ChapterPDF Available

Lichtspiele. Textile Bildflächen bei Adalbert Stifter

Authors:
kira JürJens
Lichtspiele.
Textile Bildflächen in Der Hochwald und
Die Mappe meines Urgroßvaters
Textilien bilden in konkreter und metaphorischer Präsenz einen zen-
tralen Materialkomplex in Stifters Werk und können als eine exempla-
rische Ausprägung der im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung
gewinnenden Kategorie Oberfläche betrachtet werden.1 Das relationa-
le Gegenstück zur Oberfläche, die traditionellerweise als Aufenthalts-
ort von Bedeutung und Sinn verstandene Tiefe, wird bei Stifter zu ei-
ner durchaus ambivalenten Größe, die sich auch auf beunruhigende
räumliche oder psychologische Abgründe beziehen kann.2 Hier setzen
Stifters Textilien an: Sie bedecken Nacktheit, Löcher und Wunden und
funktionieren so nicht nur im Sinne einer textilen Offenbarungsmeta-
phorik als zu enthüllende Schleier sondern auch als unabdingbare
Grun-
dierung einer ansonsten schwer darstellbaren Realität. Einerseits verde-
ckend kommt dem Stoff andererseits eine Verweisfunktion auf das von
ihm Verborgene zu. Im Folgenden soll eine Konfiguration in den Blick
genommen werden, die diesen Zusammenhang zwischen der Hülle
und ihrem Darunter visuell zu überspielen versucht: In Textpassagen,
in denen Projektions- und Reflexionsphänomene von Licht auf Stoff
beschrieben werden, wird der Stoff nicht als Hülle, sondern als Bild-
grund eines sich darauf abzeichnenden Lichtspiels eingesetzt. Insofern
funktioniert er nicht mehr als relational eingebundene Oberfläche,
son-
dern als in sich aussagekräftige Fläche. Der Stoff bringt so nicht erst im
Moment der Enthüllung etwas zum Vorschein, sondern die Stofffläche
selbst verhilft den Dingen zur Erscheinung.3 Sie sind als materielle Flä-
chen zu verstehen, die den physikalischen Erkenntnissen der Zeit ent-
1 Zur Aufwertung der Oberfläche in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts vgl. Hans-
Georg von Arburg: Alles Fassade. ‚Oberfläche‘ in der deutschsprachigen Architek-
tur und Literaturästhetik 1770-1870, München 2008, S. 15. Vera Bachmann geht
in ihrer Untersuchung zur Oberfläche auch auf Stifter ein: Stille Wasser – tiefe
Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld
2013.
2 Zur Tiefe vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Tiefe. Über die Faszination des Grü-
belns, München 2010.
3 Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
78
sprechend, eine Grundbedingung für die Sichtbarkeit von Licht überhaupt
bilden, wie Stifter auch in den Erklärungen für Nichtphysiker, den Endno-
ten des Condors, festhält:
2. Das Licht selbst ist nicht sichtbar, sondern nur die von ihm getroffenen
Flächen, daher der gegenstandslose Raum schwarz ist. Das Licht ist nur auf
den Welten, nicht zwischen denselben erkennbar. Wäre unsere Erde von kei-
ner Luft umgeben, so stände die Sonne als scharfe Scheibe in völligem
Schwarz.4
Stoffe können vor diesem Hintergrund in Stifters Texten als Repräsentan-
ten der gegenständlichen Welt betrachtet werden, die den drohenden Ab-
grund leeren schwarzen Raumes bedecken und Visualität grundsätzlich
ermöglichen.
In dieser Eigenschaft kann man die Stoffflächen auch als Verhandlungs-
ort ästhetischer Fragen betrachten, wie im Folgenden am Beispiel von Der
Hochwald und Die Mappe meines Urgroßvaters gezeigt werden soll. In bei-
den Erzählungen werden Textilien in einzelnen Szenen explizit als Bildflä-
chen eingesetzt, auf denen sich Licht bzw. Schatten darstellen. Diese
Lichtspiele funktionieren dabei als eine Art Schaltstelle: In entscheidenden
Situationen des Übergangs vermitteln sie in jeweils unterschiedliche Rich-
tung zwischen auf Erzähler- wie Figurenebene behandelten Wahrneh-
mungs- und Darstellungsmodi. Im Hochwald ist das der Wechsel zwischen
einer erzählerischen Einbettung der Figuren in Räume und Situationen,
die metaphorisch oder konkret ästhetische Prinzipien von perspektivischer
Rahmung, Abbildhaftigkeit und fester Kontur aufrufen, hin zu vielmehr
unhierarchisch organsierten, flüchtigen und instabilen Wahrnehmungs-
und Erfahrungsräumen. In der Mappe meines Urgroßvaters vermittelt das
Lichtspiel dagegen in umgekehrter Richtung zwischen der schockartigen
Erfahrung von Formlosigkeit und einer anschließenden Arbeit an der
Form, an einer Rückübersetzung in ein stabiles Zeichensystem. Darüber
hinaus wird in beiden Beispielen deutlich, wie die Projektion nicht allein
visuelles Ereignis ist, sondern der materiellen Unterlage bedarf, die inso-
fern an Bedeutung gewinnt.
4 Adalbert Stifter: Der Condor, in: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtaus-
gabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart u.a. 1978ff., hier:
Bd. 1.4, S. 35. Aus dem „Hochwald“ (Bd. 1.4) wird im laufenden Text mit der Sigle
HKG 1.4 und aus der „Mappe meines Urgroßvaters“ (Bd. 1.5) mit der Sigle HKG 1.5
zitiert. Dabei habe ich mich auf die Buchfassungen beschränkt.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 79
Im All-Over des Waldes
Die einleitende Landschaftsbeschreibung im Hochwald entwirft den Na-
turschauplatz des historischen Geschehens als in die Erzählgegenwart hin-
einragende Konstante. Die Landschaft wird zunächst im Vogelflug in den
Blick genommen. Auf dem Weg zum Waldsee, dem ersten der „zwei Punk-
te“ zwischen denen sich die Handlung aufspannt, passiert man
offenes Land; – aber es ist eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus
nichts bestehend, als tief schwarzer Erde, dem dunklen Todtenbette tau-
sendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie blei-
che Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloss-
gelegt, gewaschen und rund gerieben sind. – Ferner liegt noch da und dort
das weisse Gerippe eines gestürzten Baumes und angeschwemmte Klötze.
(HKG 1.4, S. 212)
Die Erzählung nimmt ihren Anfang damit an einer Stelle, die wie eine bis
auf die Knochen offene Wunde klafft. Die Beschreibung ist von einem pes-
simistischen Materialismus geprägt: Die Natur liegt hier bloß, und was sich
zeigt, ist gänzlich grund- und geheimnislos, „nichts“ als Erde, Steine und
Klötze. Wie um den Schock dieses Bildes der Verwüstung zu mildern, folgt
eine schrittweise metaphorische Bedeckung der Natur: Der Erzähler führt
den Leser aus dem Fichtenwäldchen „von dem schwarzen Sammte seines
Grundes herausgetreten“, an die noch „schwärzer[e] See’sfläche“, die einige
Zeilen später als „[e]in gespanntes Tuch ohne einzige Falte“ (HKG 1.4,
S. 213) beschrieben wird. Dabei bilden diese textilen Metaphern weniger
eine Deckschicht potentiell aufdeckbarer Hüllen, als in sich unergründli-
che Flächen. Was unter dem Tuch des Sees verborgen liegt, entzieht sich der
Wahrnehmung, wenn dessen „Tiefe“ nichts als die Spiegelung der „Felsen“
und des „Himmel[s]“ an der unbeweglichen Oberfläche ist.
5
(HKG 1.4,
S. 213) Im weiteren Verlauf der Beschreibung, die sich der Burgruine St.
oma, dem zweiten Punkt der Erzählung, nähert, nimmt die textile Ver-
hüllung der Landschaft zu. Die Seewand ist „mit einem grünen Tuche des
feinsten Mooses überhüllet“ (HKG 1.4, S. 213) und der Ort Friedberg
wird
„wie auf einem Sammtkissen“ liegend beschrieben.
6
(HKG 1.4, S. 214) Die
nach dem erzählerischen Sprung in die Vergangenheit beschriebene Über-
5 Vera Bachmann betrachtet die Tiefe des Waldsees im „Hochwald“ als „Effekt einer
Spiegelung“, Bachmann (Anm. 1), S. 216.
6 Die Burg selbst bildet ein Komplement zu der offenen Stelle im Hochwald, wenn es
über ihren Turm heißt: „nur seine Mauern jedes Mörtels und Anwurfs entkleidet, ste-
hen zu dem reinen Himmel empor.“ (HKG 1.4, S. 215) Der metaphorischen Verhül-
lung der Natur stehen so zugleich Eindrücke von Nacktheit entgegen.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
80
siedelung der „Töchter Heinrich’s des Wittinghausers“ (HKG 1.4, S. 217)
aus der väterlichen Burg in den Hochwald, wo sie vor den Gefahren des
30-jährigen Krieges versteckt werden sollen, vollzieht sich auf den meta-
phorischen Textilien, die den unergründlichen Grund der Natur bedecken:
Die Hügel sind mit „Matten der schönsten Bergkräuter“ belegt und der
Rasen wird als „reines Tuch“ und „Teppich weich genug, selbst für den Fuss
einer Königstochter“ beschrieben. (HKG 1.4, S. 233) So wie hier der Rasen
als Teppich, so wurde zuvor der Teppich im Burgzimmer der in eine „Klei-
derwolke“ und „reinen Schnee“ gehüllten Wittinghauser Mädchen als
„blühend“ beschrieben. Im Bildbereich des Textilen kommt es so zur per-
manenten Überschneidung und Durchdringung von Natur und höfischer
Kultur.
7
Die aus der textilen Grundfunktion von Schutz und Bekleidung
resultierende Abgrenzung eines Innen gegen ein Außen wird hier im Bild
der Textilien gerade unterlaufen, wenn die Stoffe im Innenraum mit Natur-
begriffen und umgekehrt die Natur mit Textilbegriffen beschrieben wer-
den. In dieser Konstellation wird dem Rückzugsraum der Natur ein „Drau-
ßen“ (HKG 1.4, S. 292) der menschlichen Zivilisation gegenübergestellt.
Der von den Schwestern in Begleitung ihres Vaters Heinrich, ihres Bruders
Felix und des Ritters Bruno unternommene Weg in die Natur wird entspre-
chend als ein schrittweises Eindringen gestaltet. Während der dynamische
Erzählerblick zu Beginn der Erzählung über den landschaftlichen und ar-
chitektonischen Schauplatz wie durch die Zeiten gleitet, wird im entschei-
denden Moment der Waldwanderung ein fixierter Betrachterstandpunkt
eingenommen, wobei die Wahrnehmungsinstanz unheimlich unbestimmt
bleibt,
8
auch wenn der letzte Satz suggeriert, es handle sich um den Blick
des „Waldplätzchen[s]“:
Die Waldblumen horchten empor, das Eichhörnchen hielt auf seinem Bu-
chenast inne, die Tagfalter schwebten seitwärts, als sie vordrangen, und die
7 Christian Begemann geht ausführlich auf die Gewebemetapher im „Hochwald“ ein
und betrachtet sie innerhalb des Metaphernkomplexes des „Artefakten“, der die Natur
als einen „externalisierten Innenraum“ entwerfe (Christian Begemann: Die Welt der
Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995). Vgl. auch Hee-Ju Kim: Natur als
Seelengleichnis. Zur Dekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus in Adalbert Stifters
,Hochwald‘, in: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus, hg.
von Sabina Becker und Katharina Grätz, Heidelberg 2007. Mit den Stoffmetaphern
befasst sich Christine Oertel Sjögren näher: ‚Tuch‘ as a Symbol for Art in Stifter’s „Der
Hochwald“, in: Journal of English and Germanic Philology 73, 1974, S. 375-387.
8 Mit Blick auf den weiteren Verlauf der Handlung könnte dieser subjektlos inszenierte
Blick auch dem im Wald versteckten Ronald, Clarissas Geliebtem, zugeschrieben wer-
den, der den Schwestern später gestehen wird, dass er die Schwestern schon zuvor in
einer ganz ähnlichen Konstellation beobachtet hat: „[D]iese Bäume hier verschlangen
den letzten Schimmer Eures Gewandes“. (HKG 1.4, S. 284)
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 81
Zweiggewölbe warfen blitzende grüne Karfunkel und fliegende Schatten auf
die weißen Gewänder, wie sie vorüberkamen; der Specht schoß in die Zwei-
ge, Stamm an Stamm trat rückwärts, bis nach und nach nur mehr weiße
Stückchen zwischen dem grünen Gitter wankten – und endlich selbst die
nicht mehr – aber auch der Reiter tauchte in die Tiefe des Waldes, und ver-
schwand, und wieder nur der glänzende Rasen, die lichtbetupften Stämme,
die alte Stille und Einöde und der dareinredende Bach blieb zurück, nur die
zerquetschten Kräutlein suchten sich aufzurichten und der Rasen zeigte sei-
ne zarte Verwundung. – Vorüber war der Zug – unser lieblich Waldplätz-
chen hatte die ersten Menschen gesehen. (HKG 1.4, S. 235)
Die Natur wird hier nicht nur als Perspektivträger eingesetzt, sondern
auch zum Akteur: Der zuvor vor allem als Bodenbelag beschriebene Wald
richtet sich gleichsam auf: Mit den Richtungsadverbien der „empor“ hor-
chenden Waldblumen, der „seitwärts“ schwebenden Tagfalter, des „in die
Zweige“ schießenden Spechts und der „rückwärtstretenden“ Bäume öffnet
sich ein geometrisch gerasterter Raum. Der Wald – zuvor in seiner Be-
schreibung als „Teppich“ und „Tuch“ vor allem Untergrund – ist nun ein
räumliches Kontinuum. Die Kleider der Mädchen, in der Burg noch als
„Trachtenbau[ ]“ (HKG 1.4, S. 217) mit architektonisch-räumlicher Qua-
lität beschrieben, sind nun die Unterlage für das Lichtspiel des Waldes.
Der Wechsel zwischen den unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien,
den das Lichtspiel dabei markiert, wird mit einem Blick auf die voran-
gehende Einführung der zwei Schwestern in ihrem Burgzimmer deutlich:
Durch Fenster und Tür gerahmt, sitzt Johanna in einem Kleid mit „be-
wusstvoll“ liegenden Falten, an denen jede Schleppe und Buffe „gilt“
(HKG 1.4, S. 217), und arbeitet mit ihrer Schwester am Stickrahmen an
einer Blumenstickerei. (HKG 1.4, S. 221) Fenster- und Türrahmen rufen
dabei den von Leon Battista Alberti in seinem Traktat Della Pittura
(1435/1436) imaginierten Fensterblick als Urszene zentralperspektivischer
Bildkonstruktion auf.9 Der stoffbespannte Stickrahmen lässt einen Bezug
zum Fadengitter oder „velum“, der von Alberti angeratenen Konstrukti-
onshilfe zu, die auch in Dürers Underweysung der Messung (1525, Abb. 1)
zum Einsatz kommt.10
9 Leon Battista Alberti beschreibt das Vorgehen zur Konstruktion der Perspektive wie
folgt: „Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck
von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster,
durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll […]“ (Leon Battista Alberti: Über
die Malkunst, hg., eingel. und übers. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda,
Darmstadt 2002, S. 93). Zur Rolle des Rahmens innerhalb der Erzählung vgl. auch
Kim (Anm. 7).
10 Albrecht Dürer: Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Li-
nien, Ebnen und gantzen Corporen, Nürnberg 1525.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
82
Auch wenn Stickerei kaum darauf zielt, eine Tiefenillusion zu erzeugen,
so funktioniert sie doch nach dem Prinzip der geometrischen Rasterung,
mit dem die Dinge der Welt ihren festen Platz im Koordinatensystem der
Darstellung erhalten. Haben die Schwestern anfangs im Burgzimmer als
darstellende Subjekte Blumen abgebildet, so ist es während der Waldwan-
derung das Licht, das auf ihren Kleidern die grünleuchtenden Schatten der
Blätter erzeugt. Diese Lichtbilder gehorchen einem anderen ästhetischen
Prinzip als die Blumenstickerei: Während der Stickrahmen klar begrenzt
ist und nicht nur die Stickerin, sondern auch das Gestickte räumlich
festsetzt,11 sind die Kleider der Mädchen als Bildfläche genauso wie die
darauf „blitzenden Karfunkel“ und „fliegenden“ Schatten flüchtig und in-
stabil. Diese Lichtflecken und Schatten haben sich von dem Gegenstand,
dem sie ihre Existenz verdanken – dem Blatt – gelöst und bilden ein selbst-
ständiges Muster auf dem Kleiderstoff. Der Schatten funktioniert dabei
nicht in seiner traditionellen künstlerischen Anwendung als zeichnerisches
Mittel zur Illusion von Tiefe und plastischer Form der Figur. Vielmehr
wird er selbst zum Hauptgegenstand der Darstellung. Die beschriebenen
Licht- bzw. Schattenflecke auf dem Stoff bilden keine perspektivische, son-
dern eine unhierarchisch organisierte Bildfläche. Es wird inszeniert, wie
sich die Natur auf dem Stoff im Zusammenspiel von Licht und Blätter-
werk selbst darstellt. Diese Selbstdarstellung der Natur ist keinem kulturell
produzierten Ordnungssystem wie der Zentralperspektive unterworfen,
11 Vgl. zur domestizierenden Funktion der Handarbeit: Sabine Schmidt: Das domesti-
zierte Subjekt. Subjektkonstitution und Genderdiskurs in ausgewählten Werken Adal-
bert Stifters, St. Ingberg 2004. Aus historischer Perspektive vgl. dazu: Alain Corbin:
Wunde Sinne. Über Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahr-
hundert, aus dem Französischen von Carsten Wilke, Stuttgart 1993.
Abb. 1: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes,
Entstehung um 1525, Holzschnitt, Papier
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 83
sondern flüchtiges und flächiges Geflirre.12 Gleichzeitig wird in der ganzen
Anlage der Projektions-Szene deutlich, dass diese Selbstdarstellung wie-
derum nur als komplexer Darstellungs-Akt darstellbar ist.
Im Wald verortete Lichtspiele werden zu einer beliebten Versuchsan-
ordnung in der Malerei der Impressionisten und ihrer Nachfolger. In die-
sem Zusammenhang wäre zum Beispiel an Claude Monets La Lieseuse
(1872, Abb. 2) zu denken, wo der weiße Kleiderstoff des im Gras sitzen-
den Mädchens mit den Lichtflecken gleichsam zum Bild im Bild wird.
12 Betrachtet man die Lichtflecken im Sinne eines Aufscheinens einer Naturkraft, dann
lassen sie sich auch mit dem Begriff des „Unähnlichen“ in Verbindung bringen, das
Georges Didi-Hubermann in den Farbflächen der Verkündigungs-Gemälde Fra Ange-
licos ausmacht: „Unähnlich heißt nicht abstrakt, es heißt nur, daß der Hauch des Mys-
teriums die Ähnlichkeiten in Bewegung setzt, sie agitiert, und sie sich zuweilen selektiv
in bestimmten Zonen, an bestimmten Orten des Gemäldes ‚niederlässt‘ und manifes-
tiert: so an den Fluchtpunkten, Drehachsen, Umhüllungen, Mauerflächen, Rändern
und Säumen, denen wir hier unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Als fruchtbare
Orte für das ‚Vorübergehen‘ des Mysteriums haben sie das faszinierende Vermögen, im
Sichtbaren – in ihm und doch außerhalb von ihm das Ereignis des Visuellen aufschei-
nen zu lassen.“ (Georges Didi-Hubermann: Fra Angelico – Unähnlichkeit und Figura-
tion, aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1994, S. 44)
Abb. 2: Claude Monet: La Liseuse, 1872, Öl auf Leinwand
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
84
Den modernen Charakter solcher Waldlichtspiele hebt Friedrich Kittler
in seiner Vorlesung Optische Medien hervor, wo er bezeichnenderweise ge-
rade „ein von der Sommersonne beleuchtetes Waldstück“ mit seinem „Fli-
ckenteppich aus lauter einander widersprechenden Projektionen“ als Ge-
genmodell zur präzisen Abbildung der Camera Obscura heranzieht.13
Während in der Camera Obscura das einzelne klar begrenzte Loch die
Streulichter abfängt und die Schärfe der Abbildung erzeugt, funktioniert
in dem von Stifter aufgerufenen „Zweiggewölbe“ jede Blätterlücke als ein-
zelne Camera Obscura, so dass eine Vielzahl unscharfer Projektionen ent-
steht: Ein Effekt, der eher die Impressionisten und ihre Nachfolger, als die
„Künstleringenieure“ der Renaissance interessiert habe.14 Maurice Denis
setzt zwanzig Jahre nach Monet in seiner Procession sous les arbres (Abb. 3)
den Schwerpunkt auf die Schatten der Bäume, die annähernd ornamenta-
le Qualität gewinnen und über die Kleider der weiblichen Figuren gelegt,
das Bild mit einer Darstellung in der Fläche überziehen.
Die im All-Over des Lichtspiels anklingende Tendenz zur Flächigkeit
wird im Verlauf der zitierten Textstelle vom Kleiderstoff auf den gesamten
Bildraum ausgedehnt. Die Bäume, die „Stamm an Stamm […] rückwärts“
treten, bilden ein „grünes Gitter“, hinter dem die Körper der Mädchen zu
„weißen Stückchen“ fragmentiert verschwinden. Die Schwestern und mit
ihnen der „in die Tiefe“ tauchende Reiter verlieren sich im Hintergrund
des Waldes, der in diesem Zuge zum Vordergrund wird. Das ästhetische
Spannungsverhältnis von Figur und Grund wurde schon zuvor in Bezug
auf die Stickerei aufgemacht, wo die Arbeit der Schwestern genau verteilt
ist: „Während Johanna an den Blumen arbeitete, begnügte sie sich den
Grund auszufüllen.“ (HKG 1.4, S. 221) Das im Begnügen ausgedrückte
traditionelle hierarchische Gefälle zwischen Figur und Grund wird in der
Waldszene umgekehrt, in der die Figuren mit ihren weißen Kleidern zu-
nächst selbst als Trägergrund für die Lichtbilder fungieren, um sich
schließlich im Grund aufzulösen.15 Nicht eine perspektivische Staffelung
von Figur, Vorder- und Hintergrund, sondern das flächig vorgetretene
Baumgitter organisiert nun den Bildraum. Die senkrecht „Stamm an
Stamm“ stehenden Bäume sind dabei gerade nicht einer auf den Flucht-
13 Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 57.
14 Ebd.
15 Ganz ähnlich wie hier verschwindet auch Angela in den Feldblumen hinter den Bäu-
men, als Albrecht sie im Gespräch mit ihrem Lehrer im Park beobachtet: „Dann wen-
deten sie sich; ich sah noch ihre Hand in seinem Arme liegend – ein dichtbelaubter
Ulmenast stellte sich dann zwischen mich und sie – dann sah ich noch weiße Kleider-
stückchen zwischen dem Baumgitter schimmern und dann nichts mehr.“ (HKG 1.4,
S. 132)
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 85
punkt zielenden Säulenanordnung nachempfunden. Stattdessen machen
sie als Gitter die Konstruktionshilfe perspektivischer Darstellung selbst
sichtbar und verstellen den Blick auf das Dahinter. Während die Stickerei
versucht, das unterliegende rechtwinklige Stoffgitter vergessen zu machen
und darauf annähernd runde Formen zu erreichen, beherrscht das grüne
Baumgitter hier den beschriebenen Bildraum. In konsequenter künstleri-
scher Ausführung findet sich ein solches Baumgitter in Gustav Klimts
Wald-Bildern (Abb. 4), in denen die dichten Stämme eine undurchdring-
liche Fläche bilden, so dass die medialen Bedingungen der Leinwand
ebenso wie die dargestellte Landschaft thematisiert werden.
Dass Stifter weit zaghafteren zeitgenössischen Tendenzen zur Flächig-
keit und Selbstständigkeit von Licht und Farbe kritisch gegenüber stand,
geht besonders deutlich aus seinen regelmäßigen Besprechungen der Ob-
derennsischen Kunst-Ausstellung hervor.16 Die von Stifter abgelehnten
Beispiele bilden jedoch zugleich den ästhetischen Kontext, innerhalb des-
16 In einer Bildbesprechung hebt Stifter lobend über ein Gemälde hervor, dass „[d]ie Bu-
chenstämme des rückwärtsschreitenden Waldes […] ihren Raum leicht und schwe-
bend finden, während sie in neuen Bildern so äußerst gerne sich nur in der Ebene der
Leinwand befinden.“ (HKG 8.4, S. 178) An anderer Stelle kritisiert Stifter Kupfersti-
che, die Schatten als „undurchsichtige Fläche gleichsam wie schwarze[n] Filz“ und als
Abb. 3: Maurice Denis: Procession sous les arbres, 1892, Öl auf Leinwand
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
86
sen und in spannungsreicher Auseinandersetzung mit dem Stifters Schrei-
ben zu betrachten ist.
Im Baumgitter des Hochwalds zeigt sich ansatzweise die Emanzipation
des Gitters von einer Ordnungsstruktur zum Bildgegenstand, wie sie Juliane
Vogel besonders für den Nachsommer festgestellt hat.17 Stifters Gitterbe-
handlung folgt damit einer Tendenz, die Rosalind Krauss als entscheiden-
„dunkle Flecken“ (ebd., S. 52) darstellen oder das „zu starke Spiele mit Lichtern“, da
„es ein Hauptgegenstand statt eines Mittels wird“ (ebd.).
17 Juliane Vogel weist in diesem Zusammenhang auf Heinrichs Vorhaben, das Fenstergit-
ter im Rosenhaus zu zeichnen, hin. Juliane Vogel: Stifters Gitter. Poetologische Dimen-
sionen einer Grenzfigur, in: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realisti-
schen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, hg. von Sabine Schneider und
Barbara Hunfeld, Würzburg 2008, S. 43-58.
Abb. 4: Gustav Klimt: Tannenwald I, 1901, Öl auf Leinwand
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 87
des Prinzip moderner Kunst ausmacht: Gerade das Gitter, das in der
Kunstgeschichte zuerst als künstlerisches Hilfsmittel zur Perspektivkons-
truktion auftaucht, wird zu dem Bildgegenstand der Kunst des 20. Jahr-
hunderts.18 Krauss macht die Erkenntnisse der physiologischen Optik um
1800 als Einsatzpunkt einer Geschichte der modernen Kunst aus. Sie ver-
weist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Chevreul, Blanc,
Rood, Helmholtz und Goethe, die alle die Tatsache hervorheben, mit der
sich die Künstler in dieser Zeit konfrontiert sahen: Das Auge funktioniert
nicht wie ein transparentes Fenster, sondern wie ein Schirm oder ein Filter,
der mit Brechungen und Verzerrungen arbeitet.19 Der Hochwald ist inso-
fern auch die Geschichte einer Krise der Transparenz und der Repräsenta-
tion. Das hat auch Auswirkungen auf die Ausrichtung der Handarbeit der
Mädchen: In der dem Burgzimmer ansonsten „zum Erschrecken“ (HKG
1.4, S. 249) ähnlichen Einrichtung im Waldhaus taucht der zuvor so pro-
minent im Interieur platzierte Stickrahmen nicht mehr explizit auf. Dafür
hat der Vater den Schwestern eine Kiste bereitstellen lassen mit Stoffen von
„Seide, Wolle und Linnen“, die sie „zerschneiden und verarbeiten [mö-
gen], wie sie wollen.“ (HKG 1.4, S. 252) Sie verbringen dann tatsächlich
einige Regentage „an all ihren Stoffen und Kleidern schneidernd, und nä-
hend und ändernd“. (HKG 1.4, S. 258) Das ist kein Gestaltungsakt mehr,
der wie ihre Blumenstickerei zwischen äußerer Wirklichkeit und gerahm-
ter Darstellung vermittelt. Es handelt sich vielmehr um eine Arbeit in der
Fläche, die das vorherige Trägermedium ins Zentrum der Bearbeitung
rückt. In Folge der als authentisch inszenierten Selbst-Darstellung der Na-
tur scheint die Blumenstickerei als defizitäre Form der Naturübersetzung
ausgedient zu haben. Ähnlich wird in den Feldblumen das Sticken rigoros
vom Künstler-Protagonisten Albrecht abgelehnt: Er spricht der Stickerei
jeden künstlerischen Wert ab, für ihn ist sie nichts als ein „todtes Nachste-
chen von Form in Form“.20 Auf der Figurenebene ist vor allem Gregor,
unter dessen Obhut die Mädchen im Wald leben, als Vertreter der sich im
Lichtspiel durchsetzenden Ästhetik des Waldes zu betrachten:
18 Rosalind Krauss: Grids, in: October 9, 1979, S. 50-64.
19 Ebd., S. 57. Vgl. dazu Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and
Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge (MA)/London 1992.
20 HKG 1.4, S. 119. In seinem Bericht zur Obderennsischen Kunst-Ausstellung von
1857 äußert sich Stifter zu neben den Gemälden ausgestellten Flachstickereien, die
„wohl mit Hinblick auf das Materiale und dessen Widerstreben zu künstlerischer Be-
handlung sehr gut genannt werden [dürften]; wir sind aber der Meinung, daß selbst-
ständige Bilder von diesem Materiale, das übrigens dem Ausbleichen ausgesetzt ist,
nicht gemacht werden, und daß Stickereien hauptsächlich ihren Platz zu Verzierungen
und Ausschmückungen haben sollten.“ (HKG 8.4, S. 195)
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
88
Ja, Gregor malte ihnen schon die künftige Winterschönheit vor: an heiteren
Tagen das Glänzen und Flimmern, das Leuchten, Spiegeln hier und dort
und oben und unten, ein durchbrochner Eispallast der ganze Wald, zart wie
das Spitzengewebe ihres Kleides, ja tausendmal zarter hängend von Zweig
zu Zweig, […]. (HKG 1.4, S. 301)
Auch hier sind wieder die zwei Akteure der Lichtspielszene aufgerufen: Das
Licht in seinen flüchtigen Erscheinungen von Glänzen, Flimmern, Leuch-
ten und Spiegeln sowie der Stoff beziehungsweise hier das Spitzengewebe
werden zum Bildgeber für den vereisten Wald. In Gregors Winterwaldbe-
schreibung verlieren die Richtungsbegriffe durch die polysyndetische Rei-
hung von „hier und dort und oben und unten“ ihre klare
Zuordnung.
Auch die sprachliche Struktur bildet gleichsam ein Spitzenmuster ab, das
ohne syntaktische Hierarchie potentiell endlos weiterzuführen wäre. Mit
der Spitze wird hier eine besonders konsequente Ausprägung textiler Flä-
chigkeit aufgerufen.21 Die Spitze hat sich völlig von der traditionellen
Funktionalisierung des Textilen als zu tilgende Hülle eines essentiellen
Kerns gelöst. In ihrem durchlöcherten Muster wird aller Gehalt ins Offene
versteckt und somit das Dahinter des Sinns eliminiert.22
Als Beispiel reiner Textur zieht die Spitze auch das Interesse der frühen
Photographie auf sich. Textilien, die in der Kunst jahrhundertelang als
faltenreiche Draperie zur Inszenierung der Tiefenillusion gedient haben,
werden in den Arbeiten William Henry Fox Talbots zum unabhängigen
Bildgegenstand. Die konstitutive Rolle der Löcher im Wechselspiel von
buchstäblich Stofflichem Etwas und Nichts macht die Spitze zum Vexier-
gegenstand zwischen Materialität und Immaterialität. Eine 1841 in einem
Negativ-Verfahren entstandene photogenische Zeichnung Talbots zeigt
ein Stück Spitze neben drei Mooszweigen (Abb. 5) und erinnert insofern
auch an die Sammlungs- und Aufzeichnungsverfahren des Nachsommers,
in denen, wie Bernd Stiegler gezeigt hat, die vergleichende Beschreibung
von Oberflächen zum zentralen Prinzip wird.23 Talbots Fotografie behan-
delt Spitze und Moos sowie ihre jeweiligen Details gleichwertig; das Bild
21 Besondere Bedeutung kommt der Spitze schließlich bei Rilke zu. In den Aufzeichnun-
gen des Malte Laurids Brigge wird die Betrachtung von Spitzen zum ästhetischen Ereig-
nis. In den Spitzen-Gedichten werden Produktion und Rezeption der Spitze als Kunst-
werk verhandelt.
22 Zur textil geprägten Versteckmotivik vgl. Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Dar-
stellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters, München
1992, S. 57-81.
23 Zum photographischen Charakter der detaillierenden Schreibweise Stifters: Bernd
Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahr-
hundert, München 2001.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 89
ist und zeigt Fläche. Insofern funktioniert es als Beispiel für das in Stifters
vielzitierter Ablehnung der Photographie implizit durchaus anklingende
spezifische Potential der neuen Technik: „Im Ganzen bin ich den Photo-
graphien feind, sie müssen außer Verhältnis sein, weil jede Sammellinse
nur treue Bilder gibt, wenn der Gegenstand nicht in der Raumtiefe son-
dern in einer Ebene ist, die parallel der Linsenbreite ist“.24 Bei aller Kritik:
Realitätstreue Darstellung ist mit der Photographie demnach dann mög-
lich, wenn sie sich vom perspektivischen Paradigma löst und zu einer An-
gelegenheit der Fläche wird. Auch wenn Stifter selbst das Flächenhafte
immer wieder als unkünstlerisch verwirft, ist sein Schreiben auf verschie-
denen Ebenen von der sich im 19. Jahrhundert ausbildenden Ästhetik der
Oberfläche geprägt.
Mit dem Auftauchen von Clarissas Geliebtem, dem Schwedenprinzen
Ronald, wird noch einmal fast mahnend das ehemalige Organisationsprin-
24 Adalbert Stifter an Gustav Heckenast, 20. Juli 1857, in: Sämtliche Werke, Bd. 19, hg.
von Gustav Wilhelm, Reichenberg 1919, S. 35.
Abb. 5: William Henry Fox Talbot: Moos und Spitze,
1835/1839, photogenische Zeichnung
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
90
zip des Fensters aufgerufen, doch nur noch in schattenhafter Präsenz,
wenn es heißt: „Es war die fünfte Nacht nach dem Schusse des Geiers – der
abnehmende Mond stand am blauen Nachthimmel, und malte die Fens-
tergitter auf die Sessel und Bettvorhänge der Mädchen“. (HKG 1.4,
S. 276) Das Fenster ist hier nicht mehr transparentes Medium der Durch-
sicht, sondern sein Gitter legt sich als Schatten auf die opaken Einrich-
tungsstoffe und hat teil an einer Blickanordnung der Draufsicht. Der Ver-
lust der Transparenz kommt besonders zum Tragen, als die über das
Fernrohr hergestellte Blickverbindung zur väterlichen Burg durch das ver-
deckende Wölkchen abreißt. Es ist das Flüchtige, Instabile und beunruhi-
gend Gestaltlose, das die große Geschichte, das große Blutvergießen ver-
deckt.25 Dieser Paradigmenwechsel von Transparenz zu Opazität bestimmt
auch den katastrophischen Ablauf der Schlacht: „War es nun Verblendung,
war es Verhängniß“, wie der Ritter Bruno in seinem Bericht nach der
Rückkehr der Mädchen in die zerstörte Burg, offen lässt, „wir verstanden
die Zeichen des Jünglings nicht.“ (HKG 1.4, S. 314) Ist das Funktionieren
des Zeichens gebunden an die Transparenz auf sein Bedeutetes hin, so
werden hier die Zeichen unverständlich.26 Die in der Eingangsszene so
wichtigen Fenster der Burg sind am Ende der Erzählung zerstört und not-
dürftig verklebt, so dass sich Clarissas Aufforderung „Bruno, lasset uns ein
Fenster machen“ (HKG 1.4, S. 316) als der verzweifelte Wunsch einer
wahrnehmungstechnischen Rückermächtigung lesen lässt. Doch was letzt-
lich bleibt, ist der zeichenlose Grund: Kein Grabstein markiert auf dem
Burggelände die Grabstätte der Schwestern und auch im Hochwald sind
alle Spuren ihrer ehemaligen Präsenz getilgt, das Waldhaus wurde von Gre-
gor angezündet und „die Stelle“, von ihm mit „Waldsamen“ bestreut, ist
wieder vollständig überwachsen (HKG 1.4, S. 318). Was für die Figuren
im Hochwald krisenhaftes Scheitern einer Wahrnehmungskonzeption ist,
bereitet zugleich den Grund für eine im späteren Werk umgesetzte Dar-
stellungsweise, die den ästhetischen und epistemologischen Eigenwert der
Fläche anerkennt.
Vom Haufen zur Rose
Die Versuchsanordnung für das Lichtspiel in der Mappe meines Urgroßva-
ters unterscheidet sich grundsätzlich von der Lichtspielszene im Hochwald:
Während die Szene dort faktisch in einem Außenraum verortet ist und nur
25 Vgl. dazu der Beitrag von Jana Schuster in diesem Band.
26 Vgl. zum Verhältnis von Zeichen und Transparenz Begemann (Anm. 7), S. 74.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 91
innerhalb der textinternen Beschreibungslogik durch das „Zweiggewölbe“
in das Innere des Waldes eintritt, dringt das Licht in der Mappe meines
Urgroßvaters tatsächlich vom Außen- in den Innenraum. Innerhalb der
Mappe ist das Lichtspiel Teil der Binnenerzählung des Obristen, in der er
Augustinus seine Lebensgeschichte mitteilt und damit die Begründung
liefert, wie er zum „sanftesten Menschen“ (HKG 1.5, S. 44) werden konn-
te.27 Von der Totenwache bei seiner verunglückten Frau sagt er:
Ich habe in ihrem Zimmer keine Wachslichter anzünden und keine schwar-
zen Tücher spannen lassen, sondern ich hatte die Fenster geöffnet, daß die
freie Luft herein sah. An dem ersten Abende waren an dem Himmel drau-
ßen viele rothe Lämmerwolken gewesen, daß im Zimmer lauter rothe sanfte
Rosen schienen; und Nachts, wenn die Lampe brannte, waren weiße auf ih-
ren Geräthen, und auf ihren Kleidern […]. (HKG 1.5, S. 61)
Mit den von der Abendsonne rot gefärbten Wolken ist hier in das Licht-
spiel ein zusätzliches Trägermedium eingebunden. Was draußen von der
Abendsonne angestrahlte „Lämmerwolken“ sind, wird vom Obristen drin-
nen als „sanfte Rosen“ auf den Oberflächen des Innenraums wahrgenom-
men. Im Verlauf der Totenwache lösen sich die Lichtbilder noch weiter
von ihrem realen Referenten: An die Stelle des natürlichen Tageslichts tritt
in der Nacht eine künstliche Lichtquelle, die nun auch ohne die schatten-
werfenden Wolken auf Möbel- und Kleideroberfläche Lichtflecken er-
zeugt, die (durch die Auslassung indirekt) auch als „weiße“ Rosen bezeich-
net werden. Im Lichtspiel werden optische Phänomene atmosphärischer
Weite auf die materiellen Oberflächen des Innenraums übertragen. Zu-
gleich markiert die Szene den Abschied von der Verstorbenen: Die Visua-
lität des Lichtspiels betont den endgültigen Charakter dieser letzten Stun-
den von Sichtbarkeit. Dem wird das Begräbnis als Versenken des Leichnams
in die Erde in aller Härte entgegen gesetzt, wenn es heißt: „Dann thaten
sie sie in die Erde, und warfen Schollen auf sie.“ (HKG 1.5, S. 61)
Während die direkte Selbstdarstellung der Lichtflecken im Hochwald
ein Aufblitzen und schattenhaftes Vorüberfliegen ist, scheint hier durch
die zwischengeschaltete Wolke ein für den Obristen als Rose benennbares
Gebilde auf, das für die Dauer der Totenwache – auch unter Wechsel der
Beleuchtung und der Farbe – für ihn Rose bleibt. Was hier zur Darstellung
gebracht wird, ist zunächst ein nach dem Prinzip der Ähnlichkeit gleich-
27 Zur „Verhaltensnorm der Sanftmut“ vgl. Wolfgang Lukas: Geschlechterrolle und Er-
zählerrolle. Der Entwurf einer neuen Anthropologie in Adalbert Stifters Erzählung
„Die Mappe meines Urgroßvaters“, in: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmal-
pfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk, hg. von Hartmut Laufhütte
und Karl Möseneder, Tübingen 1996, S. 374-394.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
92
sam über die Achse des Fensters organisierter metaphorischer Übertra-
gungs-Vorgang: Was Wolke ist, wird Rose. Und die Lichtrosen auf den
Kleidern der nicht umsonst namenlosen Frau des Obristen übertragen sich
in der körperlichen Nähe wiederum metonymisch auf sie und ihre Toch-
ter, wenn der Obrist am Ende der Szene über die gemeinsame Tochter
Margarita sagt: „Auf ihrem Munde war die Knospe der Rose, die sie eben
begraben hatten, und in dem Haupte trug sie die Augen der Mutter.“28
(HKG 1.5, S. 62) Hier wird das sprachliche Bildgebungsverfahren als sol-
ches in seinen Einzelschritten offen gelegt. In der auf Einfachheit und
Klarheit der Beschreibung zielenden Sprache der Mappe kann das sprach-
liche Bild nicht einfach von dem selbstbeherrschten und um Objektivität
bemühten Subjekt gesetzt werden. Stattdessen wird es über äußere Vorgän-
ge hergeleitet.
Der im Lichtspiel prozesshaft dargestellte Akt der Metaphorisierung hat
seinen Anfang schon im tödlichen Unfall der Frau. Bei einer gemeinsamen
Wanderung des Paars führt die Orientierung im Raum entlang des Prin-
zips der Ähnlichkeit buchstäblich auf den Holzweg:
Im Nachhausegehen verirrten wir uns ein wenig; denn die Aehnlichkeit der
Wände und Spalten hatte uns getäuscht. Wir stiegen in dem Gerölle eines
ganz fremden Sandstromes nieder, ob er uns etwa in das Thal abführe, oder
ob er jäh an einer Wand aufhöre und uns stehen lasse. Das Letztere geschah
auch; denn als wir um einen Felsen herum wendeten, sahen wir es plötzlich
vor unseren Augen luftig blauen; der Weg riß ab, und gegenüber glänzte
matt röthlich eine Kalkwand auf welche die Strahlen der schon tief stehen-
den Sonne gerichtet waren […]. (HKG 1.5, S. 56)
Die zu überwindende Kluft wird durch einen schmalen Steg zum Trans-
port von Holz, eine sogenannte „Holzriese“, verbunden. Doch bei der
Überquerung stürzt die Frau des Obristen in die Tiefe. Der Verlust des
Lebens vollzieht sich dabei zugleich als eine Auflösung der körperlichen
Gestalt. Der Holzknecht, der die beiden begleitet hat, sagt über den Ab-
sturz der stets weiß gekleideten Frau, es sei „[w]ie ein weißes Tuch […] an
seinen Augen vorüber gegangen.“ (HKG 1.5, S. 58) Das fallende weiße
Tuch durchmisst hier den leeren Raum in der Vertikalen. Auf dem Grund
des Abgrunds fällt die Fläche mit der Tiefe zusammen. Dort „auf dem
Grund“ findet der Obrist denn auch am nächsten Tag die Leiche seiner
Frau, die nur noch als „ein Häufchen weißer Kleider“ bezeichnet wird.
(HKG 1.5, S. 59) Der Tod der Frau stellt sich im unförmigen „Häufchen“
28 Auch die „Vorliebe für die weißen Kleider“ (HKG 1.5, S. 187) erbt Margarita von ihrer
Mutter, womit die projektiv besetzbare Kleiderhülle an die Stelle eines bestimmten
Wesenszugs tritt.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 93
als ein Verlust der Einheit von Stoff und Form, Körper und gestaltbilden-
der Hülle dar. Die bloße Stofflichkeit des toten Körpers gewinnt Ausdruck
im Stoffhaufen, wobei mit diesem zugleich jede Körperlichkeit getilgt
wird. Das Kleid – nun ohne die Tiefendimension des in ihm ausgedrück-
ten Körpers, ist offen für eine neue Besetzung mit Bedeutung, die sich in
der Überblendung mit den Lichtflecken vollzieht. Der Übergang zwischen
Formlosigkeit und Form wird während der Totenwache im Bild der Wolke
verdoppelt. Die Wolke als grundsätzlich instabiles Gebilde gewinnt in der
klassifizierenden Benennung als „Lämmerwolke“ bereits an Form.29 Der
physikalisch nicht ganz nachvollziehbare Übergang von der Wolke zum
Rosen-Lichtbild kann als ein weiterer Schritt der Formfixierung gewertet
werden. Der Haufen wird mit der Aufbahrung der Frau in ihrem „weißen
Gewande, das sie sonst hatte“ wieder zur glatten Oberfläche gerichtet.
(HKG 1.5, S. 61) So wie die wiederhergestellte Oberflächeneinheit die
Bedingung für das Lichtspiel bildet, macht dieses umgekehrt auch die
Oberfläche als eine solche sichtbar. Das Lichtspiel markiert dabei den Ver-
such der mit der Aufbahrung betriebenen Reintegration in ein zeichenhaf-
tes Ordnungssystem.30
Entgegen der Lichteffekte der Plötzlich- und Flüchtigkeit im Hochwald
arbeiten die Protagonisten der Mappe an einer Milderung, Abschwächung
und Besänftigung von Lichteffekten, für die besonders die weißen Vorhän-
ge zentral sind.31 Im Zuge seiner Einrichtung in der Hütte seines Vaters
schreibt Augustinus:
Nachmittag schien die Sonne recht freundlich in das Gemach, ich zog die
Vorhänge zu, wenn ich nach Hause kam, und dann war es dämmerig und lieb
um alle Dinge, weil weiße Vorhänge das Licht nicht brechen, sondern blos
milder machen; nur daß doch hie und da ein Sonnenstrahl hereinbrach und
einen Blitz auf den weißen Boden legte. (HKG 1.5, S. 78)
Die Stofffläche funktioniert hier als transluzider Filter, mit dem der Dok-
tor seinen Schreib- und Denkraum in ein gleichmäßiges, gezähmtes Licht
29 Vgl. Marianne Schuller: Über Wolken. Zu Goethe, in: Transmission. Übersetzung –
Übertragung – Vermittlung. Traduction – Transfer – Méditation (Festschrift für André
Michels), hg. von Georg Mein, Berlin 2010, S. 249-259.
30 Zur Funktion von Textilien in der Totenpflege vgl. den Band von Karen Ellwanger u.a.
(Hg.): Das „letzte Hemd“. Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiel-
len und visuellen Kultur, Bielefeld 2009.
31 Im Zuge von Augustinus’ Bauprojekt werden die weißen Vorhänge mehrfach erwähnt.
Über die Einrichtung der Hauskapelle, deren Bau er nach dem Zerwürfnis mit Marga-
rita in Angriff nimmt, heißt es explizit: „Über die Fenster sollte doppelte mattweiße
Seide gespannt werden, daß in der Hauskirche so sanfte Dämmerung sei, wie in der
großen.“ (HKG 1.5, S. 198)
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
94
tauchen kann. Bis auf die mit dem Semikolon angefügte Einschränkung,
dass mit dem blitzartigen Sonnenstrahl „hie und da“ doch buchstäblich
die Realität hereinbricht. Dieser Lichtblitz auf dem weißen Boden zeigt
an, dass die Natur trotz aller Arbeit der Figuren an Gleichmäßig- und
Gleichförmigkeit das letzte Wort behält. Entsprechend könnte auch der
Beginn der Erzählung, der als Rahmen zeitlich den Ausgang der Geschich-
te markiert, als Triumph des Stoffs über die Form gelesen werden. Dort
erinnert sich der Erzähler, als Kind mit einem formlosen „Lappen“ gespielt
zu haben, der früher vielleicht einmal ein Kleid war und dabei „Margare-
tha, Margaretha“ gesungen zu haben. (HKG 1.5, S. 16)
Schluss
In der Waldwiesenquerung des Hochwalds wie in der Aufbahrungsszene
der Mappe wird mit der Überlagerung von Licht und Stoff der Übergang
zwischen zwei Sphären anschaulich: Das ist im Hochwald der Rückzug in
den Innenraum der Natur – in der Mappe der Wechsel zwischen Leben
und Tod beziehungsweise zwischen Tod und Nach-Leben. Mit der Licht-
Projektion wird die darstellerische Vermittlung zwischen den zwei Sphären
weniger in einem Raum ausgetragen, der sich zwischen einem fern und
nah aufspannt, als vielmehr auf die Grenze selbst, auf die Oberfläche ver-
legt. Dabei ist es gerade der weiße Stoff, der wie die weiße Leinwand oder
das weiße Blatt dem visuellen Erscheinen den materiellen Grund berei-
tet.32
Darüber hinaus funktionieren die Lichtspielszenen als Umschlagspunkte,
an denen zwischen unterschiedlichen wahrnehmungs- und darstellungs-
technischen Konzepten vermittelt wird: Zu Beginn des Hochwalds wird
auf Erzähler- wie Figurenebene eine Darstellungsform etabliert, die sich
mit Rahmen und Fenster an einem zentralperspektivischen Modell
der Bildorganisation orientiert. Innerhalb dessen wird mit der Blumen-
Stickerei ein der Nachahmung von Form verpflichteter Gestaltungsakt
32 Auf die metapoetische Funktion der weißen Flächen bei Stifter ist an verschiedenen
Stellen hingewiesen worden: Vgl. dazu Claudia Öhlschläger: Weiße Räume. Transgres-
sionserfahrungen bei Adalbert Stifter, in: Jahrbuch des Adalbert Stifter Institutes des
Landes Österreich 9/10, 2002/2003, S. 55-68, hier: S. 62. In Bezug auf das weiße Lei-
nen im „Kalkstein“ vgl. Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei
Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, Bozen 1996; Elsbeth Dangel-Pelloquin:
Weiße Wäsche. Zur Synthese von Reinheit und Erotik bei Keller und Stifter, in:
Schneider/Hunfeld (Anm. 16), S. 143-156; Juliane Vogel: Mehlströme/Mahlströme.
Weißeinbrüche in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Weiß, hg. von Wolfgang Ull-
rich und Juliane Vogel, Frankfurt a. M. 2003, S. 167-193.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 95
aufgerufen. In Folge der Übersiedelung in den Wald und im Moment des
Lichtspiels verdichtet, wird eine Verschiebung der Konzeption von Wahr-
nehmung und Darstellung deutlich: Die Selbstdarstellung der Natur, ist
nicht der Ähnlichkeit von Original und Abbild verpflichtet, wenn Blätter
zu Karfunkeln werden. Die Hierarchie von Figur und Grund wird aufge-
hoben. Die Position des Menschen als gestaltendem Subjekt im organisa-
torischen Zentrum des Abbildungsprozesses wird in Frage gestellt.
Dagegen funktioniert das Lichtspiel in der Mappe in umgekehrter
Richtung: Auf die vom Obristen im Anblick des Kleiderhaufens erfahrene
Formlosigkeit schließt das auf allen Ebenen betriebene Bemühen der Figu-
ren um Herstellung von Form, um Bändigung und Zähmung der Natur,
wie sich selbst an. In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, dass
Margarita bindende und bändigende Blumen-Stickereien für das Zaum-
zeug von Augustinus’ Rappen anfertigt, (HKG 1.5, S. 170) während im
Hochwald die Stickerei mit der Übersiedelung in den Wald nicht mehr
erwähnt wird. Dabei ist die Arbeit der Figuren an Ordnung und Form
nicht als eine Rückermächtigung der eigenen Gestaltungsmacht zu wer-
ten, sondern vielmehr der Versuch bewusster Zurücknahme des subjektiv
gefärbten Blicks.
Das Zusammenspiel von Licht und Stoff ist in Stifters Werk durchge-
hend präsent. Im superlativischen Weiß des Leinens im Kalkstein wird dem
Stoff eine gleichsam aus sich selbst generierte Leuchtkraft zugesprochen. Im
Nachsommer werden Textilien und ihr spezifisches Lichtverhalten zum äs-
thetischen Vergleichswert: Der Perle als schönstem Schmuck des Menschen
spricht Heinrich Drendorf einen „sanft umflorten Seidenglanz[ ]“ zu.
33
Als
Kern par excellence erhält die Perle ihren ästhetischen Wert im Vergleich mit
der Hülle. Seidenglanz ist dabei aber nicht bloßes „Schimmern“, es ist nicht
der „inhaltleere spröde harte Glanz“, den er künstlichen Edelsteinen vor-
wirft. Nur die echten Steine, wie der Rubin mit seinem „rosensamtnen
Lichtblicke“ verfügen über die „reiche[ ] Tiefe und Milde“.34 In idealisti-
scher Rhetorik wird Tiefe hier im Vergleich mit den Lichteffekten textiler
Oberflächen hergestellt.
35
Die metaphorische textile Oberfläche wird so
zum
Darstellungsmittel von Tiefe, Geist und Innerlichkeit.
Was metaphorisch aufgeht, wird in der Beschreibung konkreter Mate-
rialien jedoch schwieriger: Die schrittweise restaurative Enthüllung der
33 HKG 4.2, S. 257.
34 Ebd., S. 256.
35 Vgl. Franziska Schößler: Rahmen, Hüllen, Kleider und das Phantasma der Durchsich-
tigkeit. Verschwindende Medien in Stifters „Nachsommer“, in: Rhetoriken des Ver-
schwindens, hg. von Tina-Karen Pusse, Würzburg 2008, S. 105-120.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
KIRA JÜRJENS
96
Marmorstatue bringt immer neue Hüllen hervor, wenn sie sich am Ende
gerade durch die besondere Behandlung ihres Kleides auszeichnet, von
dem man meint, „man könnte es falten und in einen Schrein verpacken“.36
Diese Verselbstständigung der Stoffe geht auf der Inhaltsebene mit einem
von den Figuren anerkannten Eigenwert des textilen Materials einher.37
Der Freiherr von Risach äußert die Idee zu einer Sammlung kostbarer
Stoffe, die er selbst jedoch „zu spät angefangen“
habe und die, vom jünge-
ren Roland fortgeführt, explizit zum Zukunftsprojekt wird.
38
Dem textilen
Kunsthandwerk kommt dabei ein kunstähnlicher Status zu, wenn Risach
die Seidenweberei als einen „Zweig des Alterthumes, der beinahe ein Zweig
der Kunst sei“ bezeichnet.
39
Von einer solchen Sammlung verspricht er sich
historische, ästhetische und ethnologische Erkenntnisse. Zur vergleichen-
den Untersuchung zusammengeführt, gewännen die Stoffe an „Sprache
und Bedeutung“.
40
In einer Sprache der Stoffe ist Bedeutung nicht mehr in
einer unter dem Stoff
verborgenen Tiefendimension zu suchen, sondern
die Stofffläche selbst trägt alle Informationen in sich. Für den Nutzen einer
„textilischen Sammlung“ spricht sich auch der Architekt und Kunsttheo-
retiker Gottfried Semper im Anschluss an die Londoner Industrieausstel-
lung von 1851 in dem Aufsatz Wissenschaft, Industrie und Kunst (1852)
aus.41 Ganz im Sinne einer solchen Sammlung beschäftigt er sich im ersten
Band seines Hauptwerkes Der Stil in den technischen und tektonischen
Künsten (1860) mit der systematischen Erfassung textiler Materialien und
Techniken, die – so seine ese – den Ursprung aller künstlerischen Tätig-
keit bilden.42 Während das Textilarchiv im Nachsommer zu keinem Ab-
36 HKG 4.2, S. 74. Zur Textbewegung von Ent- und Verhüllen vgl. Joseph Vogl: Der Text
als Schleier. Zu Stifters Der Nachsommer, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesell-
schaft 36, 1993, S. 298-312.
37 Eine auf die Materialität konzentrierte Lesart der Textilien im „Nachsommer“ und an-
deren Texten findet sich bei Doerte Bischoff: Stifters Stoffe. Zwischen Fetischisierung
und Performativität, in: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur,
Kunst und Philosophie, hg. von Thomas Strässle und Caroline Torra-Mattenklott,
Freiburg i.Br. 2005, S. 95-117.
38 HKG 4.3, S. 133.
39 Ebd.
40 Ebd., S. 134.
41 Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung natio-
nalen Kunstgefühles bei dem Schlusse der Londoner Industrieausstellung, Braun-
schweig 1852, S. 64f.
42 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder prakti-
sche Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Band 1, Die
textile Kunst – für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a.M.
1860. Die Theorie einer textilen Urkunst formuliert Semper bereits in: Die vier Ele-
mente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde, Braunschweig 1851,
S. 56. Zu Sempers Architekturtheorie als ästhetikgeschichtlichem Kontext von Stifters
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
LICHTSPIELE 97
schluss kommt, werden Textilien im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Rah-
men von Produktsammlungen, Industrieausstellungen und den neu
gegründeten Kunstgewerbemuseen tatsächlich zum sammel-, klassifizier-
und ausstellungswürdigen Gegenstand.43 Im Zuge der Aufwertung des
Kunsthandwerks werden Textilien zum Impulsgeber für die moderne
Kunst und Ästhetik.44 Joseph Masheck prägt in diesem Zusammenhang
den Begriff „Carpet Paradigm“.45 In einem Aufsatz mit diesem Titel zeigt
er anhand des Teppichs, wie Textilien in den Fokus kunsttheoretischer
Schriften rücken und zur wichtigen Vergleichsgröße in einer Konzeption
von Malerei werden, die die Leinwand in ihrer Stofflichkeit zum Gegen-
stand der Darstellung macht und nicht mehr als transparentes Fenster ver-
schwinden lässt.
Mit den Lichtspielen wird der für die wissenschaftliche wie künstleri-
sche Darstellung gleichermaßen zentrale Übersetzungsvorgang von kör-
perlicher Wirklichkeit auf ein flaches Trägermedium thematisiert, mit dem
sich auch Stifters Künstler-Protagonisten konfrontiert sehen. Auch wenn
diese stets mit der Darstellung von Tiefenillusion ringen, wird in den Tex-
ten zugleich eine Darstellungsform profiliert, die sich von einem auf
scheinbare Durchsicht angelegten Trägermedium verabschiedet. Wie die
landwirtschaftlichen, topographischen und restauratorischen Bemühun-
gen der Protagonisten um Einebnung, Aufzeichnung und nahtlose Verfu-
gung etablieren auch die textilpraktischen Prozesse des Bleichens, Glät-
tens, Deckens und Faltens in sich bedeutsame Flächen. Die Textbewegung
zielt dabei nicht nur auf Enthüllung, sondern gerade die Verhüllung unsi-
cherer Tiefen wird zum konstitutiven Moment. In der Annäherung texti-
ler Fläche an den Grund gilt es den Abgrund zu minimieren, die Differenz
zwischen Oberfläche und Tiefe zu tilgen und in der Fläche alle Eigenschaf-
ten, alle Bedeutung aufscheinen zu lassen.
„Narrenburg“: Hans-Georg von Arburg: Wie Figura zeigt. Zur Kritik allegorischer Li-
teraturinterpretation am Beispiel von Adalbert Stifters Erzählung „Die Narrenburg“,
in: Text-Architekturen. Die Baukunst der Literatur, hg. von Robert Krause und Evi
Zemanek, Berlin 2014, S. 65-83.
43 Vgl. dazu Roman Sandgruber: Narretei und Industrie. Adalbert Stifter und die Dinge
des Biedermeier, in: Sanfte Sensationen. Stifter 2005, Beiträge zum 200. Geburtstag
Adalbert Stifters, hg. vom Johann Lachinger u.a., Linz 2005, S. 85-94.
44 Der bedeutenden Rolle von Textilien in der Kunst der Moderne hat sich zuletzt eine
Ausstellung des Kunstmuseums Wolfsburg näher gewidmet: Markus Brüderlin (Hg.):
Kunst+Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute (Kunst-
museum Wolfsburg, 12.10.2013 – 02.03.2014; Staatsgalerie Stuttgart, 21.03.2014 –
22.06.2014), Ostfildern 2013.
45 Joseph Masheck: The Carpet Paradigm. Critical Prolegomena to a Theory of Flatness,
in: Arts Magazine 51/1, 1976, S. 82-109.
Kira Jürjens - 9783846761717
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM
via Humboldt-Universitat zu Berlin
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
via Humboldt-Universitat zu Berlin Marmorstatue bringt immer neue Hüllen hervor, wenn sie sich am Ende gerade durch die besondere Behandlung ihres Kleides auszeichnet, von dem man meint, "man könnte es falten und in einen Schrein verpacken
  • Heruntergeladen Von Brill
Heruntergeladen von Brill.com11/15/2020 11:11:12AM via Humboldt-Universitat zu Berlin Marmorstatue bringt immer neue Hüllen hervor, wenn sie sich am Ende gerade durch die besondere Behandlung ihres Kleides auszeichnet, von dem man meint, "man könnte es falten und in einen Schrein verpacken". 36
Nachsommer" und anderen Texten findet sich bei Doerte Bischoff: Stifters Stoffe
Eine auf die Materialität konzentrierte Lesart der Textilien im "Nachsommer" und anderen Texten findet sich bei Doerte Bischoff: Stifters Stoffe. Zwischen Fetischisierung und Performativität, in: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, hg. von Thomas Strässle und caroline Torra-Mattenklott, Freiburg i.Br. 2005, S. 95-117.