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EDUCATION1.1740
Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/Formation professionnelle
Berufsbildung Lehrabbrüche
Nach Lehrvertragsauflösung packen
viele Lernende die zweite Chance
Barbara E. Stalder und Fabienne Lüthi
Foto: Franziska Rothenbühler
Die vorzeitige Auflösung des Lehrvertrages bedeu-
tet nicht, dass ein erfolgreicher Berufsabschluss
in die weite Ferne rücken muss. Neue Ergebnisse
der Studie LEVA zeigen, dass viele Lernende die
zweite Chance nutzen, vor allem, wenn sie von
ihren Berufsbildenden oder von anderen Fachper-
sonen unterstützt werden.
«Ich habe die Lehre ja nicht abgebrochen, sondern
nur den Betrieb gewechselt», meint Martin, als er gefragt
wird, warum sein Lehrvertrag aufgelöst worden sei. Auch
Nadia, die von der dreijährigen in die zweijährige Lehre
gewechselt hat, bezeichnet diesen Schritt nicht als Ab-
bruch. Lehrvertragsauösung und Lehrabbruch werden
zwar häug synonym verwendet, sind aber nicht das-
selbe. Eine Lehrvertragsauösung (LVA) bezeichnet die
Kündigung des Lehrvertrags vor Ablauf der regulären
Ausbildungszeit. Dazu gehören auch Fälle, bei denen die
Lernenden ihre Ausbildung nahtlos fortsetzen in einem
anderen Betrieb oder einer Lehre mit geringeren schuli-
schen Anforderungen. Als Abbruch werden hingegen
Vertragsauösungen bezeichnet, bei denen Jugendliche
keine weitere Ausbildung mehr aufnehmen und langfristig
ohne Berufsabschluss bleiben.
Glaubt man der Presse, sind alle Vertragsauösun-
gen «Lehrabbrüche» mit entsprechend gravierenden Kon-
sequenzen. Ein «Schritt ins Leere» sei es, ein Risiko für
die Jugendlichen, auf der Strasse zu landen, ohne
Abschluss und mit schlechten Erwerbschancen. Solche
Zuspitzungen sind irreführend. Es ist hinreichend be-
kannt, dass viele Lernende ihre Berufsausbildung nach
der LVA fortsetzen oder mit einer neuen Ausbildung be-
ginnen. Unbekannt war bisher, wie viele von ihnen diese
Ausbildung auch erfolgreich abschliessen. Dies kann nun
erstmals mit Daten des Projekts «LEVA – Lehrvertragsauf-
lösungen im Kanton Bern» gezeigt werden.
Nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen, die aus einem Lehrvertrag aussteigen, macht keinen Lehrabschluss.
Barbara Stalder (rechts) und Fabienne Lüthi berichten über neue Ergebnisse des Projekts LEVA.
EDUCATION1.17 41
Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/Formation professionnelle
Hohe Wiedereinstiegsquote – hohe Abschlussquote
Nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen steigt nach
der LVA endgültig aus dem Bildungssystem aus: 84% der
Lernenden setzen ihre Ausbildung fort, viele von ihnen
nahtlos (43%), manche nach einer Unterbrechung von bis zu
1 Jahr (21%) oder 2 bis 3 Jahren (13%). Nur wenige nehmen
nach 4 bis 10 Jahren wieder eine Ausbildung auf (7%).
Der Mehrheit der Lernenden gelingt es, ihre (neue)
Ausbildung erfolgreich abzuschliessen. 3 Jahre nach der
LVA sind 43%, 5 Jahre danach 68% und 10 Jahre danach
75% im Besitz eines Berufsabschlusses. Die anderen 9%
sind nach einer erneuten LVA nicht wieder eingestiegen
oder im Qualikationsverfahren gescheitert.
Ein rascher Wiedereinstieg und ein Abschluss sind
vor allem denjenigen Lernenden möglich, die im Berufsfeld
bleiben. Wer hingegen das Berufsfeld verlässt und eine
völlig neue Ausbildung beginnt, tut dies meist nach einer
längeren Unterbrechung. Die beruiche Umorientierung
und die Suche nach einer neuen Lehrstelle brauchen Zeit.
Die Risikogruppen
Ein höheres Risiko, nach der LVA ohne Berufsabschluss
zu bleiben, haben Lernende ausländischer Nationalität,
aus bildungsfernen Familien oder mit einem nicht gradlini-
gen Ausbildungsweg vor Lehrbeginn. Es trifft damit die-
selben Gruppen, die bereits beim Einstieg in die Berufs-
ausbildung auf grössere Hürden stossen. Gefährdet sind
auch Jugendliche, deren Vertrag aus gesundheitlichen
oder familiären Gründen aufgelöst wird. Nach der LVA rü-
cken andere Aufgaben in den Vordergrund: gesund wer-
den, zu sich oder zu Familienangehörigen schauen. Und
irgendwann scheint es zu spät, wieder eine Ausbildung
aufzunehmen.
Voraussetzungen für den Ausbildungserfolg
Zwei Bedingungen sind entscheidend, damit Jugendliche
nach einer LVA einen Abschluss erreichen. Erstens dürfen
Lernende das Ziel, einen Berufsabschluss zu erwerben,
nicht aufgeben. Zweitens müssen Lernende unterstützt
werden, eine passende Anschlusslösung zu nden. Be-
rufsbildende und Lehrpersonen unterstützen Lernende
zunächst durch lernförderliche Ausbildungsbedingungen
– denn wer gerne lernt, nimmt diese Motivation in die
neue Ausbildung mit. Manche Berufsbildende bieten Ler-
nenden mit Leistungsproblemen auch an, im Betrieb zu
bleiben und die Ausbildung in einem weniger anspruchs-
vollen Beruf fortzusetzen. Voraussetzung ist, dass es im
Berufsfeld einen solchen Lehrberuf gibt und dass «die Che-
mie» zwischen Lernenden und Berufsbildenden stimmt.
Ansonsten hilft die Unterstützung durch Lehrpersonen,
Ausbildungsberatende des kantonalen Mittelschul- und
Berufsbildungsamtes und Berufsberatende – insbeson-
dere dann, wenn diese den ersten Schritt tun. Denn viele
Lernende schaffen es nicht, von sich aus nach Unterstüt-
zung zu suchen.
Ende gut – alles gut?
Die hohen Wiedereinstiegs- und Abschlussquoten stim-
men zuversichtlich. Lehrvertragsauösungen pauschal als
negativ zu beurteilen, ist also verfehlt. Bagatellisieren hilft
aber auch nicht. Im Kanton Bern wird jeder fünfte Lehrver-
trag vorzeitig aufgelöst, in einigen Berufen, zum Beispiel
im Bauwesen oder im Gastgewerbe, ist es jeder vierte
oder sogar dritte. Diese Quoten sind zu hoch. Eine Lehr-
vertragsauösung ist für Lernende wie Betriebe ein belas-
tendes Ereignis – auch wenn die meisten Lernenden da-
nach doch noch erfolgreich sind.
Trotzdem: Es ist wichtig, Lehrvertragsauösungen
nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance zu betrach-
ten. Als Chance, die ursprüngliche Entscheidung für einen
Beruf und Betrieb zu überdenken und neu zu beginnen, in
einer besser passenden Ausbildung oder einem besser
passenden Lehrbetrieb. Die meisten Lernenden, die ihre
Ausbildung fortsetzen, sind mit der neuen Lehre denn
auch sehr zufrieden und fühlen sich wohl im Betrieb. Es
wurde ihnen eine zweite (oder dritte) Chance geboten,
und sie haben diese genutzt. So wie Martin, der in seinem
neuen Betrieb aufblüht, und Nadia, die sich zuerst zwar
schwertut, «nur» eine zweijährige Ausbildung zu machen,
rückblickend aber überzeugt ist, dass der Wechsel das
Beste war, was ihr passieren konnte.
Prof. Dr. Barbara E. Stalder, Institut Sekundarstufe II,
PHBern, Fabrikstrasse 8, 3012 Bern
barbara.stalder@phbern.ch
1300 Jugendliche und
Berufsbildende befragt
Im Projekt «LEVA – Lehrvertragsauflösungen im
Kanton Bern» wurden rund 1300 Lernende und
Berufsbildende zu Ursachen und Konsequenzen von
Lehrvertragsauflösungen befragt und die weitere
Bildungslauahn der Lernenden während zehn Jahren
(2004–2014) untersucht. Die Studie liefert erstmals
Ergebnisse zu den erreichten Bildungsabschlüssen
nach einer Vertragsauflösung. Finanziert wurde
das Projekt von der Erziehungsdirektion des Kantons
Bern, von der Universität Neuenburg und von der
PHBern.
Stalder, B. E., & Schmid, E. (2016)
Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg –
kein Widerspruch. Bern: hep
Bestelladresse: http://www.hep-verlag.ch/
lehrvertragsaufloesung-ausbildungserfolg
erhältlich als Printversion oder E-Book