dieses Gebilde unterhalb meiner Hände mit den Augen an, mit
denen wir normalerweise in der Welt unterwegs sind: Mit unserem gewohnten
Blick, der sich an empirisch Vorhandenem festhält und sich darin einrichtet. Wir
sehen ein langes, schmales, aufrechtes Etwas. Wir sehen, wie von diesem
Etwas zu allen Seiten hin kleinere Gebilde abgehen, von derselben Farbe, aber
ganz anders geformt. Betrachten wir was sich hier darbietet noch einen Moment
länger mit dem Alltagsblick, der sich am Faktischen, Offenkundigen orientiert.
Würden wir es von diesem Alltagsblick aus für möglich halten, dass aus dem
hier zu Sehenden auf einmal (Hände von der Blüte weg) das hervorgeht?
Wirkt diese Blüte nicht fast so, als sei sie von oben her drauf gesetzt? In allem
ihrer Farbe, ihrem Gestus, ihrer Konsistenz ist sie wesenhaft anders als das
Bisherige. Man könnte sagen, in Bezug auf das, was der Blüte voraus geht, ist
sie eine Revolution. Gleichzeitig aber hat, wie wir wissen, schon das erste
Wurzelhärchen, hat jede einzelne Zelle dieses Organismus mitgewirkt daran,
dass eine solche Revolution zustande kommt. Damit ist die Blüte ebenso
Ergebnis einer Evolution.
Von hier aus auf das Feld des Sozialen geschaut, liegt der Gedanke nahe: Wir
können nicht überblicken, an welchem großen Wandel wir vielleicht als kleine
Zellen beteiligt sind. Als winzige Zellen, die teilweise umeinander wissen, meist
nicht; die mitwirken an einem irgendwann manifest werdenden Phänomen, das
man so nicht für möglich gehalten hätte; das etwas wesenhaft Neues in die Welt
bringt. Beispiele hierfür wären der Fall des Eisernen Vorhangs, das Ende der
Apartheid in Südafrika oder auch in Deutschland der Ausstieg aus der
Kernenergie nach Fukushima. Daran erinnert diese Rose. Sie führt aber auch
vor Augen, wie oft wir uns aus innerer Passivität, aus mattem Realismus oder
aus Mangel an Vorstellungskraft mit Stängeln und Blättern begnügen. Und
schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben: Beim Kauf am Bahnhof in Berlin habe
ich gefragt, woher sie kommt aus Ecuador. Also verkörpert sie auch etwas
von dem immensen sozialen und ökologischen Unrecht und dem Leid, das die
derzeitige, nicht zukunftsfähige Weltwirtschaft mit der industriellen
Massenproduktion und der globalen Vermarktung solcher Rosen wie zahlloser
anderer Güter buchstäblich mitproduziert.
Das In-der-Welt-Sein ent-automatisieren
Wenden wir uns nun noch einmal auf andere Weise der transformativen Kraft
von Achtsamkeit zu. Ich versuche das mithilfe einer Zeichnung und beginne mit
einem »i« hier in der Mitte. Das ist das Ich: meines, Ihres; ist jede und jeder von
uns, jetzt, hier in diesem Raum. Zusätzlich zu unseren Taschen und
Rucksäcken, die wir sichtbar mit uns tragen, haben wir alle eine Art
72
unsichtbaren Rucksack dabei. Nämlich die Gesamtheit dessen, was wir aus der
Vergangenheit mit uns tragen unser Wissen, unsere Erfahrungen, das
Gewesene.
Und nun ist da diese Wirkkraft von vorne die Zukunftsfähigkeit. Bildlich
gesprochen die »neue Muse«, der danach verlangt, mit mir, mit jeder und jedem
von uns in Verbindung zu treten. Wie zu einem Kuss neigt sie sich uns von der
Zukunft her zu. Dieser Kuss ist der Moment, in dem ich präsent, gewärtig,
achtsam bin oder werde. In dem ich berührbar werde empfänglich und
erreichbar für etwas, das nicht wirklich aus meinem unsichtbaren Rucksack
stammt, sondern das aus erwachendem Spüren heraus Bilder, Ahnungen eines
so noch nicht Dagewesenen erzeugt. Wann immer, sei es mitten im Alltag,
solches Berührtsein eintritt, kann sich ein unsichtbares Blühphänomen
vollziehen. Ein wesenhaft Neues kann in die Welt. Etwas, das mehr ist als ein
Extrapolieren von Gewesenem. Indem ich aufmerke, mein In-der-Welt-Sein ent-
automatisiere, kann eine Geisteshaltung entstehen, die sich nicht mehr so sehr
reproduktiv aus meinem unsichtbaren Rucksack speist, sondern eher
empfangend ist.
Natürlich kann ich den Kuss der »neuen Muse«, die mir in jedem Augenblick
von der Zukunft her zugeneigt ist, auch verpassen. Das geschieht ständig. Denn
die meiste Zeit über bin ich nicht achtsam, also nicht empfänglich. Dann trotte
ich weiter in der scheinbar unentrinnbaren Linearität des Bisherigen, des
Gewesenen mit all seinen vermeintlichen Zwängen, seinen Konditionierungen
und mentalen Gewohnheiten. Das ist die Art, wie wir im Sozialen, im
Gesellschaftlichen Pfadabhängigkeiten und Systemlogiken immer weiter
fortsetzen.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang, wiewohl noch kaum beachtet sind
die beiden unterschiedlichen Strömungen, die in dem Wort »Zukunft« stecken.
Zukunft kann das bezeichnen, was wird oder (und) das, was kommt. Man
unterscheidet diese beiden Strömungen als »futurum« und »adventus«.
Ersteres steht für die Entfaltung, die wie auch immer geartete Extrapolation der
vorhandenen Möglichkeiten; für eine Zukunft, die durch immanente
Naturgesetzlichkeit oder (und) durch menschlichen Einsatz entsteht. Beispiele
sind der Apfelkern, aus dem nicht etwa ein Kirschbaum, sondern ein Apfelbaum
wächst oder der Bau von Stromtrassen quer durch die Lande. Diese Art von
Zukunft ist Gegenstand der noch recht jungen Wissenschaft Futurologie.
»Adventus« steht für Zukunft als unableitbare An-kunft oder Zu-Kommen. Dass
mir jemand begegnet, der bedeutsam für mein ganzes Leben wird, dass
Menschen sich kraft ihrer Freiheit für Zerstörung oder für ein friedliches
Miteinander entscheiden, dass es Erfindungen oder unvorhergesehene
73
Errungenschaften auf einem geistigen, künstlerischen Gebiet gibt all das ist
nicht planbar, prognostizierbar, machbar. Solche Geschehnisse gründen nicht in
dem, was ist, sondern in der unableitbaren Freiheit eines Zu-kommenden. Im
christlichen Kulturkreis verweist der Advent hierauf als Herankunft eines
göttlichen Erlösers, die in keiner Weise fabriziert oder gemanagt werden kann.
Beide Strömungen, »futurum« und »adventus«, vermischen sich ständig.
Gleichzeitig dürfte gelten: Je mehr wir uns kraft einer achtsamen Lebenshaltung
mit dem »adventus«-Strom vertraut machen, uns in ihm beheimaten, desto
zukunftsfähiger werden wir.
Dem Ursprung nachhalten, um von der Zukunft her zu gestalten
Und ein weiterer Aspekt kommt hinzu, ein zutiefst paradoxer: Indem ich mich
ganz und gar dem Jetzt hingebe, wirklich achtsam, wirklich präsent werde, kann
auch Vergangenes sich verwandeln. Und aus verwandeltem Vergangenem
können neue Zukünfte entstehen. Ein Beispiel hierfür ist Willy Brands Kniefall in
Warschau vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstands im Ghetto. Diese Tat
hatte das Programm nicht vorgesehen. Sie kam zustande, weil hier jemand,
dem Impuls des Augenblicks folgend, sich im Innersten ergreifen ließ von
einer gigantischen Schuld, aufgetürmt in dem, was man Vergangenheit nennt.
Aus solchem Sich-ergreifen-Lassen entstand dann eine andere Zukunft,
nämlich die deutsche Ostpolitik.
Während die Rose, einmal abgeschnitten, sich nicht mehr mit ihren Wurzeln
verbinden kann, können wir Menschen ja, wenn wir es nur wirklich wollen, uns
neu mit dem Ursprung verbinden. Selbst wenn das Alltagsbewusstsein, sehr oft
ein Zustand des Nicht-bei-sich-Seins, des inneren Nicht-da-Seins, uns ein
ganzes Leben lang oder auch über Generationen hinweg von dem, was die
Welt lebendig hält, abgetrennt hat, können wir anfangen, uns wieder neu im
lebendigen Sein zu verwurzeln. Indem wir achtsam werden, das Wahrnehmen
und Denken ent-automatisieren, können wir uns aus Abtrennungen,
persönlichen wie kulturellen, befreien.
An diesem Punkt erhält das Wort »Nachhaltigkeit« eine erweiterte, vertiefte
Bedeutung. Hier auf der Tagung haben wir Forstwirte unter uns. Aber auch die
übrigen Teilnehmenden werden wissen, dass der Begriff Nachhaltigkeit aus der
Fortwirtschaft stammt, wo er bedeutete, in einem Wald nicht mehr Holz zu
schlagen als in überschaubaren Zeiträumen nachwächst. Dem ließe sich nun
hinzufügen: Nachhaltig werden individuell, aber vor allem auch
gemeinschaftlich heißt auch, dem Ursprung nachhalten, ihn
vergegenwärtigen, um so mehr von der Zukunft her gestalten zu können. Was
für ein Paradox. Im Deutschen gibt es ein unscheinbares Wörtchen, das ein
74
solches Heraustreten aus der gewohnten, bloß linearen Zeitdimension zum
Ausdruck bringt, nämlich »einst«. In logisch-kausal nicht akzeptabler Weise
verweist »einst« auf Vergangenes und Zukünftiges zugleich.
Zukunftsfähig werden heißt mithin auch, aus dem stetig beschleunigenden,
verengenden Irrsinn nur linearer Zeit in eine andere, umfassendere Zeitqualität
zu treten. Der Kulturphänomenologe JEAN GEBSER hat diese Zeitqualität, in der
die scheinbar getrennten Sphären von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
gleich gegenwärtig sind, als »kugelig« und »transparent« beschrieben und für
das Wahrnehmen dessen den Begriff eines »integralen« Bewusstseins geprägt.
Abb. 11: Wie kommt ein wesenhaft Neues in die Welt? (Bild: Hildegard Kurt).
Entscheidend bei all dem ist stets das »i« in der Mitte dieser Zeichnung, das Ich
unser aller Ich im jetzigen Augenblick. Wenn dieses Ich innerlich absent
oder auf irgendeine Weise betäubt ist, wenn es in seinen mentalen
Automatismen steckt, sich mit ihnen identifiziert, ist die Welt dazu verurteilt,
weiter unverwandelt zu bleiben. Wo aber ein Ich sich berühren lässt, wo es
achtsam wird, empfänglich wird, den »Kuss« von der Zukunft her
entgegennimmt, kann sich Allgegenwart öffnen. Dann kommen, um noch einmal
mit JEAN GEBSER zu sprechen, zu Religion von lateinisch »re-ligio«,
»Rückverbindung« zwei weitere Verbindungen hinzu, nämlich »pro-ligio« als
Verbindung zu den von der Zukunft her wirkenden Kräften und, ganz elementar,
75
»prae-ligio« als Gewärtigsein, als bewusstes Sichverbinden mit dem im steten
Jetzt lebendigen Sein.
Prädisziplinarität hin zu einer empfangenden Geisteshaltung
Werfen wir zum Schluss noch einmal einen Blick auf die Adventus-Sphäre
sozialer Achtsamkeit. Im Bemühen um den »Großen Wandel« (JOANNA MACY)
hin zu einer zukunftsfähigen Zivilisation werden seit einigen Jahren verstärkt
Methoden erkundet und praktiziert, die jene empfangende Geisteshaltung, von
der in diesem Vortrag die Rede ist, kultivieren. Ein bekanntes Beispiel ist die mit
dem Organisationsentwickler OTTO SCHARMER und dem M.I.T. in Boston
verbundene »Theorie U«, die von immer mehr Institutionen und Unternehmen
erprobt wird, um von der Zukunft her zu entscheiden und zu agieren. Auch die
Emergenz-Forschung untersucht praxisorientiert, welche Voraussetzungen es
braucht, damit Gruppen, Organisationen, Gemeinschaften sich mit einer
Wissensquelle verbinden, die, indem sie mehr als die Summe der Teile ist, neue
Paradigma eröffnen kann. Auch Begriffe wie Wir-Intelligenz, Collective
Leadership, Ko-Kreativität und Potenzialentfaltung oder auch die aus der Kunst
stammende Idee der Sozialen Plastik handeln von einer empfangenden, sich
aus Verbundensein nährenden Geisteshaltung, mit der das, was
transformierend in die Welt kommt, weniger gemacht als vielmehr erkannt und
eingelassen wird. Im Rahmen des »und.Instituts für Kunst, Kultur und
Zukunftsfähigkeit« (und.Institut) erforschen wir dies derzeit als ein Arbeiten im
»Prädisziplinären«. Prädisziplinarität so verstehen wir diesen Begriff handelt
davon, individuell, aber vor allem auch gemeinschaftlich auf Wegen eines
inneren Selbstaktivierens zu Einsichten, zu Erkenntnis und von da aus zu
veränderndem Handeln zu gelangen.
Hierbei zeigt sich ein neuartiges Grundmuster für Erkenntnis- und
Entscheidungsprozesse: An die Stelle der überkommenen Linearität
hierarchischer Strukturen von oben nach unten tritt der von bewussten
Individuen gebildete Kreis mit offener Mitte. Überall dort, wo Menschen in
Achtsamkeit, mit innerer Präsenz zusammenfinden, entsteht zwischen ihnen ein
Raum, aus dessen Offenheit heraus etwas in Erscheinung treten kann, zu dem
alle beitragen, das aber niemandem gehört; das ohne ein Miteinander
fragender, sinnender, zuhörender Menschen nicht zustande käme; das ein
wesenhaft Neues sein kann. Die »runden Tische«, wie sie nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs vielerorts erprobt wurden, sind ein frühes Beispiel solcher
Kreise, wenn auch oft noch in einer harten, konfrontativen Kommunikation
gefangene. Weitere Beispiele wären die »Dialogforen« nach DAVID BOHM, das
von der Künstlerin SHELLEY SACKS, einer BEUYS-Schülerin, entwickelte »Earth
76
Forum« oder auch das Format »Lebendigkeits-Werkstatt« unter Trägerschaft
des und.Instituts.
In dem Maße, wie um Bewusstheit ringende Menschen Kreise mit einer offenen,
von niemandem okkupierten Mitte bilden, ob diese groß sind oder klein, sich
überlappen oder nicht, entsteht in der Adventus-Sphäre sozialer Achtsamkeit
und mithin jenseits des Berechenbaren ein Gewebe erneuernder, zukunftsvoller
Lebendigkeit. Deshalb steht das Grün dieses Kreises hier auf der Zeichnung für
die Möglichkeit eines neuen Ergrünens der Erde genährt von bewusst
miteinander kultivierter Achtsamkeit.
Das letzte Wort soll der Dichter RAINER MARIA RILKE haben, dessen gesamtes
Werk sich dem Heraufkommen eines verwandelnden, verlebendigenden
Bewusstseins in einer verdinglichten Welt verschreibt. Hier ein paar Zeilen aus
den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«: »Ist es möglich, dass man
Jahrtausende Zeit gehabt hat zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen,
und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in
der man sein Butterbrot isst und einen Apfel? Ja, es ist möglich. Ist es möglich,
dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und
Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, dass
man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit
einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so dass sie aussieht wie
die Salonmöbel in den Sommerferien? Ja, es ist möglich«.
77
„Vom ES zum DU“
Was erfahre ich von Dir?
Du bist unendlich schön.
Du hast all das, was Du jemals warst, verdichtet, so dass alles, was
weich an Dir war nun so hart und bestimmt ist.
Du bist zufrieden.
Du kannst so für immer bleiben oder zerfallen - beides ist gut.
Deshalb hast Du auch Dein Ende nicht erreicht und wirst es nie erreichen.
Wie wunderbar und fein Du Dich gefaltet hast, als Du all Deinen
Saft entlassen hast. Ich kann nicht glauben, dass all diese feinen Falten, die wie
Rüschen sind - oder wie Gebirgszüge und jetzt bist Du wirklich
die Welt, eine Welt mit Stiel und Blüte.
Leben ist Veränderung.
Die Bewegung, in der Du zusammengesunken bist, hast Du in Dir aufbewahrt.
Gedanken im Seminar von Hildegard Kurt
angesichts eines eingetrockneten Apfels
von Sylvia Hepe.
78
4 Naturerleben
4.1 Naturerleben, Erholung und Wohlbefinden
Autorin: Dr. Nicole Bauer
Einige Teile diese Beitrags wurden bereits publiziert unter: BAUER, N.;
MARTENS, D., (2010): Die Bedeutung der Landschaft für die menschliche
Gesundheit - Ergebnisse neuster Untersuchungen der WSL.
Landschaftsqualität. Konzepte, Indikatoren und Datengrundlagen. Forum
r Wissen 2010: 43-51.
Einleitung
In zahlreichen europäischen Ländern führt die Urbanisierung zu einer
Verdichtung der Städte und Naturflächen werden selten. Verdichtete Städte
fördern einen bewegungsarmen Lebensstil und erhöhen die Notwendigkeit für
Erholung. Psychischer Stress und Übergewicht als Folgen dieser
Entwicklungen, gefährden die Gesundheit. Gleichzeitig tragen unterschiedliche
Landschaften, wie z.B. Wälder, dazu bei, Erholung zu ermöglichen und
Gesundheit großer Bevölkerungsteile zu verbessern und damit die Folgen der
erwähnten Trends abzuschwächen.
Natur bietet Gelegenheiten zur passiven Erholung, zur sozialen Interaktion und
zur Bewegung (HEALTH COUNCIL OF THE NETHERLANDS 2004, NORDH et al.
2009). Dies ist unbestritten ein wichtiger Aspekt ihres gesundheitsfördernden
Charakters. Darüber hinaus bestehen - trotz der intensiven Beschäftigung mit
dem Themenkomplex Landschaft und Gesundheit in der internationalen
Forschung und Praxis in den letzten Jahren - nach wie vor zahlreiche offene
Fragen zum Thema Natur bzw. Landschaft und Gesundheit (vgl. BAUER &
MARTENS 2010).
A) Die wichtigsten Begriffe und Konzepte zum Thema Naturerleben,
Erholung und Wohlbefinden
Was ist Erholung?
Erholung wird definiert als ein Prozess der Regeneration von adaptiven
Fähigkeiten, die durch die Anforderungen des Alltags erschöpft sind (HARTIG
2003). Erholung führt dazu, dass 1) die physiologischen Parameter sich wieder
in den Normbereich zurück bewegen (z.B: Cortisol, Blutdruck), 2) das
psychische Wohlbefinden wieder steigt und 3) die Handlungsfähigkeit im Sinne
der Fähigkeit sich zu konzentrieren wieder hergestellt ist. Erholung braucht Zeit
und muss immer wieder erfolgen. Grundsätzlich sind Stress und
79
Beanspruchung nicht schädlich für den Organismus, sofern es einen Wechsel
zwischen Anspannung und Entspannung gibt. Die Beanspruchungs- und
Erholungsphasen sind durch die Aktivitäten im Tageslauf vorgegeben und somit
von vielen Faktoren bestimmt und nicht frei wählbar. Grundsätzlich sollen
Erholungsphasen eine präventive Funktion haben und nicht erst bei starker
Erschöpfung eingeschaltet werden. Die Erholung hat einen zentralen
Stellenwert in Bezug auf das psychische Wohlbefinden, denn ohne Erholung
kann es vorkommen, dass die Person neuen Anforderungen nicht gewachsen
ist und gesundheitliche Probleme (psychischer und/ oder physischer Art)
auftreten.
Da psychisches Wohlbefinden im Rahmen des Erholungsprozesses ansteigt, ist
die Messung des Wohlbefindens ein wichtiger Indikator für Erholung.
Was ist psychisches Wohlbefinden?
Psychisches Wohlbefinden gilt als ein Aggregat psychologischer Empfindungen
und Evaluationen des eigenen Lebens (KAHNEMAN et al. 1999) und hat
emotionale und kognitive Komponenten (DIENER & LUCAS 2000).
Das Strukturmodell des Wohlbefindens (BECKER 1994) differenziert zwischen
aktuellem und habituellem Wohlbefinden. Das aktuelle Wohlbefinden umfasst
das momentane Erleben und hängt sowohl von Persönlichkeitseigenschaften
als auch von situativen Einflüssen sowie deren Interaktion mit der Person ab. Es
bewegt sich um einen habituellen personenspezifischen Wohlbefindenswert, der
eine hohe Stabilität über die Zeit aufweist.
Psychisches Wohlbefinden kann nicht direkt beobachtet oder durch
physiologische Messmethoden erfasst werden, sondern nur unter Einbeziehung
von Selbstbeurteilungen der Betroffenen. In der Forschung gewinnen
entsprechende Selbsteinschätzungen des Wohlbefindens zunehmend an
Bedeutung, da objektive Indikatoren oftmals subjektives Wohlbefinden nicht
vorhersagen können.
B) Theorien zu den Mechanismen, die Naturerleben, Wohlbefinden und
Erholung verbinden
Landschaftspräferenzen
Landschaftspräferenzen beeinflussen Entscheidungen, z.B. welche Flächen
man für Erholungszwecke aufsucht. Sie stehen damit in engem Zusammenhang
mit Wohlbefinden. Aus einigen Studien geht jedoch hervor, dass die
bevorzugten Landschaften nicht zwangsläufig jene sind, die sich am besten auf
das Wohlbefinden auswirken (z.B. siehe MARTENS et al. 2011), deshalb sind
80
Präferenzen keine Prädiktoren für die Wirkung einer Fläche auf das psychische
Wohlbefinden.
Psychoevolutionäre Theorie
Ulrichs psycho-evolutionäre Theorie (ULRICH 1983) bezieht sich auf die
Erholung von psychophysiologischem Stress, d.h. dem Antwortprozess auf eine
Situation, die als anstrengend oder bedrohlich für das Wohlbefinden
wahrgenommen wird. Stress äußert sich in einer negativen emotionalen
Reaktion und erhöhten autonomen Erregung. Erholung hiervon kann stattfinden,
wenn eine Szene Gefühle von leichtem bis moderatem Interesse, Gefallen und
Gelassenheit hervorruft. Diese Bedingungen sind in der natürlichen Umwelt in
stärkerem Maße erfüllt als in der gebauten Umwelt und daher gelten natürliche
Umwelten als besonders gut für die Erholung geeignet (ULRICH 1999).
Der Prozess der Erholung läuft dabei folgendermaßen ab: Eine Szene mittlerer
Komplexität und mit natürlichem Inhalt (Vegetation, Wasser) erregt Interesse
und führt zu einer positiven emotionalen Reaktion. Sie bindet Aufmerksamkeit,
schränkt dadurch negative Gefühle ein und ermöglicht ein Sinken des
Stresslevels. Erholung äußert sich zum einen in positiveren Emotionen (z.B.
gesteigertes selbstberichtetes Wohlbefinden) und zum anderen in einer
Normalisierung physiologischer Parameter, wie Blutdruck, Herzfrequenz und
Muskelspannung.
Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie
Die Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie von KAPLAN & KAPLAN (1989, siehe
auch KAPLAN 1995) erklärt die Regeneration gerichteter Aufmerksamkeit. Es ist
anstrengend, seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt oder eine Aufgabe zu
richten, da die Person hierzu andere Reize ausblenden muss. Die Fähigkeit, die
anderen Reize auszublenden, nimmt mit der Dauer der Konzentration ab und
die Ermüdung führt zu reduzierter Selbstkontrolle, einer erhöhten
Fehleranfälligkeit bei Aufgaben, die gerichtete Aufmerksamkeit erfordern, usw.
Die Fähigkeit, sich auf ein Objekt oder eine Aufgabe zu konzentrieren, kann sich
regenerieren, sofern die Umwelt folgende Eigenschaften aufweist und folgende
Prozesse ermöglicht:
„Fascination“: d.h. Gegenstände oder Geschehen fordern Aufmerksamkeit ein,
ohne dass die betrachtende Person sich anstrengend muss.
„Being away“: die Umwelt ermöglicht psychischen Abstand von Aufgaben und
Zielen, die üblicherweise verfolgt werden und zu deren Zielerreichung gerichtete
81
Aufmerksamkeit notwendig ist. Die Umwelt vermittelt ein Gefühl von
Alltagsferne.
„Extent“: die Umwelt wird von der betrachtenden Person als in sich stimmig und
von substantieller Weite wahrgenommen.
„Coherence“: Die Umwelt wird als kohärent und geordnet wahrgenommen.
„Compatibility“: die Umwelt stimmt mit eigenen Vorstellungen und Zielen
überein.
KAPLAN (1995) geht davon aus, dass diese Kriterien insbesondere von der
natürlichen Umwelt erfüllt werden und dadurch maßgeblich an dem positiven
Einfluss natürlicher Umwelten auf den Menschen bei der Regeneration beteiligt
sind.
Die Perceived restorativeness scale (PRS, BERTO 2005) ist die
Operationalisierung der Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie von Kaplan und
Kaplan und wird in der Forschung eingesetzt, um die Erholsamkeit
unterschiedlicher Landschaften einzuschätzen.
C) Studien mit Bezug zu Naturexposition, Erholung und Wohlbefinden
Seit einiger Zeit wird der Einfluss unterschiedlicher Landschaften auf das
psychische Wohlbefinden und auf die Erholung wissenschaftlich untersucht. Der
Schwerpunkt der bisherigen Forschung zum Thema liegt auf dem Vergleich von
bebauten und natürlichen Umwelten.
Vergleich von bebauter und natürlicher Umwelt
Eine der ersten entsprechenden Studien stammt von ULRICH (1984), der im
Nachhinein Patientenakten aus den Jahren 1972 bis 1981von Personen nach
einer Gallenblasen-OP analysiert hat. Dabei hat er nur die Akten aus den
Monaten ausgewertet, in denen die Bäume Blätter haben, denn einige der
Patienten waren in einem Zimmer mit Blick auf eine Ziegelsteinwand, die
anderen mit Blick auf Bäume untergebracht. Zudem hat man Personen mit
anderen Erkrankungen ausgeschlossen und auch den Altersbereich hat man
aus Vergleichsgründen eingeschränkt. Bei der Zimmerbelegung gab es keine
Systematik, so dass man die Daten vergleichen konnte. Das Ergebnis war
eindeutig, die Personen, die einen Blick auf die Natur hatten brauchten weniger
Schmerzmittel und konnten früher entlassen werden.
Diese und zahlreiche ähnliche Studien zeigen, dass Stadtlandschaften mit
Grünflächen einen positiveren Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden
haben als Stadtlandschaften ohne Grün(flächen).
82
Der Einfluss von Wasserflächen auf die Erholung
Wasser ist ein Landschaftselement, das in der besagten Forschung in den zu
bewertenden Umweltausschnitten oftmals vorkommt, aber dessen Einfluss auf
die Erholung und das Wohlbefinden noch kaum systematisch untersucht wurde.
Eine der wenigen systematischen Studien zum Einfluss von Wasserflächen in
bebauten und natürlichen Umwelten stammt von WHITE et al. (2010). In dieser
Studie wurden 40 Studierenden der Universität Plymouth in Einzelsitzungen 120
Fotos auf einem Computer-Bildschirm gezeigt. Nach jedem Bild sollten sie
einige Fragen beantworten. Die Fotos wurden in zufälliger Reihenfolge
dargeboten und waren so aufgebaut, dass es neun verschiedene
Kombinationen von Wasserflächen, Grünflächen und bebauten Flächen gab
(Tabelle 3).
Tabelle 3: Art und Anteil der abgebildeten Fläche.
Wasserfläche (2/3)
Grünfläche (2/3)
Bebaute Fläche (2/3)
Wasser-
fläche
(1/3)
Grün-
fläche
(1/3)
Bebaute
Fläche
(1/3)
Wasser-
fläche
(1/3)
Grün-
fläche
(1/3)
Bebaute
Fläche
(1/3)
Wasser-
fläche
(1/3)
Grün-
fläche
(1/3)
Bebaute
Fläche
(1/3)
Die StudienteilnehmerInnen sollten unter anderem anhand der Perceived
restorativeness scale (BERTO 2005) auf einer Skala von 0 = „gar nicht“ bis 10 =
„ganz und gar“ angeben, wie gut die abgebildeten Szenen zur Erholung
geeignet sind.
Abb. 12: Rangreihe der Umwelten in Hinblick auf ihre Erholungseignung
(Irrtumswahrscheinlichkeiten:* p<.05, ** p<.01, *** p<.001; Irrtumswahrscheinlichkeiten:*
p<.05, ** p<.01, *** p<.001; n.s.= nicht signifikant).
1
2
3
4
5
6
7
8
9
3/3 bebaut
2/3 bebaut 1/3 grün
2/3 bebaut 1/3 Wasser
2/3 grün 1/3 bebaut
2/3 Wasser 1/3 bebaut
3/3 grün
2/3 grün 1/3 Wasser
3/3 Wasser
2/3 Wasser 1/3 grün
*** ** *
**
*** n.s. *
10
83
Aus den Ergebnissen in Abbildung 12 geht hervor, dass die rein bebauten
Flächen nach Einschätzung der VersuchsteilnehmerInnen am wenigsten zur
Erholung geeignet sind, gefolgt von den Szenen mit Kombinationen von
bebauten und Grünflächen bzw. Wasserflächen. Sehr gut sind die reinen
Wasserflächen und die Kombination von 2/3 Grünfläche mit 1/3 Wasserfläche.
Den höchsten Erholungswert hat die Kombination von 2/3 Wasser und 1/3
Grünfläche.
Aus dieser Studie geht hervor, dass sowohl Grünflächen als auch bebaute
Umwelten kombiniert mit Wasserflächen als besser für die Erholung bewertet
werden als entsprechende Flächen ohne Wasser. Zudem wird grundsätzlich der
Erholungswert von Wasserflächen höher eingeschätzt als der von Grünflächen.
Da es noch wenig Studien zu den Auswirkungen von Wasserflächen auf die
Erholung gibt, gibt es auch noch keine Erklärungen für die in dieser Studie
berichtete Überlegenheit von Wasserflächen gegenüber Grünflächen. Aus der
Theorie der Landschaftspräferenzen ist bekannt, dass Szenen mit Wasser
besonders positiv bewertet werden. Ein möglicher Grund ist darin zu sehen,
dass Wasser als lebenswichtigem Element eine besondere Rolle zukommt.
Genaue Aussagen über weitere Merkmale des Wassers (z.B.
Fließgeschwindigkeit, Farbe etc.) die einen Einfluss auf die Erholung haben
könnten, gibt es kaum.
Natur ist jedoch sehr vielfältig, und die Theorien von ULRICH und KAPLAN
erlauben keinen Rückschluss darauf, welche Art von Natur für die menschliche
Gesundheit am besten geeignet ist. Daher bleibt die Frage, welchen Einfluss
unterschiedliche Naturzustände, wie zum Beispiel unterschiedliche
Waldzustände, auf die psychische Gesundheit der Menschen haben.
Welchen Einfluss haben unterschiedliche Wälder auf das psychische
Wohlbefinden?
In einer Studie im Rahmen der COST Action E 39 wurde in einem
experimentellen Design der Einfluss unterschiedlicher Waldzustände
„verwildert“ und „gepflegt“ auf das psychische Wohlbefinden von
BesucherInnen untersucht. Hierzu wurden mit Unterstützung von ExpertInnen
aus den Forstwissenschaften und der Biologie die entsprechenden
Untersuchungsflächen im Stadtraum von Zürich ausgewählt: die „gepflegte“
Waldfläche wurde zum Zeitpunkt der Erhebung bewirtschaftet, während die
Bewirtschaftung der „verwilderten“ Waldfläche sechs Jahre zuvor eingestellt
wurde.
Die Waldflächen unterschieden sich hinsichtlich der in Tabelle 4 dargestellten
Kriterien.
84
Tabelle 4: Auswahl der unterschiedlichen Waldgebiete.
Zeichen wirtschaftlicher
Nutzung
Anteil Totholz Vegetations-
dichte
„Verwilderter“ Wald Keine Hoch Hoch
„Gepflegter“ Wald Geschichtete Holzernte am
Weg
Gering Gering
Neben der Unterscheidung von „verwildertem“ und „gepflegtem“ Wald wurde
eine methodische Variation vorgenommen. Zum einen besuchten ProbandInnen
den jeweiligen Wald real (in situ Bedingung), zum anderen wurde der jeweilige
Wald ProbandInnen durch einen Film im Labor präsentiert (Labor-Bedingung).
Die Datenerhebung fand im Sommer und Herbst bei Tageslicht und
vergleichbaren Wetterbedingungen statt. Die Teilnehmenden der in situ-
Bedingung gingen jeweils allein, um soziale Effekte, zum Beispiel durch ein
Gespräch, zu vermeiden. Die Strecke, der sie folgen sollten, war auf einer Karte
eingezeichnet. Der Spaziergang nahm je nach Gehtempo der ProbandInnen 30
bis 40 Minuten Zeit in Anspruch.
Im Labor wurde - analog zum Vorgehen in situ - ein Film der jeweiligen Strecke
präsentiert. Die Person ging auf einem Laufband, vor sich den Waldfilm der
gefilmten in situ Route aus der Sicht eines Spaziergängers.
Vor und nach dem realen oder simulierten Spaziergang wurde das subjektive
Wohlbefinden anhand einer komplexen, standardisierten Liste aus 32
Eigenschaftswörtern (ABELE-BREHM & BREHM 1986) erhoben. Dabei sollten sich
die Personen für jedes Adjektiv auf einer Skala von 0 = „trifft gar nicht zu“ bis 8
= „trifft voll zu “ einstufen. Die 32 Adjektive lassen sich in acht Wohlbefindens-
dimensionen („gute Laune“, „Besinnlichkeit“, „Aktiviertheit“, „Ruhe“, „Depri-
miertheit“, „Erregtheit“, „Ärger“, „Energielosigkeit“) zusammenfassen.
Vor der Universität Zürich und der ETH Zürich wurden Flyer verteilt, um
Teilnehmende für die Studie zu gewinnen. Die 203 Untersuchungs-
teilnehmenden die sich daraufhin meldeten, waren vor allem Studierende und
Mitarbeitende der Universität Zürich/ ETH. Sie wurden zufällig einer der vier in
Tabelle 5 aufgeführten Bedingungen zugeordnet. Am Ende konnten die Daten
von 196 komplett durchgeführten Experimenten in die Auswertung einbezogen
werden. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 35 Jahren (18 bis 74
Jahre), 55% der Teilnehmenden waren weiblich.
85
Tabelle 5: Überblick über die Untersuchungsbedingungen und die Aufteilung der
TeilnehmerInnen (N=196).
In situ-Bedingung Laborbedingung
„Verwilderter“ Wald
52 Personen
51 Personen
„Gepflegter“ Wald
45 Personen
48 Personen
Hat sich das Wohlbefinden im Laufe des Waldspaziergangs verändert?
Die Messwerte der Wohlbefindensdimensionen „Deprimiertheit“ und „Erregtheit“
sanken in allen vier Untersuchungsbedingungen deutlich gegenüber den
Ausgangswerten vor dem Spaziergang, d.h. ein Spaziergang in situ oder im
Labor, im gepflegten oder im verwilderten Wald hatte einen günstigen Einfluss
auf das Wohlbefinden des Individuums (siehe Tabellen 6 und 7). Des Weiteren
wurde festgestellt, dass in den vier Untersuchungsbedingungen zum Teil jeweils
unterschiedliche Dimensionen des Wohlbefindens positiv beeinflusst wurden.
Die beiden in situ-Bedingungen (verwildert/ gepflegt) und der simulierte
Spaziergang im gepflegten Wald erwiesen sich als geeignet für eine Steigerung
des Wohlbefindens auf den Dimensionen „gute Laune“, „Ruhe“ sowie „Ärger“.
Die Dimension „Energielosigkeit“ wurde ausschließlich in den beiden in situ-
Bedingungen positiv beeinflusst, während die „Aktiviertheit“ im gepflegten Wald
(in situ und im Labor) anstieg, die Werte auf der Dimension „Besinnlichkeit“ aber
nur im Verlauf eines realen Spaziergangs im gepflegten Wald positiv beeinflusst
wurden.
Tabelle 6: Vergleich der vorher- und nachher- Messung von Wohlbefinden in situ-
Bedingung (n=97).
„Verwildert“ Wald
„Gepflegt“ Wald
Mt1
Mt2
t
Mt1
Mt2
t
Gute Laune
5.33
5.69
-2.19*
5.67
6.29
-3.12**
Besinnlichkeit
3.71
3.88
-.86
4.06
4.50
-2.15*
Aktiviertheit
4.73
5.05
-1.56
4.41
5.20
-3.11**
Ruhe
5.17
5.65
-2.33*
5.42
6.19
-3.03**
Deprimiertheit 1.44 1.01 2.83** 1.17 .45 3.80***
Erregtheit 1.98 1.39 3.63** 2.06 1.22 3.10**
Ärger
1.03
.62
3.48**
.65
.33
2.14*
Energielosigkeit
1.97
1.50
2.68*
2.27
1.66
2.22*
(Anmerkungen: t-Test für gepaarte Stichproben; Mt1= Mittelwert zu Messzeitpunkt t1; Mt2=
Mittelwert zu Messzeitpunkt zu t2; t= t-Wert; Fehlerwahrscheinlichkeiten: * p<.05, ** p<.01, ***
p<.001)
86
Tabelle 7: Vergleich der vorher- und nachher- Messung von Wohlbefinden Labor-
Bedingung (n=98).
„Verwildert“ Wald „Gepflegt“ Wald
Mt1
Mt2
t
Mt1
Mt2
t
Gute Laune
5.07
5.11
-.20
5.22
5.79
-3.63**
Besinnlichkeit
3.53
3.48
.25
3.55
3.80
-1.20
Aktiviertheit
4.12
4.15
-.12
4.60
5.13
-2.63*
Ruhe
4.81
5.03
-.91
4.87
5.54
-3.23**
Deprimiertheit
1.78
1.27
2.78**
1.67
1.08
3.24**
Erregtheit
2.47
1.70
3.44**
2.46
1.56
4.36***
Ärger 1.29 .96 1.44 .96 .53 2.92**
Energielosigkeit 2.93 2.47 1.91 1.93 1.77 .72
(Anmerkungen: t-Test für gepaarte Stichproben; Mt1= Mittelwert zu Messzeitpunkt t1; Mt2=
Mittelwert zu Messzeitpunkt zu t2; T= T-Wert; Fehlerwahrscheinlichkeiten: * p<.05, ** p<.01, ***
p<.001)
Ist der Einfluss vom Pflegegrad abhängig?
a) in der in situ Bedingung?
Beim Vergleich der Wohlbefindensmesswerte nach dem Spaziergang, unter
Berücksichtigung möglicher Unterschiede in den Ausgangsmesswerten, wird
deutlich, dass der Spaziergang im gepflegten Wald in Bezug auf die
Dimensionen „Ruhe“, „gute Laune“ und „Deprimiertheit“ einen stärker positiven
Einfluss auf das psychische Wohlbefinden hatte als der Spaziergang im
verwilderten Wald (siehe Tabelle 8).
b) in der Labor-Bedingung?
In Bezug auf die beiden Dimensionen „gute Laune“ und „Aktiviertheit“ hatte der
simulierte Spaziergang im gepflegten Wald einen stärker positiven Einfluss auf
das psychische Wohlbefinden als der simulierte Spaziergang im verwilderten
Wald (siehe Tabelle 9).
87
Tabelle 8: Vergleich der Wohlbefindensmesswerte zwischen in situ-Bedingungen
„verwilderter“ und „gepflegter“ Wald (n=97).
„Verwildert“ „Gepflegt“
M
SD
M
SD
Gute Laune*
.36
1.18
.61
1.29
Besinnlichkeit
.16
1.38
.43
1.33
Aktiviertheit
.31
1.46
.79
1.66
Ruhe*
.47
1.46
.76
1.66
Deprimiertheit**
-.42
1.07
-.71
1.23
Erregtheit
-.58
1.16
-.84
1.78
Ärger -.41 .86 -.32 .91
Energielosigkeit -.46 1.23 -.61 1.80
(Anmerkungen: Kovarianzanalyse (Kovariate: Werte der Wohlbefindensmessung vor dem
Spaziergang (Messwerte Zeitpunkt t1); abhängige Variable: Differenz der
Wohlbefindensmesswerte zwischen den beiden Messzeitpunkten (Messwerte Zeitpunkt t2-t1); M
= Mittelwert; SD= Standardabweichung; Fehlerwahrscheinlichkeiten: * p<.05, ** p<.01, *** p<.001)
Tabelle 9: Vergleich der Wohlbefindensmesswerte zwischen Labor-Bedingungen
„verwilderter“ und „gepflegter“ Wald (n=98).
„Verwildert“ Wald
„Gepflegt“ Wald
M
SD
M
SD
Gute Laune
.04
1.35
.56
1.08
Besinnlichkeit
-.05
1.41
.24
1.42
Aktiviertheit
.02
1.49
.52
1.38
Ruhe
.21
1.64
.66
1.42
Deprimiertheit -.51 1.29 -.58 1.24
Erregtheit
-.77
1.58
-.90
1.42
Ärger
-.32
1.58
-.43
1.02
Energielosigkeit
-.45
1.68
-.15
1.48
(Anmerkungen: Kovarianzanalyse (Kovariate: Werte der Wohlbefindensmessung vor dem
Spaziergang (Messwerte Zeitpunkt t1); abhängige Variable: Differenz der
Wohlbefindensmesswerte zwischen den beiden Messzeitpunkten (Messwerte Zeitpunkt t2-t1); M
= Mittelwert; SD= Standardabweichung;Fehlerwahrscheinlichkeiten: * p<.05, ** p<.01, *** p<.001)
Die Unterschiede zwischen den Wohlbefindensmesswerten vor und nach dem
Spaziergang in den experimentellen Studien sprechen deutlich für einen
positiven Einfluss des Wahrnehmens von Natur in Kombination mit
88
Spazierengehen, der sich auf mehreren der gemessenen Wohlbefindens-
dimensionen zeigt. Wenn man die unterschiedlichen Naturzustände (verwildert/
gepflegt), Offenland (extensiv/ intensiv) untereinander vergleicht, so wird
deutlich, dass der gepflegte Wald (sowohl beim in situ Spaziergang als auch bei
der Labor-Bedingung) dem verwilderten Wald in seinem positiven Einfluss auf
die gemessenen Dimensionen des Wohlbefindens überlegen ist. Der stärker
positive Effekt von gepflegtem Wald in dieser Studie deckt sich mit Befunden
aus andere Studien, die zeigen, dass Zeichen der Pflege sich besonders positiv
auf Erholung und Wohlbefinden auswirken (HERZOG et al. 2003).
Zwei der gefundenen Effekte sind anderen Studien zufolge auf die
Vegetationsdichte zurückzuführen: Frühere Studien haben gezeigt, dass in
Flächen mit geringer Dichte positive Emotionen wie „Freude“ stärker ansteigen
als in Flächen mit hoher Vegetationsdichte (STAATS et al. 1997). Das stärkere
Ansteigen der Wohlbefindensdimension „gute Laune“ im gepflegten Wald ist mit
diesem Befund in Einklang. Auch das stärkere Ansteigen der Dimension „Ruhe“
in der „gepflegten“ Waldfläche ist auf die Vegetationsdichte zurückführbar:
Während in der „verwilderten“ Waldfläche Aufmerksamkeit benötigt wird, um die
Fülle an Reizen zu bewältigen, ist in der „gepflegten“ Waldfläche ein Abschalten
möglich, das zum Steigen von „Ruhe“ führt. Ein Umfeld mit hoher Vegetations-
bzw. Reizdichte ist demnach deutlich weniger geeignet, um Erholung zu
begünstigen (vgl. ULRICH 1983, KAPLAN 1995).
D) Schlussfolgerungen
Die hier skizzierten sowie weitere Studien lassen darauf schließen, dass
Naturerleben einen positiven Einfluss auf Erholung und Wohlbefinden des
Menschen hat. Es hat sich gezeigt, dass Menschen mit positiven Emotionen,
Entspannung und Erholung auf Grünflächen und auf Wasserflächen reagieren.
Da es sich bei den Studien um teilweise künstliche Situationen handelt
(Testsituation, Gehen auf Laufband, Spaziergang alleine im Wald, Bewertung
von Fotos auf Bildschirm) ist die Übertragbarkeit auf Alltagssituationen nicht
eins zu eins möglich. Dennoch geben diese Studien wichtige Hinweise auf
grundlegende Wirkungen der unterschiedlichen Naturzustände, erlauben erste
Schlussfolgerungen für die Umsetzung. So wird z.B. deutlich, dass
unterschiedlich bewirtschaftete Wälder auch eine unterschiedliche Wirkung auf
den Menschen und sein Wohlbefinden haben. Für die Praxis bedeutet dies,
dass in der Gestaltung möglichst viele Grünflächen erhalten und wenn immer
möglich mit Wasserflächen kombiniert werden sollten. Des Weiteren ist es für
Erholung wichtig, dass Wälder hell und licht sind, die Erholungssuchenden also
die Möglichkeit haben, weit zu sehen.
89
„Mitten drin und…
…geborgen im Wald der uralten Bäume
…getragen von den eiszeitlichen Moränen
…umgeben vom hörbaren Wasser
berührt vom Nordostwind all überall auf der Haut
…bewegt im Innern meines Selbst…
…also genau genommen…
ohne Worte
und tief dankbar!“
Zitat aus einem Wahrnehmungstagebuch
Abb. 13: Mitten drin (Bild: Olfert Dorka).
90
4.2 Achtsamkeitspraxis in der Natur – Aktionsbeschreibungen und
individuelle Eindrücke
Aktionsbeschreibung: Erfahrungsprozess - Verlebendigende Praxis 4.2.1 in Zeiten des Wandels
Leitung: Dr. Hildegard Kurt
Mit der Künstlerin SHELLEY SACKS oder auch dem Philosophen WOLFGANG
WELSCH können wir "Ästhetik" neu definieren - als Gegenteil von "Anästhesie".
In diesem Licht beinhaltet Ästhetik ein verlebendigtes Sein jenseits der
allgegenwärtigen Betäubungen und Zerstreuungen. Und von da aus wird
"Verantwortung" zur Fähigkeit, "auf ein Vernommenes zu antworten" (MARTIN
BUBER). In Begegnungen mit Erde, Salz, Wasser, Bäumen, Äpfeln,
Fundstücken, der Luft vermittelt dieser Erfahrungsprozess verlebendigende
Praktiken - darunter aktives Sehen, aktives Hören, bildhaftes Denken, das
Finden des stillen Betrachters und des "inneren Ateliers". Fruchtbar werden
können diese Praktiken in der eigenen Lebensführung ebenso wie in der Arbeit
als Agentinnen und Agenten des Wandels auf allen gesellschaftlichen Feldern.
Abb. 14: Gedanken zum Erfahrungsprozess bei H. Kurt (Bild: Olfert Dorka)
91
Individuelle Eindrücke zum Erfahrungsprozess
Wir sitzen im Kreis und die Dozentin bittet uns, dass jede und jeder sich kurz
vorstellen möge. Nach dem “Popcorn-Prinzip”, nicht reihum, sondern wann
immer man sich bereit fühlt etwas zu sagen. Nachdem jemand gesprochen hat,
sagt sie jedes Mal abschließend ein freundliches Wort wie “Willkommen, …”
und dann den Vornamen der Person. Das erzeugt eine ganz besondere
Atmosphäre für mich. Ich empfinde diesen aufmerksamen Umgang mit den
Teilnehmenden an sich schon als eine Art achtsamer Praxis.
Wir sammeln im gemeinsamen Brainstorming “Eigenschaften und
Verhaltensweisen lebendiger Erde”. Es befremdet mich, dass in meiner
Wahrnehmung nur positive Eigenschaften notiert werden. Eine Teilnehmerin
sagt, lebendige Erde sei nachtragend - die Dozentin wehrt sich lange, bis sie
sich bereit erklärt, das in die Liste der Eigenschaften aufzunehmen. Mir bleibt
unklar, was “lebendige Erde” sein soll und die Eigenschaften erscheinen mir
teilweise anthropomorphisierend.
Interessanter wird es, als wir mit lebendiger Erde in Kontakt kommen sollen. Wir
verteilen zwei Eimer Erde auf einem weißen Tuch in der Raummitte. Die
Aufforderung lautet, unsere Stirn auf irgendeine Art und Weise mit der Erde in
Kontakt zu bringen und während der “Aktion” nicht zu sprechen. Wer nicht
mitmachen möchte, soll sich nicht als Zuschauer*in, sondern als Zeug*in
verstehen. Die Dozentin kniet sich auf den Boden und legt ihre Stirn in die Erde.
Wir tauschen eine Weile lang stumm Blicke und sind, so scheint es mir, ratlos,
ob wir abwarten oder mitmachen sollen. Die Dozentin steht schon wieder auf
und säubert ihre Stirn mit einem weißen Tuch, als sich die Ersten trauen. Viele
bleiben sitzen und ‘bezeugen’, was die anderen tun. Im späteren Gespräch in
der Gruppe zeigt sich, dass sie diese Rolle durchaus verstanden und ernst
genommen haben. Ich selbst nehme eine Yoga-Übung zu Hilfe, um eine Form
zu haben, mit der ich mich dem Boden nähern kann. Das macht es mir leichter.
Es ist angenehm, die Erde zu riechen und zu spüren. Mir geht durch den Kopf,
wie selten ich diese Materie, die doch so alltäglich ist, wirklich wahrnehme. Als
ich aufstehe, reicht mir die Dozentin ein Tuch, um meine Stirn zu säubern, aber
noch viel später entdecke ich zu meiner Belustigung braune Spuren in meinen
Gesicht - auch stumme Zeugen meiner Aktion.
Zuletzt haben wir eine eher kognitive Aufgabenstellung: Wir sollen darüber
nachdenken, wie ein Denken und Handeln beschaffen wäre, dass absichtsvoll
wie lebendige Erde wirken möchte. Ich kann damit wenig anfangen, weil mich
schon das Sammeln der „Eigenschaften“ zuvor nicht sehr überzeugt hat. Ich
mache mir die Aufgabe etwas kleiner: Wie sähe eine Wissenschaft aus, die
absichtsvoll wie lebendige Erde wirken möchte? Dazu habe ich Ideen. Wir
gehen danach in Zweiergesprächen in den Austausch. Wieder ist es weniger
der Inhalt des Gesprächs und mehr die Form, die mich anregt: Wir sind
angehalten, einige Minuten mit geschlossenen Augen zu sprechen, während
unser Gegenüber mit offenen Augen zuhört ohne zu unterbrechen. Wir
92
wechseln dann die Rollen, so dass man beides erleben kann. Dabei wird für
mich sowohl das Zuhören als auch das Gefühl des Gehört-Werdens in
ungewohnter Intensität greifbar. Zum dritten Mal habe ich das Gefühl, in diesem
Workshop Achtsamkeit physisch zu erleben: zu Beginn in der wertschätzenden
Vorstellungsrunde, in der Mitte beim sinnlichen Erleben der Erde und schließlich
in dieser intensiven Interaktion. Die Inhalte und Worte haben mich hier weniger
berührt als die miteinander erprobten Formen der Interaktion mit Menschen und
Dingen.
Auszug aus einem Wahrnehmungstagebuch.
Aktionsbeschreibung: Achtsame Wahrnehmung der Natur (und) 4.2.2 des Selbst
Leitung: PD Dr. Stefan Schmidt und Dr. Helmut Wetzel
Jeder von uns hat seinen eigenen Zugang zur Natur, erlebt und nutzt sie auf
seine eigene Weise. Naturerleben bietet einen idealen Raum um aus einem
sequentiellen Erledigungsmodus in einen heilsamen Zustand des bewussten
gegenwärtigen Erlebens zu treten. Damit kann die Achtsamkeitspraxis auch
unsere individuelle Beziehung zur natürlichen „Umwelt“ bereichern. Indem wir
lernen, das Bewusstsein achtsam von innen, von persönlichen
Gedankenprozessen und Gefühlen über unsere Sinne nach außen zu weiten,
öffnen wir uns der Natur. Indem wir uns im Naturraum positionieren, uns in
unseren Körper hineinfühlen und gleichzeitig seine Verbindungen nach außen
wahrnehmen, erfahren wir uns selbst als einen Teil der natürlichen Umwelt.
Wenn wir uns öffnen, innehalten, beobachten und alles zulassen was wir
gerade erfahren, bedarf es keiner abstrakten Reflektion, keiner Wertung Leid
und Glück, Werden und Vergehen zeigen sich als gleichberechtigte Teile eines
zeitlosen Prozesses. Im Dialog mit der Natur finden wir zur Spiritualität und
damit ein Stück weiter zu uns selbst.
Individuelle Eindrücke zu „Achtsame Wahrnehmung der Natur“
Achtsame Wahrnehmung
„Ich atme tief ein, fühle die Lunge mit der Meeresluft… Der kalte Wind piekst im
Gesicht und trägt alle Gedanken über das Meer fort… Ich bin da…. Ich bin
angekommen auf der Insel.“
Zitat aus einem Wahrnehmungstagebuch.
93
Abb. 15: Achtsames Gehen auf der Insel Vilm (Foto: Eva Simminger).
94
Aktionsbeschreibung: Yoga als direkter Zugang zu Achtsamkeit 4.2.3 und zur Natur
Leitung: Dagmar Fischer und Alexandra Halaskova
Die Körper- und Atemübungen des Yoga kräftigen und harmonisieren den
Körper. Er kann die unglaublichsten Kräfte mobilisieren und eine hohe
Flexibilität entwickeln, aber nur, wenn wir ihn durch unsere innere Einstellung
fördern und mit Achtsamkeit und Bewusstheit füllen.
Diese Achtsamkeit kann man lernen. Verweilen wir in einer Körperhaltung,
können wir die Reaktionen des Körpers und des Atems beobachten. Der Atem
ist die Verbindung zum Geist - Stille und Klarheit entsteht. Stück für Stück schult
Yoga den achtsamen Umgang mit uns selbst. Nur wenn wir achtsam mit uns
selbst umgehen können, ist es uns möglich, unseren Mitmenschen und der
Natur mit Achtsamkeit zu begegnen.
Die Natur bietet sich als Rahmen für die Körper- und Atemübungen des Yoga
besonders an. Sie hat selbst eine beruhigende Wirkung auf Körper und Geist
gleichzeitig ermöglicht sie uns, durch die im Yoga erfahrene Ruhe tiefer in das
Erleben und Erfahren der natürlichen Umwelt einzutauchen.
Individuelle Eindrücke zu „Yoga als direkter Zugang“
Meine Yogapraxis hatte ich noch nie an einem schöneren Ort geübt. Noch
wertvoller für mich war es, einigen Teilnehmenden Yoga als Möglichkeit der
Achtsamkeitspraxis hier an diesem Ort näher zu bringen. Wir suchten
verschiedene Plätze unter Bäumen und mit Blick aufs Meer auf, um uns in der
Natur dem Thema Achtsamkeit anzunähern.
Wir übten Vorbeugen, Rückbeugen, Seitbeugen, Drehungen, Atemübungen und
die Körperhaltungen:
Der Berg: Auf beiden Füßen gleichmäßig stehen, die Erde spüren und sich mit
ihr verbinden. Dann kommt die Aufrichtung von den Füßen bis zum Kopf. Die
ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf den Körper. Wir bilden mit unseren
Armen einen spitzen Berg oder einen runden Berg. Nun richten wir unsere
Aufmerksamkeit zum Atem. Wir stehen und atmen und sind ganz präsent. Wir
sind achtsam und ruhig ganz im Hier und Jetzt.
Der Baum: Wir stehen auf einem Bein. Wieder verbinden wir uns mit der Erde
und schlagen Wurzeln tief in die Erde hinein. Wir bringen die Handflächen vor
dem Herzen zusammen und wachsen hinauf Richtung Himmel. Nun lösen wir
die Handflächen voneinander und bilden eine Baumkrone mit unseren Armen.
Wir sind verbunden mit der Erde und wachsen hinauf in den Himmel. Und
95
wieder lenken wir die Aufmerksamkeit zum Atem, sind präsent, sind achtsam,
sind ganz im Hier und Jetzt.
Es waren unvergleichliche Tage und wenn ich heute mit meinen Yogaschülern
die Baumhaltung einnehme, ist es manchmal so, als stände ich an einem dieser
Plätze auf der Insel. Ich erinnere mich an die alten Bäume, an den Wind und an
die Schwäne, die uns beim Yoga zugeschaut haben. Natürlich erinnere ich mich
auch an die Menschen, die diese Erfahrungen mit mir geteilt haben und die
dazu beigetragen haben, dass auch ich in der Natur noch etwas achtsamer
geworden bin. DANKE!
Auszug aus einem Wahrnehmungstagbuch
„Immer wieder muss ich mich sammeln, weil ich es gewöhnt bin darauf zu
achten wie ich von außen wirke. Wenn ich beispielsweise bei einer Übung das
Gleichgewicht verliere, schaue ich mich um, ob es jemand bemerkt hat.
Beruhigt, da jeder auf sich selbst konzentriert ist oder vielleicht gar mit dem
eigenen Gleichgewicht kämpft, kann auch ich wieder zur Ruhe zurückfinden.“
Zitat aus einer persönlichen Reflexion.
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„Ich öffne mich dem Himmel, wie die Kronen der Bäume um mich herum… Ich
spüre leichtes Ziehen im Rücken als ich mich strecke… Die Luft ist klar und
frisch und erfüllt meine gesamte Lunge… Ich beuge mich vor, mit einem
Schwung lasse meine Arme schwingen...Und atme die warme Luft wieder aus…
Ich bin ganz da…“
Zitat aus einer persönlichen Reflexion.
Abb. 16: Yogaübung in der Natur (Foto: Eva Simminger).
97
5 Achtsamkeit und Natur
5.1 Achtsamkeit und Naturerfahrungen
Autor: Andreas Wilhelm Mues
Wiederabdruck. Erstveröffentlichung in Natur und Landschaft 87 (2012):
11, S.496-501. Originaldokument online abrufbar auf:
http://www.kohlhammer.de/wms/instances/KOB/appDE/Natur-und-
Landschaft-fuer-freies-Einkaufen/Achtsamkeit-und-Naturerfahrungen/
Zusammenfassung
Die Förderung einer anstrengungsfreien Aufmerksamkeitsausrichtung wird von
der 'Attention Restoration Theory' als Ursache für die Erholung von geistiger
Erschöpfung durch Naturkontakte angesehen. Die Theorie weist Parallelen zu
Erklärungsmodellen der psychotherapeutischen Wirksamkeit des Prinzips
Achtsamkeit auf, das derzeit in der psychologischen Forschung verstärkte
Beachtung erfährt und unter anderem die bewusste Wahrnehmung des
gegenwärtigen Moments betont. Ausgehend vom Zusammenhang, dass sowohl
Naturerfahrungen als auch eine achtsame Geisteshaltung mit einer
anstrengungsfreien Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige
Erfahrung einhergehen, werden Gemeinsamkeiten der beiden
Forschungsgebiete aufgezeigt. Anschließend wird eine empirische Studie
vorgestellt, die eine Förderung von Achtsamkeit und positiver Gestimmtheit
durch Naturkontakte belegt.
Naturerfahrungen sind vor dem Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge
vermehrte Beachtung für die Gesundheitsvorsorge zu schenken.
1. Einleitung
Ruhe und Erholung sind wichtige Güter, die uns die Natur zu Verfügung stellt
und die wir wertschätzen. Die Erhebung zum Naturbewusstsein in Deutschland
(BMUB & BFN 2010) macht deutlich, dass Natur für die meisten Befragten
Gesundheit und Erholung bedeutet, und das Genießen von Ruhe sowie die
persönliche Erholung werden auch als die häufigsten Gründe für einen
Aufenthalt in der Natur genannt.
Dieser Beitrag stellt einen Wirkmechanismus für die Erholungswirkung und
Gesundheitsförderung von Naturerfahrungen vor, der durch ein neues
psychologisches Forschungsfeld weitere theoretische Fundierung erfährt: das
Prinzip 'Achtsamkeit'.
98
2. Achtsamkeit
In der psychologischen Forschung kommt dem Prinzip Achtsamkeit (engl.:
'mindfulness') in jüngerer Zeit eine verstärkte Beachtung zu. Studien belegen
unter anderem eine Verminderung von Stress, Angst, Verstimmung,
chronischen Schmerzen sowie die Abschwächung psychischer Störungen (z.B.
Angststörungen, Depressionen) durch die Übung von Achtsamkeit, und seit
einiger Zeit ist auch eine Zunahme achtsamkeitsbasierter Behandlungsansätze
in der Psychotherapie zu verzeichnen (vgl. HEIDENREICH & MICHALAK 2003).
Achtsamkeit wird nach KABAT-ZINN (1990) als eine absichtsvolle Form der
Aufmerksamkeitslenkung definiert, die auf den aktuellen Moment ausgerichtet
ist und unter der Bewusstseinsinhalte ohne Bewertung wahrgenommen werden.
SEGAL et al. (2002) betonen, dass Achtsamkeit sich nicht durch Kontrolle oder
Veränderung der Bewusstseinsinhalte auszeichnet - entscheidend ist vielmehr
eine Offenheit des Geistes für den Augenblick. Diese Offenheit weicht im Alltag
jedoch häufig einer Aufmerksamkeitsausrichtung, die durch analytisches
Denken und starre gedankliche Beschäftigung mit Vergangenem oder
Zukünftigem gekennzeichnet ist. Eine Fokussierung des Bewusstseins auf die
Gegenwart kann diesen Zustand wieder auflösen, und Achtsamkeit so mit
Absichtlichkeit aufrechterhalten oder hergestellt werden.
Die Kultivierung von Achtsamkeit ist historisch vornehmlich im Buddhismus
verwurzelt, und wird dort als wesentlich für die persönliche Weiterentwicklung
und als ein Ziel meditativer Praxis betrachtet. Vor diesem Hintergrund ist auch
anzuführen, dass die Frage nach dem Umgang mit der spirituellen Dimension
der Achtsamkeit noch unzureichend geklärt ist: Innerhalb der buddhistischen
Tradition wird der begrifflichen Analyse und wissenschaftlichen Erfassung des
Prinzips eher zurückhaltend begegnet und die Relevanz der unmittelbaren
Selbsterfahrung hervorgehoben (vgl. HEIDENREICH & MICHALAK 2003).
Achtsamkeit wird in der psychotherapeutischen Anwendung zumeist durch die
Betrachtung des eigenen Atems und verschiedener weiterer Meditationsformen
eingeübt. Dabei werden sowohl Ansätze mit buddhistischem Hintergrund
vertreten, als auch solche, die Achtsamkeit als traditionsneutrales
psychologisches Verfahren ansehen: Bei der Behandlung von Depressionen
wird beispielsweise dem Ausbau der Fähigkeit des Dezentrierens (WATKINS et
al. 2000) therapeutische Wirksamkeit zugesprochen, womit die Gewinnung
eines inneren Abstandes zu Bewusstseinsinhalten und eingefahrenen
Denkmustern gemeint ist.
99
3. Naturerfahrungen und die 'Attention Restoration Theory'
Wissenschaftliche Belege für gesundheitsförderliche Effekte von
Naturerfahrungen sind zahlreich und liegen unter anderem für Stimmung,
Lebenszufriedenheit, Stressreduktion, Konzentrationsfähigkeit, Blutdruck und
Herzrhythmus vor, eine Übersicht wird z.B. von MALLER et al. (2005) gegeben.
Für den Einfluss von Natur und Umwelt auf die Erholung von geistiger
Erschöpfung liegt mit der 'Attention Restoration Theory' (KAPLAN 1995, KAPLAN
& KAPLAN 1989, KAPLAN 1983) ein konkretes Erklärungsmodell vor. Die Theorie,
im Folgenden kurz 'ART' genannt, integriert Erkenntnisse von WILLIAM JAMES,
der schon 1892 zwei Grundformen der menschlichen Aufmerksamkeit
postulierte (vgl. KAPLAN 1995): Ein gerichteter Aufmerksamkeitsmodus, der bei
längerem willentlichen Gebrauch zu geistiger Erschöpfung führt, ist demnach
von einer anstrengungsfreien und erholsamen Aufmerksamkeitsausrichtung zu
unterscheiden. Letztere wird in der ART als charakteristischer Aspekt für die
Erholungsfunktion von Natur und Umwelt unter dem Begriff 'Fascination' wieder
aufgegriffen. Ein Erfahrungsraum, der 'Fascination' auslöst, kann
Aufmerksamkeit ohne das Aufwenden willentlicher Anstrengung binden, und in
Folge eine Erholung der gerichteten Aufmerksamkeit herbeiführen.
Neben 'Fascination' werden drei weitere Faktoren berücksichtigt. 'Being away'
erfasst, in wie weit sich eine Umwelt von den anstrengenden und routinierten
Alltagserfahrungen einer Person abhebt und einen Abstand zu eingefahrenen
innerlichen Prozessen ermöglicht. 'Extent' bezieht sich auf die
Organisationsstruktur der Umwelt: Ein hoher Ausprägungsgrad beschreibt in
sich stimmige Umwelten, die Gefühle der Verbundenheit ermöglichen, und ein
niedriger Ausprägungsgrad im Gegenzug chaotische Umwelten, in denen
Objekte und Reize eher zusammenhanglos auf die wahrnehmende Person
einwirken. 'Compatibility' schließlich erfasst die Passung zwischen den
Anforderungen einer Umwelt und den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen
eines Individuums.
Die Theorie ermöglicht eine Klassifizierung verschiedenster Umwelten, wobei
der Natur jedoch eine besondere Erholsamkeit durch die hohe Ausprägung der
oben beschriebenen Faktoren zugesprochen wird. Belege dafür, dass
Naturkontakte entsprechend dieser Theorie tatsächlich zur Erholung von
geistiger Erschöpfung führen, werden beispielsweise durch Studien von HARTIG
et al. (1991, 2003) sowie TENNESSEN & CIMPRICH (1995) erbracht.
100
4. Achtsamkeit und Naturerfahrungen - eine Zusammenführung
Die vorangegangenen Aussagen zu Achtsamkeit und Naturerfahrungen legen
eine gemeinsame Ursache für die Erholsamkeit und therapeutische Wirksamkeit
nahe. KAPLAN (2001) postulierte in diesem Zusammenhang, dass sowohl
meditative Erfahrungen als auch erholsame Umwelten den anstrengungsfreien
Aufmerksamkeitsmodus begünstigen und den erschöpfenden Gebrauch
gerichteter Aufmerksamkeit unterbinden, womit eine Auflösung des gewohnten
Gedankenflusses einhergeht: Die Facette 'Being away' der ART berücksichtigt
explizit die Distanz zu alltäglichen Erfahrungen als Kennzeichen erholsamer
Umwelten, wie auch meditative Methoden das Bewusstsein von üblichen
Inhalten befreien. Der Komponente 'Fascination' kommt eine besondere Rolle
zu, da Umwelten mit entsprechend hoher Ausprägung häufig und direkt die
anstrengungslose Aufmerksamkeitsausrichtung fördern. Aber auch 'Extent' und
'Compatibility' sind bedeutsam, Umwelten mit geringer Ausprägung dieser
Facetten wirken sich nachteilig aus und erfordern zur Orientierung und
Bewältigung von Herausforderungen eine gesteigerte gerichtete
Aufmerksamkeit. KAPLAN (2001) nimmt daher an, dass ein Kontinuum zwischen
der Erholsamkeit einer Umwelt und meditativen Erfahrungen besteht. Der für die
Erholung der gerichteten Aufmerksamkeit nötige Wechsel zum
anstrengungsfreien Aufmerksamkeitsmodus könne daher sowohl über die
Umwelt als auch über meditative Geisteshaltungen vermittelt werden, und beide
Wege können sich ergänzen.
Ein Abgleich der Aussagen KAPLANS mit den Befunden der
Achtsamkeitsforschung offenbart Parallelen: SEGAL et al. (2002) bezeichnen
eine achtsame und auf die bloße Erfahrung des Moments ausgerichtete
Bewusstseinshaltung als 'being mode'. Diesem steht ein im Alltag üblicherweise
vorherrschender 'doing mode' gegenüber, der sich durch planerisches und
analytisches Denken auszeichnet. Der 'being mode' weist somit deutlichen
Bezug zum erholsamen Aufmerksamkeitsmodus der ART auf, während der
'doing mode' dem gerichteten Aufmerksamkeitsmodus entspricht.
Eine wesentliche Übereinstimmung lässt sich auch bezüglich der Erholung der
gerichteten Aufmerksamkeit durch die Nutzung des anstrengungsfreien
Aufmerksamkeitsmodus anführen: Dem flexiblen Wechsel zwischen
analytischem Denken und erfahrungsbasiertem Erleben wird von TEASDALE et
al. (2001, 2002) eine hohe Bedeutung für die psychische Gesundheit zuerkannt,
und findet etwa im Rahmen der Behandlung von Depressionen mittels
achtsamkeitsbasierter Interventionen besondere Beachtung. Das unter
Achtsamkeit einsetzende Dezentrieren (WATKINS et al. 2000) von gewohnten
Mustern und die Gewinnung eines inneren Abstandes findet sich als 'Being
away' Komponente in der ART wieder.
101
5. Empirische Untersuchung
Zur Überprüfung der oben angeführten Annahmen wurde eine empirische
Erhebung (MUES 2008) durchgeführt. Zentrales Anliegen war die Untersuchung
des Einflusses von zwei nach der ART als unterschiedlich erholsam zu
bewertenden Umweltbedingungen auf die Achtsamkeit und Stimmung von
Personen und der mögliche Effekt einer zusätzlichen, direkten
Achtsamkeitsübung.
Die weniger erholsame Bedingung wurde durch einen universitären Arbeitsraum
verkörpert, im Nachfolgenden 'Laborbedingung' genannt. Dabei handelte es
sich um einen kleineren Raum des Botanischen Institutes der Universität
Münster, der über einen Bildschirmarbeitsplatz verfügte (Abb. 17).
Abb. 17: Laborbedingung. Der Raum war mit einem Bildschirmarbeitsplatz ausgestattet,
die Wände waren weiß gehalten und der Boden mit grauem Laminat ausgelegt. Die
beiden Fenster des Raumes wurden abgedunkelt, um den Blick in die Gartenanlage zur
unterbinden, die Beleuchtung erfolgte durch Neonröhren an der Decke (Foto: Andreas
Wilhelm Mues).
102
Die erholsame Umweltbedingung, im Folgenden 'Naturbedingung' genannt,
wurde durch den Schlossgarten der Stadt Münster repräsentiert (Abb. 18), der
den Botanischen Garten und das Botanische Institut umgibt.
Abb. 18: Naturkontakt. Der Schlossgarten Münster vermittelt durch hoch gewachsene
Bäume trotz seiner zentralen städtischen Lage eine ausgesprochene Waldatmosphäre.
Von den Spazierwegen aus ist an vielen Stellen der Blick auf die Wasserfläche des
Schlossgrabens möglich. Die Erhebung im Herbst war durch entsprechende klimatische
Bedingungen und den fortschreitenden Entlaubungsprozess geprägt. Sonne und Regen
zeigten sich häufig in raschem Wechsel, oftmals war es windig und die Temperaturen
kühl, meist unter 10° C (Foto: Andreas Wilhelm Mues).
Um den zusätzlichen Einfluss einer direkten Achtsamkeitsübung zu ermitteln,
wurde in beiden Umweltbedingungen in jeweils der Hälfte der Fälle das
'Karteikartenparadigma' von HUFFZIGER & KÜHNER (2007) durchgeführt. Den
Probandinnen und Probanden wurde zu diesem Zweck ein mit
achtsamkeitsförderlichen Aussagen bedruckter Satz von 28 Karteikarten
ausgehändigt. Die Dauer der Übung war auf acht Minuten festgelegt, wobei kein
Zeitdruck aufgebaut werden sollte und es den Teilnehmenden überlassen blieb,
wie viel Zeit sie jeder einzelnen Karte widmeten.
103
Verwendete Messinstrumente
Zur Erfassung der Achtsamkeit wurde der 'Freiburger Fragebogen zur
Achtsamkeit' (FFA) von WALACH et al. (2004) gewählt. Auswertungsgrundlage
bildete die Kurzversion aus 14 Fragen, die auf schwerer verständliche Inhalte
des Konstrukts Achtsamkeit verzichtet und sich auf semantischer und
psychometrischer Ebene als robust erweist. Die vorgegebene, vierstufige Skala
zur Beantwortung der Fragen wurde vom Autor für die Erfassung
momentbezogener Achtsamkeit angepasst.
Die Stimmung wurde über die deutsche Version der 'Positive and Negative
Affect Schedule' (PANAS) von KROHNE et al. (1996) erhoben. Hierbei können
jeweils zehn positive (z.B. angeregt, stark) und zehn negative Stimmungsbilder
(z.B. gereizt, bekümmert) in ihrer aktuellen Intensität auf einer fünfstufigen
Antwortskala bewertet werden. Dem Modell nach sind alle erfahrbaren
Stimmungen zwei Grundformen zuzuordnen, die das Instrument erfasst: Der
negative Affekt gibt das Ausmaß der negativen Anspannung wieder, der positive
Affekt beschreibt die Stärke der individuellen Aktivität und Energie (vgl. WATSON
et al. 1988, zitiert nach KROHNE et al. 1996).
Der Erholsamkeitsgrad der Umweltbedingungen wurde über die 'Perceived
Restorativeness Scale' (PRS) von HARTIG et al. (1997) klassifiziert, die inhaltlich
auf der ART aufbaut. Die Übersetzung ins Deutsche wurde vom Autor
vorgenommen.
Eine Kontrolle der aktuellen Depressivität erfolgte über das 'Beck Depression
Inventory' (BDI, BECK & STEER 1987) in der deutschen Version von HAUTZIGER
et al. (1994). Darüber hinaus wurden ein soziodemografischer Fragebogen und
weitere Fragebögen zur Erfassung von Persönlichkeitszügen ausgegeben, eine
ausführliche Darstellung entsprechender Befunde ist an dieser Stelle nicht
möglich.
Durchführung
Für die Erhebung wurden Studierende der Universität Münster und der
Fachhochschule Münster im Zeitraum von Ende Oktober bis Mitte Dezember
2007 durch direkte Ansprache in den Universitätsmensen der Stadt
angeworben. Die Zuweisung zu den Untersuchungsbedingungen wurde durch
das Losverfahren vorgenommen. Auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis
wurde geachtet, das Alter der Teilnehmenden bewegte sich zwischen 19 und 26
Jahren. Kandidatinnen und Kandidaten der Naturbedingung wurden darauf
hingewiesen, witterungsangepasste Kleidung auszuwählen.
104
Am individuellen Durchführungstermin wurde die Probandin oder der Proband
zum Arbeitsraum des Botanischen Institutes geführt. Dort wurde die erste
Erhebung der aktuellen Achtsamkeit und Stimmung über FFA und PANAS
vorgenommen. Zusätzlich wurde zu diesem Zeitpunkt auch die Depressivität
mittels BDI erfasst.
Die Durchführung der Laborbedingung wurde in diesem Raum fortgesetzt. Zur
kognitiven Beschäftigung wurde ein Reiseführer „New York“ für 35 Minuten zur
Lektüre ausgehändigt. Die Teilnehmenden saßen während der gesamten
Erhebungsdauer am Schreibtisch in der Nähe des Computers, der
Versuchsleiter nahm auf einem zweiten Stuhl Platz. Es wurde vorab vereinbart,
Ruhe zu wahren.
Für die Naturbedingungen wurde nach der ersten Erhebung das Gebäude
verlassen (Abb. 19). Auch hier wurde vereinbart, Ruhe zu wahren. Eine
Standardisierung der Zeit war aufgrund der standardisierten Route und den
individuellen Schrittgeschwindigkeiten der Probandinnen und Probanden nicht
exakt möglich; insgesamt wurde die Strecke in ca. 30 bis 35 Minuten absolviert.
Die in der Hälfte der Fälle durchgeführte Achtsamkeitsübung wurde in der
Laborbedingung direkt nach Beantwortung der ersten Fragebögen durchgeführt.
In der Naturbedingung wurde die Übung im Freien auf einer Bank in der Nähe
des Institutes abgehalten, und anschließend die Wegstrecke durch den
Schlossgarten absolviert.
Abschließend wurde in beiden Umweltbedingungen wiederum der FFA und die
PANAS zur Erfassung der aktuellen Stimmung und Achtsamkeit ausgegeben,
sowie die PRS zur Erhebung der wahrgenommenen Erholsamkeit der Umwelt.
Die Teilnehmenden wurden zum Ende über den Hintergrund der Studie
aufgeklärt.
105
Abb. 19: Route durch den Schlossgarten Münster. Die Wegstrecke verlief auf einem
Pfad neben dem Hauptweg. In der Hälfte der Fälle wurde nach dem Ausfüllen der
ersten Fragebögen im Institut die Achtsamkeitsübung auf Bank I durchgeführt, die
anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer liefen die Strecke durchgängig. Bank II
bildete den Abschluss der Route zum zweiten Erhebungszeitpunkt.
Insgesamt wurden 68 Studierende für die Erhebung gewonnen. Die Auswertung
beruht auf einer Stichprobengröße von N = 64: Die Datensätze von zwei
Personen wurden aufgrund erhöhter Depressivitätswerte ausgeschlossen, zwei
weitere Erhebungen in der Natur waren aufgrund von Gartenarbeiten
beeinträchtigt. Den vier getesteten Bedingungen, Naturkontakt oder
Laborbedingung jeweils mit oder ohne Achtsamkeitsübung, liegt somit eine
Stichprobengröße von je n = 16 Personen zu Grunde.
Befunde
Die Auswertung der wahrgenommenen Erholsamkeit weist den Naturkontakt
hochsignifikant als die erholsamere Umweltbedingung aus (einfaktorielle
Varianzanalyse, F(3, 60) = 55.2, p < .01).
Eine multivariate Varianzanalyse zur Veränderung der Achtsamkeit und
Stimmung über die beiden Messzeitpunkte ergibt folgendes Bild: Sowohl die
Variation der Umweltbedingung (F(3, 58) = 3.9, p = .01) als auch die
Achtsamkeitsübung (F(3, 58) = 3.18, p = .03) zeigen grundsätzlich
106
Erklärungskraft für Veränderungen in Stimmung und Achtsamkeit, jedoch
jeweils als Haupteffekt, eine Interaktion der Faktoren liegt nicht vor.
Die angeschlossene univariate Signifikanztestung macht deutlich, dass die
Veränderung der Achtsamkeit vornehmlich durch die Umweltbedingungen
signifikant beeinflusst ist (F(1, 60) = 4.9, p = .03), siehe zum Folgenden
Abbildung 20. In beiden Naturgruppen zeigt sich die Achtsamkeit annähernd
gleich stark gefördert: Die Bedingung ohne Karteikartenübung weist im Mittel
einen Zuwachs von +2.62 Punkten im FFA auf, die Gruppe mit Übung liegt mit
einem mittleren Zuwachs von +3.31 Punkten nur unwesentlich höher. Für die
Laborgruppe ohne Achtsamkeitsübung ist im Gruppenmittel kaum eine
Änderung zu verzeichnen (MW: -0.06), in der Laborgruppe mit
Achtsamkeitsübung fällt die geringfügige Steigerung der Achtsamkeit (MW:
+1.44) nicht signifikant aus.
Abb. 20: Achtsamkeit, positiver und negativer Affekt im zeitlichen Verlauf. Dargestellt
sind die Veränderungen der Punktwerte zwischen den beiden Messzeitpunkten im
Gruppenmittel, die durch die Fragebögen (FFA und PANAS) dokumentiert werden.
Für die Umweltbedingungen ist entsprechend den Erwartungen zudem ein
Einfluss auf den Verlauf des positiven Affekts nachweisbar, der hochsignifikant
ausfällt (F(1, 60) = 10.2, p < .01). In den Naturgruppen wird durch die PANAS
107
ein Zuwachs an positiver Gestimmtheit dokumentiert (MW: +3.5 Punkte bei
einfachem Naturkontakt bzw. +3.25 Punkte in der Naturbedingung mit
zusätzlicher Achtsamkeitsübung). Die Laborgruppe mit Achtsamkeitsübung
zeigt hingegen eine nahezu unveränderte positive Affektivität (MW: +0.44),
während die einfache Laborbedingung durch ein Absinken der positiven
Stimmung gekennzeichnet ist (MW: -2.25). Die Achtsamkeitsübung besitzt hier
jedoch keine statistische Signifikanz, eine protektive Wirkung vor
Stimmungsverschlechterung bleibt daher fraglich.
Anders stellt sich die Entwicklung des negativen Affekts dar. Der univariate
Signifikanztest belegt einen signifikanten Haupteffekt der Achtsamkeitsinduktion
(F(1, 60) = 6.25, p = .02), unter den Übungsbedingungen liegen im
Gruppenmittel kaum Veränderungen der negativen Affektivität vor (MW: -0.31 in
der Natur, MW: -0.56 im Labor). Als Ursache für diese Stabilisierung des
negativen Affekts ist anzunehmen, dass einige der verwendeten
Kartenaussagen die Auseinandersetzung mit entsprechenden Gedanken und
Gefühlen gefördert haben. Bei einfachem Laboraufenthalt zeigt sich im Mittel
eine Reduktion um 1.19 Punkte und bei bloßem Naturkontakt ein Absinken um
2.5 Punkte, wobei der Unterschied zwischen diesen beiden Bedingungen
statistisch jedoch nicht bedeutsam ist.
6. Diskussion und Ausblick
Es bleibt festzuhalten, dass die Erhebung eine signifikant erhöhte Achtsamkeit
durch einen Naturkontakt belegt. Die Ergebnisse stützen die Überlegung, dass
sowohl Achtsamkeit als auch Naturerfahrungen eine gemeinsame Basis in Form
einer anstrengungsfreien Aufmerksamkeitsausrichtung haben.
Eine Förderung der Achtsamkeit durch eine zusätzliche Achtsamkeitsübung im
Sinne der Annahmen KAPLANS (2001) konnte nicht statistisch abgesichert
werden, wenn auch bei einfacher Betrachtung der Punktwerte im Gruppenmittel
ein Trend erkennbar ist. Hierbei ist zu beachten, dass die angewendete
Karteikartenübung von kurzer Dauer war und ein recht neues Instrument der
Depressionsforschung darstellt.
Die dargestellten Verbindungen zwischen Naturerfahrungen und Achtsamkeit
legen positive Effekte im Rahmen der Genesung von depressiven
Verstimmungen nahe. Die Anwendungsmöglichkeiten sind jedoch sicherlich
nicht hierauf beschränkt, wie etwa auch Studien zur Wirkung der Natur bei
Aufmerksamkeitsdefiziten (z.B. FABER TAYLOR & KUO 2009) zeigen, und wie es
das breite Anwendungsfeld des Prinzips Achtsamkeit erwarten lässt (siehe
Abschnitt 2).
108
Naturerlebnissen sollte vor diesem Hintergrund in der Gesundheitsvorsorge
mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine Vielzahl von Studien belegt
derzeit schon die positive physiologische und psychologische Wirkung der
Natur, insbesondere der mögliche Beitrag für psychotherapeutische Prozesse
ist an dieser Stelle aber hervorzuheben. Das vorhandene Wissen sollte auch bei
der Raumplanung Berücksichtigung finden, beispielsweise bei der Gestaltung
von Straßen- und Parkanlagen sowie von Naturräumen im näheren Umfeld von
Städten. Naturschutz kann in diesem Sinne daher auch Schutz der
menschlichen Gesundheit darstellen.
Abb. 21: Kalligraphie von Helmut Wetzel.
“Only when one can enjoy nature (forest, mountains, water, stones)
One is able to come to the sense of mindfulness (free floating mind)”
Traditioneller Zen-Text (übersetzt von Rie Takeda und Helmut Wetzel)
109
5.2 Achtsamkeit: Chance für eine naturverträglichere Gesellschaft
Autor: Andreas Wilhelm Mues
Zusammenfassung
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Form das
Prinzip Achtsamkeit einen Beitrag zur Entwicklung einer nachhaltigeren und
naturverträglicheren Gesellschaft leisten kann. Nach einem Problemaufriss zu
den ökologischen und gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit wird diskutiert, in
wie weit ein Mangel an Achtsamkeit zur Aufrechterhaltung des Status quo
beiträgt und welche Bedeutung dem Wechsel in ein „wacheres“ Bewusstsein
beizumessen ist. Daran anschließend wird dargestellt, welche Bedeutung den
einzelnen Komponenten des Prinzips Achtsamkeit (absichtsvolle
Aufmerksamkeitslenkung, Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments,
Wertungsfreiheit) für persönliche und gesellschaftliche Prozesse zugeschrieben
werden kann. Darauf aufbauend werden mögliche Zusammenhänge zwischen
Achtsamkeit und dem Naturbewusstsein der Bevölkerung dargestellt: Nach
einer Skizzierung der markanten Unterschiede im Naturbewusstsein von
gesellschaftlich gehobenen und sozial schlechter gestellten Milieus werden
unterschiedliche Zugänge zum Prinzip Achtsamkeit beleuchtet.
Die Krisen unserer Zeit
Wir leben in „geschäftigen“ Zeiten. Schätzungen zufolge belaufen sich die
weltweiten staatlichen Fördermittel zum Schutz der biologischen Vielfalt auf
insgesamt etwa 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr oder mehr (PARKER et al.
2012, WALDRON et al. 2013). Die Bundesregierung wagt den Atomausstieg. Man
kann in Europa in fast jedem Supermarkt Bio- und Fair Trade-Produkte
einkaufen. Der öffentliche Nahverkehr ist zumindest in Großstädten so gut
ausgebaut, dass man in kurzer Zeit fast jedes Ziel in der City erreichen kann.
Man könnte die Reihe an sinnvollen Innovationen und Investitionen in unserer
Gesellschaft lange weiter fortführen.
Aber werden diese Angebote im Rahmen der individuellen Möglichkeiten
ausreichend genutzt? Und reichen auf übergeordneter Ebene die Bemühungen
der nationalen und internationalen Politik zur Gestaltung naturverträglicherer
Lebens- und Wirtschaftsweisen aus?
Ganz offensichtlich sind beide Fragen mit Nein zu beantworten. Denn wenn
man über durchaus vorhandene Erfolge in Naturschutz und Nachhaltigkeit
hinweg eine Gesamtbetrachtung vornimmt, sollte man sich über folgende
Punkte klar werden: Die Menschheit eignet sich jedes Jahr zwischen 30 und 40
Prozent der gesamten Produktionsleistung dieses Planeten an das ist die
110
doppelte Menge, die die Weltbevölkerung noch vor einem Jahrhundert
verbraucht hat (HABERL et al. 2007, KRAUSMANN et al. 2013). Und der
ökologische Fußabdruck der menschlichen Zivilisation wächst weiter (GLOBAL
FOOTPRINT NETWORK 2012).
Hierzu einige weitere konkrete Beispiele: Allein in den Jahren 2000 bis 2010
gab es einen Netto-Verlust an tropischen Wäldern von 7 Millionen Hektar und
einen Netto-Zuwachs von Agrarflächen in Höhe von 6 Millionen Hektar (FAO
2016). 30 Prozent der Fischbestände in den Meeren werden als überfischt
eingestuft (FAO 2014). Der Zustand der biologischen Vielfalt befindet sich global
betrachtet in einer dramatischen Entwicklung: Beispielsweise hat sich die
Menge ausgestorbener Wirbeltierarten im letzten Jahrhundert nach
konservativen (!) Schätzungen und gegenüber natürlichen Bedingungen in
unterschiedlichen Tiergruppen um das 8 bis 100fache erhöht (CEBALLOS et al.
2015).
Die skizzierte ökologische Krise lässt sich nicht losgelöst von den
Entwicklungen der menschlichen Gesellschaften betrachten. Auch die
Menschheit befindet sich in einer kritischen Phase. Die Weltbevölkerung wächst
rasant, im Zeitraum von 2010 bis 2050 wird mit einer Zunahme um weitere 2,4
Milliarden Menschen auf insgesamt 9,3 Milliarden Menschen gerechnet (PEW
2015). Die Verteilung von Armut und Reichtum in der Welt ist derart
unverhältnismäßig, dass man es sich kaum vorstellen kann: Ein Prozent der
Weltbevölkerung besitzt fast die Hälfte des Weltvermögens, die 85 reichsten
Menschen alleine besitzen sogar ebenso viel wie die ärmere Hälfte der
Weltbevölkerung zusammen (Oxfam 2014)1. Der UN-Hungerbericht (UN 2012)2
schätzt die Zahl der hungernden Menschen weltweit auf 868 Millionen.
Kriegerische Auseinandersetzungen sind Bestandteil der täglichen Nachrichten.
Mangelnde Achtsamkeit: ein Faktor zur Aufrechterhaltung des Status quo
Dieser Band handelt nun von Achtsamkeit. Kann dieses Prinzip in Anbetracht
der dargestellten Probleme überhaupt einen Beitrag zur Lösung leisten?
Wie aus der obigen Aufzählung ersichtlich ist, ist die Menschheit bereits sehr
„geschäftig“, auf die eine oder andere Art und Weise. Kluge Köpfe und
1 Siehe https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2014-01-20-oxfam-globale-
ungleichheit-untergraebt-demokratie (Abruf am 03.09.2016).
2 Siehe http://de.wfp.org/artikel/un-hungerbericht-2012-sicherheitsnetze-haben-
h%C3%B6chste-priorit%C3%A4t (Abruf am 03.09.2016).
111
Entscheidungsträger bemühen sich, Entwicklungen in Politik und Wirtschaft in
positive Bahnen zu lenken, ebenso wie viele Bürgerinnen und Bürger sich über
den weitreichenden Einfluss ihrer Einstellungen und Handlungsweisen im Alltag
bewusst werden und gegensteuern. Aber so handeln nicht alle. Ein Umdenken
findet statt, aber noch nicht umfassend. Ein stimmigeres Handeln zeigt sich hier
und dort, aber oft nicht konsequent.
Warum? Die Frage nach den Ursachen lässt sich nicht einfach beantworten,
aber es lässt sich konstatieren, dass der menschliche Tätigkeitsdrang einen
Beitrag zum Status quo leistet: Wir bewegen uns in Pfadabhängigkeiten, trotten
daher auf festgefahrenen Wegen. Wir handeln meistens automatisch, aus
Gewohnheit, seltener bewusst.
Stimmiges Handeln, das situativ angemessen ist und zur Bewältigung von
Herausforderungen beitragen kann, setzt aber ein Gewahrsein für den Moment
voraus: sei es durch intuitives, gefühlsmäßiges Erfassen oder durch kognitives
Erkennen der stimmigen „Antwort“ auf die gegebene Herausforderung. Nicht
blinde Geschäftigkeit. Gewohnheitsmäßiges Handeln hat seine Berechtigung,
solange es in einer stabilen Umwelt als erfolgreich gelten kann ändern sich
die äußeren Bedingungen jedoch oder sind die Resultate nicht erfolgreich,
vielleicht sogar schädlich, verliert der Automatismus seine Berechtigung.
Die Wirkung von Achtsamkeit auf persönlicher und gesellschaftlicher
Ebene
Den Wechsel zwischen automatischem Handeln und bewusstem Gewahrsein
kennen wir alle: Wir bewegen uns oft sehr gewohnheitsmäßig durch den Alltag,
in unerwarteten Situationen werden wir jedoch wieder „wacher“, und wir Treffen
aus einer inneren Tiefe heraus bewusste Entscheidungen oder handeln nach
intuitiv stimmigen Impulsen.
Bei Achtsamkeit geht es darum, in diesen „wachen Moment“ zu kommen.
Wissenschaftlich wird Achtsamkeit als eine absichtsvolle Form der
Aufmerksamkeitslenkung definiert, die auf den aktuellen Moment ausgerichtet
ist und unter der Bewusstseinsinhalte ohne Bewertung wahrgenommen werden
(KABAT-ZINN 1990). Das Wissen um den Wert der Achtsamkeit ist jedoch keine
neuzeitliche Erkenntnis, insbesondere im Buddhismus ist die formelle Schulung
der Achtsamkeit ausgeprägt, und alle Religionen, spirituellen Wege und
Weisheitsschulen kennen Zugänge zu diesem Prinzip.
Durch eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Prinzip Achtsamkeit und
seiner Schulung sind schon alleine auf persönlicher Ebene eine Vielzahl
positiver Effekte bekannt, die in anderen Beiträgen in diesem Band behandelt
werden.
112
Aber auch für die oben aufgezeigten ökologischen und gesellschaftlichen Krisen
dieser Zeit ist anzunehmen, dass Achtsamkeit eine wesentliche Rolle bei ihrer
Lösung einnehmen kann. Um Lao Tse sprechen zu lassen: „Die Leute aber
sie folgen dem Geschäfte, und immer wenn sie es fast vollenden, dann
zerstören sie es: Wären sie so behutsam am Ende wie zu Beginn, dann
zerstörten sie es nicht“ (TAO-TE-KING 1996).
Die oben genannten Komponenten der wissenschaftlichen Definition von
Achtsamkeit können dabei, ausgehend von einer Kultivierung im Individuum, zu
einer Veränderung übergeordneter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse
führen, und diese in erstrebenswertere, nachhaltigere Bahnen lenken.
Die Komponente der Offenheit für den Moment ermöglicht es überhaupt erst, zu
betrachten was da ist an Mustern: Vieles mag bei einem solchen Abstand nicht
mehr als notwendig wahrgenommen werden, oder ganz andere
Notwendigkeiten treten in das Bewusstsein man schafft sowohl im eigenen
Inneren als auch im gesellschaftlichen Raum durch Achtsamkeit einen „Frei-
Raum“, in dem sich Neues zeigen kann.
Die Komponente der Wertungsfreiheit sorgt dafür, dass diese offene
Betrachtung des Status quo auf sanfte Art von statten geht: Es geht hier ganz
explizit nicht um innere oder äußere, gesellschaftliche Revolutionen bzw. um die
Auftrennung nach gut oder schlecht. Der Ist-Zustand, auch in Anbetracht der
oben dargestellten Krisen, wird erst einmal als solcher wahrgenommen und
sein-gelassen. Das bedeutet nun eben nicht, dass man die Hände in den Schoß
legt, ganz im Gegenteil! Durch die Wertungsfreiheit kann sich ein viel
umfassenderes ethisches Verständnis einer Situation ausbilden, und eine
vorschnelle Aufteilung in Pro- und Contra-Haltungen verhindert werden.
Die dritte Komponente der Achtsamkeit betont nun, dass es sich um eine
„absichtsvolle“ Form der Aufmerksamkeitslenkung handelt. Hier sind Bezüge
zum psychologischen Prinzip der Selbstwirksamkeit zu sehen: Der oder die
Übende der Achtsamkeit kann erfahren, dass dieser Zustand bewusst
hergestellt werden kann (er oder sie erfährt sich somit als selbstwirksam), und
das Potenzial dieses Geisteszustandes sinnvoll genutzt werden kann
grundsätzlich auch im Angesicht der oben beschriebenen ökologischen und
gesellschaftlichen Herausforderungen.
Ein Brückenschlag zum Forschungsfeld Naturbewusstsein
Neben diesen grundsätzlichen Beiträgen des Prinzips Achtsamkeit für eine
naturverträglichere und nachhaltigere Gesellschaft sei an dieser Stelle zudem
noch etwas stärker auf die Beziehung von Achtsamkeit und Naturerfahrungen
eingegangen, die in diesem Band besondere Aufmerksamkeit erfährt:
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Naturerlebnisse und Achtsamkeit stehen in Verbindung zu einander,
Naturkontakte fördern Achtsamkeit und können Raum für Achtsamkeitsübungen
bieten.
Auch bei Betrachtung dieses Zusammenhangs ergeben sich
Schlussfolgerungen für die gesellschaftliche Ebene. Hierzu sollen ausgewählte
Ergebnisse der Naturbewusstseinsstudie des Bundesumweltministeriums und
des Bundesamtes für Naturschutz (vgl. BMUB & BFN 2016) genauer dargestellt
werden. Insbesondere die Ergebnisse zum Themenfeld „Biologische Vielfalt“
dieser repräsentativen Bevölkerungsumfrage ergeben ein anschauliches Bild:
Die entsprechenden Frageblöcke dienen der Berechnung des sogenannten
Gesellschaftsindikators „Bewusstsein für biologische Vielfalt“, der in den
Naturbewusstseinsstudien kontinuierlich erhoben wird und direkt den
Berichtspflichten der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt der
Bundesregierung dient. In dieser 2007 verabschiedeten Strategie wurde die
Vision verankert, dass bis zum Jahre 2015 für 75 Prozent der Bevölkerung die
Erhaltung der biologischen Vielfalt zu den prioritären gesellschaftlichen
Aufgaben zählt, das Wissen um die Bedeutung der biologischen Vielfalt
vorhanden sein und dass sich das Alltagshandeln der Menschen an diesem
Bewusstsein ausrichten soll. Abgeleitet von dieser Vision misst der
Gesellschaftsindikator über drei Unter-Indikatoren das Wissen, die
Einstellungen und die Verhaltensbereitschaften der Bevölkerung zur
biologischen Vielfalt. Wenn eine Person die Anforderungen aller drei Unter-
Indikatoren erfüllt, dann erfüllt sie den Gesamtindikator.
Die Messungen zeigen nun, dass seit Beginn der Erhebungen keine
signifikanten Veränderungen im Bewusstsein zur biologischen Vielfalt
stattgefunden haben, trotz umfangreicher Kommunikationskampagnen und
Maßnahmen. Der Gesamtindikator liegt in der aktuellen Messung von 2015 im
gesellschaftlichen Mittelwert bei 24 Prozent und ist damit sehr weit vom 75-
Prozent-Zielwert der Strategie entfernt. Dieses Ergebnis ist ein wichtiger
Hinweis, dass die Bemühungen um das gesellschaftliche Bewusstsein in
Zukunft noch deutlich erhöht werden müssen.
Die hier aufgeführte Graphik (Abb. 22) zum Erfüllungsgrad des
Gesamtindikators in unterschiedlichen sozialen Milieus stellt nun eine zentrale
Erkenntnis dar. Das Milieu-Modell des Sinus-Institutes (siehe auch FLAIG &
BARTH 2014) ist gegenüber soziodemographischen Klassifizierungen (Alters-,
Einkommensgruppen, etc.) ein Modell zur Beschreibung unserer Gesellschaft,
das Gruppen von Menschen anhand ihrer Lebensstile und Wertorientierungen
zusammenfasst. Die einzelnen Milieus sollen an dieser Stelle nicht näher
erläutert werden, es kommt hier auf das Gesamtbild an. Die sozialen Milieus
sind einerseits charakterisiert durch ihre soziale Lage, die sich aus dem
114
Bildungsgrad, dem Einkommen und dem Prestige der ergriffenen Berufe
ableitet, hier als Unter-, Mittel und Oberschicht auf der y-Achse abgebildet, und
anderseits durch die vertretenen Werte und Lebensstile, hier abgebildet auf der
x-Achse. Die Wert-Achse gibt dabei den Wertewandel von Tradition und
Pflichterfüllung (vor allem Generation der 1950er Jahre), über Modernisierung
und Individualisierung (1960er und 1970er) hin zu den komplexen Lebenswelten
der jüngeren Generationen wieder, die sich vor allem durch
Entscheidungsvielfalt, Neuorientierung und moderne Lebensentwürfe
auszeichnen (vgl. BMUB & BFN 2016).
Abb. 22: Gesamtindikator "Bewusstsein für biologische Vielfalt" nach Sinus-Milieus
(Quelle: BMUB & BFN 2016).
Was man auf der Graphik deutlich sehen kann, ist der Bruch im
gesellschaftlichen Bewusstsein für biologische Vielfalt. Die sozial schwächer
gestellten Milieus und die Bürgerliche Mitte weisen deutlich geringere
Erfüllungsgrade des Gesamtindikators auf als die sozial besser gestellten
Milieus. Der schärfste Kontrast zeigt sich zwischen dem Prekären Milieu und
dem Traditionellen Milieu, die den Gesellschaftsindikator „Bewusstsein für
115
biologische Vielfalt“ nur zu 14 Prozent erfüllen, sowie dem Milieu der Liberal-
Intellektuellen, in dem der Indikator zu 45 Prozent erfüllt wird.
Dieser Bruch spiegelt sich im Übrigen in einer Vielzahl von Themenfeldern der
Naturbewusstseinsstudie. So ist in den sozial schwächer gestellten Milieus auch
die Wertschätzung von Naturerfahrungen deutlich schwächer ausgeprägt und
die Möglichkeiten zur Erfahrung von Achtsamkeit in der Natur damit deutlich
reduziert.
Fazit
Für das Thema Achtsamkeit in der Natur und für die Natur ergeben sich damit
folgende mögliche Konsequenzen: Viele Bürgerinnen und Bürger aus sozial
gehobenen Milieus, die Gutgebildeten und die Gutverdienenden, geben an, mit
der Natur eng verbunden zu sein. Dem Naturschutz wird eine hohe Bedeutung
zugemessen. Sie interessieren sich auch für gesunde Lebensführung, schätzen
den Erholungs- und Erlebniswert von Natur und haben Zugang zu den direkten,
sanften und situativen Achtsamkeitseffekten, die Naturkontakte mit sich bringen.
Vermögende Personen und Haushalte haben jedoch aufgrund ihres höheren
Konsumniveaus insgesamt oft eine schlechtere Natur- und Umweltbilanz als
sozial schlechter gestellte Personen. Das Konsumniveau auf der einen Seite
und die Einsicht in die eigene Verantwortung zum Schutz der Natur auf der
anderen Seite machen die gehobenen sozialen Milieus zu wichtigen
Zielgruppen der Naturschutzarbeit. Aus Achtsamkeitsperspektive wäre die
Förderung eine stärker formellen Auseinandersetzung mit dem Prinzip
Achtsamkeit sinnvoll, die in den Alltag integriert wird und die mit einer ethischen
Auseinandersetzung der ökologischen und gesellschaftlichen
Herausforderungen verbunden wird, um die Gestaltungskraft dieser Milieus
positiv zu fördern.
Den sozial schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen, die nicht nur in Bezug
auf Einkommen und Bildung benachteiligt sind, bleibt dem gegenüber auch die
Natur als Erfahrungsraum oft weitgehend fremd und verschlossen. Hier sind
niedrigschwellige Angebote in den Vordergrund zu stellen, die den persönlichen
Naturkontakt fördern und diesen Personengruppen Zugang zu den sanften,
achtsamkeitsförderlichen Effekten von Naturerfahrungen ermöglichen. Damit
werden diesen Personenkreisen auch die Erholungswirkungen und
gesundheitsförderlichen Aspekte von Naturerfahrungen eröffnet, die den Boden
für eine weiter gefasste persönliche Auseinandersetzung mit naturschutz- und
nachhaltigkeitsorientierten Themen bereiten können.
116
Abb. 23: Eichenmächtigkeit (Bild: Olfert Dorka).
117
5.3 Diskurs und Ausblick
Autoren: Eva Simminger, Dr. Kerstin Ensinger, Matthias Wurster
Nach der Lektüre dieses Skriptes haben Sie vielfältige Informationen zu den
Themen Achtsamkeit und Naturerleben erhalten. Gemäß des Titels der
Workshop-Reihe „Psychologie im Naturschutz“ wurde darüber hinaus der Frage
nachgegangen, welches Potential das Achtsamkeitskonzept für die Umsetzung
von Naturschutzbestrebungen birgt.
Die ökologische Dimension des Achtsamkeitskonzepts beginnt bereits bei
seinem Erfahrungsbezug, der dabei helfen kann, die individuelle Natur-
beziehung zu intensivieren (vgl. Kapitel 3.2.4, in diesem Band); die Qualität des
Naturbezuges wiederum wirkt sich auf die subjektive Wichtigkeit des
Naturschutzes aus (vgl. Kapitel 3.2.2).
Hinzu kommt, dass Achtsamkeit Einfluss auf die persönliche Lebensführung
nehmen kann: im Kontext ihrer buddhistischen Herkunft ist sie Teil einer Ethik,
also eines Lebensweges und einer inneren Haltung (vgl. Kapitel 3.1, sowie
ENSINGER 2016). Allgemein kann Achtsamkeitspraxis die Wahl ökologisch
nachhaltiger Handlungsmöglichkeiten begünstigen, indem sie das Bewusstsein
für das eigene Verhalten schärft (vgl. Kapitel 5.2).
Wenn man diese Stärken des Konzeptes mit aktuellen gesellschaftlichen
Herausforderungen in Beziehung setzt, kann die Implementierung von
Achtsamkeit in Organisationen und Umweltbildungsprogrammen als große
Chance begriffen werden:
So legen Erkenntnisse aus der Naturbewusstseinsstudie des Bundesamtes für
Naturschutz 1. nahe, dass es Angehörigen bestimmter sozialer Milieus an
einem grundlegenden, individuellen Naturbezug fehlen kann (vgl. Kapitel 5.2)
dieser könnte durch gezielte Achtsamkeitsübungen in natürlichen Umgebungen
ausgebaut werden. 2. zeigt sich, dass auch soziale Milieus mit einem starken
Naturbezug durch automatisierte Verhaltensweisen eine schlechte
Umweltbilanz haben können (vgl. Kapitel 5.2) hier birgt der bewusstseins-
fördernde Aspekt von Achtsamkeit großes Potential.
Die differenzierte Betrachtung verschiedener Milieus kann in diesem
Zusammenhang helfen komplexe gesellschaftliche Phänomene zu verstehen
und achtsamkeitsbasierte Lösungsansätze zu erarbeiten. Dabei ist es wichtig,
Angebote und die entsprechende Bewerbung auf die jeweilige Zielgruppe
abzustimmen, um einen möglichst großen Effekt zu erzielen (vgl. Kapitel 6.2.4).
Die Evaluation des Workshops zeigt, dass die Teilnehmenden das Potential von
Achtsamkeit für den Naturschutz als sehr hoch einschätzen. Da diese allesamt
118
aus den Bereichen Wissenschaft, Politik, Kunst sowie Naturschutz und
Naturpädagogik kamen, also als potentielle MulitplikatorInnen für das Thema in
Betracht kommen, kann dies als positives Signal für die weitere Arbeit mit dem
Thema angesehen werden. Denn wenngleich naturpädagogische Angebote für
Kinder bereits gut etabliert sind und es recht einfach erscheint, dort
achtsamkeitsbezogene Aktionen zu integrieren, braucht es mutige
VorreiterInnen, die das Thema auch in andere Kontexte hineintragen, um
dessen Popularisierung voranzutreiben.
Wir hoffen, dass der hier dokumentierte Workshop einen Beitrag zu dieser
Bewegung leisten kann und dass das vorliegende Skript diesen noch weiter
verstärken wird. Falls auch unsere LeserInnen einen gesellschaftlichen
Mehrwert in der Verknüpfung von Achtsamkeit und Naturerleben sehen,
möchten wir Sie dazu ermutigen, sich dem Thema gegenüber zu öffnen, selbst
praktische Erfahrungen zu sammeln und diese mit Ihrer Umwelt zu teilen.
Zum Ende wollen wir uns eines Zitats von JON KABAT-ZINN (2010: 18), dem
Vorreiter der westlichen Achtsamkeitsbewegung, bedienen. Es bringt auf den
Punkt, worin wir den individuellen wie kollektiven Mehrwert durch Achtsamkeit
sehen: „Wenn wir […] nicht völlig gegenwärtig sind, so übersehen wir nicht nur
das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch
nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten zu wachsen und uns zu
verändern.“
„Ich finde von eurem Workshop ist ein enormes Signal ausgegangen, das jetzt
auch noch länger nachwirken wird. Einfach dadurch, dass es diesen Workshop
gegeben hat und dass das Thema jetzt auf soliden, glaubwürdigen Füßen steht.
Es ist wahnsinnig wichtig, dass sich immer wieder einzelne Akteure des
Themas annehmen um es aus einer gewissen Ecke herauszuholen und als
solches seid ihr für mich ganz regelmäßig eine Referenzgröße, dass es
außerhalb der „üblichen Verdächtigen“ ein ernstes Thema ist.“
Zitat aus einem Telefoninterview.
119
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7 Anlage
7.1 Über die Autorinnen und Autoren
Dr. Nicole Bauer
Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Sozial-
wissenschaftliche Landschaftsforschung
nicole.bauer@wsl.ch
Dr. Stephanie Bethmann
Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA)
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abt. Wald und Gesellschaft
stephanie.bethmann@forst.bwl.de
Dr. Kerstin Ensinger
Nationalpark Schwarzwald
Fachbereichsleiterin, Erholung und Gesundheit
kerstin.ensinger@nlp.bwl.de
Dagmar Fischer
Yoga im Waldachtal
Yogalehrerin BDY/ EYU
dagmar.fischer@yoga-im-waldachtal.de
Alexandra Halaskova
Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA)
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abt. Wald und Gesellschaft
seminar-asa@gmx.de
Dr. Hildegard Kurt
und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V.
Mitbegründerin, Kulturwissenschaftlerin und Autorin
h.kurt@und-institut.de
Andreas Mues
Bundesamt für Naturschutz
Wissenschaftlicher Referent, Fachgebiet I 2.2 Naturschutz und Gesellschaft
Andreas.Mues@BfN.de
PD Dr. Stefan Schmidt
Universitätsklinikum Freiburg/ Europa-Universität Viadrina
Dipl.-Psy., Dozent, Achtsamkeitsforscher
stefan.schmidt@uniklinik-freiburg.de
128
Eva Simminger
Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA)
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abt. Wald und Gesellschaft
eva.simminger@forst.bwl.de
Dr. Helmut Wetzel
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut,
Familientherapeut, Supervisor (Dipl.-Psych.)
kontakt@helmut-wetzel.de
Dr. Norbert Wiersbinski
Bundesamt für Naturschutz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Internationalen Naturschutzakademie (BfN-INA,
Insel Vilm )
Norbert.Wiersbinski@BfN.de
Matthias Wurster
Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abt. Wald und Gesellschaft
matthias.wurster@forst.bwl.de
7.2 Programm der Tagung
Psychologie im Naturschutz
Naturerleben und
Achtsamkeit
12. bis 15. Oktober 2015
am Bundesamt für Naturschutz
- Internationale Naturschutzakademie Insel Vilm
in Kooperation mit der
Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt
Baden-Württemberg
Hintergrund und Ziele
Natur ermöglicht einen Zugang zum achtsamen Erleben. Gleichzeitig ist die natür-
liche Umwelt auf die Achtsamkeit der Menschen angewiesen. Das bewusste Erle-
ben des aktuellen Augenblickes, wie sich das Konzept der Achtsamkeit umreißen
lässt, bietet in diesem Sinne fruchtbare Anknüpfungspunkte für den Naturschutz.
Während die psychotherapeutische Praxis Achtsamkeit zunehmend als Möglichkeit
entdeckt, mit der sich selbstwirksam das persönliche Wohlbefinden und die psychi-
sche Gesundheit stärken lassen, sind die Anwendungen für den Naturschutz bisher
kaum erschlossen.
Dieser Workshop bietet den Teilnehmenden die Chance, das Konzept der Achtsam-
keit in allen Facetten kennenzulernen und seine Anwendbarkeit für die Umweltbil-
dung und den Naturschutz zu diskutieren. Wissenschaftliche Kenntnisse und Pra-
xisübungen ermöglichen einen umfassenden Einstieg in das Thema: Die Teilneh-
menden lernen Grundlagen und Verfahren der Achtsamkeit kennen und erproben
diese praktisch in der Natur. Expert/innen erklären aktuelle Forschungsergebnisse
zur Mensch-Natur-Beziehung und der Bedeutung von Landschaft für die individuel-
le Erholung und Gesundheit. Darauf aufbauend entwickeln die Workshop-
Teilnehmenden im Dialog mit den Expert/innen eigene Ideen und Naturschutz-
Projekte (weiter) und setzen sie zu Achtsamkeit in Bezug. Die Veranstaltung ist
das zweite Modul der Tagungsreihe „Psychologie und Naturschutz“ des Bundesam-
tes für Naturschutz.
Zielgruppe
Vertreter/innen von Naturschutzbehörden und Naturschutzverbänden, Umweltpoli-
tiker/innen, ehrenamtliche Naturschützer/innen, insbesondere aus der Umwelt-
und Naturschutzbildung, allgemein Interessierte.
Veranstalter
Bundesamt für Naturschutz in Kooperation mit der Forstlichen Versuchs- und For-
schungsanstalt Baden-Württemberg.
Konzeption und Leitung
Dr. Kerstin Ensinger (Nationalpark Schwarzwald)
Eva Simminger (FVA)
Matthias Wurster (FVA)
Andreas Mues (BfN Bonn)
Dr. Norbert Wiersbinski (BfN-INA, Insel Vilm )
Prof. Dr. Immo Fritsche (Universität Leipzig)
Dr. Gerhard Reese (Universität Jena)
Veranstaltungsort
Internationale Naturschutzakademie Insel Vilm des Bundesamtes für Naturschutz
Kosten
Unterkunft im Einzelzimmer pro Person/Tag: 58,-
Unterkunft im Doppelzimmer pro Person/Tag: 43,-
Vollverpflegung pro Tag: 24,-
zzgl. Kaffee/ Tee und Kuchen pro Tag: 4,-
Zahlungen vor Ort werden per EC-Karte erbeten. Kreditkartenzahlungen
oder Überweisungen sind nur in Ausnahmefällen möglich.
Anreise
Mit der Deutschen Bahn via Stralsund - Bergen (Rügen) - Lauterbach/ Mole.
Mit dem Auto via Stralsund - Garz (Rügen) - Putbus - Lauterbach/ Mole oder mit
der Glewitzer Fähre via Glewitz - Garz (Rügen) - Putbus - Lauterbach/ Mole.
Die Überfahrt zwischen Lauterbach/ Mole und der Insel Vilm dauert ca. 10 Minuten
und erfolgt mit einem Boot des BfN.
Kontaktadressen
Inhaltliche Fragen an:
EVA SIMMINGER
FVA Baden-Württemberg
Abt. Wald und Gesellschaft
Günterstalstr. 61
79100 Freiburg
Telefon: 0761/4018-467
eva.simminger@forst.bwl.de
DR. NORBERT WIERSBINSKI
FG II 5.3, BfN-INA
Insel Vilm
18581 Putbus/ Rügen
Telefon: 038301/86-111
Fax: 038301/86 117
norbert.wiersbinski@bfn.de
Fragen zur Anmeldung:
Martina Finger
Telefon: 038301/86-112
martina.finger@bfn-vilm.de
Online-Anmeldung im Internet möglich
(Anmeldeschluss 25.09.15)
Montag, 12. Oktober 2015
Anreise (Boot: 16.10, 17.10, 18.10, 20.10)
18.30 Abendessen
19.30 Begrüßung
DR. NORBERT WIERSBINSKI (BfN-INA, Insel Vilm)
Ankommen auf Vilm und Ausblick auf die Tagung mit ersten
Achtsamkeitsübungen
DR. KERSTIN ENSINGER, ALEXANDRA HALASKOVA (FVA), ANDREAS MUES,
PROF. DR. STEFAN SCHMIDT (Uniklinik Freiburg), DR. HELMUT WETZEL
(Dipl.-Psych.), MATTHIAS WURSTER
20.45 Rückblick auf „Psychologie in der Naturschutzkommunikation“
(Modul 1, 2014)
PROF. DR. IMMO FRITSCHE UND DR. GERHARD REESE
Dienstag, 13. Oktober 2015
07.00 Angebot: Achtsamkeitsmeditation zum Sonnenaufgang am Meer
(ca. 30 Minuten)
DAGMAR FISCHER (Yogalehrerin BDY/ EYU), DR. HELMUT WETZEL
08.00 Frühstück
08:45 Vorstellung der Teilnehmenden und Erfahrungsaustausch über das
Ankommen auf Vilm
09.45 Einführung in das Konzept der Achtsamkeit
PROF. DR. STEFAN SCHMIDT
10:30 „Kaffeepause“ – mit kleiner Essensmeditation
1. Naturerleben
11.00 Naturerleben aus psychologischer Perspektive Kurzvorträge
DR. NICOLE BAUER (WSL), DR. STEPHANIE BETHMANN (FVA), DR. KERSTIN
ENSINGER, ANDREAS MUES, MATTHIAS WURSTER
12.30 Mittagessen
14.00 Achtsamkeitspraxis in der Natur Praktische Übungen in Kleingruppen
DR. KERSTIN ENSINGER, DAGMAR FISCHER, ALEXANDRA HALASKOVA, DR.
HILDEGARD KURT (und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähig-
keit e.V.), PROF. DR. STEFAN SCHMIDT, DR. HELMUT WETZEL
15.30 Kaffeepause
2. Aktuelle wissenschaftliche Befunde
16.00 Achtsamkeit und Naturerleben eine Zusammenführung
DR. KERSTIN ENSINGER, PROF. DR. STEFAN SCHMIDT
16.20 Kleingruppen im Dialog: Achtsamkeit, Gesundheit und Naturschutz
a) Achtsamkeit als Bestandteil des Naturerlebens Nutzen eines
erfahrungsbezogenen Konzepts
PROF. DR. STEFAN SCHMIDT UND DR. HELMUT WETZEL
b) Gesundheit durch Erholung im Grünen Konsequenzen für die
Naturschutzarbeit
DR. NICOLE BAUER, MATTHIAS WURSTER UND ANDREAS MUES
c) Wie man subjektive Wahrnehmungen und Bedürfnisse erfassen kann:
Qualitative und quantitative Methoden
DR. STEPHANIE BETHMANN UND DR. KERSTIN ENSINGER
17.45 Präsentation der Kleingruppen im Plenum
18.30 Abendessen
20.00 Vortrag: Achtsamkeit Quellkraft für den Wandel hin zu einer
zukunftsfähigen Zivilisation?
DR. HILDEGARD KURT
20.45 Meine Praxis offener Abend und Networking
Mittwoch, 14. Oktober 2015
07.00 Angebot: Achtsamkeitsmeditation zum Sonnenaufgang am Meer
(ca. 30 Minuten)
DAGMAR FISCHER, DR. HELMUT WETZEL
08.00 Frühstück
3. Wege in die Praxis
09.00 Achtsamkeitspraxis in der Natur
10.00 Arbeit im Plenum Austausch zu den Übungen, Zugänge für die Praxis
11.00 Kaffeepause
11.30 Kleingruppen im Dialog: Achtsamkeit in der Naturschutz-Praxis Teil I
a) Achtsamkeit zwischen Wissenschaft und Spiritualität Chancen und
Fallstricke verschiedener Kommunikationsstrategien
STEFAN SCHMIDT, EVA SIMMINGER
b) Natur: kein beliebiger Arbeitsort Anwendungskonzepte für Erwach-
sene und Abstimmung auf die Bedürfnisse von Gruppen
KERSTIN ENSINGER, HELMUT WETZEL
c) Anwendungskonzepte für Kinder welche Besonderheiten gibt es?
DAGMAR FISCHER, ALEXANDRA HALASKOVA
12.30 Mittagessen in Stille
14.00 Achtsamkeitspraxis in der Natur
15.00 Kleingruppen im Dialog: Achtsamkeit in der Naturschutz-Praxis Teil II
16.00 Kaffeepause
16.30 Präsentation der Kleingruppen im Plenum
18.00 Abendessen
19.45 Klavierkonzert mit Werken von J. Haydn, F. Hensel, F. Liszt u.a.
VERENA METZGER (HMT Rostock)
(Eintritt 10,-€, nur Abendkasse)
Donnerstag, 15. Oktober 2015
07.00 Angebot: Achtsamkeitsmeditation zum Sonnenaufgang am Meer
(ca. 30 Minuten)
DAGMAR FISCHER, DR. HELMUT WETZEL
08.00 Frühstück
4. Achtsamkeit im Naturschutz
09.00 Abschlussdiskussion im Plenum: Achtsamkeit im Naturschutz Chancen
und Grenzen
ANDREAS MUES
10.15 Ausblick auf die Veranstaltung „UmweltpsychologInnen im Naturschutz:
Arbeitsfelder und Methoden“ (Modul 3, 2016)
PROF. DR. IMMO FRITSCHE UND DR. GERHARD REESE
11.00 Abschluss und Verabschiedung
11.15 Mittagsimbiss mit geselligem Austausch
12.30 Abreise ab Vilm mit Schiff (Zug ab 13.05 h Lauterbach Mole)
7.3 Evaluation
1
Naturerleben und Achtsamkeit
Modul 2 der Reihe „Psychologie im Naturschutz“
Evaluation
Vom 12. Oktober bis zum 15. Oktober 2015 fand auf der Insel Vilm das zweite
Workshop-Modul der Reihe Psychologie im Naturschutz statt. Organisiert wurde der
Workshop gemeinsam vom Bundesamt für Naturschutz (BfN), der Internationalen
Naturschutzakademie (INA) des BfN und der Abteilung Wald und Gesellschaft der
Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) in Kooperation
mit dem Nationalpark Schwarzwald. Insgesamt beteiligten sich 51 Teilnehmerinnen und
Teilnehmer aus den Bereichen Wissenschaft, Politik, Kunst sowie Naturschutz und
Naturpädagogik an der Veranstaltung. Die Bandbreite des Tagungsprogramms reichte
von der theoretischen Vermittlung des Achtsamkeitsprinzips über praktische
Achtsamkeitsübungen in der Natur bis hin zur Diskussion über die Anwendbarkeit des
Prinzips für die Naturschutzarbeit.
Nach Abschluss des Workshops wurden die 51 Teilnehmenden zu einer kurzen Online-
Befragung über die Veranstaltung eingeladen. Hieraus konnten 24 vollständige und daher
verwertbare Datensätze gewonnen werden. Die Rücklaufquote beträgt damit nahezu
49%, das Verfahren wurde demnach gut angenommen. Die Ergebnisse werden
nachfolgend präsentiert.
Die Bewertung der Frage nach der allgemeinen Zufriedenheit mit der Veranstaltung fiel
überwiegend sehr positiv aus (siehe Abbildung 1). Auf einer Skala von 1 (sehr
unzufrieden) bis 7 (sehr zufrieden) bewerteten die Teilnehmenden ihre Zufriedenheit
durchschnittlich mit einem Wert von 6.1 (Standardabweichung 1,25). Insgesamt gaben
96% der Befragten einen Wert von 5 oder größer an.
Etwas geringer viel die Bewertung der eigenen Zufriedenheit mit den beiden
Schwerpunkten der Tagung, den praktischen Übungen (siehe Abbildung 2) und dem
theoretischen Input (siehe Abbildung 3) für sich betrachtet, aus. Die Zufriedenheit mit
dem Praxisteil erreichte einen Durchschnittswert von 5.9 (Standardabweichung 1.47),
damit gaben 88% der Befragten einen Wert von 5 oder höher an. Die Bewertung des
Theorieteils lag mit durchschnittlich 5.5 etwas darunter (Standardabweichung 1.5),
allerdings gaben auch hier noch 79% der Befragten einen Wert von 5 oder höher an.
Ein Datensatz fällt widersprüchlich aus. Die in den freien Textfeldern eingegebenen
Rückmeldungen vermitteln ein positives Bild. Dem stehen die nummerischen
Bewertungen, die mit einer Ausnahme als „sehr unzufrieden“ eingegeben wurden
gegenüber. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Skalierung mit 1 = „Sehr unzufrieden“
bis 7 = „Sehr zufrieden“ von dieser Person falsch verstanden wurde. Allerdings ergibt
sich aus der Bewertung einer später gestellten Frage, dass die betreffende Person durch
die Tagung keinen Wissenszuwachs erlebt hat.
2
Abbildung 1: Bewertung der Frage „Wie zufrieden waren Sie mit dem Workshop
insgesamt?“, Angaben in Prozent
Abbildung 2: Bewertung der Frage „Wie zufrieden waren
Sie mit den Praxisübungen der Veranstaltung?“,
Angaben in Prozent
Abbildung 3: Bewertung der Frage „Wie zufrieden waren
Sie mit dem theoretischen Input der Veranstaltung?“,
Angaben in Prozent
Darüber hinaus gaben die Befragten hilfreiche Anregungen zur Gestaltung des
Workshops:
In einem offenen Frageformat konnten die Teilnehmenden angeben, was ihnen an dem
Workshop gut gefallen hat (siehe Abbildung 4). Die menschliche Komponente spielte
hierbei eine große Rolle, so wurde der Teilnehmerkreis des Workshops von 10 der
Befragten positiv hervorgehoben und auch das Organisationsteam von 3 der Befragten
genannt. Der Rahmen der Tagung wurde in Form des Veranstaltungsortes der Insel
Vilm (12 Nennungen), Unterkunft und Verpflegung (5 Nennungen) sowie der
Atmosphäre (6 Nennungen) lobend erwähnt. Das Tagungsprogramm wurde ebenfalls
mehrfach genannt, so wurden allgemein der Aufbau der Tagung (6 Nennungen) und das
Verhältnis von Theorie und Praxis (9 Nennungen) hervorgehoben. Der Praxisteil wurde
ausdrücklich von 7 der Befragten gelobt, der Theorieteil von 2 der Befragten. Darüber
hinaus wurden die Übungen im Freien (2 Nennungen), ein alternativ angebotener
Erfahrungsprozess (2 Nennungen), die Interdisziplinarität (4 Nennungen) sowie der
Pioniercharakter (2 Nennungen) betont. Jeweils eine Person lobte die Diskussionen, das
Mittagessen in Stille und die Anregungen, die die Tagung für das eigene Leben
bereithielt.
3
Abbildung 4: Antworten auf die offene Frage „Was hat Ihnen an diesem Workshop gut
gefallen?“, Häufigkeit der Nennungen
Ebenfalls in einem offenen Antwortformat wurde abgefragt, was an dem Workshop
verbessert werden könnte. Die Antworten waren hierbei so vielfältig, dass sich nur ein
Teil in Kategorien zusammenfassen lässt (siehe Abbildung 5).
Der größte Konsens bestand darin, dass sich die Teilnehmenden mehr Freizeit gewünscht
hätten (9 Nennungen) und dass der Zeitplan des Tagungsprogramms allgemein zu eng
getaktet war (4 Nennungen). Zum Tagungsraum wurden 2 Kritikpunkte angeführt,
einmal die kühle Beleuchtung und zum anderen die Bestuhlung in Reihen, die nicht
Diskussionsfördernd war. 5 der Teilnehmenden hätten sich noch mehr Übungen im Freien
gewünscht, 2 der Teilnehmenden würden aufgrund der Freiluftübungen eine solche
Veranstaltung lieber im Sommer abhalten. Die Themenauswahl wurde von 3
Teilnehmenden thematisiert, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise: eine Person
wünschte sich hierbei eine Reduktion der Themenvielfalt um stärker in die Tiefe gehen zu
können, eine Person hätte die politische Dimension gerne stärker vertreten gesehen und
eine Person fand die kulturphilosophische Betrachtung unpassend. Alle anderen Punkte
wurden nur von jeweils einer Person genannt. Beispielsweise wurde mehr Praxisbezug für
die Arbeit mit Erwachsenen oder eine Abfrage der eigenen Erwartungshaltung im Vorfeld
gewünscht. Jeweils eine Person hätte eine kleinere Teilnehmergruppe bevorzugt oder
mehr Austausch zwischen den Arbeitsgruppen angeregt. Eine der befragten Personen
wünscht sich, dass nicht-wissenschaftliche Diskussionen mehr Raum erhalten.
Abbildung 5:
Antworten auf
die offene Frage
„Was können
wir an diesem
Workshop
verbessern?“,
Häufigkeit der
Nennungen
4
Des Weiteren sollten die Teilnehmenden einschätzen, wie hoch die eigenen Kenntnisse zu
Achtsamkeit vor dem Workshop waren (siehe Abbildung 6) und wie hoch sie nach der
Veranstaltung sind (siehe Abbildung 7).
Die Ausprägung der Kenntnisse vor dem Workshop deckt die gesamte Spannbreite der
Skala von 1 „nicht vorhanden“ bis 7 „sehr hoch“ ab. Der Mittelwert lag bei 4.4
(Standardabweichung 1.76). 63% der Befragten gaben einen Wert von 5 oder höher an.
Die eingegangenen Antworten deuten demnach darauf hin, dass sich von der
Veranstaltung besonders Personen angesprochen fühlten, deren Kenntnis zum Thema
bereits knapp über einem mittleren Wert lag.
Die Spannbreite der Kenntnisse nach der Tagung ist deutlich kleiner und reicht vom
mittleren Wert 4 bis zum Höchstwert 7. Der Mittelwert lag bei 5.6 (Standardabweichung
0.83). 87% der Befragten schätzen ihre Kenntnisse zu Achtsamkeit nach dem Workshop
mit einem Wert von 5 oder höher ein.
Abbildung 6: Bewertung der Frage „Wie hoch war Ihre
Kenntnis zum Thema Achtsamkeit vor dem
Workshop?“, Angaben in Prozent
Abbildung 7: Bewertung der Frage „Wie hoch ist Ihre
Kenntnis zum Thema Achtsamkeit nach dem Workshop?“,
Angaben in Prozent
Auffallend ist, dass nur 2 der befragten Personen ihre Kenntnis nach dem Workshop mit
einem Wert von 7 bezifferten und dass diese beiden auch ihrer Kenntnis vor der
Veranstaltung den höchsten Wert gaben. Offensichtlich erlangte also niemand durch den
Workshop einen „sehr hohen“ Kenntnisstand. Abgesehen von den beiden Personen, deren
Kenntnisse von Anfang an den Höchstwert hatten, erlebten 5 Personen und damit 21%
der Befragten überhaupt keinen Wissenszuwachs zum Thema Achtsamkeit durch die
Tagung. Diese 5 befragten Personen hatten alle bereits zu Beginn einen recht hohen
Kenntnisstand mit einem Wert von 5 oder 6. Dementsprechend kann man darüber
nachdenken, ob das Niveau der Übungen und Reflexionen zu Achtsamkeit hätte höher
ansetzen müssen um für diese Personen einen Wissenszuwachs zu generieren. Da bei der
Veranstaltung jedoch auch auf Teilnehmende ohne Vorwissen Rücksicht genommen
werden sollte, war dieser Anspruch im gewählten Format nicht zu erfüllen. Um
verschiedenen Kenntnissen gerecht zu werden müsste man darüber nachdenken, die
Gruppe nach Kenntnisstand aufzuteilen.
Erfreulich für die weitere Arbeit am Thema des Workshops ist die Rückmeldung, dass
58% der Befragten der Achtsamkeit mit dem Höchstwert 7 ein sehr hohes Potential für
den Naturschutz zusprechen (Mittelwert 6.3, Standardabweichung 0.92). Insgesamt
5
gaben bei dieser Frage 96% der Teilnehmenden einen Wert von 5 oder höher an (siehe
Abbildung 8).
Sehr ähnlich fiel die Bewertung der Frage aus, ob der Workshop das Interesse an
Achtsamkeit im Naturschutz erhöht habe (siehe Abbildung 9). Hier gaben lediglich 50%
den Höchstwert 7 an, insgesamt gaben jedoch auch hier 96% der Teilnehmenden einen
Wert von 5 oder höher an (Mittelwert 6.3, Standardabweichung 0.86).
Abbildung 8: Grad der
Übereinstimmung mit der
Aussage Ich sehe ein
Potential des
Achtsamkeitsprinzips für
den Naturschutz,
Angaben in Prozent
Abbildung 9: Grad der
Übereinstimmung mit der
Aussage Der Workshop
hat mein Interesse an
Achtsamkeit im
Naturschutz erhöht,
Angaben in Prozent
Um den Anwendungsbezug der Tagung weitergehend zu evaluieren wurde den
Teilnehmenden die Frage gestellt: „Nehmen Sie aus dem Workshop etwas für Ihre
berufliche Praxis mit? Wenn ja, was? (siehe Abbildung 10).
Die Antworten waren breit gefächert, jedoch überwiegend positiv: nur 1 Person hat die
Frage verneint und 2 der Befragten haben die Antwort offen gelassen, alle anderen
benannten eine Bereicherung für Ihre Arbeitspraxis.
Ein großer Teil der Rückmeldungen bezog sich auf eine emotionale Stärkung durch den
Workshop: 3 Personen gaben an, mehr Gelassenheit zu haben, 2 der Befragten blicken
optimistischer in die Zukunft und 5 Personen gaben an, mehr Mut für die professionelle
Anwendung achtsamkeitsbasierter Verfahren gesammelt zu haben. Außerdem gaben
einige der Befragten an, dass sie durch den Workshop den Entschluss gefasst haben,
Achtsamkeit in Ihre berufliche Praxis einfließen zu lassen (3 Nennungen) oder konkrete
Anregungen für ihre Achtsamkeitsprojekte sammeln konnten (3 Nennungen). Auch der
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sozialen Dimension des Workshops wurde von den Befragten eine Relevanz für den
Arbeitsalltag beigemessen, so gaben 2 der Befragten an, andere Akteure im Naturschutz
besser verstehen zu können, 3 Personen hoben die wertvollen neuen Kontakte hervor,
die sie durch die Veranstaltung sammeln konnten. 2 der Befragten verwiesen positiv auf
die Literaturliste die im Anschluss an die Tagung versendet wurde. Darüber hinaus gab es
auch in den Antworten zu dieser Frage einige Punkte, die jeweils nur von einer Person
angesprochen wurden: Achtsamkeitsübungen für Kolleginnen und Kollegen anzubieten,
verschiedene Zugänge zu Achtsamkeit kennengelernt zu haben, in der Arbeitspraxis
mehr in die Natur zu gehen, das Erholungspotential der Natur bewusster wahrzunehmen
und Achtsamkeit als Thema stärker in die Öffentlichkeitsarbeit miteinbeziehen zu wollen.
Abbildung 10: Antworten auf die offene Frage „Nehmen Sie aus dem
Workshop etwas für Ihre berufliche Praxis mit? Wenn ja, was?“, Häufigkeit
der Nennungen
Zum Abschluss der Befragung wurde den Teilnehmenden mit der Frage Welche
Rückmeldung wollen Sie uns zusätzlich geben? Raum für eigene Anmerkungen
eingeräumt. Wir bedanken uns für den großen Zuspruch und Dank, den wir an dieser
Stelle von den Teilnehmenden erfahren haben. Wir verzichten auf eine umfassende
Darstellung der Antworten und beschränken uns auf einige besonders konstruktive
Rückmeldungen.
Die Hoffnung auf eine Wiederholung oder Fortsetzung der Veranstaltung wurde mehrfach
geäußert, hierbei wurde der Wunsch nach der Einrichtung eines Forums für den
Austausch der mit Achtsamkeit arbeitenden Naturschutzakteure formuliert. Außerdem
wurde geäußert, das BfN solle Achtsamkeit auf seiner Agenda halten und Nationalparke
sollen das Thema stärker in ihre Veranstaltungsprogramme aufnehmen. Weiterführend
wurde vorgeschlagen, gezielt Achtsamkeitsschulungen für bestimmte Berufsgruppen wie
Pädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Klinikpersonal oder Mitarbeitende von
Personalabteilungen anzubieten.
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden der Befragung dafür, dass Sie sich die Zeit
genommen haben, durch ihre Meinungen und konstruktiven Rückmeldungen zur
Verbesserung unserer Angebote beizutragen.
... Wie Natur wahrgenommen wird und wie gut sie sich demnach zur Erholung eignet, hängt jedoch nicht nur von äußeren Kriterien, sondern auch von der persönlichen Haltung während der Naturerfahrung ab (Ensinger et al., 2017 (Kabat-Zinn, 1990). Die ...
Experiment Findings
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Das Erleben von Wildnis stellt einen Kontrast zum Erleben anderer Landschaftstypen dar, der sich sowohl im Selbstbericht als auch in den physiologischen Messdaten der Feldstudie zeigt. Aus Perspektive der Attention Restoration Theorie (Kaplan und Kaplan, 1989; Kaplan, 1995) und neueren Entwicklungen , wie zum Beispiel der Theorie der „Settinginterdependenzen“ (von Lindern, 2017), ist dieses Kontrasterleben eine Schlüsselkomponente für das Initiieren psychologischer Erholungsprozesse. Daher sollte die Möglichkeit, Wildnis zu erleben, gefördert werden, um ein möglichst positives Besuchserleben und eine Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden anzustreben bzw. auszubauen.
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Das Potenzial und die Konzepte von Achtsamkeit, Selbstfürsorge und Mitgefühl werden vorgestellt. Diese können über Kursprogramme eingeübt werden und stehen somit als Ressource in der Pflege zur Verfügung. Der Stand der aktuellen Forschung zu dieser Thematik und die Entwicklung eines eigenen Programms werden vorgestellt.
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The oft-repeated claim that Earth's biota is entering a sixth " mass extinction " depends on clearly demonstrating that current extinction rates are far above the " background " rates prevailing in the five previous mass extinctions. Earlier estimates of extinction rates have been criticized for using assumptions that might overestimate the severity of the extinction crisis. We assess, using extremely conservative assumptions, whether human activities are causing a mass extinction. First, we use a recent estimate of a background rate of 2 mammal extinctions per 10,000 species per 100 years (that is, 2 E/MSY), which is twice as high as widely used previous estimates. We then compare this rate with the current rate of mammal and vertebrate extinctions. The latter is conservatively low because listing a species as extinct requires meeting stringent criteria. Even under our assumptions, which would tend to minimize evidence of an incipient mass extinction, the average rate of vertebrate species loss over the last century is up to 114 times higher than the background rate. Under the 2 E/MSY background rate, the number of species that have gone extinct in the last century would have taken, depending on the vertebrate taxon, between 800 and 10,000 years to disappear. These estimates reveal an exceptionally rapid loss of biodiversity over the last few centuries, indicating that a sixth mass extinction is already under way. Averting a dramatic decay of biodiversity and the subsequent loss of ecosystem services is still possible through intensified conservation efforts, but that window of opportunity is rapidly closing.
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Der Mensch ist als Teil der Natur im biologisch-materiellen Sinne an den Zustand der Natur gebunden. Ulrich Gebhard geht es um die psychische Seite dieses grundlegenden ökologischen Zusammenhangs und wie er sich auf die Entwicklung von Kindern auswirkt. Hierzu werden theoretische Annahmen ‒ vor allem der Psychoanalyse und der Umweltpsychologie ‒ entfaltet und vor diesem Hintergrund empirische Befunde und Beobachtungen ausgewertet. Neben der anschaulichen Darstellung, wie die äußere Natur ‒ Tiere, Pflanzen und Landschaften ‒ die innere Natur des Menschen beeinflusst und wie sich ein entsprechender Mangel ‒ ‚unwirtliche Städte‘ und ‚Umweltzerstörung‘ ‒ auswirken, werden ‚Naturerfahrung und Gesundheit‘, ‚Naturerfahrung und Umweltbewusstsein‘ und ‚Naturästhetik‘ thematisiert. Die Zielgruppen • Wissenschafterinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Gesundheitsforschung und Fachdidaktik Biologie • Akteure in der Natur- und Umweltbildung • Lehrerinnen und Lehrer Der Autor Dr. Ulrich Gebhard war bis 2019 Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und ist Psychoanalytiker für Kinder- und Jugendliche.
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Der Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Wunsches, Verantwortung für soziale und ökologische Lebensbedingungen heute und für die folgenden Generationen zu übernehmen, ohne dabei Verzicht üben zu müssen, ist derzeit die viel zitierte Maxime der LOHAS Konsumenten. Dieser Trend eines übergreifenden, veränderten gesellschaftlichen Werte‐ und Konsumverhaltens ist getragen durch ein stärkeres Bewusstsein für gesellschaftliche und ökologische Verantwortung unter den Konsumenten. Aus diesem Wunsch ist ein Wechsel der Konsumgewohnheiten hin zu einem nachhaltigen Handeln zu beobachten. Waren es noch Anfang des 21. Jahrhundert die Ausprägungen einer „Wegwerfgesellschaft“ getragen durch die „Geiz‐ist‐geil“‐ und „Ich‐bin‐doch‐nicht‐blöd“‐Mentalität, die medial im Vordergrund standen, sind es heute die Produktausprägungen und ‐versprechen wie z. B. lokal/regional hergestellt, nachhaltig produziert, CO2‐neutral und ökologisch angebaut, die den Verbrauchern vermittelt werden. Nachhaltigkeit ist demnach heute nicht mehr nur eine Angelegenheit von Individualisten, sondern ein Thema, das alle Konsumenten betrifft und somit auch gesellschaftsfähig geworden ist. In diesem Zusammenhang und im Kontext des Zielgruppenmarketing der LOHAS sind in einem ersten Schritt die folgenden beiden Ermittlungen mit ihren entsprechenden Leitfragen relevant.
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This study examined the cognitive mediation of relapse prevention by cognitive therapy (CT) in a trial of 158 patients with residual depression. Scores based on agreement with item content of 5 questionnaires of depression-related cognition provided no evidence for cognitive mediation. A measure of the form of response to those questionnaires, the number of times patients used extreme response categories ("totally agree" and "totally disagree"), showed significant and substantial prediction of relapse, differential response to CT, and conformity to mediational criteria. CT reduced relapse through reductions in absolutist. dichotomous thinking style. CT may prevent relapse by training patients to change the way that they process depression-related material rather than by changing belief in depressive thought content.