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DOI: 10.1007/s00350-015-4151-7
Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern.
Eine zulässige staatliche Handlungsoption
Nils Schaks und Sebastian Krahnert
Die Ebola-Epidemie in Westafrika lenkte weltweit die
Aufmerksamkeit auf die Bedrohungen durch Infektions-
krankheiten. Auch in Deutschland gef ährden Krank-
heitserreger Leben und Gesundheit von Menschen. Der
Masern-Tod eines Kleinkinds in Berlin im Februar 2015
hat die Debatte über die Einführung einer Impfpflicht ge-
gen Masern neu entfacht. Der nachfolgende Beitrag will
aufzeigen, dass bei Berücksichtigung des gegenwärtigen
Erkenntnisstandes der medizinischen Wissenschaft die
Einführung einer Impfpflicht gegen Masern nicht verfas-
sungswidrig wäre.
I. Die Masern im infektiologischen Kontext
Zunächst soll ein medizinischer Überblick über die Masern
und die Masern-Impfung (dazu nachfolgend 1. bis 8.) ge-
geben werden, bevor die verfassungsrechtliche Zulässigkeit
der Einführung einer Impfpflicht gegen Masern dargelegt
(II.) wird.
1. Krankheitsbild „Masern“
Die Masern sind eine ansteckende Viruserkrankung, die
ausschließlich von Mensch zu Mensch 1 übertragen wird.
Das Pathogen ist das Masernvirus 2, das nach einer Inku-
bationszeit von zehn bis zwölf Tagen zu den Leitsympto-
men der Erkrankung führt: die Koplik’schen Flecken der
Mundschleimhaut, der maserntypische Hautausschlag (Ex-
anthem) und Fieber. Nahezu alle Infektionsf älle „verlau-
fen klinisch manifest“ 3 und es besteht eine vergleichsweise
hohe Rate an Komplikationen und Folgeerkrankungen 4.
Eine kausale Therapiemöglichkeit besteht nicht 5.
Mit einer Kontagiosität von fast 100 % 6 ist das Anste-
ckungsrisiko für nichtimmune Patienten sehr hoch. Die
hohe Ansteckungsgefahr zeigt sich nicht zuletzt darin, dass
die Übertragung der Masern sogar beim bloßen Sprechen
erfolgen kann 7. Bereits drei bis fünf Tage vor Auftreten der
ersten typischen Symptome und bis zu vier Tage nach dem
Erscheinen des Hautausschlages sind die Patienten infektiös 8.
Aufgrund des hohen Ansteckungsrisikos geht die Ständi-
Prof.Dr.iur. Nils Schaks,
Juniorprofessur f ür Öentliches Recht, Universität Mannheim,
Schloss Westflügel, 68131 Mannheim, Deuschland
Rechtsanwalt und Arzt Sebastian Krahnert,
Kantstraße 30, 10623 Berlin, Deutschland
ihr Kind nach Eintritt des Hirntods kein lebender Mensch
mehr ist, dem durch die Organentnahme Schaden zuge-
fügt werden könnte. Deswegen ist es unerlässlich, dass sie
– sollte die Frage auf sie zukommen – umfassend unter-
richtet werden, und zwar fairerweise so, dass ebenfalls po-
tenzielle gegen das Hirntodkriterium erhobene Einwände
genannt werden. Diese dürfen nicht einfach verschwiegen
werden.
Bei der Information und Aufklärung über Organspen-
den sind in der Bundesrepublik Deutschland indessen allge-
mein gravierende Defizite zu beklagen. Dem am 18. 7. 2012
verkündeten Gesetz zur „Entscheidungslösung im Trans-
plantationsgesetz“ 59 gemäß sollen alle Bürger dazu bewegt
werden, einer eventuellen Organentnahme möglichst zu-
zustimmen. In den in Umlauf gebrachten Materialien und
in den „Kampagnen“ zur Organspende werden kritische
Anfragen zum Hirntodkriterium jedoch nicht hinreichend,
teilweise sogar überhaupt nicht dargelegt. Zudem fehlt es
an niedrigschwelligen, dem weltanschaulich-kulturellen
Pluralismus angemessenen Beratungsangeboten. Zurzeit ist
auf der Basis der staatlichen Vorgaben nicht gewährleistet,
dass sich Bürger wohlinformiert und wohlerwogen eine ei-
gene Meinung bilden können 60. Daher ist es geboten, u. a.
im Bildungswesen und durch Beratung den Kenntnisstand
zum Hirntod und zur Organspende zu verbessern.
Ein generell verbessertes Niveau von Information und
Auf klärung wäre auch für Eltern hilfreich, die in der be-
drückenden Situation, den Tod ihres Kindes vor Augen zu
haben, über eine Entnahme und fremdnützige Spende sei-
ner Organe entscheiden sollen. Insgesamt darf die Organ-
entnahme aus hirntoten Kindern thematisch nicht länger
derart abgeblendet bleiben, wie es, anders als etwa in Japan,
in der Bundesrepublik Deutschland in Ethik- und Rechts-
debatten und in der Öentlichkeitsarbeit der Fall war und
nach wie vor der Fall ist.
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern860 MedR (2015) 33: 860–866
1) Hengel, in: Darai u. a. (Hrsg.), Lexikon der Infektionskrankheiten
des Menschen, 3.Aufl. 2009, S.512–513; Neumann, Gynäkologe
2000 (33), 583.
2) Das LG Ravensburg erhob über die Existenz des Masernvirus
Sachverständigenbeweis und kam zur Überzeugung, dass diese in
der Wissenschaft unumstritten sei, vgl. LG Ravensburg, Urt. v.
12. 3. 2015 – 4O 346/13–, juris.
3) Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010
v. 16. 8. 2010, S.316. Dieses und die folgenden Epidemiologischen
Bulletins sind zitier t nach der über www.rki.de abruf baren Fas-
sung und wurden zuletzt abgerufen am 14. 7. 2015.
4) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S.316; s. hierzu sogleich sub 2.
5) Liese/Wintergeist, in: Reinhardt/Nicolai/Zimmer (Hrsg.), Therapie der
Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, 9.Aufl. 2014, S.265;
Neumann, Gynäkologe 2000 (33), 583, 585.
6) Neumann, Gynäkologe 2000 (33), 583.
7) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S. 316. S c huste r/Kr eth , in: Speer/Gahr (Hrsg.), Pädiatrie, 4. Aufl.
2012, S.354 sprechen auch von einer Übertragung „aerogen durch
Luftzug“. Hier von geht auch aus BT-Dr.14/2530, S.60.
8) Sch ust er/K re th, in: Speer/Gahr (Hrsg.), Pädiatr ie, 4.Aufl. 2012, S.354.
59) BGBl.S.1504.
60) Kreß, in: Hilpert/Sautermeister (Hrsg.), Organspende – Heraus-
forderung für den Lebensschutz, 2014, S. 287 . Kritisch jetzt
ebenfalls der Deutsche Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur
Organspende, 2015, S.120 .
ge Impf kommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut
(RKI) davon aus, dass alle vor 1970 geborenen Personen die
Masern-Erkrankung irgendwann in ihrem Leben durch-
gemacht haben (sofern sie nicht ohnehin geimpft waren) 9.
Die durchgemachte Erkrankung vermittelt eine lebenslan-
ge Immunität 10.
2. Mögliche Komplikationen und Spätfolgen der Masern
Besonders gefürchtet sind die Komplikationen und mögli-
chen Spätfolgen der Erkrankung, insbesondere im Bereich
der Neurologie. Mit einer Häufigkeit von 1 : 500 bis 1 : 2.000
tritt die akute Masern-Enzephalitis auf, eine virale Ent-
zündung des Gehirns. Sie zieht eine Sterblichkeit von bis
zu 30 % nach sich 11. 20 % der Fälle heilen mit bleibenden
Defekten der Funktion des Zentralnervensystems aus 12.
Die SSPE (subakute sklerosierende Panenzephalitis) ist
eine weitere Komplikation der Masern. Dabei verbleibt das
Virus nach durchgemachter Akutinfektion im Gehirn des
Patienten. Die SSPE führt zu schwerster geistiger und kör-
perlicher Behinderung und nach mehreren Jahren stets zum
Tod 13. Sie tritt mit einer Häufigkeit von 1 : 1.000 bis 5.000
auf 14. Insgesamt sterben 1–3 von 1.000 Erkrankten an den
Masern. Das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen ist
bei Kindern bis 5Jahre und bei Erwachsenen über 20Jah-
ren am höchsten. Die Hospitalisierungsrate liegt in diesen
beiden Altersgruppen bei 20 % der übermittelten Fälle 15.
3. Häufigkeit der Masern
Die Häufigkeit, mit der Masern-Ausbrüche auftreten, un-
terliegt starken Schwankungen. So lag die Zahl gemeldeter
Fälle in 2015 bereits in der 23. Kalenderwoche mehr als
dreizehnmal so hoch wie im gesamten Jahr 2014. Dabei
sticht insbesondere das Land Berlin nach oben heraus (1.156
der insgesamt 2.232 gemeldeten Masern-Fälle) 16. Vermut-
lich sind die gemeldeten Zahlen niedriger als die der tat-
sächlichen Erkrankungen. Eine Studie aus dem Jahre 2011
legt nahe, dass Ärzte nicht alle Masern-Erkrankungen –
wie es gem. §§ 6 Abs.1 Nr.1 lit.h, 7 Abs.1 Nr.31 IfSG
Pflicht ist – melden 17. Somit dürfte die Inzidenz der Masern
höher als bislang angenommen sein 18. Legt man gleichwohl
die – vermutlich zu niedrigen – Zahlen des RKI zugrunde,
so lag die Inzidenz der Masern vom 1.1. bis zum 15. 2. 2015
im Bundesschnitt bei 7,2 Fällen/1Million Einwohner und
im Land Berlin bei 109,1 Fälle/1Million Einwohner 19. In
den Jahren 2001 bis 2014 schwankte die Inzidenz zwischen
1,5 bis 75,0/1Million Einwohner 20.
4. Masern-Impfungen
Dass jährlich nicht noch mehr Masernf älle in Deutschland
auftreten, liegt an der primären Prävention. Es existiert zwar
keine kausal ansetzende kurative Therapiemöglichkeit, es
kann aber mit Impfstoen eektiv vorgebeug t werden. Diese
enthalten abgeschwächte Lebendviren, die in ihren krank-
heitsauslösenden Eigenschaften reduziert sind, zugleich aber
starke Immunantworten auslösen. Die Empfehlungen der
STIKO sehen gegen die Masern die Grund im mu nisierung
im Alter von 11 bis 23 Monaten mit zwei Impfdosen vor; bei
unklarem Impfstatus empfiehlt die STIKO bei nach 1970
Geborenen eine einmalige Impfung 21.
Zugelassen sind fast ausschließlich Kombinationsimpf-
stoe gegen Mumps, Masern und Röteln (MMR), teilweise
auch zusätzlich gegen Windpocken (MMRV) 22, deren An-
wendung jeweils zugleich der Impfempfehlung der STIKO
entspricht 23. Es ist jedoch auch ein Impfsto zugelassen, der
ausschließlich gegen die Masern wirkt (Monoimpfsto ) 24.
Im Folgenden werden die Risiken und Nebenwirkun-
gen dieses Monoimpfstos der verfassungsrechtlichen Be-
wertung zugrunde gelegt. Denn mit der Einführung der
rechtlichen Impfpflicht gegen Masern darf kein faktischer
Impfzwang gegen weitere Krankheiten einhergehen. Laut
Fachinformation, die behördlicherseits genehmigt wurde
und der nach der Rechtsprechung 25 besondere Aussagekraft
zukommt, ist die Antikörperreaktion bereits zwei Wochen
nach der Impfung nachweisbar; nach 28 Tagen haben 98 %
der Geimpften die gewünschten Antikörper ausgebildet 26.
Die Immunität nach der Gabe einer Impfdosis hält mindes-
tens 10, wahrscheinlich 20Jahre an 27. Das RKI geht davon
aus, dass die vollständige Impfung (bestehend aus Grund-
immunisierung und Aurischimpfung) einen lebenslangen
Krankheitsschutz vermittelt 28.
5. Mögliche Nebenwirkungen der Masern-Impfungen
Die Impfung kann zu unerwünschten Impfreaktionen (Ne-
benwirkungen) führen 29. Die Fachinformation dierenziert
zwischen solchen Nebenwirkungen, die in klinischen Stu-
dien auftraten, und solchen, die sich aus Anwendungsbeob-
achtungen nach erfolgter arzneimittelrechtlicher Zulassung
des Impfstos ergaben. In den klinischen Studien zeigten
sich dabei vor allem Nebenwirkungen, die sich als typische
Symptome einer – freilich abgeschwächten – Infektions-
krankheit deuten lassen und gelegentlich (d. h. bei einem
bis zehn Anwendungsf ällen von 1.000, z. B. Adenopathie)
bis sehr häufig (d. h. in mehr als einem von zehn Anwen-
dungsfällen, z. B. Nasenrachenkatarrh, Reizbarkeit) auftra-
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern MedR (2015) 33: 860–866 861
9) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S. 318; RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 10/2015 v.
9. 3. 2015, S.69.
10) Fritsch, Dermatologie & Venerologie f ür das Studium, 2009,
S.159; Neumann, Gynäkologe 2000 (33), 583, 587.
11) Sellner u . a., Intensivmed 2005 (42), 136, 138; Sch ust er/K re th, in:
Speer/Gahr (Hrsg.), Pädiatrie, 4.Aufl. 2012, S.355. RKI, Epide-
miologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010, S.316, geht
von einer Häufigkeit von 1 : 1.000 bis 5.000 aus.
12) Sch uster/ Kre th , in: Speer/Gahr (Hrsg.), Pädiatrie, 4. Aufl. 2012,
S. 355; S chwegler u. a., in: Fritze/Mehrho (Hrsg.), Die ärztliche
Begutachtung, 8.Aufl. 2012, S.652.
13) Sch ust er/K re th, in: Speer/Gahr (Hrsg.), Pädiatr ie, 4. Aufl. 2012,
S.358 f.
14) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 48/2013 v. 2. 12. 2013,
S.466.
15) RKI, Epidem iologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S.316.
16) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 26/2015 v. 29. 6. 2015,
S.237.
17) Met te u. a., DÄBl. 2011, 191 .
18) Gleichwohl werden im Folgenden – mangels anderer Daten – die
Informationen des RKI der Darstellung zugrunde gelegt.
19) RKI, Epidemiolog isches Bulletin, Nr. 10/2015 v. 9. 3. 2015,
S.71.
20) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 10/2015 v. 9. 3. 2015,
S.71.
21) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 34/2014 v. 25. 8. 2014,
S.316.
22) Vgl. die Übersicht des Paul-Ehrlich-Instituts unter http://www.
pei.de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-men-
schen/masern/maser n-node.htm l, Zugri am 7. 7. 2015.
23) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S.315.
24) S. „Masern-Impfsto Mérieux®“ unter der Übersicht der ge-
genwär tig zugelassenen Impfstoe des Paul-Ehrlich-Instituts unter
http://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfsto-impfstoe-fuer-
den-menschen/masern/masern-node.html, Zugri am 7. 7. 2015.
25) BGH, GRUR 2013, 649, 653 f.; OLG Hamburg, PharmR 2014,
153, 155; GRUR-RR 2015, 178, 180 f.
26) Fachinformation zu „Masern-Impfsto Mérieux®“, Zier5.1.
27) Fachinformation zu „Masern-Impfsto Mérieux®“, Zier5.1.
28) Vgl. RKI, Epidemiologi sches Bullet in, Nr.32/2010 v. 16. 8. 2010,
S.319 f.
29) Vgl. Grok/Bode/Reifenberger, Hautarzt 2008 (59), 766–768;
s.hierzu auch RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr.32/2010 v.
16. 8. 2010, S.320.
ten. In den Anwendungsbeobachtungen wurden auch Ver-
dachtsfälle gravierenderer Erkrankungen gemeldet. Diese
traten jedoch nur sehr selten (d. h. in weniger als einem Fall
bei 10.000 Anwendungsfällen bzw. in Einzelfällen (d. h. in
einem Fall bei 1.000.000 Anwendungsf ällen) auf. Bei der
Erfassung aller gemeldeten Verdachtsf älle erfolgt jedoch
keine Untersuchung auf Kausalität. Eine Untersuchung des
Paul-Ehrlich-Instituts kam zu dem Ergebnis, dass oftmals
lediglich zeitliche Koinzidenz, aber kein kausaler Zusam-
menhang zwischen der Impfung und der anschließenden
Erkrankung nachweisbar ist 30. Die tatsächlichen Neben-
wirkungen dürften also seltener sein als die der Fachinfor-
mation zugrundeliegenden bloßen Verdachtsf älle.
6. Herdenimmunität
Die Masern-Impfung bewirkt mehr als den individuel-
len Infektionsschutz, nämlich die sog. Herdenimmunität
durch die Unterbrechung der Infektionskette 31. Eine aus-
reichend hohe Durchimpfungsrate in der Bevölkerung mit
Erst- und Aurischungsimpfung – beziert wird diese mit
mindestens 95 % in allen Altersgruppen 32 – ermöglicht das
Erreichen des WHO-Ziels der Ausrottung der Masern.
Denn eine derart hohe Impfquote vermag die Zirkulati-
on des Wildvirus zu unterbinden 33, weil allein der Mensch
Reservoir für das Masernvirus ist 34. Unabhängig von der
möglichen Ausrottung der Erkrankung senkt eine hohe
Impfquote das Übertragungsrisiko insgesamt. Hiervon
profitieren auch Personen, die aufgrund ihres Alters oder
Gesundheitsstatus nicht selbst geimpft werden können oder
die Impfung aus sonstigen Gründen ablehnen. So wird die
Impfung sowohl von der STIKO 35 als auch der Fachinfor-
mation 36 erst ab einem Alter von 11 Monaten empfohlen.
Bei Überempfindlichkeit gegen die im Impfsto enthalte-
nen Inhaltsstoe, Schwangerschaft, unbehandelter, aktiver
Tuberkulose, pathologischen Blutbildveränderungen sowie
schwerer humoraler oder zellulärer und bei kongenitaler
oder erblicher Immundefizienz in der Familienanamnese
ist die Impfung kontraindiziert 37. Personen, die in die zu-
vor genannten Gruppen fallen, profitieren folglich bei hin-
reichend hohen Durchimpfungsraten von den Impfungen
Dritter, ohne selbst geimpft zu sein. Dies ist insbesondere
für die Neugeborenen im Alter bis zu 11 Monaten bedeut-
sam: Sie können erstens noch nicht geimpft werden und
zweitens tritt in dieser Gruppe eine besonders hohe Rate
von Komplikationen und Nebenwirkungen auf.
7. Masern-Impfquoten
Derzeit besteht für das Jahr 2013 – auf das Bundesgebiet
bezogen – eine Impfquote (Erst- und Aurischungsimp-
fung) der Kinder mit vorgelegtem Impfausweis bei Ein-
schulungsuntersuchungen von rund 93 %. Auf die einzel-
nen Länder bezogen, schwanken die Durchimpfungsraten
zwischen 88 % in Sachsen (niedrigste Rate) und 96 % in
Mecklenburg-Vorpommern (höchste Rate) 38. Die Quoten
werden allerdings lediglich anhand der vorgelegten Impf-
ausweise ermittelt. Im Bundesdurchschnitt legten 2013
rund 92,5 % der Kinder ihren Impfausweis vor. Das RKI
vermutet, dass die Impfquoten tatsächlich etwas niedriger
liegen als diese Hochrechnungen 39. Im Jahre 2003 lag die
Impfquote hinsichtlich der 2. Masern-Impfung noch bei
nur 50,9 % 40.
Eine verlässlich ermittelte Impfquote bezogen auf die
Gesamtbevölkerung existiert – soweit ersichtlich – nicht.
Eine Studie des RKI zu den Impfquoten bei Erwachsenen
ab 18Jahren hat Quoten zwischen 3,8 % und 79,8 % für die
verschiedenen Altersgruppen (Durchschnitt: 38,1 %) er-
mittelt 41. Hierbei wurden auch Personen erfasst, die ledig-
lich eine Impfdosis erhalten haben. Es ist jedoch davon aus-
zugehen, dass die vor 1970 geborenen und nicht geimpften
Personen die Masern durchgemacht haben 42 und auf diese
Weise – trotz niedriger Impfquote – ebenfalls zur Herden-
immunität beitragen. In dieser Altersgruppe sind mehr als
95 % bereits immun 43.
8. Zusammenfassende Bewertung
Die zur Ausrottung der Masern erforderliche Impfquote
von über 95 % ist in Deutschland nicht erreicht. Insbeson-
dere bei jungen Erwachsenen zeigen sich deutliche Impflü-
cken. Aus medizinischer Sicht besteht deshalb angesichts
der hohen Kontagiosität und der möglichen schwerwiegen-
den bis tödlichen Komplikationen der Wildvirusinfektion
im Vergleich zu den deutlich selteneren und eher geringfü-
gigen Impf komplikationen eine positive Risiko-Nutzen-
Bewertung der Masern-Impfung 44.
II. Verfassungsmäßigkeit einer etwaigen Impfpflicht
1. Die deutsche Rechtslage
Einen allgemeinen Impfzwang sieht die deutsche 45 Rechts-
ordnung derzeit nicht vor. § 20 Abs.6 S.1 und Abs.7 S.1
IfSG enthalten jedoch Ermächtigungen sowohl für den
Bund als auch – subsidiär – für die Länder zum Erlass von
Rechtsverordnungen, nach denen „bedrohte Teile der Be-
völkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen
der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn
eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Ver-
laufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbrei-
tung zu rechnen ist“. Eine Pflicht, Impfungen zu dulden,
gilt gegenwärtig für Soldaten gem. § 17 Abs.4 S. 3 SG 46.
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern862 MedR (2015) 33: 860–866
30) Vgl. hierzu Mentzer/Meyer/Keller=Stanislawski, Bundesgesund-
heitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2013,
1253, 1255–1258. Von der nicht stets gegebenen Kausalität zeugt
auch die bundessozialgerichtliche Rechtsprechung zur Impfent-
schädigung gem. § 60 IfSG, s. BSG, Urt. v. 7. 4. 2011 – B 9 VJ
1/10 R–, Rdnrn. 37–62, zit. nach BeckRS 2011, 73176; Beschl.
v. 6. 10. 2011 – B 9 VJ 8/10 B–, Rdnrn. 18–22, zit. nach BeckRS
2011, 77796; Besch l. v. 19. 9. 2012 – B 9 V 31/12 B–, Rdnr.5,
zit. nach BeckRS 2012, 74410.
31) Timme, Die juristische Bewältigung eines ökonomischen Netz-
werkgutes, 2001, S.19.
32) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr.10/2015 v. 9. 3. 2015, S.69.
33) Vgl. Schwegler u. a., in: Fritze/Mehrho (Hrsg.), Die ärztliche Be-
gutachtung, 8.Aufl. 2012, S.652.
34) Hengel, in: Darai u. a. (Hrsg.), Lexikon der Infektionskrankheiten
des Menschen, 3.Aufl. 2009, S.514.
35) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 34/2014 v. 25. 8. 2014,
S.307, 316.
36) Fachinformation zu „Masern-Impfsto Mérieux®“, Zier4.1.
37) Fachinformation zu „Masern-Impfsto Mérieux®“, Zier4.3.
38) Alle Zahlen nach RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr.16/2015
v. 20. 4. 2015, S.132 .
39) RKI, Epidemiolog isches Bul letin, Nr.16/2015 v. 20. 4. 2015, S.133.
40) RKI, Epidemiolog isches Bul letin, Nr.16/2015 v. 20. 4. 2015, S.133.
41) Poethko=Müller/Schmitz, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheits-
forschung – Gesundheitsschutz 2013 (56), 845, 849.
42) Vgl. RKI, Epidem iologisches Bulletin, Nr.10/2015 v. 9. 3. 2015,
S.69.
43) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 32/2010 v. 16. 8. 2010,
S.318.
44) Vgl. dazu insgesamt Mentzer/Meyer/Keller=Stanislawski, Bundes-
gesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz
2013 (56), 1253, 1259.
45) Eine Impfpflicht gegen die Masern existiert u. a. in Bulgarien,
Estland, K roatien, Serbien und Ungarn, ZEIT ONLINE v.
26. 2. 2015, http://www.zeit.de/news/ 2015-02/ 26/gesundheit-
mehrheit-der-deutschen-fuer-impfpflicht--schulausfall-wegen-
masern-26165407, Zugri am 15. 7. 2015.
46) S. hierzu BVerw GE 33, 339 .; Eichen, in: Walz/Eichen/Sohm
(Hrsg.), SG, 2.Aufl. 2010, § 17, Rdnr.71; Scherer/Al/Poretschkin,
SG, 9.Aufl. 2013, § 17, Rdnrn. 52 f., 53b.
Das BVerwG hat für sie die Pflicht zur Tetanusimpfung für
zulässig erachtet 47.
Bis 1982 bestand in Deutschland eine allgemeine Impf-
pflicht: Nachdem bereits zuvor in einzelnen deutschen
Staaten Impfpflichten gegen die Pocken eingeführt wor-
den waren, erließ der Reichstag im Jahre 1874 ein für das
gesamte damalige Deutsche Reich geltendes Impfgesetz 48,
welches diese Pflicht 49 vorsah. Im Jahre 1976 wurde das
bis dahin fortgeltende Reichs-Impfgesetz durch das Gesetz
über die Pockenschutzimpfung 50 ersetzt. Es wurde 1982
außer Kraft gesetzt 51, da die Pocken seit 1979 als ausge-
rottet gelten.
Gegenwärtig setzt der Gesetzgeber hinsichtlich der Ge-
samtbevölkerung auf Aufklärung und Freiwilligkeit (vgl.
§ 20 Abs.1 If SG). Die nach § 20 Abs.2 S.1 IfSG beim RKI
eingerichtete STIKO erarbeitet und veröentlicht nach § 20
Abs.2 S.3 If SG Impfempfehlungen 52, die nach § 20 Abs.3
IfSG von den obersten Landesgesundheitsbehörden für ihre
Empfehlungen zugrunde gelegt werden sollen. Durch das
Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der
Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) 53 wurde ein neuer
§ 34 Abs.10a in das IfSG eingefügt, der u. a. die Personen-
sorgeberechtigten dazu verpflichtet, bei der Erstaufnahme
eines Kindes in eine Kindertageseinrichtung einen schrift-
lichen Nachweis 54 darüber zu erbringen, „dass zeitnah vor
der Aufnahme in die Kindertageseinrichtung eine ärztliche
Beratung in Bezug auf einen vollständigen, altersgemäßen,
nach den Empfehlungen der Ständigen Impf kommission
ausreichenden Impfschutz des Kindes erfolgt ist“.
2. Die Erwägungen des Verfassungsgebers
Soweit sich die Verfasser des Grundgesetzes mit der Zu-
lässigkeit des Impfzwangs befasst haben, sind sie von der
Zulässigkeit der damals noch bestehenden Impfpflicht
gegen Pocken ausgegangen 55. Es findet sich in den Proto-
kollen des Parlamentarischen Rats auch die Aussage, dass
der Impfzwang gegen andere Erkrankungen nicht ausge-
schlossen werden dürfe 56. Diese Aussagen sind ein starkes
entstehungsgeschichtliches Indiz dafür, dass die Impfpflicht
eine verfassungsgemäße Maßnahme sein kann. Die Recht-
sprechung hat in den 1950er Jahren die Pflicht zur Pocken-
schutzimpfung mehrfach für verfassungsgemäß erachtet 57.
Die wenigen Aussagen lassen jedoch keine konkreteren
Rückschlüsse zu, unter welchen Voraussetzungen Impf-
pflichten zur Vorbeugung vor anderen Krankheiten neu
eingeführt werden dürfen. Vielmehr ist auf die allgemeinen
Lehren zur Prüfung der Grundrechtskonformität staatli-
chen Handelns zurückzugreifen. Verfassungsfragen stellen
sich vor allem im Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt (3.)
sowie bezüglich des Grundrechts auf körperliche Unver-
sehrtheit gem. Art.2 Abs.2 S.1 GG (4.), des Grundrechts
auf die elterliche Sorge gem. Art. 6 Abs.2 S. 1 GG (5.)
und der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des
Art.4 Abs.1 GG (6.).
3. Parlamentsvorbehalt
Die gegenwärtig bestehenden Verordnungsermächtigun-
gen genügen den Vorgaben des Art.80 Abs.1 GG 58. Denn
der parlamentarische Gesetzgeber hat Inhalt, Zweck und
Ausmaß der Verordnungsermächtigung (Zulässigkeit der
Impfpflicht gegen schwerwiegende Infektionskrankheiten
für die bedrohten Bevölkerungsteile) hinreichend deutlich
gefasst. § 6 Abs.1 Nr.1 lit.h If SG ist zu entnehmen, dass der
Gesetzgeber die Masern als gef ährliche Infektionskrankheit
i. S. des § 20 Abs.6 S.1 und Abs.7 S.1 IfSG ansieht. Denn
für die Aufnahme in die Liste der namentlich zu meldenden
Krankheiten war u. a. deren Gefährlichkeit entscheidend 59.
Fraglich ist aber, ob die Anordnung der Impfpflicht dem
parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten sein muss
und nicht delegiert werden darf
60. Nach der Rechtspre-
chung des BVerfG muss der parlamentarische Gesetzge-
ber grundlegende und wesentliche Entscheidungen selbst
treen 61. Im grundrechtlichen Kontext ist hierbei auf die
Bedeutung der Entscheidung für die Verwirklichung der
Grundrechte abzustellen 62. Das Parlament soll insoweit
eine Leitentscheidung treen 63, deren erforderliche Re-
gelungsdichte sich nach der Eingrisintensität bemisst 64.
So hat das BVerfG entschieden, dass das Parlament (1.)
bei der Einräumung von Satzungsbefugnissen an die Ärz-
tekammern in dem Gesetz wenigstens die „statusbilden-
den“ Normen in ihren Grundzügen festlegen muss 65; (2.)
Vergleichbares für Auswahlentscheidungen beim Zugang
zum Hochschulstudium in Zeiten begrenzter Kapazitä-
ten beachten muss 66; (3.) die Beantwortung der Frage, ob
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern MedR (2015) 33: 860–866 863
47) BVerw GE 33, 339, 343.
48) Gesetz v. 8. 4. 1874, RGBl. I S.31. S. zur Entstehungsgeschich-
te Hess, Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im
Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichs-
seuchengesetz 1900, 2009, S. 228–265; Heun, Impfzwang und
Impfgegnerschaft, 1911, S. 4–8; Hofmann, Impfpfl icht, Impf-
zwang, Zwangsimpfung und das Reichsimpfgesetz vom 8.April
1874, 1932, S.16–22; Kastner, Der Impfzwang und das Reichs-
Impfgesetz vom 8.April 1874, 1909, S.9–17; Kerscher, Der preu-
ßische Weg zum Impfzwang, 2011, S.14–17; Timme, Die juris-
tische Bewältigung eines ökonomischen Netzwerkgutes, 2001,
S.65– 69.
49) Ausführlich zur Pocken-Impfung Kerscher, Der preußische Weg
zum Impfzwang, 2011; Timme, Die juristische Bewältig ung eines
ökonomischen Netzwerkg utes, 2001, S.53–97; Wol, Einschnei-
dende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Ge-
sellschaft im Württemberg des frühen 19.Jahrhunderts, 1998,
S.99–211.
50) Gesetz v. 18. 5. 1976, BGBl.I S.1216.
51) Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes über die Pockenschutzimp-
fung v. 24. 11. 1982, BGBl.I S.1529.
52) Zuletzt veröentlicht in: RKI, Epidemiologisches Bulletin,
Nr.34/2014 v. 25. 8. 2014, S.305–340.
53) Gesetz v. 17. 7. 2015, BGBl.I S.1368.
54) Die Kommission für Infektionskrankheiten und Impragen
der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin for-
derte jüngst, das If SG so weiterzuentwickeln, dass Gemein-
schaftseinrichtungen nur mit nachgewiesenem Impfschutz be-
sucht werden dürfen, s. Monatsschr Kinderheilkd 2015 (163),
717–720.
55) So die Abgeordneten Eberhard, Süsterhenn, Bergsträsser, Heuss und
Nadig in der 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen
am 11. 1. 1949, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten
und Protokolle, Bd.5/II, S.919 f.; vgl. die Zusammenfassung der
Diskussion von Matz, in: Häberle (Hrsg.), Entstehungsgeschichte
der Artikel des Grundgesetzes, JöR, Bd.I, 2.Aufl. 2010, S.60;
Timme, Die jur istische Bewältigung eines ökonomischen Netz-
werkgutes, 2001, S.86.
56) So die Abgeordneten Eberhard, Süsterhenn und Nadig in der 32.
Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 11. 1. 1949, in:
Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle,
Bd.5/II, S.919 f.
57) BGHSt 4, 375 .; BVerw GE 9, 78 .; OLG Hamm, JMBl. NRW
1953, 10; OVG Nds., DVBl. 1955, 539, 540; zumindest inzident
OVG Nordrh.-Westf., DVBl. 1956, 794 f.; VGH Bad.-Württ.,
DÖV 1958, 159 f.; OLG Celle, NJW 1958, 1407 (Leitsatz a). So
auch Erdle, Infektionsschutzgesetz, 4.Aufl. 2013, § 20, Rdnr.7.
58) S. dazu BVerfGE 113, 167, 269.
59) BT-Dr.14/2530, S.48.
60) So Gassner, Impfzwang und Verfassung: Mit Macht gegen Ma-
sern?, Legal Tribune On line v. 10. 7. 2013, http://www.lto.de/
recht/hintergruende/h/masern-impfzwang-bahr/, Zugri am
7. 7. 2015.
61) BVerfGE 33, 303, 346; 45, 400, 417 f.; 58, 257, 268 f.; 98, 218,
251.
62) BVerfGE 47, 46, 79; 57, 295, 320 f.; 98, 218, 251.
63) BVerfGE 47, 46, 83.
64) Vgl. hierzu BVerfGE 58, 257, 274.
65) BVerfGE 33, 125, 163.
66) BVerfGE 33, 303, 346 f.
Sexualkundeunterricht an Schulen stattfindet, nicht ohne
gesetzliche Vorgaben der Schulbehörde überlassen darf
67;
(4.) über die Zulässigkeit der zivilen Nutzung der Atom-
kraft selbst entscheiden muss 68 sowie (5.) über die Teil-
nahme der Bundeswehr an bewaneten Auslandseinsätzen
beschließen muss 69.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zunächst die
Eingrisintensität zu ermitteln. Sie wird indes unter-
schiedlich beurteilt 70. Relevant dürften folgende Aspek-
te sein: Einerseits ist der betroene Personenkreis be-
schränkt, da schon eine relativ hohe Impfquote besteht.
Weiterhin finden im Kleinkindalter, wenn die Impfung
empfohlen wird, ohnehin Routineuntersuchungen statt
und zumindest die gesetzlich krankenversicherten Perso-
nen haben einen Anspruch auf die Masernschutzimpfung,
so dass der finanzielle und logistische Aufwand gering ist.
Überdies sind die Impfstoe grundsätzlich gut verträg-
lich. Andererseits können in sehr seltenen Einzelf ällen
äußerst schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten.
Zum Ausgleich hat der Gesetzgeber in § 60 IfSG einen
Entschädigungsanspruch für Impfschäden vorgesehen.
Insgesamt ist deshalb von einem Eingri mittlerer Inten-
sität auszugehen. Gleichwohl kann die Impfpflicht gegen
Masern im Verordnungswege eingeführt werden. Denn
der Gesetzgeber hat – anders als im Fall des Sexualkunde-
unterrichts – die Impfpflicht als regelungsbedürftige Fra-
ge erkannt und ausdrücklich i. S. ihrer grundsätzlichen
Zulässigkeit selbst entschieden. Außerdem hat er die re-
levanten Kriterien festgelegt und eine nach Dringlichkeit
dierenzierende Regelung geschaen. Auch wenn es aus
Gründen der Rechtssicherheit vorzugswürdig wäre, wenn
die Entscheidung über die Impfpflicht – so wie bei der
Pockenschutzimpfung – im Gesetz getroen würde, so
ist vorliegend die Wesentlichkeitstheorie gewahrt. Dem-
entsprechend geht auch die Staatspraxis seit 1961 von der
Zulässigkeit einer durch Rechtsverordnung eingeführten
Impfpflicht aus 71.
4. Vereinbarkeit einer Impfpflicht mit dem Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit
Die einzuführende Impfpflicht wäre auf die Personen zu
beschränken, die noch nicht gemäß den Empfehlungen der
STIKO gegen Masern geimpft sind oder die diese Erkran-
kung nicht nachweislich durchgemacht haben. Vor 1970
geborene Personen können von der Impfpflicht ausgenom-
men werden. Denn in dieser Bevölkerungsgruppe sind be-
reits mehr als 95 % immun gegen die Masern.
Die staatliche Einführung einer Impfpflicht gegen Ma-
sern stellt einen klassischen Eingri
72 in das Grundrecht auf
körperliche Unversehrtheit dar 73. Zwar sieht Art.2 Abs.2
S.3 GG die Möglichkeit einer Beschränkung des Grund-
rechts auf körperliche Unversehrtheit ausdrücklich vor.
Gleichwohl muss dieser Eingri gerechtfertigt, also insbe-
sondere auch verhältnismäßig sein 74. Relevante Kriterien
für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere
die Ansteckungsgefahr, die Gefährlichkeit der zu bekämp-
fenden Krankheit 75 sowie die möglichen Nebenwirkungen
der Impfung 76.
a) Legitimer Zweck
Mit der Einführung der Impfpflicht gegen Masern soll
nicht nur der individuelle Gesundheitsschutz einzelner
Personen verfolgt werden, sondern auch und gerade – über
die Herdenimmunität – der Schutz der Bevölkerung vor
Masern und deren Folgen insgesamt 77. Hiervon profitieren
auch ungeimpfte Personen, etwa solche, die zu jung oder
zu geschwächt für eine Impfung sind. Dies ist ein legitimer
Zweck. Darüber hinaus stellt Art.2 Abs.2 S.1 GG nicht
allein ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingrie dar, son-
dern vermittelt ebenso eine staatliche Schutzpflicht für die
körperliche Unversehrtheit, worunter auch der Schutz vor
Infektionskrankheiten f ällt 78.
b) Geeignetheit
Gegen die Eignung der Masern-Impfung und damit für
die Verfassungswidrigkeit der Impfpflicht gegen Masern
wird eingewandt 79, dass die Wirksamkeit nicht belegt sei 80
(aa)), dass trotz Impfung die Gefahr der Erkrankung bestehe
(bb)) sowie dass Impfungen gerade die zu vermeidenden
Krankheiten auslösten (cc)).
aa) Fehlende Wirksamkeit?
Nach den arzneimittelrechtlichen Vorgaben muss ein Arz-
neimittel, wozu auch die Impfstoe gehören (vgl. § 4 Abs.4
AMG), zugelassen 81 sein, bevor es in den Verkehr gebracht
werden darf. Die Zulassung darf nur erteilt werden, wenn
die Wirksamkeit des Arzneimittels nachgewiesen ist (vgl.
§ 25 Abs.2 Nr.4 AMG). Aus der hier zugrunde gelegten
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern864 MedR (2015) 33: 860–866
67) BVerfGE 47, 46, 80 f.
68) BVerfGE 49, 89, 126 f.
69) BVerfGE 90, 286, 381 f.
70) BGHSt 4, 375, 377; OVG Nds., DVBl. 1955, 539, 540 einer-
seits und andererseits Erdle, Infektionsschutzgesetz, 4.Aufl. 2013,
§ 20, Rd nr.7; Tra p p, DVBl. 2015, 11, 14.
71) Vgl. § 15 Abs.1 S.1 BSeuchG v. 18. 7. 1961, BGBl.I S.1012; § 14
Abs.1, BSeuchG i. d. F. des Vierten Gesetzes zur Änderung des
Bundes-Seuchengesetzes v. 19. 12. 1979, BGBl.I S.2248.
72) S. hierzu Sodan, in: ders. (Hrsg.), GG, 3.Aufl. 2015, Vorb Ar t.1,
Rdnr.47.
73) Vgl. nur BGHSt 4, 375, 376; BVerw GE 9, 78, 79; Di Fabio, in:
Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2, Rdnr. 66 (Stand: Februar
2004); Lorenz, in: Bonner Kommentar, GG, Art.2 Abs. 2 S. 1,
Rdnr. 456 (Stand: Juni 2012); Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG,
7.Aufl. 2014, Ar t.2, Rdn r.186; Schulze=Fielitz, in: Dreier (Hr sg.),
GG, Bd.I, 3.Aufl. 2013, Art.2 II, Rdnr.47.
74) So die wohl einhellige Auassung zum Prüfungsmaßstab, vgl.
BGHSt 4, 375, 376 f.; BVerwG 9, 78, 79 f.; Di Fabio, in: M au nz/
Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2, Rdnr. 66 (Stand: Februar 2004);
Schulze=Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.I, 3.Aufl. 2013, Art.2
II, Rdnr. 59; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hr sg.), G G,
Bd.1, 6.Aufl. 2010, Art.2 Abs.2, Rdnr.222.
75) BGHSt 4, 375, 377; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 13.Aufl. 2014,
Art.2, Rdnr.101; Schulze=Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I,
3.Aufl. 2013, Art.2 II, Rdnr.73; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/
Starck (Hrsg.), GG, Bd.1, 6.Aufl. 2010, Art.2 Abs.2, Rdnr.222;
v. Steinau=Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung
von Infektionskrankheiten, 2013, S.193.
76) v. Steinau=Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung
von Infektionskrankheiten, 2013, S.193.
77) BSGE 95, 66, 71 m. w. N. aus der Rspr.
78) Vgl. nur BVerfG (K), NJW 1987, 2287; Di Fabio, in: M au nz/ Dü-
rig, GG, Art. 2 Abs.2 S. 1, Rdnrn. 81 . (Stand: Februar 2004);
Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts,
Bd.IX, 3.Aufl. 2011, § 191, Rdnr.207; Lorenz, in: Bonner Kom-
mentar, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rdnr. 456 (Stand: Juni 2012);
Schulze=Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.I, 3.Aufl. 2013, Art.2
II, Rdnr.76; v. Steinau=Steinrück, Die staatliche Verhütung und
Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S.128–130. A. A.
Tra p p, DVBl. 2015, 11, 14.
79) Zur Impf kritik hinsichtlich des Reichs-Impfgesetzes s. Hess,
Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im Kaiser-
reich vom ausgehenden 18.Jahrhundert bis zum Reichsseuchen-
gesetz 1900, 2009, S.266–277.
80) So bereits Nittinger, Die Ligue der Impfer im englischen Blau-
buch und die Protestanten gegen den Impfzwang, 1858, S.25;
Rüger, Der Impfzwang, 3. Aufl. 1890, S. 11–16. S. hierzu auch
Wol, Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und
traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19.Jahr-
hunderts, 1998, S.353–361.
81) Zuständig ist im nationalen Zulassungsverfahren das Paul-
Ehrlich-Institut, § 77 Abs. 2 AMG. S. zu den verschiedenen
– nationalen und unionsrechtlichen – Zulassungsverfahren im
Überblick Dieners/Heil, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch
des Pharmarechts, 2010, § 1, Rdnrn. 112–124; Rehmann, AMG,
4.Aufl. 2014, Vorbemerkung zu §§ 21–37, Rdnrn. 4–38.
Fachinformation des Mono-Impfstos ergibt sich, dass bei
98 % der Impflinge nach 28 Tagen Antikörper nachweis-
bar sind. Der Vorwurf der fehlenden Wirksamkeit ist somit
unbegründet.
bb) Erkrankung trotz Impfung?
Auch wenn es in seltenen Einzelfällen vorkommt, dass ein
Impfling keine Antikörper bildet (etwa 2 % der Fälle) und
dementsprechend trotz der Impfung an Masern erkrankt,
bedeutet dies nicht, dass die Impfung ungeeignet wäre.
Denn dieser Prozentsatz ist äußerst gering und er stellt die
angestrebte Durchimpfungsrate von über 95 % nicht in
Frage. Die Eignung i. S. der Verhältnismäßigkeit ist bereits
dann gegeben, wenn die jeweilige Maßnahme einen Bei-
trag zur Zielerreichung leisten kann 82 .
cc) Erkrankung durch Impfung?
Wegen der Provokation der Immunreaktion durch den
Impfsto gehört das Auftreten von Krankheitssympto-
men zum Nebenwirkungsprofil 83. Diese bleiben in In-
tensität und Ausmaß jedoch weit hinter der durch das
Wildvirus ausgelösten Masern-Erkrankung zurück. Die
Verursachung dieser eher leichten Nebenwirkung steht
mithin der Geeignetheit nicht entgegen, zumal es sich
auch hierbei lediglich um wenige Fälle handelt. Vor dem
Hintergrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse und
Beobachtungen ist es nicht zu beanstanden, wenn der
Normgeber hier im Rahmen seiner Einschätzungspräro-
gative von der Geeignetheit der Einführung einer Impf-
pflicht gegen Masern ausginge.
c) Erforderlichkeit
Teilweise wird gegen die Erforderlichkeit der Impfpflicht
eingewandt, dass es für die Grundrechtsträger weniger
belastend, jedoch genauso eektiv sei 84, ausschließlich auf
Freiwilligkeit bei der Impfung zu setzen. Denn die Krank-
heiten, gegen die geimpft werde, kämen in Deutschland so
gut wie nicht mehr vor 85 oder sie seien durch Arzneimittel
behandelbar.
aa) Zu geringe Verbreitung?
Diese Beobachtung mag – inzwischen – auf einige Krank-
heiten zutreen (Pocken, Kinderlähmung, Keuchhusten).
Für die Masern lässt sich dieses Argument jedoch nicht
fruchtbar machen. Denn nach wie vor sind sie verbreitet
und immer wieder treten Epidemien auf. Das Argument
der zu geringen Inzidenz des Masernvorkommens ist auch
deshalb sehr zweifelhaft, weil es den Faktor Zeit und die
bisherigen Impferfolge ausblendet. Die niedrige Inzidenz
der Erkrankung ist gerade die Folge des Impfens. Auf dem
Weg zur Ausrottung der Pocken traten diese auch immer
seltener auf. In der Konsequenz hätte dieses Argument den
wenig sinnvollen Eekt, dass vor Erreichen einer hinrei-
chenden Durchimpfungsrate die Impfpflicht aufgehoben
werden müsste. Bei der hohen Kontagiosität der Masern ist
es dann nur eine Frage der Zeit, bis sich die Masern wieder
ausbreiten.
bb) Hinreichende Therapiemöglichkeit
oder Vermeidbarkeit durch Hygiene?
Hinsichtlich der Masern verfängt auch das Argument
nicht, dass der selektive Einsatz von Arzneimitteln milder
sei als die flächendeckende Prävention durch Impfungen.
Denn gegen die Masern besteht keine kausal wirkende
kurative Therapiemöglichkeit. Vor allem früher wurde
vertreten, dass Infektionskrankheiten im Allgemeinen 86
und die Masern im Speziellen 87 durch verbesserte Hygiene
vermieden werden können. Dies ist jedoch unzutreend.
Masern sind hochinfektiös und können sich – unabhängig
von den hygienischen Bedingungen – bereits beim Spre-
chen verbreiten.
d) Angemessenheit
Als letzte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt
die Angemessenheitsprüfung, dass „bei einer Gesamtabwä-
gung zwischen der Schwere des Eingris und dem Gewicht
der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbar-
keit noch gewahrt ist“ 88. Es müssen also die jeweiligen Vor-
und Nachteile zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.
Hier könnte eingewandt werden, dass das Ziel der Herden-
immunität auch ohne Impfpflicht erreicht werden könne.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Impfquote nach den
Schuleingangsuntersuchungen im Hinblick auf die zweite
Masern-Impfung (Aurischimpfung) innerhalb weniger
Jahre drastisch erhöht 89. Sollte sich dieser Trend fortsetzen,
dann könnte das Ziel der Impfquote von über 95 % über alle
Altersgruppen auch ohne Impfpflicht erreicht werden.
Ob dieser Trend auch dauerhaft anhält, ist jedoch un-
gewiss. Darüber hinaus stellen die Schuleingangsuntersu-
chungen lediglich eine Hochrechnung dar; genaue Zahlen
über die Impfquoten für alle Altersgruppen liegen nicht
vor. Die Durchimpfungsrate muss jedoch über alle Bevöl-
kerungsgruppen hinweg bei über 95 % liegen. Ferner traten
in der jüngeren Zeit die Masern vermehrt bei jungen Er-
wachsenen auf. Selbst bei Kindern werden die Impfungen
oftmals zu spät und nicht gemäß den Empfehlungen der
STIKO vorgenommen 90. Das Ziel der Masern-Elimination
in Deutschland bis zum Jahr 2015 ist gerade nicht erreicht
worden. Somit kann nicht allein aus der Entwicklung in
den Jahren 2003–2013 die Unzumutbarkeit der Impfpflicht
hergeleitet werden. Im Gegenteil – die Einführung der
Impfpflicht wäre angemessen:
Betroen wären nur die nach 1970 geborenen Perso-
nen, die weder gemäß den STIKO-Empfehlungen gegen
Masern geimpft sind noch nachweislich die Masern-Er-
krankung durchgemacht haben. Zahlenmäßig ist dieser
Personenkreis nicht groß und der Eingri durch die Impf-
pflicht ist grundsätzlich wenig intensiv, da der Impfsto gut
verträglich ist. In sehr seltenen Einzelf ällen ist zwar auch
mit schwerwiegenden Nebenwirkungen zu rechnen. Die
Wahrscheinlichkeit liegt jedoch bei 1 : 1.000.000, während
immerhin 1–3 von 1.000 an Masern erkrankten Personen
sterben. Die Impfpflicht würde insbesondere Neugebore-
ne schützen, für die eine Impfung noch nicht in Betracht
kommt und bei denen die Komplikationsrate im Falle einer
Masernerkrankung von allen Altersgruppen mit am höchs-
ten ist. Schließlich muss auch die zeitliche Dimension be-
achtet werden. Je früher die Masern eliminiert sind, desto
schneller wirkt die Herdenimmunität und desto eher ist die
Impfung dauerhaft verzichtbar 91.
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern MedR (2015) 33: 860–866 865
82) BVerfGE 30, 292, 316; 63, 88, 115; 78, 38, 50; BVerfG (K), NJW
2011, 1578, 1580; Soda n/Zieko w, Grundkurs Öentliches Recht,
6.Aufl. 2014, § 24, Rdnrn.38– 40.
83) Auch die angebliche Auslösung weiterer Krankheiten wie Autis-
mus oder Multipler Sklerose ist wissenschaftlich nicht belegt, s.
hierzu zusammenfassend Winkelmann, MMW – Fortschr itte der
Medizin 2015 (157), 47–49.
84) So die Anforderungen an die Erforderlichkeit, vgl. BVerfGE 30,
292, 316; 63, 88, 115; 78, 38, 50; 90, 145, 172; Sodan, in: ders.,
(Hrsg.), GG, 3.Aufl. 2015, Vorb Art.1, Rdnr.65.
85) Tr a pp, DVBl. 2015, 11, 13.
86) Hahn, Über die Menschenpocken (Blatter n), über die Impfung
und über den Impfzwang, 1870, S.84.
87) Vgl. die wiedergegebenen Einwände bei BVerw GE 9, 78, 79 so-
wie OVG Nds., DVBl. 1955, 539, 540.
88) BVerfGE 61, 291, 312. Vgl. auch BVerfGE 68, 272, 282; 90, 145,
185; 102, 197, 220.
89) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 16/2015 v. 20. 4. 2015,
S.133.
90) RKI, Epidemiologisches Bulletin, Nr. 16/2015 v. 20. 4. 2015,
S.133.
91) Auf diesen Aspekt weist bereits BGHSt 4, 375, 378 hin.
e) Ergebnis zu 4.
Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen Ma-
sern wäre somit mit dem Grundrecht auf körperliche Un-
versehrtheit grundsätzlich vereinbar 92.
5. Art.6 Abs.2 GG
Das Grundrecht auf die elterliche Sorge (Art.6 Abs.2 S.1
GG) berechtigt und verpflichtet die Eltern, für das körper-
liche Wohl einschließlich der Gesundheit des Kindes zu
sorgen 93. Hierzu gehören Entscheidungen über medizini-
sche Maßnahmen 94. Da die Empfehlungen der STIKO die
Masern-Impfung im Kleinkindalter vorsehen, wäre somit
nahezu immer die elterliche Sorge berührt.
Es erscheint zweifelhaft, ob die Einführung der Impf-
pflicht zwingend als Eingri in das Recht auf die elterliche
Sorge angesehen werden muss oder ob es sich nicht um eine
bloße Ausgestaltung des Kindeswohls handeln könnte 95.
Dies mag jedoch auf sich beruhen. Denn der Eingri wäre
zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung gem. Art.2 Abs.2
S.1 GG zu rechtfertigen. Wenn die Faktenlage dergestalt
ist, dass eine generelle Impfpflicht – im Interesse der Allge-
meinheit und des jeweiligen Impflings 96 – mit Art.2 Abs.2
S.1 GG vereinbar ist, dann kann das zum Wohle des Kin-
des 97 wahrzunehmende Recht auf die elterliche Sorge keine
strengeren Maßstäbe bereithalten. Dies gilt umso mehr, als
die Impfquote von über 95 % in allen Altersgruppen – und
damit auch bei den Minderjährigen – erreicht werden muss,
soll die Herdenimmunität erreicht werden.
6. Art.4 Abs.1 GG
Teilweise wird die Impfung unter Berufung auf die Glau-
bens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1
GG) abgelehnt 98. Diese Freiheit steht nicht unter einem
ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Gleichwohl können Be-
einträchtigungen des Grundrechts durch kollidierendes Ver-
fassungsrecht gerechtfertigt sein 99. Angesichts der Individu-
alität des persönlichen Glaubens und Bekenntnisses und des
vorrangig zu berücksichtigenden Selbstverständnisses der
Grundrechtsträger 10 0 werden pauschale Lösungen allgemein
verworfen 101. Konsens besteht jedoch insofern, dass – wie in
anderen Zusammenhängen auch – die persönliche Zwangs-
lage des Grundrechtsträgers substantiiert dargelegt werden
muss 102. Sofern dies gelingt, soll die individuelle Entschei-
dung Vorrang vor dem Interesse der Allgemeinheit an dem
Gesundheitsschutz haben. So formuliert Herzog:
„Man kann sich sehr wohl Fälle vorstellen, in denen auch
die gewissensbedingte Weigerung des Impflings zum unmit-
telbaren Angri auf fremdes Leben oder zumindest auf frem-
de Gesundheit werden kann. Wenn die überwiegende Mehr-
heit des Volkes die Impfung verweigert, wird man davon
ausgehen können, daß einer raschen Ausbreitung von Epide-
mien nicht mehr entgegengewirkt werden kann, so daß auch
die zur Impfung bereite Minderheit durch dieses Verhalten
ernstlich gefährdet wird. Nicht anders dürfte es sich in Epide-
miezeiten verhalten, wo jeder Einzelne, der nicht geimpft ist
und infolgedessen als potentieller Krankheitsverbreiter in Be-
tracht kommt, eine akute Gefahr für alle anderen darstellen
kann. Hier muß der Staat das Recht haben, auch gegenüber
der Gewissensentscheidung des Einzelnen seine Pflicht zur
Sicherung der menschlichen Existenz zu erfüllen.“ 103
Solange selbst bei Anerkennung der Gewissensentscheidun-
gen das erforderliche Ziel einer Impfquote von über 95 % nicht
gefährdet wird, ist diese zu respektieren. Entscheidend ist also
nicht, ob die „überwiegende Mehrheit“ – wie Herzog formu-
liert – die Impfung ablehnt. Es genügt schon eine Minderheit
von mehr als 5 %, um die Herdenimmunität zu gefährden.
Gassner geht von 3 % Impfgegnern und 10 % Impf kritikern
aus 104. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass
die meisten impf bereiten Personen sich auch tatsächlich imp-
fen lassen können. Gefährdet ist nur der zahlenmäßig deutlich
kleinere Personenkreis, bei dem eine Impfung aus Alters- oder
Gesundheitsgründen kontraindiziert ist. Hierunter f ällt auch
die sensible Gruppe der Neugeborenen bis zu einem Alter von
11 Monaten. Sollte die erforderliche Impfquote von 95 % auf-
grund der Impfweigerungen aus Glaubens- oder Bekenntnis-
gründen verfehlt werden, ist insbesondere bei steigenden In-
fektionszahlen als ultima ratio zu erwägen, die Ausnahme von
der Impfpflicht aus Gewissensgründen zu suspendieren. Für
eine abschließende Beurteilung bedarf es jedoch konkreterer
Zahlen über die Häufigkeit der Ablehnung der Schutzimpfung
gegen Masern aus Glaubens- oder Bekenntnisgründen.
III. Fazit
Die Einführung einer Impfpflicht gegen die Masern stellt
einen Grundrechtseingri dar. Dieser wäre jedoch nach der-
zeitigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis grundsätz-
lich zu rechtfertigen. Dies gilt auch dann, wenn die Impf-
pflicht im Wege einer Rechtsverordnung eingeführt würde.
Die hohe Kontagiosität der Masern von nahezu 100 % so-
wie die möglichen schwerwiegenden Folgen der Masern-
Erkrankung lassen eine solche Maßnahme zu.
Schaks/Krahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern866 MedR (2015) 33: 860–866
92) So im Ergebnis auch Gassner, Impfzwang und Verfassung: Mit
Macht gegen Masern?, Legal Tribune Online v. 10. 7. 2013,
http://www.lto.de/recht/hintergr uende/h/masern-impf-
zwang-bahr/, Zugri am 7. 7. 2015, der jedoch aufgrund der
Wesentlichkeitstheorie eine Einführung durch Gesetz verlangt;
s. auch Sodan, Infektionsschutzrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder
(Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2014,
§ 56, Rdnr.31 m. dortiger Fn.59.
93) Burgi, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG, Art.6, Rdnr.112 (Stand:
XII/2007); Jestaedt, in: Bonner Kommentar, GG, Art.6 Abs.2
und 3, Rdnr.104 (Stand: Dezember 1995); Uhle, in: BeckOK-
GG, Ar t.6, Rdnr.54 (Stand: 1. 9. 2015).
94) Höfling, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts,
Bd.VII, 3.Aufl. 2009, § 155, Rdnr.21.
95) S. zu dieser Dierenzierung Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG,
13.Aufl. 2014, Art.6, Rdnr n. 49–52. Vgl. ferner Burgi, in: Mer-
ten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011,
§ 109, Rdnr n. 21 f.
96) Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVK J) ist der Auf-
fassung, dass Eltern, die ihren Kindern Schutzimpfungen ver-
weigern und damit der Gefahr der Erkrankung und des Todes
aussetzen, gerade nicht im K indeswohl handeln, BV KJ, Presse-
mitteilung v. 25. 2. 2015, http://www.bvkj.de/bvkj-news/pres-
semitteilungen/news/article/kinder-haben-ein-grundrecht-
auf-impfschutz/, Zugri am 9. 7. 2015.
97) BVerfGE 55, 171, 179; 61, 358, 378; 64, 180, 189 f.; 84, 168, 181;
107, 104, 117; 121, 69, 93 f.; Burgi, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG,
Art.6, Rdnr.120, (Stand: XII/2007).
98) S. zur Frage des Impfzwangs und der Gewissensfrage – im Hin-
blick auf die Pockenschutzimpfung – bereits Dütschke, Der Impf-
zwang, 1914, S. 64– 67. S. hierzu auch Wol , Einschneidende
Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditiona le Gesellschaft
im Württemberg des frühen 19.Jahrhunderts, 1998, S.399–412.
99) S. hierzu BVerfGE 28, 243, 261; 77, 240, 253; 93, 1, 21; Hesse,
Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutsch-
land, 20.Aufl. 1995, Rdnr.312; Sodan/Zi ekow, Grundkurs Öf-
fentliches Recht, 6.Aufl. 2014, § 24, Rdnr.19.
100) BVerfGE 24, 236, 247 f.; 108, 282, 298 f.
101)
Vgl. Germann, in BeckOK-GG, Art. 4, Rdnr. 10 (Stand:
1. 9. 2015); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rdnr.157
(Stand: 27. Lieferung).
102) So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art.4, Rdnr.157 (Stand: 27.
Lieferung). S. auch v. Steinau=Steinrück, Die staatliche Verhütung
und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S.194.
103) Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art.4, Rdnr.157 (Stand: 27. Lie-
ferung). So auch Panagopoulou-Koutnatzi, Die Selbstbestimmung
des Patienten, 2009, S.81; Stebner/Bothe, MedR 2003, 287, 288.
104) Gassner, Impfzwang und Verfassung: Mit Macht gegen Masern?,
Legal Tribune Online v. 10. 7. 2013, http://www.lto.de/recht/
hintergruende/h/masern-impfzwang-bahr/, Zugri am 7. 7. 2015.