Der demokratische Verfassungsstaat
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Wenn man den demokratischen Verfassungsstaat anhand seiner Besonderheit des justiziablen Vorrangs oder Letztentscheidungsrechts
der Verfassung darstellen will, richtet man seinen Blick nicht auf die gesamte Breite westlicher Demokratien. Obwohl häufig
alle demokratischen Systeme Kontinentaleuropas, Nordamerikas und des Commonwealth als demokratische Verfassungsstaaten bezeichnet
werden, besteht ein solches Letztentscheidungsrecht nur in wenigen von ihnen. Denn entweder sind Verfassungsänderungen im
Zuge herkömmlicher Gesetzgebungsverfahren möglich oder das Erfordernis der Verfassungskonformität von Gesetzen ist nicht gegeben.
Somit wurde das Verfassungsprinzip zugunsten des Demokratieprinzips in der Verfassungswirklichkeit aufgegeben wurde. Solche
Staaten und ihr institutionelles System zu untersuchen ergibt damit gerade keine Aussagen über die gleichzeitige Verwirklichung
von Demokratie- und Verfassungsprinzip. Andererseits werden der Verfassungsvorrang und die damit verbundenen Probleme auch
unter den Typenbezeichnungen Rechtsstaat, Repräsentativverfassung, Konstitutionalismus oder Republik behandelt. Ein begriffsorientierter
Zugang ist deshalb nicht möglich. Um den Sinn des Letztentscheidungsrechts der Verfassung zu erforschen, darf nicht unkritisch
der demokratische Verfassungsstaat in seiner empirischen und ideengeschichtlichen Vielgestalt in den Blick genommen werden,
sondern er muss reduziert werden auf ein bestimmtes Problem, für das er durch seine Namensbestandteile synonym steht, nämlich
diese spezielle Kombination der beiden Legitimationskonzepte.
Der demokratische Verfassungsstaat ist mit seinem justiziablen Verfassungsvorrang eine neuzeitliche Schöpfung. Gleichzeitig
integriert er zahlreiche ältere Vorstellungen von einer guten rechtlichen und politischen Ordnung. Beides wird deutlich, wenn
seine Genese nicht erst ab dem 17. Jahrhundert geschildert, sondern ein kurzer Abriss zu antiken und mittelalterlichen Wurzeln
vorausgeschickt wird. Er zeigt, dass die Voraussetzungen für einen justiziablen Verfassungsvorrang bis zur frühen Neuzeit
nicht gegeben waren, aber stattdessen andere Mittel eingesetzt wurden, um Recht und Institutionenordnung zu schützen. Aus
dieser breiteren Perspektive erscheint der justiziable Verfassungsvorrang als ein neuzeitlicher Ersatz für frühere Garantien
guter Ordnung. Außerdem ergeben sich aus einigen dieser älteren Mittel Hinweise auf funktionale Äquivalente zum Schutz von
Recht und Verfassung, die noch heute zum Einsatz kommen.
Auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der Demokratie werden seit über 2000 Jahren die unterschiedlichsten Antworten gegeben,
jedoch ist es bisher nicht gelungen, eine allgemein konsensfähige zu finden. Zu weit gehen die Ansichten schon allein zur
reinen Wortbedeutung auseinander. Demokratie ist im wörtlichen Sinne die Herrschaft des Volkes. Der Begriff entstand als Teil
einer Differenzierung verschiedener Staatsformen, deren Unterscheidungskriterium die Zahl der an der Herrschaft beteiligten
war, häufig ergänzt um die Differenzierung nach der Qualität der Herrschaft, wobei die Begriffe je nach Zeit und Autor variierten:
Die Herrschaft eines Einzelnen (Monarchie und ihre Entartungen Tyrannis oder Despotie), Herrschaft der Wenigen (Aristokratie
und die schlechte Oligarchie, Ochlokratie oder die moderne Variante Elitenherrschaft), Herrschaft der Vielen oder Aller (Politie
und die bei Aristoteles als negatives Gegenstück genannte Demokratie, die Pöbelherrschaft, und – mit sehr unterschiedlichen
Deutungen – die Republik). Erstes Anwendungsbeispiel war die griechische Polis, d.h. Stadtstaaten, in denen die Gesetzgebung
einer Versammlung der freien, aus ortsansässigen Familien stammenden, grundbesitzenden, erwachsenen und männlichen Bürger
zustand. Auch die Ausführung der Staatsgeschäfte oblag über Verfahren der Amtsrotation, des Ämterkaufes oder der Bestellung
der Bürgerschaft selbst. Im Zuge der Neuentdeckung der griechischen Philosophie im 13.
Die politischen Ideen, die in England im 16. und 17. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit den absolutistischen Bestrebungen
der Monarchen und mit den Unrechtserfahrungen unter dem Langen Parlament entstehen, legen den Grundstein für den demokratischen
Verfassungsstaat. Hier wird durch die Leveller die Idee der kodifizierten, höherrangigen Verfassung mit unveräußerlichen Grundrechten
und fester Ämterordnung vorgebracht. Hier wird durch Dallison die funktionale Dreiteilung und durch Harrington ein auf unterschiedlichen
Bestellungsverfahren beruhendes Zweikammersystem präsentiert. Hier gibt die balanced constitution ein Vorbild für das Konzept der checks and balances. Hier verbindet Locke die erarbeiteten Elemente zu einem ersten geschlossenen Modell des liberalen Rechtsstaates. Mitte des
17. Jahrhunderts aber weicht England von dem scheinbar vorprogrammierten Weg zum Verfassungsstaat ab. Es kehrt zu seiner Tradition
der gewachsenen Verfassung und des Common Law zurück und bringt in den nächsten Jahrzehnten eine spezielle Form des Rechtsstaats hervor, die weder mit dem Begriff des
Verfassungsstaats noch mit dem deutschen Begriff des Rechtsstaats erfasst ist: Die Rule of Law.
It facilitates the understanding of a political system if one asks about the historical circumstances under which it arose and about the influences that shaped it. Against this background, the origin of the Basic Law, which emerged from an anti-totalitarian consensus and is based on the core principles of democracy, the rule of law and human dignity, is to be mentioned. It has undergone countless changes since its existence, but not with regard to its fundamental principles, which are anchored in the “eternity clause”, including federalism, popular sovereignty and the separation of powers.
Trotz der Vielfalt demokratischer Ideen und Erscheinungsformen besteht in Europa ein klares Anforderungsprofil an den demokratischen Staat. Der Beitrag stellt es anhand der Gemeinsamkeiten europäischer Verfassungen, den Kriterien politikwissenschaftlicher Demokratiemessung und dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip vor. Aktuelle Entwicklungsperspektiven und Reformvorschläge aus dem deutschen Demokratiediskurs runden das Bild des demokratischen Staates ab.
Geht man von einem primär funktionalen Verständnis von Demokratie aus, dann besteht der Vorteil dieser Herrschaftsform darin, dass sie am ehesten geeignet erscheint, das Problem sozialer Komplexität zu meistern, indem sie die Zukunft offen hält für neue Entscheidungen unter gewandelten Rahmenbedingungen. Es wird jedoch zunehmend evident, dass bei großen Infrastrukturprojekten langfristige Weichenstellungen erfolgen, die eine Reversibilität von Entscheidungen als Prämisse von Demokratie nicht gewährleisten. Vor diesem Hintergrund ist die Herausbildung einer neuen, in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angesiedelten Protestbewegung zu beobachten. In der Politikwissenschaft steht zur Debatte, ob es sich dabei um ein Krisensymptom der repräsentativen Demokratie handelt.
Im Beitrag werden zunächst die theoretischen Grundlagen eines sich gegenwärtig vollziehenden Wandels der Staatlichkeit expliziert und die zu Grunde gelegte politiktheoretische Lesart der Transformation von Demokratie und Protest vorgestellt. Es zeigt sich, dass sowohl Befürworter als auch Kritiker von Stuttgart 21 in ihren unterschiedlichen Deutungen von demokratischer Legitimität jeweils eine der beiden in Spannung zueinander stehenden Legitimationsquellen im demokratischen Verfassungsstaat akzentuieren, die entsprechend mit einer Präferenz für repräsentative bzw. direkte Demokratie korrelieren. Abschließend wird mit Bezugnahme auf die Stuttgarter Schlichtung diskutiert, inwiefern sich mit den neuen – in brisanten technikbasierten Konfliktfällen vermehrt zum Einsatz kommenden – politischen Kommunikationsverfahren Formen einer kommunikativen Demokratie herausbilden, welche geeignet erscheinen, die bisherigen Demokratiemodelle westlicher Staaten zu ergänzen.
Die Frage, unter welchen Umständen notfalls gewaltsamer Widerstand gegen die herrschende Macht legitim ist, ist so alt wie das politische Denken selbst.1 Dabei sind allen Versuchen, das Widerstandsrecht zu fassen, zwei Charakteristika gemeinsam, die zugleich die Schwierigkeiten dieses Unterfangens verdeutlichen
Im Gegensatz zu normativen und deliberativen Konzepten verbinden feministische Ansätze den Zivilgesellschaftsdiskurs mit Fragen nach Macht-, Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen. Ziel dabei ist es, die Verknüpfungen zwischen Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft sichtbar zu machen und in ihrem Potential für demokratische Geschlechterverhältnisse kritisch zu hinterfragen. Der Beitrag reflektiert die zentralen Annahmen aktueller Forschungsansätze und skizziert die Herausforderungen, die sich aus Geschlechterperspektive für die Zivilgesellschaftsforschung ergeben.
The chapter reconstructs the understanding of democracy held by Alexis de Tocqueville, who, in addition to Charles Montesquieu and Max Weber, is considered one of the three theorists who explicitly examined the relation between the centralization of political power and democracy. However, in his different meaning of democracy as a social structure and way of life, only Tocqueville placed civil society and political freedom at the center of his democratic model.
The chapter outlines the key reasons why, for Tocqueville, the true achievement of the French Revolution lay in the centralization of political power. It further shows, using the example of European gender politics, to what extent this centralization of power is an understanding of democracy directly linked to the Enlightenment, which is still to be detected in the current European multilevel system.
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