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Christoph Kulgemeyer1
1Universität Bremen
Der Zusammenhang von Professionswissen bzw. professioneller Kompetenz von
Physiklehrkräften einerseits und der Handlungsqualität in Unterrichtssituationen ist
empirisch nicht geklärt (Vogelsang & Reinhold, 2013; Cauet et al., 2015). Das ist ein
Kernproblem für die Lehrerausbildung. Die gesamte (universitäre) Ausbildung hat das Ziel,
professionelles Wissen bzw. professionelle Kompetenzen in den drei Bereichen Fach,
Fachdidaktik und Pädagogik zu entwickeln. Quasi-Längsschnitte legen auch nahe, dass im
Verlaufe des Studiums solche Entwicklungen stattfinden (z.B. Riese, 2009). Ob diese drei
Bereiche jedoch überhaupt Ressourcen sind, aus denen eine Physiklehrkraft während des
unterrichtlichen Handelns gewinnbringend schöpfen kann, ist nicht genügend geklärt – noch
weniger klar ist die Frage, welche Aspekte professionellen Wissens für welche
Handlungssituation verwendet werden können. Als Folge ist so auch unbekannt, ob und
unter welchen Bedingungen Quereinsteigerprogramme zu einem Standardweg werden
können, den Lehrberuf zu ergreifen bzw. in welchen Bereichen Quereingestiegende
nachgeschult werden müssen. Ebenfalls stellt sich die Frage, welche Inhalte empirische
gestützt im Lehramtsstudium verankert werden müssen; bislang werden diese Inhalte nahezu
ausschließlich normativ und tradiert festgelegt. Ein Grund dafür, dass der Nachweis
schwierig ist, liegt auch in der Art und Weise, wie üblicherweise getestet wird.
Der gängige Weg, professionelles Wissen bzw. professionelle Handlungskompetenz zu
erheben, ist ein schriftlicher Test. In Anlehnung an Miller (1990) können vier Formate des
Testens unterschieden werden, wenn berufliche Kompetenzen erhoben werden sollen. Sie
gestalten sich bezüglich des Lehrberufs mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen:
1.. Hierbei handelt es sich in der Regel um schriftliche Testformate mit
geschlossenen Aufgaben. Sie sind zumeist mit großem Fokus auf curriculare Validität
entwickelt worden.
2. Auch dies sind üblicherweise schriftliche Testformate, oft mit
Unterrichtsvignetten, die die Anwendung von Wissen auf Probleme des Physikunterrichts
erfordern. Auch hier ist der Fokus vor allem curriculare Validität, d.h. die normativen
Inhalte des Lehramtsstudiums.
3. Dies sind in der Regel Videographien von
Unterrichtsstunden. Unterricht besteht aus einer Vielzahl an hochkomplexen Problemen,
die unter großem Handlungsdruck gelöst werden müssen. Die Auswertung ist aufwändig
und es gelingt auch in großen Studien nicht, eine große Anzahl an Stunden pro Lehrkraft
zu filmen.
4.. Hierbei handelt es sich auch um Videobeobachtungen, allerdings
werden hierbei Lehrkräfte mit standardisierten Problemen unter standardisierten
Rahmenbedingungen konfrontiert.
Wissens- und Kompetenztests lassen sich mit hoher Testökonomie und hoher Reliabilität
konstruieren. Sie lassen sich ebenfalls so entwickeln, dass sie den Lernzuwachs im Verlaufe
der Lehrerbildung abbilden. Der Zusammenhang zu mit Unterrichtsvideos erhobenen Daten
zur Unterrichtsqualität ist jedoch nicht gelungen. Ein Grund dafür ist, dass
Unterrichtsbeobachtungen immer einer Vielzahl an nichtkontrollierbaren
Rahmenbedingungen unterworfen sind: So hängt das Gelingen einer Stunde beispielsweise
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von der Tagesform der Schülerinnen und Schüler, der Lage einer Stunde oder auch dem
Klassenklima ab. Werden all diese Rahmenbedingungen als zufällig schwankend
angenommen, so bedarf es einer großen Anzahl an Stunden, die gefilmt werden, bis der
„echte“ Effekt beispielsweise des fachdidaktischen Wissens gezeigt werden kann, da sich
dann Fehler durch die Rahmenbedingungen erwartbar herausmitteln. Wegen des großen
Aufwands ist dies jedoch selbst sehr groß angelegten Projekten nicht möglich.
Performanztests hingegen kontrollieren die Rahmenbedingungen – ihr großer Nachteil ist
allerdings, dass sie kein holistisches Bild vom Handeln zeigen, sondern nur die
Handlungsqualität auf eine bestimmte Unterrichtssituation bezogen. Im Gegensatz zum
freien beruflichen Handeln konzentrieren sie sich auf ein einziges berufliches Problem, z.B.
das Erklären von Physik. Um einem ganzheitlichen Bild unterrichtlicher Fähigkeiten
nahezukommen, müssten alle Standardsituationen des Physikunterrichtens in
Performanztests abgebildet werden – das Projekt ProfiLe-P+ (siehe Vogelsang in diesem
Band) arbeitet daran. In der Medizin sind Perfomanztests verbreitet, z.B. wird die Aufnahme
einer Krankengeschichte simuliert oder die Untersuchung des Bauchraums. Sie werden unter
dem Schlagwort „Objective structured clinical examination“ zusammengefasst (Harden et
al., 1975). Ihr Kern sind Personen, die mit festen Rollenbeschreibungen Patienten darstellen
(„standardized patients“) (Barrows & Abrahamson, 1964). Es lässt sich auch zeigen, dass
mit Score Sheets in diesen Formaten mit hoher Testgüte Leistungen festgestellt werden
können (Walters, Osborn & Raven, 2005).
Im Projekt ProfiLe-P wurde ein Performanztest entwickelt, der eine bestimmte
Unterrichtssituation nachstellt: das Erklären von Physik. Analog zu den „standardized
patients“ in medizinischen Performanztests ist der Kern dieses Tests ein standardisierter
Schüler, dessen Verhalten einer Rollenbeschreibung folgt: zum Beispiel werden in allen
Tests bestimmte Fragen gestellt, entweder, um Nichtverstehen zu äußern (z.B. „Gibt es dafür
auch ein Beispiel?“) oder um die Erklärung komplexer zu gestalten (z.B. „Gibt’s da auch
eine Formel für? Ich brauche das für eine Klausur.“). Dadurch werden die Tests miteinander
vergleichbar. Die Schüler wurden mit Videofeedbackverfahren in etwa zwei bis drei Stunden
dazu trainiert, sich vergleichbar zu verhalten. Ebenfalls standardisiert ist das Thema (z.B.
„Warum gleitet man auf einer Pfütze eher aus einer Kurve als auf trockener Strecke?“), die
Zeit zur Vorbereitung (10 min) sowie die Erklärdauer (10 min). Auch Materialien wie
Diagramme und Zeichnungen stehen in allen Szenarien gleichermaßen bereit.
Der Test wurde breit angelegten Validierungsstudien unterzogen, z.B. wurden
Interviewstudien durchgeführt, um zu kontrollieren, ob die Situationen authentisch sind. Zur
Auswertung der Handlungsqualität wird auf ein Modell des Erklärens von Physik
zurückgegriffen (Kulgemeyer & Schecker, 2012). Dabei werden die Videos
kategorienbasiert ausgewertet und die positiv zur Erklärqualität beitragenden Kategorien
summiert (z.B. verwendete Beispiele). Das so entstehende Maß wurde mit
Expertenbefragungen und der Analyse eines nomologischen Netzwerks weiteren
Validierungsstudien unterzogen. Im Detail ist die Testentwicklung dargestellt in Kulgemeyer
und Tomczyszyn (2015).
Dieser Test wurde im Rahmen des Projekts ProfiLe-P verwendet, um den Einfluss von
universitär erworbenem Wissen bzw. Kompetenzen im Bereich Fach und Fachdidaktik auf
das Handeln beim Erklären zu untersuchen. Die Kernfrage dabei ist, ob Fachwissen und
fachdidaktisches Wissen genutzt werden können, um die Erklärqualität zu steigern. Dazu
wurden insgesamt 198 angehende Physiklehrkräfte aller Semester an fünf Universitäten
befragt. 134 davon haben neben dem Performanztest zum Erklären Tests zum Fachwissen
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(entwickelt an den Universitäten Duisburg-Essen und Potsdam) und zum fachdidaktischen
Wissen (entwickelt an der Universität Paderborn) ausgefüllt, zudem wurden einige
Kontrollvariablen erhoben (z.B. mathematische Fähigkeiten, epistemologische
Überzeugungen, Selbstkonzept, etc.). Einen Überblick über die Anlage der Studie und die
Validierungsstudien findet sich in Riese et al. (2015).
Es ergeben sich zunächst manifeste Korrelationen zwischen der Erklärperformanz und
sowohl Fachwissen (= 0,376; < 0,01) als auch fachdidaktischem Wissen (= 0,376; <
0,001). Zur genaueren Analyse des Einflusses wurde ein manifestes Pfadmodell berechnet.
Dabei wurde insbesondere überprüft, ob ein direkter Effekt vom Fachwissen zur
Erklärperformanz vorliegt oder ein indirekter Effekt über das fachdidaktische Wissen. Das
Modell, das die besten Fitwerte zeigt, ist in Abb. 1 angegeben und erklärt insgesamt 29 %
der Varianz in der Erklärperformanz. Dabei ist bemerkenswert, dass Fachwissen nicht direkt
auf die Erklärperformanz wirkt, sondern durch fachdidaktisches Wissen mediiert wird.
Ebenfalls beachtenswert ist der starke Einfluss von Einstellungen auf die Handlungsqualität.
Das auf Erklärsituationen bezogene Selbstkonzept hat einen robusten, positiven Einfluss.
Einen negativen Einfluss hat die Transmissionsvorstellung als Aspekt epistemologischer
Überzeugungen: Personen, die Erklären als „klares Darstellen“ und nicht als am Adressaten
orientierte Handlung auffassen, erklären schlechter. Bei der weiteren Analyse zeigt sich,
dass diese Personen oft auch ein hohes Interesse am Erklären haben. Das lässt sich so
interpretieren, dass Erklären oft als dozierende Handlung missverstanden wird und nicht als
Interaktion zwischen Erklärer und Adressaten.
Mit diesem Performanztest konnte gezeigt werden, dass Fachwissen und fachdidaktisches
Wissen einen positiven Einfluss auf das Handeln in einer unterrichtlichen Situation, nämlich
dem Erklären, haben. Da sowohl Fachwissen als auch fachdidaktisches Wissen curricular
valide erhoben wurde, liegt es nahe, dass die im Lehramtsstudium vermittelten Inhalte
zumindest für Erklärsituationen wertvoll genutzt werden können. Insbesondere ist
fachdidaktisches Wissen notwendig, solitäres Fachwissen genügt explizit nicht. Dies ist auch
für Quereinsteigerprogramme eine relevante Erkenntnis. Weitere korrelative Analysen
zeigen, dass insbesondere das Wissen über Schülervorstellungen im Bereich des
fachdidaktischen Wissens besonders wichtig ist.
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Barrows, H. & Abrahamson, S. (1964). The Programmed Patient: A Technique for Appraising Student
Performance in Clinical Neurology. (8), S. 802–805.
Cauet, E., Liepertz, S., Borowski, A. & Fischer, H. (2015). Does it matter what we measure? Domain-specific
professional knowledge of physics teachers. (3), S. 462–479.
Harden, R., Stevenson, M. & Wilson, W. (1975). Assessment of Clinical Competence using Objective
Structured Examination. , S. 447–451.
Kulgemeyer, C. & Schecker, H. (2012). Physikalische Kommunikationskompetenz – Empirische Validierung
eines normativen Modells. , S. 29–54.
Kulgemeyer, C. & Tomczyszyn, E. (2015). Physik erklären – Messung der Erklärfähigkeit angehender
Physiklehrkräfte in einer simulierten Unterrichtssituation.
(1), S. 111–126.
Miller, G. (1990). The Assessment of Clinical Skills/Competence/Performance. (9), S.
563–567.
Riese, J. (2009).
. Berlin: Logos.
Riese, J., Kulgemeyer, C., Borowski, A., Fischer, H., Gigl, F., Gramzow, Y., Schecker, H., Tomczyszyn, E. &
Zander, S. (2015). Modellierung und Messung des Professionswissens in der Lehramtsausbildung Physik.
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Vogelsang, C. & Reinhold, P. (2013). Zur Handlungsvalidität von Tests zum professionellen Wissen von
Lehrkräften. , S. 129–157.
Walters, K., Osborn, D. & Raven, P. (2005). The development, validity and reliability of a multimodality
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