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Lena Abraham / Kira Jürjens
Edith Anna Kunz / Elias Zimmermann
(Hgg.)
Fenster – Korridor – Treppe
Architektonische Wahrnehmungsdispositive
in der Literatur und in den Künsten
AISTHESIS VERLAG
Bielefeld 2019
Sonderdruck aus:
Kira Jürjens
Fenster mit Draufsicht
Opake Fenster-Szenen im 19. Jahrhundert
Mit dem Fenster in Literatur und bildender Kunst sind immer auch Fragen
der Ausrichtung, der Bedingungen und der Ordnung von Wahrnehmung,
Erkenntnis und Darstellung angesprochen. Dafür scheint die alltagsprak-
tisch so zentrale Transparenz des Fensters zweitrangig : Als Medium wird das
Fenster besonders dann interessant, wenn es nicht die störungsfreie Durch-
sicht gewährleistet, sondern wenn es in seiner Materialität in den Fokus der
Aufmerksamkeit gerät und zum verhängten, versehrten oder zugefrorenen
Gegenstand der Draufsicht wird. Diese Konguration lässt sich in künst-
lerischen, literarischen und wissenschalichen Fensterblicken des 19. Jahr-
hunderts verfolgen. Ein frühes Beispiel für den Übergang vom Fenster mit
Aussicht zum Fenster mit Draufsicht bildet Annette von Droste-Hülshos
um 1825 entstandenes Prosafragment Ledwina.1 In diesem in vielerlei
Hinsicht als Schwellen-Text zu charakterisierendem Fragment werden mit
transparenten und opaken Fensterszenen die beiden Pole möglicher Fens-
terwahrnehmung aufgerufen.2 Diese sollen im Folgenden näher untersucht
und in einem größeren ästhetischen und populär-wissenschalichen Kon-
text verortet werden. Dabei geht es nicht um eine weitere Vordatierung der
Moderne, sondern vielmehr darum die einfallende Opazität der Fenster als
1 Im Folgenden wird aus nachstehender Ausgabe direkt im Text mit der Sigle L
zitiert: Annette von Droste-Hülsho. „Ledwina“. Historisch-Kritische Ausgabe.
Werke. Briefwechsel. Hg. Winfried Woesler. Tübingen: Niemeyer, 1978-2000.
Bd.V.1. Ledwina entstand in verschiedenen Arbeitsphasen über einen Zeitraum
von mindestens sechs Jahren. Der Beginn der Niederschri in einer nicht erhalte-
nen Vorstufe fällt in das Jahr 1820. Die erhaltene Handschri entstand zwischen
Herbst 1820 und Winter 1825/26. Ein Entwurf für eine Fortsetzung ist nach dem
Sommer 1826 entstanden. Zur Datierungsfrage vgl. HKA V.2, S.581-585.
2 Ronald Schneider hat gezeigt, wie in Ledwina einzelne Partien in die roman-
tisch-empndsame Traditionen zurückweisen, während andere bereits auf den
Familien- und Gesellschasroman des literarischen Realismus der zweiten Jahr-
hunderthäle vorausweisen. Ronald Schneider. Realismus und Restauration.
Untersuchungen zu Poetik und epischem Werk der Annette von Droste-Hülsho.
Kronberg/Ts.: Scriptor, 1976. S.100-106.
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diskursübergreifendes Phänomen herauszustellen, das nicht erst eine ‚Ern-
dung‘ der symbolistischen ,Avantgarde‘ war.
Die Bedeutung des Wechsels von Blickanordnungen der Durch- zu sol-
chen der Draufsicht für die Entwicklung der modernen Kunst hat Rosalind
Krauss 1978 in ihrem Aufsatz Grids gezeigt.3 Krauss macht am Beispiel der
von Gittern und Rastern geprägten Werke von Mondrian bis Agnes Mar-
tin das Gitter als emblematische Struktur modernistischer Ambitionen aus:
Es halte die Kunst von narrativen Elementen frei und lenke, anstatt auf ein
Anderes zu verweisen, die Aufmerksamkeit auf die Fläche der Leinwand.
Krauss führt das künstlerische Interesse am Gitter bis zu den romantischen
Fenster-Bildern des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Aber erst in der Auf-
nahme des Fenster-emas in der Kunst und Dichtung der Symbolisten
schlage das Fenster-Motiv, Krauss zufolge, eine explizit moderne Richtung
ein, indem das Fenster in den Bildern Odile Redons und den Gedichten
Stéphane Mallarmés gleichzeitig als opak und transparent erfahren werde.4
Doch bereits die Fenster-Darstellungen Caspar David Friedrichs (Abb. 1)
zeigen eher Szenen des Ausblicks denn Ausblicke selbst. Mit Rahmen, Fens-
terkreuzen und einzelnen blinden Scheiben schließen diese Fenster vielmehr
den Bildraum, als dass sie landschaliche Weiten erönen. Das Fenster hat
hier bereits einiges an Transparenz eingebüßt.
Transparenz war das zentrale Merkmal des oenen Fensters, das Leon
Battista Alberti im Traktat Della Pittura (1435/36) zu einer der Reexions-
guren von Wahrnehmung und bildlicher Repräsentation gemacht hat:
Als erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck
von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein oenstehendes Fens-
ter, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll […].5 (Hervorh. K. J.)
3 Rosalind Krauss. „Grids“. October 9 (1979): S.50-64. Die Bedeutung von Krauss’
Aufsatz für die Literaturwissenscha hat Juliane Vogel herausgestellt. Juliane
Vogel. „Stiers Gitter. Poetologische Dimensionen einer Grenzgur“. Die Dinge
und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahr-
hunderts. Hg. Sabine Schneider/Barbara Hunfeld. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2008. S.43-58.
4 Krauss. Grids (wie Anm.3). S. 58. Zum Fenster bei Mallarmé, Delaunay und
Appolinaire vgl. Laurent Jenny. La n de lintériorité. éories de lexpression et
inention esthétique dans les avant-gardes ançaises (1885-1935). Paris: Presses
Universitaires de France, 2002. S.79-101.
5 „Principio, dove io debbo dipingere scrivo uno quadrangolo di retti angoli
quanto grande io voglio, el quale reputo essere una nestra aperta per donde io
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Abb. 1: Caspar David Friedrich. Frau am Fenster. 1818-1822.
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In dieser Ur-Szene linearperspektivischer Bild-Konstruktion erlaubt das Bild
als oenes Fenster die scheinbare Durchsicht auf die in einem imaginären
Tiefenraum gelagerten Dinge der Welt. Besonders anschaulich wird die über
die gerahmte Durchsicht organisierte Übertragungsleistung von Körpern in
die Fläche in den Illustrationen Albrecht Dürers zu seinem Perspektivtraktat
Underweysung der Messung (1525). Der in der Ausgabe von 1538 hinzuge-
fügte Stich mit dem Titel Zeichner des liegenden Weibes (Abb. 2) zeigt das
schon von Alberti angeratene Hilfsmittel eines in einen Rahmen gespannten
Fadengitters oder velums, das die Struktur für die Übertragung bereitstellt.
Abb. 2: Albrecht Dürer. Der Zeichner des liegenden Weibes. 1538.
Die Fensterszene Albertis klingt seit der Renaissance in der literarischen und
künstlerischen Verwendung des Fenster-Motivs nach. Dabei lässt sich immer
wieder feststellen, wie es in seiner gegenständlichen Präsenz vielmehr die
Ordnungs- und Regulierungsfunktion zwischen Betrachter, Welt und ihrer
Darstellung repräsentiert, als dass es im Sinne der oenen Fenster-Durch-
sicht funktioniert.
miri quello che quivi sarà dipinto […].“ Leon Battista Alberti. Von der Malkunst.
Hg. Oskar Bätschmann/Sandra Gianfreda. Darmstadt: Wissenschaliche Buch-
gesellscha 2002. S.92.
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1. Fensterblicke und Vorhangbilder: Annette von Droste-
Hülshos Ledwina
In Annette von Droste-Hülshos Prosafragment Ledwina werden sowohl
Ausblicke aus dem Fenster als auch Anblicke desselben inszeniert. Im Zen-
trum des Textes steht Ledwina von Brenkfeld, eine mit allen literarischen
Zügen der Schwindsucht bzw. Tuberkulose ausgestattete junge Adelige. Sie
lebt mit ihrer verwitweten Mutter und zwei Schwestern, der etwa gleich-
altrigen erese und der jüngeren Marie sowie dem gerade vom Studium
zurückgekehrten Bruder Carl auf dem Familiensitz. Das von zahlreichen
Konversationsszenen geprägte Fragment ist eher handlungsarm. Das äußere
Hauptereignis ist ein Unfall: Clemens, der Sohn einer Bäuerin aus der
Umgebung führt einen Reisenden, den Grafen Hollberg, in der Nacht am
Fluss entlang. Clemens stürzt in den Fluss, wird vom Strom mitgerissen und
ertrinkt. Der Graf Hollberg wird für die nächsten Tage im Schloss der von
Brenkfelds untergebracht. Ledwina hat den Unfall vom Fenster ihres Zim-
mers aus verfolgt.
Das Fenster Ledwinas bildet bereits in der dem Unfall vorangehenden
Szenenfolge einen entscheidenden Dreh- und Angelpunkt. Nacheinander
nehmen erese und Ledwina den Platz am Fenster ein und betrachten von
dort die Landscha. In ihrer ganz unterschiedlichen und vom Erzähler expli-
zit kontrastierten Wahrnehmung werden die Schwestern als gegenbildliche
Charaktere entworfen. Darin zeigt sich die durch Optik, Physiologie und
Anthropologie vorangebrachte neuzeitliche Einsicht in die „Medialität des
Blicks“ und damit auch in die Subjektivität von Wahrnehmung.6 Der Aus-
blick der Figuren auf die Landscha gibt durch die je eigene und völlig unter-
schiedliche Art zu sehen auch Einblick in die Figur. Damit wird zugleich ein
grundlegendes Spannungsverhältnis des Textes in der Figurenkonstellation
anschaulich: Die Erzählung arbeitet sowohl mit romantischen als auch mit
realistischen Elementen und kombiniert idealistische und materialistische
Möglichkeiten der Wahrnehmung und Weltordnung. Das Fenster stellt eine
Art Versuchsanordnung bereit, um die Schwestern innerhalb dieses Span-
nungsfeldes einzuordnen: Im Blick aus dem Fenster wird Ledwina als Ver-
treterin des romantischen und erese als Vertreterin des realistischen Para-
digmas installiert.
6 Monika Schmitz-Emans. „Die Laterna magica der Erzählung. Zur Semantik
eines Bilderzeugungsverfahrens und seiner poetologischen Funktion“. Monats-
hee 102/3 (2010): S.300-325, hier S.303f.
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Entscheidend ist besonders die unterschiedliche Wahrnehmung der
Lichtverhältnisse. erese führt in ihrer abendlichen Betrachtung der Land-
scha das Lichtspiel der Bäume in der Abendsonne auf die physikalischen
Bedingungen, auf die Wechselwirkung von Körpern, Licht und Bewegung
zurück:
Die Sonne ging unter und ihre letzten Strahlen standen auf einem Weiden-
baum am jenseitigen Ufer, der Abendwind regte seine Zweige, und so traten
sie aus dem Glanz, und erschienen in ihrer natürlichen Farbe, dann bogen sie
sich wieder in die Goldglut zurück. (L 95)
Das vorherrschende Phänomen in ihrer Betrachtung ist der Glanz. In
der konjunktivisch eingeschobenen möglichen Wahrnehmung dersel-
ben Szene durch Ledwina wird hingegen das Phänomen des ,Flimmerns‘
hervorgehoben:
Für Ledwinas überreiztes Gemüth, hätte dies immernde Naturspiel leicht zu
einem nstern Bilde des gefesselt seyns in der sengenden Flamme, der man
immer vergeblich zu entrinnen strebt, da der Fuß in den qualvollen Boden
wurzelt, ausarten können […]. (L 95)
Anders als der Glanz, der mit der Vorstellung einer klar begrenzten, das Licht
reektierenden Oberäche verbunden ist, zielt das Flimmern auf die Auö-
sung von Grenzen. Damit ist der zentrale Unterschied zwischen Ledwinas
und ereses Wahrnehmung angesprochen: Während erese ihre Umwelt
in klarer Umrissenheit und deutlich von sich selbst abgegrenzt wahrnimmt,
verschwimmen für Ledwina nicht nur die Grenzen der Dinge, sondern auch
die Grenze zwischen den Dingen und ihr selbst. Entsprechend wird in e-
reses Betrachtung die Fensterscheibe als taktil erfahrbares Element der Tren-
nung zwischen dem im Hier und Jetzt verankerten Subjekt und der betrach-
teten Natur hervorgehoben:
erese war es unbeschreiblich wohl geworden, in Betrachtung des reinen
wallenden Himmelsgoldes und überhaupt der lieblichen gefärbten Land-
scha, ihre Gedanken waren ein leise und brünstiges Gebeth geworden, und
ihre Augen waren scharf auf den Abendglanz gerichtet, als sey hier die Schei-
dewand zwischen Himmel und Erde dünner, es war ihr auch als zögen die
Strahlen ihre Seufzer mit hinauf, und sie legte das glühende Antlitz dicht an
die Scheiben […]. (L 95)
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Auch wenn in ereses religiös konnotierter Naturbetrachtung „die Scheide-
wand zwischen Himmel und Erde dünner“ erscheint – mit der Benennung
der Scheidewand wird die Grenze zwischen menschlicher und göttlicher
Sphäre letztlich vielmehr befestigt als aufgelöst. Kann ihr Gefühl, „als zögen
die Strahlen ihre Seufzer mit hinauf“, als der Ansatz einer pantheistischen
Verbindungsphantasie mit der Natur gelesen werden, so stößt sie sogleich
wieder an die Grenzen der materiellen Welt: Das imaginative Potential des
Fensterblicks wird durch die Scheibe explizit begrenzt und erese in die
diesseitige Realität zurück verwiesen. Das Glas der Fensterscheibe kühlt das
erhitzte Gesicht und in impliziter metonymischer Erweiterung auch das
Gemüt wieder ab.
Ledwinas Blick dringt dagegen in ihrer späteren nächtlichen Betrachtung
der Landscha „lüstern“ durch die sprachlich dennoch gesetzte materielle
Grenze:
Ledwina blickte lüstern durch die Scheiben, das graue Silberlicht lag wie ein
feenhaes Geheimniß auf der Landscha, und dünne matte Schimmer wog-
ten über die Gräser und Kräuter wie feine Fäden, als bleichten die Elfen ihre
luigen Schleyer, am Flusse war die Lu ganz still, denn die Weiden standen
wie versteint und kein Hauch bog die gesträubten Haare, aber in der Ferne
schüttelten sich die Pappeln, und hielten dem Mondlicht die weißen Flächen
entgegen, daß sie schimmerten wie die silbernen Alleen in Träumen und
Mährchen […]. (L 97f.)
Der Scharfblick ereses („ihre Augen waren scharf auf den Abendglanz
gerichtet“) weicht der sexuell konnotierten Augenlust Ledwinas. Im Gegen-
satz zur christlich-realistischen Optik der Schwester erönet sich Ledwina
eine nstere Traumwelt. Während in ereses Landschasbetrachtung die
vorherrschende Farberscheinung „golden“ ist, nimmt Ledwina die Land-
scha in „graue[m] Silberlicht“ wahr. An die Stelle des Glanzes treten
schwächere und ihrem Charakter nach diusere „matte Schimmer“. Ledwi-
nas eigener körperlicher Schwäche entsprechen die mit ihrer Wahrnehmung
assoziierten matten Lichtverhältnisse.7 Die Natur wird in ihrer Betrachtung
personiziert, bleibt aber mit den „versteint[en]“ Weiden und den „weißen
Flächen“ der Pappeln eher leblos. Diese grenzauösende Überblendung
von Ledwina und der Natur gewinnt auch in der räumlichen Organisa-
tion an Gestalt, wenn am Ende von Ledwinas Ausblick das zuvor eindeutig
7 Auch bei einem späteren Spaziergang sieht sie einen „matte[n] immernde[n]
Schein“ (L 121).
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geschlossene Fenster geönet ist: „[…] und bald stand sie halb unwillkühr-
lich halb mit leisen Vorwürfen in ein dichtes Tuch gehüllt am onen Fenster,
sie schauderte linde zusammen, von der frischen Lu, und der geisterhaen
Scene […].“ (L 98) Ledwina ist im Gegensatz zu ereses gemäßigtem und
rationalem Charakter als krankend-überreizte Romantikerin dargestellt.
Die Erzählerstimme schlägt sich dabei eher auf die Seite ereses und
bezieht immer wieder Position für die greif- und messbare Welt der Kör-
per und Dinge und ordnet die Figuren einer geradezu niederbeugenden
Schwerkra unter.8 Das Fenster als tendenziell romantischer Topos, als Ort
der Önung nicht nur auf einen Außenraum, sondern auch auf einen Raum
der Transzendenz hin wird zugleich mit Scheibe und Vorhang ausgestattet,
deutlich als materielle Grenze gesetzt und so an eine dingliche Wirklichkeit
zurückgebunden.
Die von Ledwina beobachtete „geisterhae Scene“ bildet den Schauplatz,
an dem der Bauernsohn Clemens ins Wasser stürzt. Das Geschehen ist an eine
ausgeklügelte Lichtregie gebunden: In der Ferne erkennt Ledwina ein Licht,
das sich langsam nähert. Sie kann es schließlich als den brennenden Docht
einer Lampe ausmachen, die von zwei Gestalten mit sich geführt wird. Doch
im entscheidenden Moment entzieht sich das Geschehen der Sichtbarkeit.
Eine schicksalha heranziehende Wolke verdeckt den Mond und die visuelle
Wahrnehmung wird durch die akustische abgelöst: „[E]s ward ganz nster,
und zugleich schlug ein schwerer klatschender Fall an ihr Ohr, ihm folgte ein
heiges Plätschern und der laute Angstruf einer männlichen Stimme […].“
(L 99) Das Geschehen ist angesichts der Flüchtigkeit der Erscheinung nicht
im Sinne aufgeklärter Wahrnehmungsmodi visuell zu erfassen. Schicksalha
wird die Szenerie von der „plötzlich“ heranziehenden Wolke verdunkelt. Auf
die akustische Wahrnehmung beschränkt, wird erst im weiteren Verlauf des
Fragments aufgelöst, dass in diesem Moment Clemens in den Fluss gestürzt
und ertrunken ist. Zu Beginn des Fragments wird der Fluss vor allem als spie-
gelnde Oberäche konzipiert. Dagegen ist er nun eingebunden in die mit
Tiefe assoziierte Sphäre des Dunklen und daran geknüp die Dimension des
Akustischen. Die zuvor noch ganz im Sinne romantischer Nacht-Emphase
als „überaus schön“ beschriebene Szenerie zeigt nun ihre gefährliche
8 Der „Wittwenschleyer aus einem Trauerore“ sei der Mutter „zu einem Bley-
mantel geworden, der fast sogar ihre Ehre niedergebeugt hätte“ (L 88), Ledwina
„neigt“ sich nach ihrem Körbchen, und als sie einschlä heißt es „und immer
tiefer neigte sich ihr Haupt“ (L 91). Später beugt sich Ledwina noch einmal, „um
ein Garnknäul vom Boden aufzuheben“ (L 91).
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Kehrseite: Entgegen Ledwinas Verklärung der Dunkelheit und des von ihr
geliebten Flusses wird die damit verbundene reale Gefahr deutlich, wenn als
„klatschender Fall“ die physikalischen Gesetze der Schwerkra obsiegen.
Zwischen die beiden Fenster-Aus-Blicke der Schwestern ist eine Wahr-
nehmungssituation eingeschoben, in der das Fenster nicht als Ort der Aus-
sicht funktioniert. Stattdessen ist das Fenster eingebunden in ein Projek-
tionsszenario, das im Zusammenspiel von Wasser, Licht und Sto entsteht.
Als Ledwina aus ihrem Traum erwacht, sieht sie sich zunächst weiterhin im
Bett liegend im Zimmer um:
Das Mondlicht stand auf den Vorhängen Eins der Fenster, und da der Fluß
unter ihm zog, schienen sie zu wallen, wie das Gewässer, der Schatten el auf
ihr Bett und theilte der weißen Decke die selbe Eigenscha mit, daß sie sich
wie unter Wasser vorkam, sie betrachtete dies eine Weile, und es wurde ihr je
länger je grauenhaer, die Idee einer ONDINE ward zu der einer im Fluß ver-
sunknen Leiche, die das Wasser langsam zerfrißt, während die trostlosen Ael-
tern vergebens ihre Netze in das unzugängliche Reich des Elementes senden,
ihr ward so schauerlich, daß sie sich nach eingen Skrupeln, wegen der Glut in
ihrem Körper entschloß, aufzustehn, und die Vorhänge los zu ziehn. (L 97)
Der hier beschriebene optische Vorgang ist komplex: Das Mondlicht wird
von der Wasseroberäche reektiert, so dass deren optische Beschaenheit
zunächst auf den Vorhang projiziert wird, von wo es dann wiederum als
„Schatten“ auf die Bettdecke gelangt.9 Die Lichterscheinung wird hier in
ihrer Abhängigkeit von den textilen Trägermedien Vorhang und Bettdecke
gezeigt. Die mediale Funktion des Vorhangs klingt dabei deutlich in dem
Verb ,mitteilen‘ an, wenn es heißt, der Schatten auf dem Vorhang „teilt der
weißen Decke die selbe Eigenscha mit […].“ (L 97)
Das Fenster funktioniert hier deutlich anders als in den oben behandelten
Fensterblicken. Auch wenn der Hergang des Unfalls nicht genau zu erken-
nen ist, dient das Fenster dort grundsätzlich als transparentes Medium der
Durchsicht. Dagegen wird es hier vom Vorhang verdeckt. Das Schattenbild
des Vorhangs auf der Bettdecke ru das Fenster nur noch in verhüllter und
vermittelter Form auf. Die Blickanordnung der Durchsicht wird hier von
einer Blickanordnung der Draufsicht abgelöst.
9 Ganz ähnlich angelegte Projektionsszenen nden sich in den Gedichten Durch-
wachte Nacht (1845), in: HKA I.1. S.351-353 und Doppeltgänger (1844), in:
HKA II.1. S.67f.
Fenster mit Draufsicht
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Die Übertragung von einer Bildäche auf die andere ist mit einem schritt-
weisen Eindringen des Wasserbildes durch das Fenster in den Innenraum
verbunden. Auf der weißen, leinwandartigen Bettdecke tritt das Lichtbild in
direkten körperlichen Kontakt mit Ledwina. Das Bild als zunächst rein visu-
eller Eindruck wird nun zum Auslöser der körperlichen Empndung „unter
Wasser“ zu sein. Die Bettdecke stellt dabei einerseits die Oberäche bereit,
auf der sich das Lichtbild abzeichnet und ermöglicht andererseits die räum-
liche Konstellation eines Darunter.
Während Ledwina das Wasserbild betrachtet, entsteht das als „Idee“
bezeichnete Vorstellungsbild einer Undine. Dieses entwickelt sich mit der
Zeit („je länger je grauenhaer“) „zu der einer im Fluss versunknen Leiche,
die das Wasser langsam zerfrißt“ (L 97). Die Idee, dem Begri nach eigent-
lich der immateriellen Welt der Vorstellungen zugeordnet, wird im Verlauf
des Satzes einem körperlichen Zersetzungsprozess unterworfen. Ledwi-
nas Vision einer Wasserleiche, die sich später mit Clemens’ Ertrinken als
unheimliche Vorahnung bewahrheiten wird, gestaltet sich gerade nicht als
Blick hinter den Vorhang, sondern zeichnet sich auf diesem ab. Auf dem Vor-
hang als Mittel der Verhüllung zeigt sich der weitere Verlauf der Erzählung
– auf ihm gelangt das unsichtbare Ereignis zur Darstellung.
Das traditionelle an den Vorhang geknüpe Erkenntnismodell, das von
einem hinter oder unter der textilen Schicht freizulegenden Sinn ausgeht,
wird hier abgewandelt. Darin unterscheidet sich der Vorhang in Ledwina von
der jüdisch-christlich geprägten Tradition textiler Deckmetaphern, in denen
Wahrheit und Wissen hinter dem Vorhang verortet sind.10 Der traditionel-
10 Für den christlichen Glauben ist das Zerreißen des Tempelvorhangs im Todes-
moment Jesu als ikonischer Moment der Oenbarung eine Schlüsselstelle
(Mt. 27,51, Mk 15,38 und Lk. 23,45). Der Vorhang wird so zum Bild der Ent-
hüllung des im Alten Testament noch verhüllten Schrisinns. Vgl. dazu: Hans-
Jörg Spitz. Die Metaphorik des geistigen Schrisinns. Ein Beitrag zur allegori-
schen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München: Wilhelm
Fink, 1972. S.23-40. Zu Vorhang und Schleier als Medium und Metapher der
Erkenntnis vgl. die umfangreiche Forschung: Patricia Oster. Der Schleier im
Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imagi-
nären. München: Wilhelm Fink, 2002. Uwe C. Steiner. Verhüllungsgeschich-
ten. Die Dichtung des Schleiers. München: Wilhelm Fink 2006. Johannes End-
res/Barbara Wittmann (Hg.). Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als
Medium und Metapher. München: Wilhelm Fink, 2005. Johannes Endres. Lite-
ratur und Fetischismus. Das Bild des Schleiers zwischen Aulärung und Moderne.
Paderborn: Wilhelm Fink, 2014.
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lerweise an die Erkenntnismetaphern von Ent- und Aufdeckung geknüpe
Vorhang gewinnt als Teil der Inneneinrichtung gegenständliche Präsenz im
Text. Das mit der Vision verbundene Mehrwissen ist nicht Ergebnis der
Durchdringung der textilen Grenze, sondern stellt diese als Bildträger der
Vision gerade ins Zentrum.
Indem sich zunächst der Außenraum als Bild auf den Flächen des Innen-
raums abzeichnet, bietet sich der Vergleich mit der Camera obscura an.
Gleichzeitig wird das Bild der Wellen mit Ledwinas Vorstellung von der
Wasserleiche überblendet. Dieser im ,Innern‘ ihres Bewusstseins generierte
Bilderzeugungsprozess erinnert vielmehr an die künstlichen Bilder der
Laterna magica.
Anders als die von außen in den Innenraum projizierten Bilder der
Camera obscura haben die Bilder der Laterna magica kein im Außen ver-
ortetes Urbild: „Ihre Bildproduktion ist Gleichnis für das eater einer
Imagination, die mit ihren eigenen ,inneren‘ Bildern arbeitet.“11 Auch wenn
damit noch einmal eine beliebte „romantische Medienstrategie“ aufgerufen
wird12, funktioniert diese hier anders: Während die Laterna magica in der
Romantik Täuschungen inszeniert oder als poetologische Metapher auf die
Identikation des Lesers mit den Figuren einstimmen soll, ist bei Droste-
Hülsho der Aufbau der Szene von vornherein oengelegt. Die Vision wird
als Ergebnis einer spezischen medialen Situation gezeigt.
Die modellha angelegte Projektionsszene mit weißen Trägermedien und
üchtigen Lichtern ist auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer optischer
und wahrnehmungsphysiologischer Erkenntnisse zu betrachten. Wie Jona-
than Crary in Techniques of the Observer zeigt, verliert das Licht im 19. Jahr-
hundert seinen ontologischen Status.13 Man geht davon aus, dass das Licht
selbst nicht sichtbar ist, sondern nur die von ihm getroenen Flächen. Dies
scheint in Ledwina auch dadurch verdeutlicht, dass das Licht immer als auf
etwas ,stehend‘ oder ,liegend‘ bezeichnet wird.14 Das Licht trägt, wie Goe-
the in der Farbenlehre beschreibt, die Bedingungen seines Erscheinens nicht
11 Schmitz-Emans. Laterna magica (wie. Anm.6). S.308.
12 Vgl. dazu Friedrich Kittler. „Die Laterna magica der Literatur: Schillers und
Homans Medienstrategien.“ Athenäum (1994): S.219-237, insb. S.220.
13 Jonathan Crary. Techniques of the Observer. On Visions and Modernity in the
Nineteenth Century. Cambridge, MA: MIT Press, 1990.
14 „[D]as graue Silberlicht lag wie ein feenhaes Geheimniß auf der Landscha“
(L 97, Hervorhebung K. J.); „Das Mondlicht stand auf den Vorhängen […]“
(L 97, Hervorhebung K. J.).
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in sich, sondern man müsse „von einem begrenzten bedingten Lichte, ja von
Bildern überhaupt“ sprechen.15
Die Vision Ledwinas, mit der auf der Inhaltsebene noch einmal das Phan-
tastische, Irrationale und Übernatürliche beschworen wird, steht auf der
Darstellungsebene auf physikalisch sicherem Grund. Der grenzüberschrei-
tende Akt der Imagination erscheint so als ein Bilderzeugungsprozess, der
der Grenzen als Bildächen bedarf. Durch den Einsatz von Bildächen zur
Darstellung von Ledwinas Vision wird ihr ,Inneres‘ nicht etwa in einer ein-
wärts gerichteten Bewegung erschlossen, sondern vielmehr in Bilder über-
setzt auf den Außenwänden des Innenraums präsentiert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das entscheidende Ereignis
der Erzählung eben nicht durch das Fenster sichtbar wird. Clemens’ Ertrin-
ken wird am ehesten in Ledwinas Vision als Projektionsprozess zwischen
Vorhang und Bettdecke anschaulich. Der Sto des Vorhangs wie der der
Bettdecke funktionieren hier nicht als Hülle einer darunter verborgenen
potentiell aufzudeckenden Tiefendimension, sondern werden zur Bildä-
che. Damit wird die Ordnungsmacht des Fensters und seiner Transparenz
grundsätzlich aus den Angeln gehoben: Die Welt ist nicht problemlos durch
das Fenster sichtbar – sichtbar sind stattdessen Bilder, die sich auf den Stof-
fen abzeichnen. Die opake Stoäche ersetzt insofern die Transparenz des
oenen Fensters als Erkenntnisort.
2. Verhängte Räume
Während in Droste-Hülshos Ledwina Fenster und Vorhang Teil der litera-
rischen Inszenierung sind, ist die Verhängung der Fenster auch ein konkretes
Merkmal der Einrichtungsmode des 19. Jahrhunderts. Dolf Sternberger zeigt
in seinem Panorama des 19. Jahrhunderts, dass das Fenster in dieser Zeit für
die Dekorateure ein „dauernde[s] Ärgernis“ und eine „ständige Quelle der
Beunruhigung“ darstellte16, der gegenüber „die Stoe die einzige Rettung“ bil-
deten.17 Sternberger verweist dazu auf die Wohn- und Einrichtungsratgeber
15 Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werk, Briefe, Tagebücher und Gespräche.
Bd. 32,1. Hg. Wolfgang Engelhardt/Manfred Wenzel. Frankfurt a. M.: Dt.
Klassikerverlag, 1991. S.137.
16 Dolf Sternberger. Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frank-
furt a. M.: Insel, 1981. S.201.
17 Ebd. S.204.
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des 19. Jahrhunderts wie Cornelius Gurlitts 1888 erschienene Schri Im
Bürgerhause.18 Gurlitt beschreibt darin die Entwicklung hin zu klareren und
größeren Fenstern im Sinne des aulärerischen Wunschs nach mehr Licht.
Die neuen technischen Möglichkeiten der Glasherstellung hätten zu immer
größeren Fensterächen geführt, mit denen gleichzeitig jedoch etwas zu viel
Nüchternheit einhergehe:
Es galt jetzt den Raum vor unberufenen Blicken von aussen, vor der kalten
Nüchternheit des Tageslichtes abzuschliessen, ohne doch die Freude an der
Helligkeit zu zerstören und man kam daher auf den Gedanken, einen leichten
durchsichtigen Sto an das Fenster zu hängen, welcher die strengen architek-
tonischen Linien desselben durch die tieferen Schatten in den breiten Falten
mildert, ohne dem Eindringen des Lichtes ein ernstes Hinternis zu bereiten
und man wählte einen weißen Sto, weil eben zu jener Zeit die Farblosigkeit
als die höchste Oenbarung des Geschmacks erschien.19
Auch wenn mit dem weißen Sto die harten Linien des Fensters und die
direkte Einstrahlung des Lichts abgemildert werden können, bleibt die Gar-
dine für Gurlitt ein „Notbehelf “20, der bei einer Rückkehr zum alten But-
zenfenster gar nicht nötig sei.21
Diese Funktion der Vorhänge hat 1871 auch Jacob von Falke schon in Die
Kunst im Hause hervorgehoben. Er macht als eigentliche Bestimmung der
Vorhänge aus, „das Licht zu dämpfen und die Härten welche die Fensterfas-
sung in dem scharfen Lichte macht, aufzuheben und zu verdecken.“22 Dazu
seien die „weißen, spitzenartigen Vorhänge“ besonders geeignet.23 Ihre Sau-
berkeit mache immer einen guten Eindruck und sie würden in den, wie es
heißt, „ohnehin gewöhnlich nur allzubunten Zimmern möglichst wenig
Licht wegnehmen.“24 Allerdings sollten sie
18 Cornelius Gurlitt. Im Bürgerhause. Plaudereien über Kunst, Kunstgewerbe und
Wohnungs-Ausstattung. Dresden: Gilbers’sche Königliche Hof-Verlagsbuch-
handlung, 1888. S.167f.
19 Ebd. S.166.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd. S.167f.
22 Jacob von Falke. Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritisch-ästhetische Stu-
dien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung. Wien: Gerold, 1871.
S.293.
23 Ebd.
24 Ebd.
Fenster mit Draufsicht
116
wenigstens einen farbigen Ueberhang erhalten, der den Uebergang zu der
übrigen auf Farbe berechneten Harmonie des Zimmers bildet. Denn die breite
weiße Fläche steht an sich sehr unschön, und man muß sie als ein Uebel hin-
nehmen, daß man nicht ändern kann.25
Falke betrachtet das Fenster hier nicht als Önung nach draußen, durch
die eine Landscha oder eine Stadtansicht im Zimmer sichtbar wird. Das
weiß verhängte Fenster erscheint im Raum-Gesamt-Bild als weiße Fläche.
Die Innenraumgestaltung besteht für Falke in der möglichst harmonischen
Anordnung von Farbächen und ist darin der Komposition eines Gemäldes
vergleichbar. In Bezug auf die große weiße Fensteräche gilt es dabei dem
ästhetischen Prinzip des horror vacui, der Angst vor der Leere folgend, im
Zusammenspiel unterschiedlicher Stoe den Kontrast zwischen Fensterä-
che, -rahmen und Wand abzumildern. Sternberger fasst das so zusammen:
„gegenüber der Bedrohung durch das Fenster bilden also die Stoe die ein-
zige Rettung.“26
Ein Beispiel für eine solche von Falke gefürchtete weiße Fenster-Fläche
ndet sich in Adolf Menzels Balkonzimmer von 1845 (Abb. 3). Das Bild
zeigt einen menschenleeren und spärlich mit zwei Stühlen, einem Spiegel
und einem Sofa möblierten Innenraum mit geöneter Balkontür, vor der
sich ein weißer Vorhang im Wind bläht.
Das Zimmer verfügt über eine Fülle licht- und bildtragender Oberächen:
Spiegel, Bild, Wand, Teppich, gemusterter Sofasto unterhalten komplexe
räumliche und visuelle Beziehungen. Das oen stehende Fenster ermög-
licht keine Durchsicht, sondern gewinnt körperliche Präsenz im geblähten
Vorhang.27 Der Übertragungsprozess zwischen außen und innen nimmt im
weißen Sto Gestalt an, der so zugleich auf den Sto der weißen Leinwand
verweist. In einer solchen selbstreexiven Lesart von Menzels Gemälde
erscheint das Bild nicht als oenes Fenster im Sinne Albertis, sondern mit
dem eingezogenen Vorhang wird deutlich, dass es letztlich Bildächen sind,
die die Übertragung zwischen den Dingen, ihrer Wahrnehmung und ihrer
Darstellung übernehmen. In Menzels Gemälde ist das Außerhalb des darge-
stellten Innenraums nur als Bild – das heißt als weiße Fläche, als Lichtbild
und als Schatten sichtbar.
25 Ebd.
26 Sternberger. Panorama (wie Anm.16). S.204.
27 Zum Aspekt der Verkörperung bei Menzel vgl. Michael Fried. Art and Embod-
iment in Nineteenth-Century Berlin. New Haven/London: Yale University
Press, 2002. Zum Balkomzimmer vgl. S.84-94.
Kira Jürjens
117
Abb. 3: Adolf Menzel. Das Balkonzimmer. 1845.
3. Spröde Scheiben: Die Materialität des Fensters
Die Abkehr von einer auf Transparenz gründenden Fenster-Konzeption
kennzeichnet auch den pädagog isch-naturwissenschalichen Artikel Natur-
betrachtungen im Zimmer von Berthold Sigismund, der 1857 mit dem Unter-
titel Am Fenster in drei Teilen in der Gartenlaube erscheint.28 Sigismund
28 Berthold Sigismund. „Naturbetrachtungen im Zimmer“. Die Gartenlaube 2
(1857): S.23-26; 7 (1857): S.95-97; 13 (1857): S.178-181.
Fenster mit Draufsicht
118
versteht seinen Beitrag als Ratschlag für den „geistigen Verkehr des Vaters
mit dem Kinde“29. Es geht darum, wie man an langen Wintertagen die Kin-
der in der Wohnung unterhält und zugleich naturwissenschalich bildet.
Dabei wird das Fenster für Sigismund zum Gegenstand einer genauen Mate-
rialbetrachtung und darauf aufbauender optischer Beobachtungen. Eines
blendet sein Artikel dabei völlig aus: den Blick durch das Fenster nach drau-
ßen.30 Die Naturbeobachtung am Fenster richtet sich nicht auf die dahinter
liegende Welt, sondern alle Aufmerksamkeit wird auf das Material und seine
spezischen Qualitäten gelenkt.
Gleich zu Beginn macht Sigismund deutlich, dass das sommerlich oene
Fenster für ihn nicht von Interesse ist. Im Sommer könne man den „Werth
des Fensters nicht lebendig fühlen“, da es ohnehin meist oen stehe.31 In die-
ser Zeit könne man das Fenster auch durch ein „Gazegitter“ ersetzen, um
die Fliegen fernzuhalten. Erst im Winter werde die besondere Nützlichkeit
des Fensters erfahrbar, da es das „lästige Zudringliche abhält und nur die
erwünschten Gäste hereinläßt“32. Das Fenster wird so wie ein Filter betrach-
tet: ludicht und lichtdurchlässig. Noch deutlicher wird das an späterer
Stelle, wo es heißt:
Die Fenstertafel gleicht also einer netzartigen Scheidewand, welche die Lu-
theilchen, gleichsam wie Fischlein einsperrt, aber den feinen Aether, der dem
Wasser vergleichbar ist, hindurchläßt.33
Das Fenster wird hier nicht als immaterielle Blickvorrichtung der Durch-
sicht, sondern in seiner spezischen materiellen Beschaenheit betrach-
tet. Dabei relativiert Sigismund die Transparenz als Grundeigenscha des
Fensters:
29 Ebd. S.23.
30 Trotzdem sollte der Text nicht als Ausdruck einer bürgerlichen Rückzugsbewe-
gung in den privaten Innenraum gelesen werden. Sigismund hebt in seinen päd-
agogischen Schrien den Wert der Naturbeobachtung im Freien immer wieder
hervor. Er weist auf „eine gewisse Summe von Anschauungen“ hin, „welche nur
im Freien gewonnen werden können“ und spricht sich klar gegen das „mit dem
heutigen Stande der Civilisation unzertrenntlich verbundene Stubenhockerle-
ben“ aus. Berthold Sigismund. Die Familie als Schule der Natur. Leipzig: Ernst
Keil, 1857. S.II.
31 Sigismund. Naturbetrachtungen (wie Anm.28). S.24.
32 Ebd.
33 Ebd.
Kira Jürjens
119
Das Glas ist zwar nicht vollkommen durchsichtig (denn durch sehr dicke
Glasmassen oder durch viele aufeinander liegende Glasplatten sieht man nicht
deutlich mehr), aber doch so durchsichtig , wie man es für ein Fenster nur wün-
schen kann.34
Darüber hinaus erhält das Glas in seiner Beschreibung eine durchaus körper-
liche Präsenz:
Spröde ist freilich das Glas, darum ist es leicht zerschellt, und bricht durch
einen Stoß nicht blos an einer getroenen Stelle, sondern es splittert in stern-
förmigen Sprüngen weit über den unmittelbar verwundeten Punkt hinaus,
wenn es nicht von einem so raschen Stoße durchbohrt wird, daß die an die
Wunde angrenzenden Glastheilchen nicht Zeit fanden, sich an die Bewegung
anzuschließen.35
Das Fenster wird hier in seiner Materialität wahrgenommen, die besonders
im Moment der Versehrung hervortritt, wenn die transparente Fläche von
sternförmigen Sprüngen und Splittern durchzogen ist. Die Metaphorik hat
daran entscheidenden Anteil: Was eine „Wunde“ hat, hat auch einen Körper.
Im weiteren Verlauf des Artikels zeigt Sigismund wie sich verschiedene
optische Phänomene am Fenster beobachten lassen. Dazu gehören Vorgänge
der Spiegelung, die im Dunkeln mit einer Lampe am Fenster zu beobach-
ten sind. Die Durchsichtigkeit des Fensters wird unterwandert und in Frage
gestellt, wenn es über seine spiegelnde Funktion heißt, dass es so vor dem
„dunkle[n] Hintergrund der Straße den undurchsichtigen Spiegelbeleg aus
Zinn und Quecksilber ersetze.“36 Der optische Vorgang wird als ein „Echo
des Lichts“ beschrieben, das „auf dem Zurückprallen der elastischen Aether-
wellen von glatten Flächen beruht, ganz so entstehend, wie das Abspringen
des Gummiballs von der Wand oder der Wiederhall des Rufes vom Felsen“37.
Es ist bezeichnend, dass das Fenster mit derart massiven Oberächen wie
Wand und Felsen verglichen wird. Das Phänomen der spiegelnden Scheiben
lässt sich auch in umgekehrter Richtung beobachten: Wenn man tagsüber
von außen auf die Scheiben schaut, wird der dahinter liegende „dunkle Zim-
merraum“ zum dunklen Spiegelgrund.38
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd. S.25.
37 Ebd.
38 Ebd.
Fenster mit Draufsicht
120
In diesen Versuchen werden Innen- und Außenwelt durch das Fenster
weniger miteinander verbunden, als voneinander getrennt. Der naturwis-
senschaliche Blick, den Sigismund hier einnimmt, hat in seiner Ausrich-
tung auf Spiegelphänomene und Materialität seine künstlerische Entspre-
chung eher in den Fenster-Darstellungen der Symbolisten, als in denen der
Romantik.
4. Gefrorene Fenster: Ästhetik der Draufsicht
Im zweiten Teil des Artikels geht Sigismund auf weitere zu beobachtende
Phänomene wie die ,gefrorenen‘, also die im Winter mit Eiskristallen besetz-
ten Fenster ein. Ausgehend von der genauen Untersuchung und Erklärung
der Ursachen und Entstehungsbedingen der unterschiedlichen Formen
gefrorener Fenster gewinnen diese für Sigismund Zeichencharakter:
Man kann an den Eisvorhängen von Außen fast so gut errathen, wie es im
Innern des Zimmers hinsichtlich der Wärme und sonstigen Lubeschaen-
heit steht, als aus der Blankheit der Scheiben und der Vorhänge im Sommer
sich die Tüchtigkeit der Hausfrau erkennen läßt.39
Das Fenster ermöglicht hier keinen direkten Einblick, doch geben die „Eis-
vorhänge“ durchaus Aufschluss über die Zustände innerhalb des Zimmers.
Die selbst nicht sichtbaren physikalischen Faktoren wie Wärme und Lu-
beschaenheit gewinnen in den Kristallisationen zeichenhae Gestalt. Dar-
über hinaus vermischt sich Sigismunds naturwissenschalicher Blick mit
einem ästhetischen Interesse:
Man wünscht sich, da die froststarren Finger das Zeichnen, welches ohne-
hin nur unvollkommene Abbilder gibt, nicht erlauben, gar o einen
Daguerre’schen Apparat, um manche dieser vergänglichen Kunstwerke der
Natur aufzubewahren. Gewiß gibt es unter allen ,nachahmenden Gestalten‘,
in welchen es der unorganischen Natur beliebt die organische zu parodiren,
keine, die an Schönheit die des Fenstereises übertri.40
Mit dem von Sigismund geäußerten Wunsch, die Kristallisationen mit
einem „Daguerre’schen Apparat“ speichern zu können, kommt ein weiteres,
39 Ebd. S. 179.
40 Ebd. S.178.
Kira Jürjens
121
bisher nicht berücksichtigtes Medium ins Spiel: die Fotograe. Darüber hin-
aus haben die Eisbilder als „Kunstwerke der Natur“ mit der zeitgenössischen
Vorstellung von der Fotograe gemeinsam, dass sie als Selbstabbildungen
der Natur betrachtet werden. In diesem Sinne einer sich ohne das Zutun
eines Subjekts selbst darstellenden Natur ist auch der Titel von William
Henry Fox Talbots Fotobuch e Pencil of Nature zu verstehen.41 Talbots in
Negativverfahren hergestellte Fotogramme von Spitzen und Mooszweigen
(Abb. 4) kennzeichnet ein Interesse für Texturen, wie es auch Sigismunds
Beschreibung der Kristallisationen am gefrorenen Fenster prägt:
41 William Henry Fox Talbot. e Pencil of Nature. Chicago/London: KWS
2011. Vgl. dazu Bernd Stiegler. Philologie des Auges. Die photographische Entde-
ckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2001. S.44-55.
Abb. 4: William Henry Fox Talbot. Moos und Spitze. 1835/1839.
Fenster mit Draufsicht
122
Die Glastafel ist von einem Gewebe mit unregelmäßigen Maschen bedeckt,
welches dem Tüll ähnelt. Die Maschen sind stets am oberen eile der Tafel
feiner als unten. Der freie Rand des Gewebes zeigt gewöhnlich, wenn nicht die
ganze Tafel bedeckt ist, schilf- und nadelwaldartige Zacken. Daß die schein-
baren Maschen nicht eisfreie Lücken zwischen den Eisfäden sind, erkennt
man leicht; sie sind mit dünnem Eis belegt. Zuweilen bemerkt man an dem
Spitzengrunde, besonders wenn man ihn bei schief durchfallendem Lichte
betrachtet, Spuren von Gruppirung gewisser Partien zu Gestalten, die an die
isländische Flechte oder an Damhirschgeweihe erinnern.42
Sigismund vergleicht hier Organisches und Anorganisches, Natürliches und
künstlich Produziertes: Die Oberächenstruktur der Eisäche ähnelt Tüll
oder Spitze, Schilf- oder Nadelwäldern, isländischer Flechte oder Dam-
hirschgeweihen. Mit den aufgerufenen Vergleichen scheint die Beschreibung
selbst an fotograschen Darstellungsweisen orientiert: Von den perspekti-
vischen Konventionen zur Herstellung der räumlichen Relationierung (wie
z. B. Staageguren) befreit, stellt die Fotograe Ähnlichkeiten her, wo man
sie nicht vermutet hätte.
Wie bei den Eisblumen auf der Fensterscheibe liegen auch in den Foto-
grammen Talbots der Bildgegenstand und das Trägermedium in einer Ebene.
Textilien als Flächengebilde eignen sich demnach besonders als Motiv der
Fotogramme wie auch als Analogie für die gefrorenen Fenster, die Sigismund
als „Eisvorhänge“43 bezeichnet oder mit dem „Moiré gewisser Damenklei-
derstoe“ vergleicht.44
Auch in Adalbert Stiers im gleichen Jahr wie Sigismunds Artikel erschie-
nenem Roman Der Nachsommer (1857) taucht das Bild der gefrorenen Fens-
ter auf und auch dort ist es Teil eines groß angelegten Vergleichs. Beim pan-
oramatischen Blick von einem Berg auf die umgebende Landscha erinnert
sich Heinrich Drendorf an ein „Bild“, das er einmal „gelesen“ habe45:
42 Sigismund. Naturbetrachtungen (wie Anm.28). S.178f.
43 Ebd. S.179.
44 Ebd.
45 Adalbert Stier. „Der Nachsommer“. Werke und Briefe. Historisch-Kritische
Gesamtausgabe. Bd.4.1. Hg. Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald. Stuttgart/
Berlin/Köln: Kohlhammer, 1978. S.43. In dem gelesenen Bilde sieht Andrea
Dortmann einen Bezug zu Barthold Heinrich Brockes Gedicht „Die gefror-
nen Fenster“. Andrea Dortmann. Winter Facets. Traces and Tropes of the Cold.
Oxford u. a.: Lang, 2007. S.47-51.
Kira Jürjens
123
Wenn das Wasser in unendlichen kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Ver-
größerungsglas ersichtlich sind, aus dem Dunste der Lu sich auf die Tafeln
unserer Fenster absezt, und die Kälte dazu kömmt, die nöthig ist, so entsteht
die Decke von Fäden Sternen Wedeln Palmen und Blumen, die wir gefrorene
Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem Ganzen zusammen, und
die Strahlen die äler, die Rücken die Knoten des Eises sind durch ein Ver-
größerungsglas angesehen bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr
hohen Bergen aus gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie
muß aus einem erstarrenden Stoe entstanden sein, und streckt ihre Fächer
und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich stehe
ist der helle und sehr glänzende Punkt, den wir in der Mitte der zarten Gewebe
unserer gefrorenen Fenster sehen.46
Die hier beschriebene Wahrnehmungssituation des panoramatischen Über-
blicks bildet das Gegenstück zum perspektivischen Fensterblick.47 Trotz-
dem bringt Stier hier noch einmal das Fenster ins Spiel, allerdings in die
Horizontale gekippt und aus der Draufsicht betrachtet. Mit diesem Wechsel
von einem „vertikalen Begründungszusammenhang[] (Urbild–Abbild)“ zu
einem horizontalen tritt, so Bernd Stiegler, an die Stelle eines „metaphäno-
menalen Kerns die Wahrnehmung und Beschreibung von Oberächen“48.
Diese Oberächen wiederum verdecken zwar keinen potentiell aufdeckba-
ren Kern, sie referieren jedoch auf ein nur über sie zugängliches in der Tiefe
wirkendes Naturgesetz. Bei aller ,oberächlichen‘ Analogisierung von Fens-
tereis und Gebirge auf der Signikantenebene („die Strahlen die äler, die
Rücken die Knoten des Eises“) hält der Text nicht damit hinter dem Berg,
dass die Herstellung dieser Ähnlichkeit nicht völlig reibungslos vor sich
geht, sondern mehrfach medial vermittelt ist: Das in einem „Buch“ gelesene
„Bild“ kommt Heinrich Drendorf wieder in „Erinnerung“ und die Kristall-
formationen der gefrorenen Fenster sind nur durch das zweimal erwähnte
„Vergrößerungsglas“ betrachtet bewunderungswürdig. Stiers Beschreibung
zielt also nicht nur auf die äußere Ähnlichkeit ab, sondern installiert mit
46 Stier. Der Nachsommer (wie Anm.45). S.43.
47 Gerhard Neumann macht den Fenster-Blick Albertis und den literarisch durch
Petrarca etablierten panoramatischen Blick als „zwei exemplarische Urszenen
der Blick-Konstruktion“ aus, „die die Welt in der Wahrnehmung zu erfassen
suchen.“ Gerhard Neumann. „Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der
Literatur“. Hofmannsthal Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne. 18 (2010):
S.215-258, hier S.246.
48 Stiegler. Philologie des Auges (wie Anm.41). S.360.
Fenster mit Draufsicht
124
Heinrich Drendorfs erwachendem wissenschalichen Blick eine der Sicht-
barkeit entzogene Gemeinsamkeit, die in den auf die Gebilde wirkenden
Kräen liegt: Stein wie Eis sind aus „erstarrende[m] Stoe“ entstanden und
der Gefahr der Zerstörung ausgesetzt (beim Fenster durch „Abbröklung“, in
den Bergen durch „Verwitterung“)49. Der Erzähler unterschlägt also nicht
den fragilen und transitorischen Status der Eisblumen, wie Lauren Small
meint50, sondern Eisblumen und Berge, Großes und Kleines werden, wenn
auch in unterschiedlichen zeitlichen wie räumlichen Maßstäben, als grund-
sätzlich vergänglich gezeigt. Diese Annahme untergründig wirkender und
dem direkten Zugri entzogener Naturgesetze ndet in der opaken Fenster-
scheibe ihre Illustration. Das Fenster verweist hier nicht auf ein Außerhalb,
sondern auf die in ihm wirkenden physikalischen Vorgänge, die wiederum
nur in der Oberäche, im Gewirkten der „Gewebe“ sichtbar werden.51
Die Unhintergehbarkeit dieser Scheibe wird im weiteren Verlauf des
Zitats deutlich, wo Heinrich Drendorf mit dem Tempuswechsel ins Prä-
sens seinen eigenen Standpunkt, den Berg, mit dem „helle[n] und sehr
glänzende[n] Punkt, den wir in der Mitte der zarten Gewebe unserer gefro-
renen Fenster sehen“, in eins setzt. Heinrichs subjektiver Blick wird aufgege-
ben, wenn der Berg zum Punkt wird, den das kollektive „Wir“ in der Mitte
der gefrorenen Fenster sehen könne.52 Das Bild des Fensters soll hier also
nicht dem Leser die Wahrnehmung der Figur erlebnisha vor Augen führen.
Stattdessen wird in einer Art umgekehrtem Zoomeekt der Berg zum mik-
roskopisch kleinen Punkt, in dem Betrachtung und Gegenstand der Betrach-
tung zusammenfallen.
49 Stier. Der Nachsommer (wie Anm.45). S.43.
50 Lauren Small. „White Frost Congurations on the Window Pane: Adalbert Sti-
er’s ,Der Nachsommer‘“. Colloquia Germanica 18/1 (1985): S.1-17, hier S.10.
51 Zur Epistemologie der Oberäche vgl. Hans Georg von Arburg. Alles Fassade.
Oberäche in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770-
1870. München: Wilhelm Fink, 2008. S.16 und S.50-53. Außerdem: Vera
Bachmann. Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberäche in der Litera-
tur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript, 2013. S.9-16.
52 Albrecht Koschorke hat am Beispiel des Bergblicks Heinrichs gezeigt, wie die
„Horizonterfahrung“ bei Stier irrelevant wird. An die Stelle von subjektiver
Wahrnehmung trete hier eine „ächenhae“, „kartographische Totalerfassung“
der Erdkugel. Albrecht Koschorke. Die Geschichte des Horizonts. Grenze und
Grenzüberschreitung in literarischen Landschasbildern. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1990. S.276. Grundsätzlich zum Fenstermotiv vgl. auch das Kapitel
„Inversionsphänomene“. S.284-295.
Kira Jürjens
125
Mit dem im Gipfelblick vollzogenen Erkenntnisschritt ist eine bestimmte
Form der Darstellung verbunden, in die sich die Erde selbst übersetzt53:
„Da stellten sich nun dem geübteren Auge die bildsamen Gestalten der
Erde in viel eindringlicheren Merkmalen dar, und faßten sich übersicht-
licher in großen eilen zusammen.“54 Diese abstrahierende Darstellung
der Erde in der Fläche unterscheidet sich grundlegend von Heinrich Dren-
dorfs früherer Zeichentechnik „mit Zirkel und Richtscheit“55. Die Anspie-
lung auf Dürers Perspektivlehrbuch Underweysung der Messung mit Zir-
ckel und Richtscheyt (1525) ist so deutlich wie der mit der Draufsicht des
Gipfelblicks implizit vollzogene Bruch mit der auf imaginärer Durchsicht
beruhenden perspektivischen Darstellungstechnik.56 Trotzdem ist der Ver-
gleich des Gipfelblicks mit der vereisten opaken Fensterscheibe nicht als
generelle Absage an das Konzept der Transparenz zu lesen. Am Beispiel des
gefrorenen Fensters wird deutlich, wie Transparenz im Nachsommer nicht
zwischen zwei Sichtbarkeiten vermittelt, sondern vielmehr dort idealen
Charakter bekommt, wo es in die (räumlich-konkrete, epistemologische
oder ästhetische) Tiefe geht. In diesem Sinne ist Transparenz bei Stier
eine besondere Oberächenbeschaenheit, in der sich eine ansonsten
unerreichbare Tiefe manifestiert.
In allen genannten Beispielen kommt Textilien in ihrer sprachbildlichen
oder konkreten Funktion eine zentrale Rolle in Bezug auf das Fenster zu.
Der nachgezeichnete Wandel von der Durchsicht zur Draufsicht ließe sich
auch in der Formel ,vom Fenster zum Vorhang‘ und damit zur Verhängung
beschreiben. Waren in Ledwina Fenster und Vorhang noch getrennte Ein-
heiten, die sich erst durch die Projektion überlagern, so fallen das Fens-
ter und das Gitter des Gewebes in den gefrorenen Spitzenmustern in eins.
Im Bild des Stoes gewinnt die Materialität des Fensters an Anschau-
lichkeit und wird schon in Texten des frühen 19. Jahrhunderts erkundet.
53 Vgl. Sabine Schneider. „Kulturerosionen. Stiers prekäre geologische Übertra-
gungen“. Figuren der Übertragung . Adalbert Stier und das Wissen seiner Zeit.
Hg. Michael Gamper/Karl Wagner. Zürich: Chronos, 2009. S.249-272, hier
S.254.
54 Stier. Der Nachsommer (wie Anm.45). S.43.
55 Ebd. S.41.
56 Zu Stier und Dürers Geometrie vgl. Gerhart von Graevenitz. „Wissen und Sehen.
Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschrienpresse des 19. Jahrhun-
derts und in realistischen Texten. Zu Stiers ,Bunten Steinen‘ und Kellers ,Sinn-
gedicht‘“. Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. Lutz Danneberg/Friedrich
Vollhardt. Tübingen: Max Niemeyer, 2002. S.147-189, insb. S.159.
Fenster mit Draufsicht
126
Diese Erkundungen an der Oberäche fallen dabei häug zugunsten opa-
ker Wahrnehmungs- und Darstellungsszenarien aus, die letztlich auf die
selbstreferentielle Leinwand und die Textgewebe des 20. Jahrhunderts
vorausweisen.
Kira Jürjens
Inhaltsverzeichnis
Elias Zimmermann
Wo auch immer ist jetzt.
Ein Einstieg anstelle einer Einführung ...................................................
Lena Abraham
Sábatos Sartre
oder Die bedeutsame Mission der Architektur in Sábatos El túnel .....
Julia Dettke
Gebrauchsanweisung zum Leben im Treppenhaus.
La Vie mode d’emploi von Georges Perec ...............................................
Anja Gerigk
Der Architekt am Fenster
oder Bauelemente im Übergang zum medialen Dispositiv.
Händlers Sturm tri Kracauers Ginster ................................................
Sonja Hildebrand
Bild, Panorama, Ort.
Ästhetik und Gebrauch des Fensters bei Auguste Perret,
Le Corbusier und Aldo van Eyck ............................................................
Kira Jürjens
Fenster mit Draufsicht.
Opake Fenster-Szenen im 19. Jahrhundert ...........................................
Rina Schmeller
„All you need now is to stand at the window“.
Das Fenster als poetologische Denkgur im Werk
von Virginia Woolf .....................................................................................
Benedikt Tremp
„Jede Stufe ein Faustschlag auf die Trägheit“.
Wiederaufrichtung und Erbauung des deutschen Volks
im U-Bahntreppen-Gleichnis Wolfgang Weyrauchs ...........................
7
19
35
57
75
103
127
145
Caio Yurgel
e world from afar.
Heinrich Böll’s early infatuation with windowsills ..............................
Gianna Zocco
„Let’s go up and have another look at that window.“
Zur Funktion der Raumelemente und Raumstrukturen
in Nella Larsens Passing (1929) ...............................................................
Elias Zimmermann
Schwindelerregende Treppen.
Dekonstruktionen in Piranesis Kerker bei De Quincey,
Borges und Geiser .......................................................................................
Zu den Beitragenden .......................................................................................
165
181
197
217