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Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
und globale Ernährungssicherheit
Steen Hirth
erschienen in: Strüver, Anke (Hrsg.):
Geographien der Ernährung – Zwischen Nachhaltigkeit, Unsicherheit und Verantwortung.
Hamburg 2015 (Hamburger Symposium Geographie, Band 7): 31-49
1. Einleitung
Essen ist in der Regel eine äußerst beiläuge Pra-
xis unseres Alltags. Nicht jede einzelne Mahlzeit
kann mit einer tiefgründigen Auseinanderset-
zung mit dem einhergehen, was da auf dem Tel-
ler liegt, wo es herkommt und wie es produziert
wurde. Dies ist keinesfalls als Freibrief zu einer
willkürlichen Ernährungspraxis zu verstehen,
sondern als Verweis auf die implizite Alltags-
moral, auf der unser täglicher Konsum basiert
(vgl. Grauel 2013). Gemeint sind die körperlich
verinnerlichten Werte und Normen, die nicht
jederzeit bewusst reektiert werden. Anders ge-
sagt: Da wir uns die meiste Zeit von dieser im-
pliziten Alltagsmoral leiten lassen, ist es umso
wichtiger, sich hin und wieder gezielt ethisch
damit zu befassen, was eine gute, verantwort-
liche oder auch nachhaltige Ernährung aus-
macht (Lemke 2012; vgl. auch den Beitrag von
Lemke in diesem Band). Dies dann in der Praxis
ausdauernd und erfolgreich umzusetzen, erfor-
dert inmitten des schnelllebigen Alltags eher
fundierte Faustregeln als strikte Dogmen. Sind
diese erst einmal bewusst erarbeitet und in der
Praxis verinnerlicht, ist eine verantwortungsori-
entierte Ernährungsweise auch ohne tägliche
Auseinandersetzung umsetzbar.
„Wo ein Jäger lebt, können zehn Hirten leben…“
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Fragen
der Nahrungsenergie und ihr Verlust im Rahmen
der Tierproduktion. Anders als beim direkten
Verzehr von Panzen geht bei der Produktion
von Fleisch, Milch oder Eiern unweigerlich dieje-
nige Nahrungsenergie verloren, die das Tier für
seinen Organismus braucht. Welche Nahrungs-
mittel diätetisch im Zentrum einer Gesellschaft
stehen, wie viel Energie sie dafür aufwendet und
wo sie diese Energie hernimmt, sind daher Fra-
gen, die zwangsläug auch mit der Sicherheit
ihrer Ernährung zu tun haben. Die spezisch-
geographische Aufmerksamkeit für räumliche
Zusammenhänge oenbart, wie eng der um-
wandlungsbedingte Verlust von Nahrungsener-
gie auch an den Verbrauch von Flächen gekop-
pelt ist.
Es ist ein zugegeben etwas merkwürdiges
Zitat, das meine Aufmerksamkeit besonders in
Beschlag genommen hat, weil es genau diesen
Bezug darlegt: „Wo ein Jäger lebt, können zehn
Hirten leben, hundert Ackerbauern und tausend
Gärtner“ (angeblich A. v. Humboldt; zit. n. Skri-
ver 1980: XXII). Ob diese Worte wirklich von dem
Geographen und Naturforscher Alexander von
Humboldt (1769–1859) stammen, ist nicht aus-
31
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
reichend belegt.1 Nichtsdestotrotz ist das Zitat
in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen deu-
tet es inhaltlich auf eine Reihe von Ernährungs-
weisen hin, die je nach anfallenden Umwand-
lungsverlusten durch eine unterschiedliche
Inanspruchnahme von Lebensräumen gekenn-
zeichnet sind. Zum anderen ist auällig, dass
sich das Zitat im Internet fast ausschließlich auf
Seiten zu Vegetarismus oder Veganismus wie-
derndet (z.B. beim Vegetarierbund Deutsch-
land). Ganz unabhängig von seiner Echtheit
verweist es auf aktuelle gesellschaftliche Verant-
wortungs-Diskurse, in denen es immer häuger
um den Konsum von Tierprodukten oder eben
den Verzicht auf sie geht.
Insbesondere Fleischkonsum ist ins Blick-
feld einer zunehmend kritischen Öentlichkeit
geraten. Die mediale Auseinandersetzung mit
gesundheitlichen, tierethischen, ökologischen
und sozialen Aspekten der Fleischproduktion
hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Im
gleichen Zuge reichern sich die innenstadtna-
hen Stadtviertel Berlins, Hamburgs und anderer
Großstädte mit vegetarischen und veganen Res-
taurants und Cafés an: „Vegan ist voll im Trend!“
– diese oder ähnliche Schlagzeilen häufen sich
derzeit; im Feuilleton nicht selten auch mit ei-
nem vom Thema übersättigten Unterton. Doch
gerade weil Vegetarismus und Veganismus ten-
denziell als Trends verschrien sind, bleibt die
eigentliche Auseinandersetzung mit den vielfäl-
tigen Gründen für diese Ernährungsweisen oft
oberächlich und dius.
Ein potenzieller, aber hinter tierethischen
und gesundheitlichen Aspekten meist eher
1 Der Theologe Carl Anders Skriver (1980), der eine Liste von Zitaten zusammengetragen hat, die implizit oder explizit für Vegeta-
rismus eintreten, ist dort einen Verweis auf die Quelle leider schuldig geblieben.
im Hintergrund stehender Beweggrund sind
die Umwandlungsverluste in der Tierproduk-
tion. Deshalb ist der Beitrag mit der Absicht
verbunden, zunächst ein Basiswissen darüber
bereitzustellen, mithilfe dessen die Gleichset-
zung von einem Jäger, zehn Hirten, 100 Acker-
bauern und 1000 Gärtnern im Eingangszitat er-
gründet werden soll. Mit diesen „Faustregeln“
im Gepäck wechselt der Schwerpunkt des Bei-
trags anschließend auf ernährungspolitische
Fragestellungen und widmet sich dem Diskurs
über globale Ernährungssicherheit. Anhand von
Prozessen der Modernisierung als konventionel-
lem Ziel von „Entwicklung“ wird der Umstand
beleuchtet, dass Akteure der Agrarpolitik, -wirt-
schaft und -forschung immer wieder Ertragsstei-
gerungen fordern, und zwar, trotz der bereits er-
heblichen Belastungen der Ökosphäre, auch in
Bezug auf Tierprodukte. Ausgehend von der Fra-
ge, weshalb die Zusammenhänge zwischen Um-
wandlungsverlusten und Ernährungsunsicher-
heiten nicht mehr Skepsis hervorrufen, widmet
sich der Beitrag den ideologischen Hintergrün-
den, die den Diskurs über Ernährungssicherheit
dominieren, wie dem Optimismus in Bezug auf
Wirtschaftswachstum, Welthandel und techno-
logische Fortschritte. Dem wird unter Rückgri
auf Post-Development Ansätze ein theoreti-
sches Konzept gegenübergestellt, das unter Be-
rücksichtigung der Umwandlungsverluste eine
kritische Neuerwägung des Verhältnisses zwi-
schen „Entwicklungsländern“ und „entwickelten
Ländern“ erlaubt und alternative Entwicklungs-
pfade zur Modernisierung sichtbar macht.
2. Umwandlungsverluste und Flächenverbrauch bei Tierprodukten
Die folgenden Unterkapitel sollen in die physi-
kalischen und biologischen Hintergründe ein-
führen, die Umwandlungsverlusten ihre ernäh-
rungspolitische Relevanz verleihen. Dazu gehört
32
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
eine knappe Bezugnahme auf den Verlust von
Nahrungsenergie, auf den Verbrauch von Was-
ser, fossiler Energie und landwirtschaftlichen
Flächen sowie auf die Emission von Treibhaus-
gasen und anderen ökologisch bedenklichen
Stoen. Außerdem wird darauf eingegangen,
dass Fleisch gegenüber Milch- und Eiprodukten
in recht unterschiedlicher Weise gesellschaftlich
problematisiert wird, obwohl die ökologisch-so-
zialen Konsequenzen angesichts der in beiden
Fällen anfallenden Umwandlungsverluste ähn-
lich sind.
2.1 Nahrungsenergieverluste und ökologische
Konsequenzen
Um das Eingangszitat tiefgehender zu ergrün-
den, lohnt sich ein Blick in physisch-geogra-
phische bzw. biogeographische Perspektiven
auf Energieüsse in Ökosystemen, in denen
Panzen, Herbivoren und Carnivoren – zumin-
dest im Modell – eine Nahrungs-„Kette“ bilden
(auch wenn die Wirklichkeit eher einem „Netz“
gleichkommt, in dem die Zersetzungsleistungen
von Kleinstlebewesen und Pilzen eine entschei-
dende Rolle für fruchtbare Böden und Panzen-
wuchs spielen). Im Prozess der Photosynthese
wandeln Panzen die Energie des Sonnenlichtes
in Zucker, Fette und Proteine um – also in Nah-
rungsenergie aus Sicht von heterotrophen Le-
bewesen oder auch „Konsumenten“, die sich im
Gegensatz zu Autotrophen (insbesondere Pan-
zen) von anderen Lebewesen ernähren (Gabler
et al. 2009). Grundsätzlich nimmt die in Form
von Biomasse gespeicherte Energie mit steigen-
dem trophischen Level, d.h. je höher wir in der
Nahrungskette gehen, sukzessive ab. Der zweite
Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die
Umwandlung von Energie von einem Zustand in
einen anderen stets mit einem Verlust von Ener-
gie durch Wärme einhergeht (vgl. Lünzer 1979).
Wenn sich ein Organismus von einem anderen
ernährt, geht daher Nahrungsenergie in Form
von Wärme an das System verloren. Lebewesen
müssen atmen und bewegen sich. Die ökologi-
sche Ezienz, also die Rate, mit der Energie von
Panzen auf Herbivoren oder von Herbivoren
auf Karnivoren übertragen wird, liegt durch-
schnittlich nur bei etwa einem Zehntel: „If both
herbivores and carnivores have ecological eci-
encies of only 10%, the ratio of biomass at the rst
trophic level to biomass of carnivores at the third
trophic level is several thousand to one. It obviously
requires a huge biomass at the autotroph level to
support one animal that eats only meat” (Gabler
et al. 2009: 292).
Dieses Prinzip lässt sich auch auf die Land-
wirtschaft übertragen und bietet daher eine
integrative Schnittstelle zwischen physio- und
humangeographischen Forschungsbereichen
und Fragestellungen: Ein Mais- oder Sojafeld
enthält weitaus mehr Biomasse (oder Nahrungs-
energie) als die Rinder, an die dieselben Panzen
verfüttert werden. Der menschliche Konsum von
Rindeisch ist mit einem weiteren Verlust von
Nahrungsenergie verbunden, der über den „Um-
weg“ durch den Organismus der Rinder dement-
sprechend größer ausfällt, als im Falle des direk-
ten Verzehrs von Panzen durch den Menschen
(vgl. Abb. 1). Das Eingangszitat, das auf dersel-
ben Fläche entweder „einen Jäger“ oder „1000
Gärtner“ ansiedelt, mag damit fern von mathe-
matischer Korrektheit liegen, ihm liegt jedoch
dasselbe unumstrittene Prinzip zugrunde: die je
nach Ernährungsweise um ein Vielfaches unter-
schiedlich ausfallenden Energieverluste bei der
Umwandlung von Sonnenlicht in Nahrung. Es
ist durchaus bemerkenswert, dass ausgerechnet
in einem physisch-geographischen Lehrbuch
daraus eine Schlussfolgerung mit (ernährungs-)
politischem Beiklang gezogen wird: „As human
populations grow at increasing rates and agricul-
tural production lags behind, it is indeed fortunate
that human beings are omnivores and can adopt
a more vegetarian diet“ (Gabler et al. 2009: 292).
Bevor ich jedoch näher auf ernährungspoli-
tische Aspekte eingehe, möchte ich eine Über-
33
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
sicht über die Literatur geben, die sich den
unterschiedlichen ökologischen und sozialen
Implikationen von Nahrungsmitteln und Ernäh-
rungsweisen widmet; und dies – im Gegensatz
zu dem mutmaßlichen Humboldt-Zitat – auf ei-
ner soliden empirischen Grundlage. Umwand-
lungsverluste und ihre Wirkungen können unter
sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet
und gemessen werden. Dazu gehören:
● der Verlust von (Nahrungs-)Energie,
● der Verbrauch von Wasser und fossilen Ener-
gieträgern,
● die Emission von Treibhausgasen und andere
ökologisch bedenkliche Stoeinträge,
● sowie der insbesondere aus geographischer
Perspektive relevante Flächenverbrauch.
Als einprägsame Faustregel gilt, dass im
Durchschnitt 10 g Panzenprotein in Form von
Futtermitteln aufgewendet werden müssen, um
1 g tierisches Protein herzustellen (Reijnders &
Soret 2003: 665). Die logische Konsequenz dar-
aus ist ein erhöhter Einsatz und Verbrauch von
Ressourcen zur Herstellung von Futtermitteln.
In den USA beansprucht der Tierhaltungssektor
sieben Mal mehr Getreide, als die gesamte US-
amerikanische Bevölkerung direkt davon ver-
braucht. Das dort als Futtermittel verwendete
Getreide würde ausreichen, um 840 Millionen
Menschen mit panzlicher Kost zu ernähren (Pi-
mentel & Pimentel 2003: 661). Aus ethischer Sicht
liegt der Hinweis nahe, dass dies etwa der Zahl
an Menschen weltweit entspricht, die von der
Food and Agriculture Organization of the United
Nations (FAO) derzeit als hungernd eingestuft
werden (FAO 2014) – eine Problematik, auf die
in den nachfolgenden Abschnitten noch näher
eingegangen wird.
Da die zur Futtermittelproduktion benötigten
Felder in der Regel bewässert werden und die
gehaltenen Tiere selbst Wasser zum Leben ver-
brauchen, ist auch dies ein relevanter Faktor: Die
Produktion eines Kilogramms tierischen Proteins
erfordert 100-mal mehr Wasser als die Produkti-
on eines Kilogramms getreidebasierten Proteins
(Pimentel & Pimentel 2003: 662). Ein weiterer As-
pekt ist der bei Tierprodukten erhöhte Primär-
energieaufwand, der heute überwiegend aus
fossilen Energieträgern gedeckt wird. Zur Her-
stellung synthetischer Düngemittel, beim Trans-
port oder bei der Verarbeitung werden fossile
Rohstoe verbrannt. Der Energieaufwand kann
ins Verhältnis zum Ertrag in Form von Nahrungs-
Abb. 1: Ernährungspotenzial von einem Feld mit Soja und Mais: links bei direktem panzlichen Verzehr,
rechts bei indirektem Verzehr über die Fütterung von Mastrindern (Gabler et al. 2009: 292)
34
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
energie gesetzt werden (Input : Output). Bei
Rindeisch aus bewässerter Intensivlandwirt-
schaft in Nebraska beispielsweise beträgt dieses
Verhältnis 35:1, d.h. es muss 35-mal mehr Ener-
gie aufgewendet werden, als Nahrungsenergie
im Endprodukt enthalten ist (Lünzer 1979: 102).
Je intensiver die Haltungsform, desto höher der
Energieinput. Bei unbewässerter Weidehaltung
in Texas hingegen liegt die Input-Output-Rela-
tion nur bei 5:1. Im Falle besonders extensiver
Haltungsformen ist sogar ein Verhältnis möglich,
bei dem (Nahrungs-)Energie gewonnen wird.
In aller Regel wird bei Tierprodukten jedoch
mehr Energie verbraucht als gewonnen. Bei
panzlichen Produkten ist dies oft umgekehrt,
z.B. wird beim Anbau von Kartoeln bei einem
Verhältnis von 0,2:1 mehr Energie gewonnen als
verbraucht. Völlig anders ist dies wiederum bei
Gewächshausgemüse im Winter, für das bei ei-
nem Verhältnis von 572:1 enorm viel Energie auf-
gewendet werden muss (ebd.). Je nach Untersu-
chungsmethoden mögen verschiedene Studien
dieser Art zu leicht dierierenden Ergebnissen
kommen. Wichtiger als die exakten Zahlen und
unzweifelhaft sind jedoch die Tendenzen: Zum
einen kommt es auf die Produktionsweise an –
industrielle Intensivlandwirtschaft basiert auf
einem hohen Einsatz fossiler Energie, während
dieser Part bei extensiver Landwirtschaft sozu-
sagen gratis von der Sonne übernommen wird.
Zum anderen sind Tierprodukte in der Regel mit
hohen energetischen Verlusten verbunden, weil
das Tier seinen Stowechsel erhalten muss.
Im Angesicht der Umwandlungsverluste ver-
wundert es nicht, dass die Erzeugung tierischer
Produkte in aller Regel mehr Treibhausgas-Emis-
sionen verursacht als die panzlicher (vgl. Tab. 1).
Der Abbau von Stickstodünger auf Feldern
beispielsweise erzeugt beim Getreideanbau
zwar auch dann klimaschädliches Lachgas (N2O),
wenn das Getreide zum direkten menschlichen
Verzehr bestimmt ist; wird es jedoch als Futter-
mittel verwendet, vervielfältigen sich die auf das
tierische Endprodukt bezogenen Emissionen
aufgrund der Umwandlung. Hinzu kommt der
Ausstoß von Methan (CH4) bei Verdauungspro-
zessen von Wiederkäuern (McIntyre et al. 2009).
Neben dem bereits erwähnten Verbrauch von
Tab. 1: Treibhausgas-Emissionen bei tierischen und panzlichen Lebensmitteln in Deutsch-
land; konventionelle Erzeugung, Anbau, Verarbeitung, Handel (v. Koerber et al. 2007: 133;
Wiegmann et al. 2005: 31 )
35
Tierische Lebensmittel Pflanzliche Lebensmittel
CO2-Äquivalente CO2-Äquivalente
(g/kg Lebensmittel) (g/kg Lebensmittel)
Käse 8340 Tofu 1100
Rohwurst 8000 Bio-Tofu** 700
Sahne 7630 Teigwaren 920
Rindeisch* 6430 Mischbrot 770
Eier 1930 Weißbrot 660
Schweineeisch* 1870 Obst 450
Geügeleisch* 1330 Tomaten 330
Jogurt 1230 Kartoeln 200
Milch 940 Gemüse 150
* nur Tierhaltung (ohne Verarbeitung und Handel)
** Fa. Taifun, mit regenerativer Energie
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
Wasser, fossiler Energie sowie Sticksto und
Phosphatdünger, sind bei Tierprodukten ent-
sprechend auch die Stoeinträge von versäu-
ernden Substanzen, Bioziden und Kupfer in die
Ökosysteme entsprechend hoch (vgl. Tab. 2). Be-
vor ich im Anschluss an diese eher datenlastige
Einführung noch zum Aspekt des erhöhten Flä-
chenbedarfs komme, soll zunächst für Fleisch-
produkte und anschließend auch für Milch- und
Eiprodukte etwas näher darauf eingegangen
werden, wie unterschiedlich die mit ihrer Pro-
duktion und ihrem Konsum verbundenen Kon-
sequenzen jeweils gesellschaftlich problemati-
siert werden.
2.2 Fleischprodukte
Fleisch wird aufgrund seines hohen Proteinge-
haltes noch immer oft als gesundheitlich alter-
nativlos dargestellt: „Da bei der Veredelung von
panzlichen Erzeugnissen zu Fleisch beträcht-
liche Veredelungsverluste zu verzeichnen sind,
wird vereinzelt gefordert, die tierische Verede-
lung einzuschränken und die Versorgung der Be-
völkerung über vegetarische Kost zu gewährleis-
ten. Dabei wird jedoch vergessen, dass tierisches
Eiweiß aufgrund seines relativ hohen Anteils an
essentiellen Fettsäuren, die für den menschli-
chen Körper unentbehrlich sind, wertvoll ist“
Tab. 2: Ökologisch relevante Unterschiede zwischen der Produktion von Fleisch-Protein und
verarbeitetem Panzen-Protein auf Soja-Basis. Die Wirkung bezieht sich auf die jeweils glei-
che Menge Protein. Der Wirkung des Soja-Proteins wird zur Veranschaulichung der Wert 1
zugewiesen. (Reijnders & Soret 2003: 665)
(Klohn & Voth 2010: 101). Die Aussagen und For-
mulierungen dieses Zitats aus einem aktuellen
Lehrbuch der Agrargeographie sind in mehrfa-
cher Hinsicht mit Skepsis zu behandeln. Erstens
ist die Verwendung des Begris „Veredelung“
(anstelle von Umwandlung) suggestiv, da sie
eine Aufwertung „minderwertiger“ panzlicher
zu „höherwertigen“ tierischen Lebensmitteln
impliziert. Zweitens ist es untertrieben, wenn die
Einschränkung der Tierproduktion als „vereinzel-
te“ Forderung bezeichnet wird. Auf die Vorteile
einer Reduktion weisen z.B. Smil (2002), Reijn-
ders & Soret (2003), Naylor et al. (2005), Morris &
Kirwan (2006), v. Koerber et al. (2007), Leitzmann
& Keller (2010), Pelletier & Tyedmers (2010) und
Emel & Neo (2011) hin. Drittens wird dabei nicht
einfach „vergessen, dass tierisches Eiweiß […]
wertvoll ist“. Im Gegenteil, eine ganze Reihe von
ernährungswissenschaftlichen Studien belegen,
dass ein hoher Konsum tierischer Produkte mit
ernährungsassoziierten Krankheiten, wie Diabe-
tes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
Krebs, in Verbindung steht und eine Reduktion
zumindest in Ländern mit „westlichen“ Ernäh-
rungsweisen gesundheitlich zu empfehlen ist
(Sabaté 2001; Leitzmann & Keller 2010). Zudem
wird darauf hingewiesen, dass eine vollwertige
vegetarische Ernährung eine bedarfsgerechte
36
Ökologisch relevante Wirkung Wirkung von Relative Wirkung von
Soja-Protein Fleisch-Protein
Landverbrauch 1 6 bis 17
Wasserverbrauch 1 4,4 bis 26
Verbrauch fossiler Energie 1 6 bis 20
Phospatverbrauch 1 7
Emission versäuernder Substanzen 1 >7
Emission von Bioziden 1 6
Emission von Kupfer 1 >100
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
Nährstozufuhr ohne Mangelernährung sicher-
stellen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint
es als Beschönigung, wenn Fleisch als „veredel-
tes“ Produkt bezeichnet wird (s.o.). Bei veganer
Ernährung gibt es allein bei der Versorgung mit
Vitamin B12 keine gesunde Alternative zu Sup-
plementen, da es auf „natürliche“ Weise nur
über tierische Produkte in ausreichender Menge
aufgenommen werden kann (Leitzmann & Keller
2010). Viertens wäre es ein Fehler, die mit Fleisch
verbundenen Probleme auf die menschliche Ge-
sundheit zu reduzieren und dabei ökologische
und soziale Fragen zu vernachlässigen. Ebenso
sehr wäre es ein Fehler, die ernährungsbezoge-
nen Nachhaltigkeitsprobleme auf Fleischpro-
duktion und -konsum zu reduzieren, obwohl
auch bei Milch und Eiern Umwandlungsverluste
anfallen. Letztere werden jedoch, wie ich nach-
folgend herausstellen werde, trotz vergleichba-
rer Auswirkungen seltener und weniger intensiv
problematisiert.
2.3 Milch- und Eiprodukte
In ihrer vergleichenden Analyse einer für die
USA durchschnittlichen eisch-basierten Ernäh-
rungsweise und einer ovo-lakto-vegetarischen
Ernährungsweise kommen Pimentel & Pimentel
(2003) zu dem Schluss, dass der Verbrauch von
Ackerland bei der vegetarischen Variante um
etwa 20 Prozent geringer ist als bei Fleischkost
und letztere durchschnittlich etwas mehr Ener-
gie, Fläche und Wasser beansprucht, insgesamt
sei jedoch aufgrund des erheblichen Verbrauchs
fossiler Energien keine von beiden Ernährungs-
weisen als nachhaltig einzustufen. Anzumerken
ist, dass die Berechnungsgrundlage hier auf ei-
nem ovo-lakto-vegetarischen Ernährungsmo-
dell beruht, in dem Fleisch zu einem nicht un-
erheblichen Teil durch Milch- und Eiprodukte
ersetzt wird. Zum Vergleich: Die Berechnungen
zur Mischkost basierten auf einem jährlichen
Pro-Kopf-Verbrauch von 124 kg Fleisch, 256 kg
Milchprodukten und 15 kg Eiern, während die
eischlose Variante mit 307 kg und 19 kg jeweils
auf einem höheren Verbrauch von Milchproduk-
ten und Eiern beruhte. Auf der einen Seite ist der
Ressourcen- und Flächenverbrauch bei Misch-
kost zwar signikant höher, auf der anderen
Seite reicht der Unterschied nicht aus, um eine
vegetarische Ernährungsweise insgesamt als
nachhaltig anzusehen, da – wenn sie so milch-
und eilastig wie hier ist – auch bei ihr der Anbau
von Futtermitteln erforderlich ist und Umwand-
lungsverluste mit entsprechendem Energie-
verbrauch und ökologischen Konsequenzen
anfallen.
Auällig ist jedoch, dass die bei Pimentel & Pi-
mentel (2003) verwendete Terminologie diesen
hohen Verbrauch von Milchprodukten und Eiern
bei der ovo-lakto-vegetarischen Ernährungswei-
se sprachlich gar nicht widerspiegelt: Diese wird
dort als „plant-based“ bezeichnet und der als
„meat-based“ benannten Mischkost gegenüber-
gestellt, ohne dass die tierischen Produkte der
vegetarischen Ernährungsweise dabei begri-
lich zur Geltung kommen, obwohl bspw. die Be-
zeichnung „dairy-based“ ebenso denkbar wäre.
Unabhängig davon, dass die Analyse durch ei-
nen Vergleich mit einer rein panzlichen vega-
nen Ernährungsweise sicher bereichert worden
wäre, auf die der Begri „plant-based“ dann
auch uneingeschränkt zuträfe, unterstützt die
beschriebene sprachliche Auälligkeit eine The-
se, die sich unter Zuhilfenahme einer diskurs-
theoretischen Perspektive auf den allgemeinen
Umgang mit Tierprodukten in der Ernährung
bezieht: Fleisch steht weitaus häuger im Mit-
telpunkt der medialen Kritik als Milchprodukte
oder Eier.
Dieser Fokus auf Fleisch hängt sicherlich auch
damit zusammen, dass ethische Fragen um das
Töten von Tieren untrennbar mit dem Diskurs
um Fleisch verbunden sind, während eine ve-
getarische Ernährungsethik das Töten von Tie-
ren untersagt. Dabei wird häug ausgeblendet,
dass in der Praxis auch die Menschen, die sich
37
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
im aktuellen protorientierten Landwirtschafts-
system ovo-lakto-vegetarisch ernähren, struk-
turell – über die Preise – in das Töten von Tie-
ren involviert sind; ganz unabhängig von ihren
Idealen. Schließlich sind die männlichen Kälber
von Milchkühen zur Mast vorgesehen. Weniger
bekannt ist, dass ihre Mütter mit etwa drei bis
vier Jahren, wenn die Milchleistung nachlässt,
zu „Altkuheisch“ (Hirschfeld et al. 2008: 140)
verarbeitet werden, obwohl sie eine natürliche
Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren hätten.
Außerdem wird die männliche Hälfte der knapp
45 Millionen Küken, die jährlich in deutschen
Brütereien zur Welt kommen und der Lege-Ras-
se angehören, direkt nach dem Schlüpfen getö-
tet, da die männlichen Küken weder Eier legen
können, noch genetisch zur Mast-Rasse gehören
und infolgedessen keinen als „wirtschaftlich“ er-
achteten Fleischansatz haben (vgl. Statistisches
Bundesamt 2015). Wer dies moralisch verur-
teilt, ohne zu drastischen Verzehrsreduktionen
oder Preiserhöhungen bereit zu sein, steht vor
der vermutlich unlösbaren Frage, wie ein hoher
Konsum von Milchprodukten und Eiern ohne
das Töten von Tieren zugunsten der Endpreise
zu realisieren ist.
Von tierethischen Fragen einmal abgesehen,
verbirgt sich der Kern ökologischer und sozialer
Probleme vor allem in den Umwandlungsverlus-
ten, die bei Tierprodukten, ob nun bei Fleisch,
Milch oder Eiern, grundsätzlich anfallen, wenn-
gleich das Ausmaß der Verluste je nach Pro-
dukt und Verarbeitungsart unterschiedlich ist.
Aufgrund der durchschnittlich hohen Verzehr-
menge verursachen Milchprodukte mit 441 kg
CO2-Äquivalenten pro Person und Jahr den
größten Anteil an den ernährungsbedingten
Treibhausgas-Emissionen; erst an zweiter Stelle
folgt Fleisch mit 213 kg (v. Koerber et al. 2007:
133, die auf Daten von Wiegmann et al. 2005: 29
zurückgreifen).
2.4 Verbrauch und „Import“ landwirtschaftli-
cher Flächen
Aus einer raumzentrierten Sichtweise ist auch
der an die Produktion und den Konsum von
Lebensmitteln gekoppelte Flächenverbrauch
von Interesse. Beispielsweise ist der Flächenbe-
darf bei der Produktion von Käse aus Intensiv-
tierhaltung im Vergleich zu rein panzlichem
„Käse“, der auf eiweißreichen Lupinen basiert,
um das Fünache höher (Reijnders & Soret
2003: 666). Welche Rolle Tierprodukte im Allge-
meinen dabei spielen, möchte ich anhand von
zwei Maßstabs-Ebenen veranschaulichen. Zum
einen ermöglicht ein Blick auf die Nutzung der
landwirtschaftlichen Anbauächen auf natio-
naler und internationaler Ebene eine Makro-
Perspektive, zum anderen bietet der Flächenver-
brauch einzelner Produkte eine Betrachtung auf
Mikro-Ebene.
In Deutschland werden 17 Mio. ha land-
wirtschaftlich genutzt. Das entspricht etwa 50
Prozent der Gesamtäche der Bundesrepub-
lik. Mit 13,7 Mio. ha wird ein Großteil davon für
die Tierhaltung benötigt, inklusive dem Anbau
von Futtermitteln für Milch und Masttiere. Ein
großer Teil dieser Fläche wiederum wird mit
8 Mio. ha durch die Produktion von Fleischwa-
ren beansprucht, was der Gesamtäche Öster-
reichs entspricht (Dräger de Teran 2015: 351).
Ein weiterer Parameter, durch den der Flächen-
verbrauch der Tierhaltung deutlich wird, ist der
Anteil der Futterächen an der gesamten land-
wirtschaftlichen Fläche, der 2011/12 in Deutsch-
land bei 57 Prozent lag (BMEL 2014). Angesichts
der mit der Tierhaltung einhergehenden Um-
wandlungsverluste stellt sich die Frage nach
den räumlichen Auswirkungen eines allgemei-
nen Wandels der Ernährungsgewohnheiten.
Die WWF (World Wide Fund for Nature)-Studie
„Fleisch frisst Land“ macht ein Einsparpotenzial
von 4 Mio. ha aus, vorausgesetzt die Deutschen
würden einerseits weniger Nahrungsmittel ver-
schwenden und andererseits so viel bzw. wenig
38
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
Fleisch essen, wie es die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung (DGE) aus gesundheitlicher Sicht
empehlt (Dräger de Teran 2015: 353). Dass die
Ernährungsstandards in Deutschland jedoch al-
les andere als sparsam sind, zeigt der Umstand,
dass zusätzlich zu den Landwirtschaftsächen
auf deutschem Boden etwa 7 Mio. ha Land „vir-
tuell importiert“ werden, u.a. über Futtermittel-
importe. In Deutschland werden demnach land-
wirtschaftliche Flächen anderer Länder in einer
Größenordnung von 40 Prozent der eigenen Flä-
chen mitgenutzt (ebd.: 348). Zum Vergleich: Die
gesamte EU „importiert“ etwa 30 Mio. ha Land,
wovon mit 17 Mio. ha der größte Teil auf den Im-
port von Soja-Futtermitteln aus Südamerika zu-
rückfällt (Tanzmann 2015: 337). Brasilien, dessen
Soja-Anbauächen sich in den letzten 15 Jahren
mehr als verdoppelt haben, baut auf 24 Mio. ha
Sojabohnen an (WWF 2011: 337). Bei konstan-
ten Entwaldungsraten, so wird vermutet, könn-
te diese Fläche noch auf 40 Mio. ha oder mehr
anwachsen (Naylor et al. 2005: 1622). Die Makro-
Perspektive am Beispiel Deutschland oenbart,
dass für einen Großteil der hiesigen Produk-
tions- und Konsummuster Umwandlungsver-
luste anfallen. Aufgrund von Flächenimporten
bestehen zudem Verantwortungsbeziehungen
(z.B. in Bezug auf Entwaldung), die weit über die
nationalen Grenzen hinausgehen. Länder, die
Fleisch oder Futtermittel importieren, zahlen
zwar die direkten Produktions- und Transport-
kosten, sie verlagern jedoch die Kosten für die
beeinträchtigte Wasserversorgung und -qualität
sowie Biodiversitätsverluste in die exportieren-
den Länder. Diese (Umwelt-)Kosten nden in der
Regel keinen Eingang in die davon entkoppelte
industrielle Futter-Tierhaltung und die Endprei-
se (ebd.).
Ein Zoom auf die Mikro-Ebene einzelner
Produkte kann den Zusammenhang zwischen
Umwandlungsverlusten, Landnutzung und Er-
nährungsgewohnheiten weiter veranschauli-
chen. Um 1 kg Rindeisch herzustellen, werden
27 qm – also die Fläche einer gewöhnlichen
1-Zimmer-Wohnung – beansprucht (vgl. Abb. 2).
Demgegenüber erfordert der Anbau von 1 kg
Abb. 2: Ackerächenverbrach bei der Herstellung verschiedener panzlicher
und tierischer Lebensmittel (Eigener Entwurf und eigene Berechnungen mit
Daten von Dräger de Teran 2015: 350)
39
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
Kartoeln lediglich ein Quadrat von 50 mal 50
cm. Nehmen wir nicht das Produkt, sondern die
Fläche als Fixpunkt, wird besonders deutlich,
wie viel Nahrungsenergie durch Tierhaltung
verloren geht: Auf 0,25 qm Ackeräche können
1000 g Kartoeln, aber nur 9 g Rindeisch er-
zeugt werden. Mit Umwandlungsverlusten ist es
demnach deutlich schwieriger, eine Familie über
den Tag zu bringen. Da es jedoch schöner ist, das
Glas nicht als halbleer zu betrachten, sondern als
halbvoll, hilft es, sich zu veranschaulichen, was
auf einer Ackeräche von 27 qm theoretisch er-
bracht werden kann: entweder 1 kg Rindeisch,
3 kg Schweineeisch, 19 kg Weizen oder 110 kg
Kartoeln.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen verwun-
dert es nicht, dass die aus Südamerika stammen-
de Kartoel mit dem Aufstieg Deutschlands,
Großbritanniens und Russlands zu politischen
Weltmächten in Verbindung gebracht wird,
nachdem sie sich in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts immer weiter in Europa ausbreite-
te. In den Höhenlagen der Anden beheimatet,
war die Kartoel hervorragend an das relativ
kühle und feuchte Klima in den nördlichen Län-
dern Europas angepasst, die bis dato auf gegen-
über Wettereinüssen empndlicheres Getrei-
de angewiesen waren und immer wieder unter
Missernten zu leiden hatten. Der Vitamin C-rei-
chen Knolle wird daher eine Beteiligung an der
Machtverschiebung von den Mittelmeerländern
nach Norden zugesprochen (Weatherford 1988).
Auf die durchaus interessante Geschichte der un-
scheinbaren Kartoel soll an dieser Stelle nicht
näher eingegangen werden. Ihr Beispiel verdeut-
licht jedoch, dass Praktiken der Ernährung auch
in Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Macht-
verhältnissen stehen. Ernährungs(un)sicherheit
wird auch ganz wesentlich davon beeinusst,
welche Nahrungsmittel diätetisch im Zentrum
einer Gesellschaft stehen. Da Tierprodukte in
den meisten Gesellschaften einen hohen Stel-
lenwert haben und die Konsumraten insbeson-
dere in den reichsten Ländern hoch sind, müssen
die damit verbundenen nahrungsenergetischen
Verluste auch in den diskursiv umstrittenen Kon-
text einer steigenden und hungrigen Weltbe-
völkerung sowie in den breiteren Rahmen der
Nord-Süd-Beziehungen gestellt werden. Auf die
Frage, wie die Versorgung der Menschheit auch
in Zeiten von immer gehäufter auftretenden
Extremwetterereignissen sichergestellt werden
kann, ist die Steigerung der landwirtschaftlichen
Produktivität eine zunächst nahe liegende Ant-
wort – zweifelhaft bleibt dabei jedoch, ob der
Entwicklungspfad der Modernisierung, um den
es im Folgenden geht, auch mit dem Anspruch
vereinbar ist, ökologisch und sozial verantwort-
lich zu leben.
Insbesondere Hunger ist ein Thema, das seit
langem die entwicklungs- und agrarpolitischen
Debatten dominiert. Gestützt durch den von
den Vereinten Nationen erwarteten Anstieg der
Weltbevölkerung auf 9 bis 10 Mrd. Menschen bis
2050 (für jüngste Prognosen siehe United Na-
tions 2015) besteht weitgehend Konsens darü-
ber, dass Ernährungssicherheit eine zukünftige
Herausforderung ist und Handlungsbedarf auch
3. Modernisierung als dominanter Pfad der Entwicklung
bezüglich der Zusammenhänge von Ernährung
und Klimawandel besteht.
In Bezug auf Lösungsansätze für diese Pro-
bleme deutet vieles auf ein persistentes Ver-
trauen in Prozesse der Modernisierung und die
damit einhergehenden Werte und Normen hin.
Aufschlussreich ist diesbezüglich Tomlinsons
(2013) Analyse, in der sie die ideologischen Prä-
dispositionen ergründet, die zur insbesondere
40
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
2 D er Begriff ist in Anführ ungszeichen gesetz t, weil er leicht die Suggestion e rwecken kann, es handele si ch dabei um eine quanti-
tative Knappheit an Nahrungsmitteln. Tatsächlich war die Krise eine soziale und zeichnete sich durch gestiegene Preise und das
Leid derer aus, die sich trotz Rekordgetreideernten ihre Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten konnten.
nach der „Nahrungskrise“2 von 2008 stark ver-
tretenen Auassung geführt haben, es gäbe zur
Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion
um 70 bis 100 Prozent bis 2050 keine Alternative.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass diese auf
FAO-Berichte zurückgehenden Zahlen aufgrund
der zu befürchtenden ökologischen Kosten zu-
nächst ausdrücklich als nicht-wünschenswertes,
aber wahrscheinliches Szenario behandelt wur-
den (Brunisma 2003; FAO 2006). Erst infolge der
Beunruhigung durch die Krise von 2008 wurde
die Steigerung der Produktion von zahlreichen
Akteuren der Agrarpolitik und -wirtschaft von
einem Szenario zu einem alternativlosen Impe-
rativ umformuliert (Tomlinson 2013). Diese Form
der Verselbständigung einer Statistik lässt Tom-
linson auf eine ideologische Einbettung des Dis-
kurses über Ernährungssicherheit schließen. Als
charakteristisch dafür nennt sie ein tiefgehen-
des Vertrauen
● in die Generierung von Wohlstand und Fort-
schritt durch Wirtschaftswachstum,
● in den liberalisierten Handel mit landwirt-
schaftlichen Produkten für den Weltmarkt,
● in technologische oder naturwissenschaftli-
che Problemlösungen.
Zur Veranschaulichung und Ergänzung dieses
ideologischen Musters bieten sich zwei weite-
re Beispiele mit Bezug zu Ernährungssicherheit
an. Im ersten geht es um die infolge der Krise
aufgekommene produktivistische Vision einer
sustainable intensication, die Lang & Barling
(2012: 314) allerdings als „Oxymoron“ entblößen,
da der Begri die Vereinbarkeit zweier äußerst
gegensätzlicher Konzepte suggeriert: Landwirt-
schaftliche Intensivierung (mittels Gentechnik,
Nanotechnologie, Genomik oder Computerisie-
rung), so der Anspruch des Konzeptes, soll dank
Ezienz-Gewinnen nun auf nachhaltige Weise
gelingen. Das Paradigma der Ezienz verheißt
die Möglichkeit, Energie weiterhin in großem
Rahmen nutzen zu können, ohne dass Knapp-
heit oder übermäßige Umweltbelastungen dro-
hen (Zachmann 2012). Seine Dominanz mag eine
Erklärung dafür sein, weshalb ausgerechnet in
die Technologien der industriellen Agrar- und
Chemiekonzerne das Vertrauen gesetzt wird,
die Ökosphäre zukünftig zu entlasten. Das zwei-
te Beispiel bezieht sich auf den Prozess der nut-
rition transition, der die Ausbreitung „westlicher“,
d.h. fett-, zucker- und tierproduktlastiger Ernäh-
rungsgewohnheiten bei steigenden Einkommen
bezeichnet (Sage 2013). Einerseits ist dies z.B. in
China und Indien tatsächlich empirisch beob-
achtbar (vgl. Emel & Neo 2011), andererseits ist
es problematisch, wenn daraus Projektionen im
Sinne eines quasi-natürlichen Prozesses bzw.
eines alternativlosen Entwicklungspfades abge-
leitet werden. Selbst in einem aktuellen agrar-
geographischen Lehrbuch nden sich verabso-
lutierende Aussagen über die Zukunft, wie z.B.
„die Welteischproduktion muss von etwa 270
Mio. t im Jahr 2008 auf ca. 465 Mio. t [im Jahr
2050] ausgeweitet werden“ (Klohn & Voth 2010:
100 f). Die sukzessive Etablierung von im Norden
als „normal“ akzeptierten Lebensstandards wird
dabei vorausgesetzt, während der sozio-materi-
elle Aufwand hinter diesen Praktiken unhinter-
fragt bleibt.
Die obigen Beispiele eint ein eurozentrisches
Unvermögen, sich eine Welt außerhalb moder-
ner Werte, Normen und Praktiken vorzustellen
(vgl. Gibson-Graham 2005). Mit diesem Urteil
sollen die humanistischen Absichten, die hinter
der Beschäftigung mit Ernährungssicherheit lie-
gen mögen, keineswegs bagatellisiert werden,
doch die monokulturelle Orientierung an kapita-
listischer Produktivität, Ezienz und Wachstum
41
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
als einzig vernünftigem Entwicklungspfad ver-
schleiert die daraus resultierenden Konsequen-
zen: „Dass nämlich die Industrieländer global die
eigentlichen ‚Senken‘ für Ressourcen darstellen.
Für ihren Konsum ießen sie aus der ganzen
Welt zusammen“, wie Fischer-Kowalski et al.
(2011: 108) unter dem Gesichtspunkt des „ge-
sellschaftlichen Stowechsels“ thematisieren.
Ein oben bereits erwähntes Beispiel hierfür sind
die virtuellen Flächenimporte Deutschlands und
der Europäischen Union.
Dem Denken der Moderne ist eine gewisse
Blindheit für Alternativen, frei vom Bewusstsein
für die eigenen Scheuklappen, zu Eigen. Beson-
ders typisch erscheint mir die Tendenz, sich rein
technologisch mit der Frage zu befassen, wie ak-
tuelle Konsummuster unter Beibehaltung nach-
haltig zu gestalten sind. Ausgeblendet wird,
dass gerade in ihrer Veränderung eine Chance
für Nachhaltigkeit und Ernährungssicherheit be-
steht – Ezienz steht über Suzienz. Lösungs-
ansätze, die eine Politik der sozialen und öko-
nomischen Regulation einschließen, überhaupt
erst in Erwägung zu ziehen, stünde nicht nur der
neoliberalen Orientierung unserer Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung diametral entgegen,
es würde auch erfordern, die aktuellen Macht-
verhältnisse und Verantwortungsbeziehungen
im Nord-Süd-Kontext grundsätzlich infrage zu
stellen:
„Of course much of the change in the global
South derives from the increasing industrialisation
and wealth of a few of its constituent countries.
Yet it is argued that in no foreseeable technology
could the planet cope with everyone living at the
standards now common in the global North. Who
then must change?“ (Massey 2013: 9)
4. Post-Development: Kritik am Universalismus moderner Entwicklung
Insbesondere die in den 1970er Jahren orieren-
den Dependenztheorien sind für ihre Kritik an
Prozessen der Modernisierung bekannt. Aller-
dings beschränkt sich die Kritik oft auf die zwi-
schen Zentren und Peripherie erzeugten sozialen
Ungleichheiten und Abhängigkeitsverhältnisse
(Ziai 2014a). Dies bedeutet nicht automatisch,
dass damit auch die Moderne selbst abgelehnt
wird, vielmehr wird sie „als gesellschaftliche Ziel-
vorstellung (und die damit verknüpfte zentrale
Rolle wirtschaftlichen Wachstums) in der Regel
geteilt“ (ebd.: 28). Selbst im Kontext kritischer
Ansätze ist die technologische Überlegenheit
der „entwickelten“ Länder also nach wie vor An-
lass zum Optimismus. Unberücksichtigt bleiben
dabei die durch Masseys Zitat oben angedeute-
ten Zweifel, ob stetiges Wachstum in einer end-
lichen Welt überhaupt machbar und moderne
Lebensstandards als Ziel von „Entwicklung“ uni-
versalisierbar sind.
Eine in dieser Hinsicht zeitgemäße und tiefer-
gehende Kritik an der Moderne liefern die etwas
jüngeren entwicklungstheoretischen Post-De-
velopment (PD) Ansätze (vgl. dazu auch Band
5 des „Hamburger Symposiums Geographie“,
Neuburger 2013). Ihre Ursprünge liegen zwar
im Lateinamerika der 1980er Jahre, die bedeu-
tendsten Publikationen fallen jedoch in die Zeit
nach dem Ende der Ost-West-Blockkonfron-
tation (Sachs 1992; Escobar 1995; Esteva 1995;
Rahnema 1997; für eine ganze Reihe weiterer
Quellen siehe Ziai 2012, 2014a, b). Kern der An-
sätze ist eine Fundamentalkritik des Begris
und des Konzeptes von „Entwicklung“, das als
eine Ideologie oder als „bösartiger Mythos“ des
Westens (Esteva 1991: 76) angesehen wird, weil
dadurch den Menschen im Globalen Süden eine
nachholende Angleichung der Lebensstandards
an jene der „entwickelten“ Länder versprochen
wurde. Zum einen wurde dieses Versprechen in
Jahrzehnten der „Hilfe“ bzw. der „Entwicklungs-
zusammenarbeit“ nicht annähernd eingelöst,
42
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
zum anderen zweifeln die PD-Ansätze „nicht nur
an der Erreichbarkeit, sondern an der Wünsch-
barkeit des universellen Ziels einer industriellen
Massenkonsumgesellschaft“ (Ziai 2012: 133 f).
PD-Ansätze fokussieren im Wesentlichen zwei
mit der Moderne verbundene (Ausbeutungs-)
Prozesse:
● Sie schärfen den Blick für den Umstand, dass
nicht objektiv feststellbar ist, wer oder was
„entwickelt“ (oder eben nicht) ist, vielmehr
wurden und werden diese Kategorien in ei-
nem historischen, diskursiven Prozess fort-
während gesellschaftlich ausgehandelt. Ex-
emplarisch dafür ist die zweite Antrittsrede
des US-Präsidenten Truman von 1949: „More
than half the people of the world are living in
conditions approaching misery. Their food is
inadequate. They are victims of disease. Their
economic life is primitive and stagnant […] in
cooperation with other nations, we should fos-
ter capital investment in areas needing develop-
ment. Our aim should be to help the free peoples
of the world, through their own eorts, to pro-
duce more food, more clothing, more materials
for housing, and more mechanical power to
lighten their burdens“ (Truman 1949; zit. n. Ziai
2014b: 100 f). In dieser Rede, so die PD-Kritik,
diagnostiziert Truman die Lebensweisen der
Hälfte der Menschheit als „unterentwickelt“,
zwei Milliarden Menschen erhalten eine dezi-
täre Identität. Kapitalinvestitionen werden da-
bei als wohltätiger Beitrag der USA zur Über-
windung von „Unterentwicklung“ betrachtet
– unerwähnt bleiben die aus dem Kolonialis-
mus hervorgegangenen und fortwährenden
Prozesse der Ausbeutung von Menschen und
materiellen Ressourcen im Globalen Süden
durch den Norden.
● Anknüpfend an diese sozialen Ausbeutungs-
prozesse, schließt die PD-Kritik auch ökolo-
gische mit ein. Aufgrund der Zerstörung der
natürlichen Lebensgrundlagen durch alltäg-
liche, mit „Entwicklung“ in Verbindung ge-
brachte Produktions und Konsumpraktiken,
wird immer deutlicher, dass die Überuss-
gesellschaften nicht mehr als einzuholende
Vorbilder gelten können, zumal die Eingrie
in die Ökosphäre, ob nun in der Ära des Kolo-
nialismus oder der Entwicklung, immer noch
überwiegend der „entwickelten“ Welt mate-
riell zugutekommen (vgl. Fischer-Kowalski et
al. 2011).
Die nach wie vor gängige Einteilung der Welt
in „entwickelte Länder“ und „Entwicklungslän-
der“ wird aus Perspektive der PD-Ansätze als
eurozentrisch, entpolitisierend und autoritär
angesehen, weshalb Ziai (2014b) dafür plädiert,
den schwammigen Begri „Entwicklung“ heut-
zutage ganz fallen zu lassen. Aufgrund der fun-
damentalen Kritik der PD-Ansätze an der hege-
monialen Ordnung ist es kaum verwunderlich,
dass auch sie in der entwicklungstheoretischen
Debatte auf vehemente Kritik gestoßen sind.
In Auseinandersetzung mit den gängigsten
Vorwürfen stellt Ziai (2012, 2014b) heraus, dass
zumindest die als neopopulistisch zu bezeich-
nenden Positionen innerhalb der PD-Literatur
potenziell reaktionäre politische Konsequenzen
beinhalten. Eine Gefahr besteht darin, dass – in
Ablehnung der globalen kapitalistisch-beding-
ten ungleichen Machtverhältnisse – lokale Ge-
meinschaften und deren kulturelle Traditionen
romantisiert und die dort ebenso bestehenden
Ungleichgewichte ausgeklammert werden.
Zudem liegt ein allzu binäres Denken darin, so
ein weiterer Vorwurf, die „westliche“ Moder-
ne pauschal zu verurteilen, ohne ihre positiven
und befreienden Aspekte zu berücksichtigen
(Ziai 2014b). Ein letzter ernstzunehmender As-
pekt ist der Vorwurf des Paternalismus, wenn
den Menschen im Globalen Süden auf Basis von
„Expertenwissen“ die Möglichkeit vorenthalten
wird, sich für „westliche“ Lebensweisen zu ent-
scheiden, also dem Entwicklungspfad des Wirt-
schaftswachstums und der Industrialisierung
bewusst zu folgen.
43
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
Unter Berücksichtigung dieser Kritik ist es
möglich, das Konzept moderner Entwicklung
und die ungleichen Machtbeziehungen zu kriti-
sieren, ohne binär in schlechte, globale Moder-
nisierung und gute, lokale Traditionen zu unter-
teilen. Im Angesicht des Paternalismus-Vorwurfs
verspürt auch Ziai (2014b: 105) ein Unbehagen
dabei, „für Andere gesellschaftliche Zielvorstel-
lungen zu formulieren“.
Da gesundheitliche und tierethische Fragen oft im
medialen Fokus sind, obwohl sich das Spektrum
verantwortungsorientierter Ernährungsweisen
nicht darauf reduzieren lässt, erscheint eine
gezielte Auseinandersetzung mit ökologischen
und humanethischen Aspekten umso wichtiger.
Es ist noch immer ein Alleinstellungsmerkmal
der Geographie, natur- und sozialwissenschaft-
liche Prozesse in ihren Bezügen zueinander zu
analysieren. Sich im Erdkundeunterricht oder in
der Hochschullehre mit Umwandlungsverlusten
zu befassen, erfordert und fördert genau diese
Kernkompetenz. Aus dem Sonnenlicht, der Aus-
gangsenergie fast allen irdischen Lebens, erzeu-
gen Panzen mittels Photosynthese Nahrungs-
energie, die der Mensch in seinen wechselnden
Rollen als Herbivore entweder direkt verzehren
kann oder deren Energie er als Karnivore indirekt
mittels Jagd oder Tierzucht verfügbar macht.
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
stellen den unweigerlichen Verlust panzlicher
Nahrungsenergie an die Umwelt aufgrund der
Aktivität des tierischen Organismus dar, was die
Vervielfachung des Ressourcen- und Flächenver-
brauchs um beachtliche Faktoren zur Folge hat.
Sie spielen daher eine Schlüsselrolle, wenn es
um die Verbindung aktueller Produktions- und
Konsumraten von Tierprodukten, insbesondere
für den Globalen Norden, zum Klimawandel und
zu globaler Ernährungssicherheit geht.
Ein hoher Konsum von Tierprodukten ist für
die meisten Menschen im Globalen Norden nicht
nur Normalität und alltägliche Praxis, die ubiqui-
täre Verfügbarkeit von Fleisch, Fisch, Milchpro-
dukten und Eiern ist sogar Teil dessen, was den
5. Schlussbemerkungen
Norden erst als „entwickelt“ auszeichnet. Die
verabsolutierende Annahme einer nutrition tran-
sition suggeriert, dass „Entwicklungsländer“ dies
als natürlichen Pfad der Modernisierung nachzu-
holen hätten. Mit den Post-Development-Ansät-
zen muss die Natürlichkeit, Universalisierbarkeit
und Wünschbarkeit dieser Entwicklung jedoch
in Frage gestellt werden. Sie schärfen den Blick
für das, was mit der Verheißung „entwickelter“
Lebensstandards in den Hintergrund tritt, dass
sie nämlich auf ungleichen Machtverhältnissen
und Extraktionsprozessen beruhen, die zu Las-
ten der meisten Menschen im Globalen Süden
und der Ökosphäre gehen.
Ein bereits genanntes Beispiel sind die virtuel-
len Flächenimporte durch den Soja-Anbau, mit
dem die deutsche Fleisch- und Milchwirtschaft
ihren Futtermittelbedarf deckt und Lebensmit-
tel bereitstellt, aber eben auch Nahrungsenergie
in Brasilien entzieht und die Ökosphäre belastet.
Ein möglicher Einwand gegenüber der Kritik
an der Tierhaltung ist die Tatsache, dass auch
das bei vegetarischer oder veganer Ernährung
beliebte Tofu bei weitem nicht nur aus europä-
ischen Sojabohnen, sondern häug ebenfalls
aus Brasilien stammt. Das Problem des externen
Anbaus und der weiten Transportwege auch für
vegane Produkte soll hier keineswegs aussen
vor gelassen werden. Allerdings ist für einen fai-
ren Vergleich ein entscheidender Unterschied
zu beachten: Für die Produktion von Tofu fal-
len keine Umwandlungsverluste an, so dass der
Ressourcenbedarf und die Emissionen um ein
Vielfaches geringer sind (vgl. Tab. 1). Unter Be-
rücksichtigung des sechs bis 17-mal höheren
44
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
Landverbrauchs bei der Herstellung von Fleisch-
Protein gegenüber Soja-Protein wird deutlich,
dass sich die Belastungen durch die Tierproduk-
tion in ganz anderen Dimensionen abspielen
(vgl. Tab. 2). Jedes Stück Soja-Protein, das anstelle
von Fleisch verzehrt wird, lindert daher den Flä-
chenverbrauch und Entwaldungsdruck in Brasili-
en, selbst wenn es dort hergestellt wird. Zudem
entfallen beim Beitrag des Ernährungssektors
zum Treibhauseekt nur 13 Prozent auf den
Transport bis zum Einzelhandel. Die Erzeugung
tierischer Lebensmittel trägt 44 Prozent bei, die-
jenige panzlicher nur 8 Prozent (der Rest geht
auf Verbraucheraktivitäten und Verarbeitung zu-
rück; v. Koerber et al. 2007: 132). Wenngleich der
Transport auf der Nachhaltigkeits-Agenda also
keineswegs außen vor gelassen werden sollte,
legen die genannten Zahlen nahe, dem gesell-
schaftlichen Umgang mit Tierprodukten höchs-
te Priorität beizumessen (vgl. Garnett 2011).
Abb. 3: Drei idealtypisch vereinfachende Modelle zur Veranschaulichung von Umwandlungsverlusten
(Eigener Entwurf)
a
b
c
Unterschiedlicher Flächenverbrauch
zwischen panzlichen und
tierischen Produkten bei gleicher
Nahrungsenergie
Mehr Nahrungsenergie mit
panzlicher Kost
bei gleicher Ackeräche
Mehr Freiächen bzw. neue
Nutzungsmöglichkeiten bei gleicher
Nahrungsenergie mit panzlicher
statt tierischer Kost
45
Hamburger Symposium Geographie – Geographien der Ernährung
Aufgrund der Komplexität ernährungsbezo-
gener Nachhaltigkeitsprobleme bietet es sich
einerseits an, möglichst viele Hebel in Gang zu
setzen, um die negativen Eekte von Umwand-
lungsverlusten zu vermindern, andererseits ist
auch die Frage unerlässlich, wo die Hebelwir-
kung am größten ist. Zu analytischen Zwecken
wurden in diesem Beitrag technologische Lö-
sungsansätze von sozialen unterschieden. Ähn-
lich wie im Energie-Sektor ist es zwar möglich,
die Umwandlungsverluste durch technologi-
sche Innovationen zu vermindern, aber selbst
bei einer optimistischen Auslegung ist eine Re-
duktion der mit Tierhaltung verbundenen Emis-
sionen auf ein nachhaltiges Niveau allein durch
Ezienzgewinne unwahrscheinlich (Pelletier
& Tyedmers 2010). Ein Ansatz, der auch soziale
Veränderungen in Betracht zieht, könnte durch
die Reduktion der Produktion und des Konsums
von Tierprodukten wohl eine weitaus größere
Hebelwirkung entfalten.
In den vorangegangenen Unterkapiteln wur-
de jedoch deutlich, dass ideologische Prädis-
positionen bestehen, welche den Pfad der Mo-
dernisierung als alternativlos konstituieren. Im
Lichte der Selbstverständlichkeit, mit der die
„entwickelte“ Welt von den „Entwicklungslän-
dern“ unterschieden wird, treten „westliche“
Produktionsweisen als „normal“ und entspre-
chende Konsumgewohnheiten als unverän-
derbar in Erscheinung. Die ökologischen und
sozialen Kosten dieser Praktiken sowie die Mög-
lichkeit, sie zu verändern, bleiben unhinterfragt.
Exemplarisch dafür liegt in Entwicklungsprojek-
ten der Schwerpunkt meist auf wirtschaftlicher
Zusammenarbeit und technologischen Innova-
tionen im Süden, während die Verminderung
sozialer Ungleichgewichte in den Nord-Süd-
Beziehungen kaum in Erwägung gezogen wird.
Der Mangel wird im Süden, nicht im Norden
verortet. Nach ähnlichem Muster wird bei Nach-
haltigkeitsproblemen bevorzugt nach Wegen
gesucht, Prozesse technologisch zu optimieren,
um einmal erlangte Lebensstandards gar nicht
erst antasten zu müssen. In beiden Fällen wer-
den die Chancen, die in sozialem Wandel liegen,
von vorneherein ausgeschlossen.
Umwandlungsverluste in der Tierproduktion
sind jedoch ein Paradebeispiel dafür, dass sich
diese Erwägung auszahlt. Eine relativ zum Status
quo gesehen veganere Ernährung (denn es geht
mir in diesem Plädoyer nicht um eine dogmati-
sche Umsetzung von Veganismus, sondern zu-
nächst einmal um eine praktische Hinwendung
zu dieser Lebensweise) erönet aufgrund der
Umgehung der Umwandlungsverluste zwei ide-
altypische Möglichkeiten bzw. Chancen: Entwe-
der eine Vervielfachung der landwirtschaftlichen
Produktion bzw. der quantitativ bereitgestellten
Nahrungsenergie auf der gleichen Fläche (Abb.
3b) um einen Faktor, den abzusehende techno-
logische Innovationen nicht bieten können (es
genügt, sich noch einmal zu vergegenwärtigen,
dass allein das in den USA als Futtermittel ver-
brauchte Getreide theoretisch ausreichen wür-
de, um alle Hungernden auf der Welt zu ernäh-
ren). Oder aber die Konversion von Futtermittel
in Freiächen, sofern es der Anspruch ist, ledig-
lich vergleichbare Mengen von Nahrungsener-
gie bereitzustellen wie derzeit (am besten dann
unter gerechter Verteilung der vorhandenen
Mittel; Abb. 3c). Und was könnte – gerade aus
geographischer Sicht – verlockender sein, als
freier Raum, der neue Möglichkeiten erönet?
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Steen Hirth
The University of Manchester
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188 Waterloo Place, Oxford Road, Manchester M13 9PL, UK
steen.hirth@postgrad.manchester.ac.uk
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