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Aktivierung von Studierenden im Inverted Classroom: Neue Möglichkeiten für die
Lehre der Friedens- und Konfliktforschung
Daniel Lambach, Caroline Kärger
Abstract
Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung sollen Studierenden neben einem
umfassenden Wissensbestand auch praxis- und anwendungsbezogene Kompetenzen vermitteln.
Dies verlangt Veranstaltungsformate, die Lernprozesse zur aktiven Aneignung dieser
Kompetenzen ermöglichen. Das Inverted Classroom Model (ICM) stellt eine Möglichkeit dar,
in Vorlesungen und Seminaren Freiräume für aktives Lernen zu schaffen, indem passive
Lernaktivitäten in die Vorbereitungsphasen einer Veranstaltungssitzung verlagert werden und
Präsenzphasen zur Einübung und Anwendung höherwertiger Kompetenzziele genutzt werden.
Der vorliegende Beitrag soll eine Hilfestellung sein, Kurse im ICM-Format zu konzipieren und
umzusetzen. Dazu werden zunächst das ICM und seine Wirksamkeit kurz vorgestellt. Darauf
basierend diskutieren wir anhand eigener Erfahrungen Schritte zur Konzeption eines ICM-
Kurses sowie der einzelnen Lerneinheiten. Abschließend resümieren wir verschiedene
Herausforderungen der Umsetzung einer Lehrveranstaltung im ICM-Format und geben
insbesondere für Kolleg_innen, die erstmals an einer Kursgestaltung im ICM-Format
interessiert sind, Ratschläge zur Umsetzung.
Schlüsselwörter: Inverted Classroom, Flipped Classroom, Kompetenzorientierung, aktives
Lernen, Hochschullehre
1. Einleitung
Was sollten Studierende der Friedens- und Konfliktforschung (FuK) am Ende des Studiums
können und wie sollen ihnen diese Fähigkeiten vermittelt werden? Ein Konsens über die
Kompetenzen, die FuK-Studierende erwerben sollen, steht noch aus. In der Darstellung der
damals neu eingeführten Master-Studiengänge (Brühl, et al. 2005) wird sehr viel über die
Inhalte und thematischen Profile der verschiedenen Angebote gesprochen, auch über die
möglichen Berufsfelder von AbsolventInnen. Die Kompetenz- und Lernziele werden aber nur
vereinzelt und meist sehr kurz angesprochen.
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Dennoch gibt es in manchen Punkten Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Angeboten.
Betont werden beispielsweise die Analysekompetenz (inkl. der interdisziplinären Verknüpfung
von Wissen, Transferfähigkeit), soziale Kompetenzen (z.B. Empathie, Team- und
Kooperationsfähigkeit, interkulturelle Kompetenz) sowie Selbstkompetenz (inkl.
Kritikfähigkeit). Über diesen Punkt sollte aber noch systematisch nachgedacht werden, zumal
sich die deutsche FuK als inter- bzw. transdisziplinäres Feld versteht und es sich daher über
seine Lern- und Kompetenzziele verständigen sollte. Hier wäre es auch notwendig, das
Verhältnis zur Friedenspädagogik zu klären, die in dieser Hinsicht bereits deutlich weiter zu
sein scheint (z.B. Jäger 2014).
Worin sich die Disziplin aber einig zu sein scheint, ist die Notwendigkeit, bei der FuK-Lehre
möglichst auf die „althergebrachten“ Lehrformen der Vorlesung und des „Referate-Seminars“
zu verzichten (Imbusch/Zoll 2010). Die verschiedenen Beiträge in Brühl et al. (2005) betonen
regelmäßig die Vielfalt ihrer didaktischen Methoden. Als Beispiele werden immer wieder
Simulationen, Planspiele, Exkursionen oder praxisbezzogene Übungen genannt. Die Beiträge
zur Didaktik in der ZeFKo (z.B. Buckley-Zistel 2012, Romund 2014) ergänzen diesen Befund.
Die Gemeinsamkeit dieser beispielhaft genannten Lehrformen ist, dass sie alle auf aktivem
Lernen beruhen. Dies ist begrüßenswert, da die Lehr-Lern-Forschung deutlich zeigt, dass
anspruchsvolle Lernziele und praktische Kompetenzen am besten durch aktives Lernen
vermittelt werden können (Freeman, et al. 2014).
In manchen Fällen mag es aber aus kapazitären oder anderen Gründen notwendig sein,
Veranstaltungen als Vorlesung anzubieten. In diesen Veranstaltungen bleiben Studierende
passive Empfänger von Wissen, das Einüben und Anwenden – sicherlich die schwierigsten
Teile des Lernprozesses – bleiben ihnen dabei weitgehend selbst überlassen. Wie kann man in
diesem Kontext den Studierenden die Möglichkeit zum aktiven Lernen geben?
Wir möchten in diesem Beitrag das Inverted Classroom Model (ICM) – auch bekannt als
Flipped Classroom bzw. Flipped Learning – als Möglichkeit präsentieren, Freiräume für
aktives Lernen zu schaffen. Die zentrale Innovation des ICM gegenüber herkömmlichen
Lehrveranstaltungen ist die Umkehrung passiver und aktiver Lernphasen. Die Vermittlung von
Informationen, d.h. die passive Wissensaufnahme wird in die Vorbereitungsphase jeder Sitzung
verlagert. Die Präsenzphasen werden darauf aufbauend zur aktiven Anwendung, Einübung und
Umsetzung von Handlungskompetenzen verwendet.
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Das ICM eignet sich auch für große Veranstaltungen. Wenn also Manuel Mecklenburg aus
studentischer Perspektive mit Blick auf Massenveranstaltungen in Bachelor-Studiengängen
kritisiert, „dass die Umsetzung didaktischer Konzepte bei einer hohen Zahl an Teilnehmenden
schwierig wird“ (Mecklenburg 2015: 138), dann bietet der ICM einen Ausweg. Der Zugewinn
wird bei Vorlesungen – deren geringe Wirksamkeit besonders für höherwertige Lernziele
hinlänglich dokumentiert ist (Bligh 1998) – besonders deutlich. Aber auch Seminare können
durch eine Invertierung verbessert werden, vor allem durch die klarere Strukturierung der
Vorbereitungsphase und den bewussten Einsatz aktivierender Lernformen in der Präsenzphase.
Wir nähern uns dem Thema als Praktiker_innen, nicht als Didaktiker_innen, insofern dieser
Text unsere Erfahrungen aus konkreten Anwendungsbeispielen an der Universität Duisburg-
Essen widerspiegelt:
- Vorlesung: Internationale Beziehungen und Global Governance im Bachelor
Politikwissenschaft (Wintersemester 2014/15 und 2015/16);
- Seminare: Einführung in die Internationalen Beziehungen und Techniken
wissenschaftlichen Arbeitens (Wintersemester 2015/16) und Feministische
Perspektiven auf Theorie und Praxis der Internationalen Beziehungen
(Sommersemester 2016) im Bachelor Sozialwissenschaften.
Diese Veranstaltungen befassten sich mit Themen der Internationalen Beziehungen und haben
daher andere Kompetenzziele verfolgt als es für FuK-Veranstaltungen sinnvoll wäre. Da der
ICM als Lehrmethode unabhängig von den konkreten Kompetenzzielen eingesetzt werden
kann, sind unsere Erfahrungen auch für die FuK-Lehre relevant und umsetzbar.
2. Das Inverted Classroom Model
Das ICM geht davon aus, dass Studierende die Unterstützung der Lehrenden am dringendsten
brauchen, wenn sie mit den herausforderndsten Lernzielen konfrontiert sind. Dieser Bedarf
bleibt unerfüllt, wenn man Lehrende dazu einsetzt Studierenden Basiswissen zu vermitteln, wie
es in den meisten Vorlesungen passiert (Lage, et al. 2000).
Im ICM werden Studierende in der Vorbereitungsphase mit neuen Inhalten konfrontiert,
üblicherweise in Form von Videos, Texten oder Podcasts. Diese werden durch Lernkontrollen
ergänzt, mit denen die Lernenden ein sofortiges Feedback zu ihrem Lernerfolg erhalten. Die
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wertvolle Präsenzzeit dient dem Erwerb höherwertiger Lernziele, wie z.B. Anwendung,
Analyse, Bewertung und Synthese (Bloom, et al. 1974: 29-33). Dies geschieht durch praktische
Aktivitäten, z. B. Übungsaufgaben, Gruppenarbeiten, Debatten, Fallstudien oder Simulationen,
die im Zusammenspiel mit Mitstudierenden bearbeitet und von der Lehrperson begleitet
werden.
Die Wirksamkeit des ICM ist in vielen Studien bewiesen worden (siehe unsere
Literaturübersicht in Goerres, et al. 2015). Studierende haben mehr Kontrolle über ihren
Lernprozess und bekommen häufiger Feedback. Die Lehrenden haben mehr Freiraum zur
kreativen Gestaltung ihrer Lehrveranstaltungen. In der Präsenzphase können sie gezielt
denjenigen Studierenden helfen, die am meisten Unterstützung benötigen.
Das ICM wurde bislang vor allem in MINT-Fächern sowie den Wirtschaftswissenschaften
verwendet. Es stellt aber auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften eine sinnvolle
Ergänzung des didaktischen Methodenkastens dar. Dazu sind bestimmte Anpassungen an die
Fachkultur notwendig, die wir andernorts diskutiert haben (Kärger/Lambach 2016). Kurz
gesagt muss die Pluralität der sozialwissenschaftlichen Epistemologie beachtet werden, die für
die Validität unterschiedlicher Positionen offen ist. Insofern kann es im ICM nicht darum
gehen, Studierenden gesichertes Wissen einzuimpfen, sondern ihnen die Fähigkeiten zu
vermitteln, Argumente zu entwickeln, zu analysieren und zu kritisieren, Empathie und
Perspektivenübernahme zu trainieren und zur Selbstreflexion zu befähigen. Dies sind genau die
Kompetenzen, auf die das Studium der FuK abzielt.
3. Kursplanung
Eine ICM-Veranstaltung besteht aus Lerneinheiten. Die Lerneinheiten setzen sich aus drei
Phasen zusammen: Vorbereitung, Präsenz, Nachbereitung. In unseren Lehrveranstaltungen
wurde jede Semesterwoche als eine Lerneinheit konzipiert, dies ist aber kein Muss.
Zur Kursplanung empfehlen wir drei Hilfsmittel: Constructive Alignment (Biggs 2014), die
Formulierung von Kompetenzzielen (Heinisch/Romeike 2013) sowie das Universal Design for
Learning/Teaching/Instruction (UDL/T/I) (Meyer, et al. 2014). Constructive Alignment geht
von der Annahme aus, dass tiefes, nachhaltiges Lernen nur dann möglich ist, wenn drei
Elemente im Lernprozess aufeinander abgestimmt sind: Kompetenzziele, Prüfungsmethoden
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Constructive
Alignment
und Lernaktivitäten. Dieses Prinzip kann sowohl für den Kurs insgesamt als auch für einzelne
Lerneinheiten angewandt werden.
Abbildung 1: Struktur und Elemente des Constructive Alignment
Quelle: Darstellung basierend auf ProLehre Technische Universität München (2014)
Die Kompetenzziele stehen am Anfang des Planungsprozesses. Oft gibt es hierfür, wie für die
Prüfungsformate, Vorgaben in Prüfungsordnungen und Modulhandbüchern. Grundsätzlich gilt:
wenn ein Kompetenzziel nicht geprüft wird, woher weiß ich dann, ob Studierende es erreicht
haben? Dabei sind nicht nur Prüfungen im formellen Sinn (summatives Feedback), sondern
auch informelle Prüfungen, die an vielen Stellen im Kursalltag stattfinden können (formatives
Feedback), denkbar.
Die Phasen einer Lerneinheit eignen sich für die Vermittlung unterschiedlicher Kompetenzen.
Der geplante Lernfortschritt in unseren Veranstaltungen ist in Tabelle 1 zusammengefasst.
Lehr-Lern-/Kompetenzziele
Was wissen und können
Studierende nach dem Besuch der
Veranstaltung?
Lehr-/Lernmethoden
Welche Lehr- und
Lernmethoden führen zum
Erreichen der angestrebten
Lern-/Kompetenzziele?
Prüfungsmethoden
Wie muss die Prüfung
gestaltet sein, um die
Erreichung der Lern-
/Kompetenzziele
evaluieren zu können?
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Tabelle 1: Zuordnung der Lern-/Kompetenzziele zur Lerneinheit
Vorbereitungsphase
Präsenzphase
Nachbereitungsphase
Wissen
X
(X)
Verständnis
X
(X)
Anwendung
(X)
X
(X)
Analyse
(X)
X
X
Synthese/Beurteilung
(X)
X
X
Kreieren
X
X
Quelle: eigene Darstellung. Die Kategorien der Lern-/Kompetenzziele basieren auf den
Taxonomien von Anderson/Krathwohl (2001: 67-68) und Bloom, et al. (1974: 29-33).
Die Lernaktivitäten sollen so geplant werden, dass Studierende die angestrebten Kompetenzen
entwickeln können und auf die Prüfungen vorbereitet werden. In der Gestaltung der
Lernaktivitäten haben wir uns am UDL/T/I orientiert. UDL/T/I fordert, dass Studierende
vielfältige Möglichkeiten erhalten, Lerninhalte aufzunehmen, im Lernprozess zu agieren, sich
auszudrücken und zu engagieren, um Studierende mit unterschiedlichen Lernstilen
anzusprechen.
4. Planung von Lerneinheiten
An die allgemeine Kursplanung schließt sich die konkrete Planung der aus den drei Phasen
Vorbereitung, Präsenz und Nachbereitung bestehenden (in unserem Fall wöchentlichen)
Lerneinheiten an.
4.1 Vorbereitungsphase
Die Vorbereitungsphase dient üblicherweise der Vermittlung von Basiswissen, kann aber auch
zur Problematisierung oder zum forschenden Lernen verwendet werden. In allen Fällen muss
der Zweck dieser Phase beachtet werden: die Lernaktivitäten müssen der Vorbereitung der
Präsenzphase dienen und dort in geeigneter Form aufgegriffen werden.
Im Zentrum der Vorbereitungsphase steht eine elektronische Lernplattform (z. B. Moodle, Ilias,
Blackboard), um den Studierenden Lernmaterialen und -aufgaben zur Verfügung zu stellen.
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Die Studierenden arbeiten selbständig und selbstgesteuert, wenngleich der Arbeitsprozess - je
nach Vorkenntnissen und Fähigkeiten - mehr oder weniger stark vorgegeben wird.
In unseren Lehrveranstaltungen erhielten die Studierenden über Moodle kurze
Videovorlesungen und Textausschnitte mit angeschlossenen Arbeitsaufgaben. Dabei konnten
wir auf Vorlesungsaufzeichnungen aus dem Wintersemester 2013/14 zurückgreifen, als die
Vorlesung letztmals in klassischer Form gehalten worden war, und damit einigen Aufwand
sparen. Zwar ist Videoproduktion durch Software wie Screencast-O-Matic oder Camtasia heute
technisch einfach geworden, dennoch kostet sie Zeit. Natürlich ist auch der Einsatz von
anderweitig produzierten Videos denkbar.
Die passive Rezeption von Videos und Texten wurde nach Möglichkeit auf kurze Zeiträume
von maximal 15 Minuten begrenzt, um das Aufmerksamkeitsniveau des Studierenden hoch zu
halten (Szpunar, et al. 2013). Zwischen jedem Video/Text waren Arbeitsaufträge angegeben,
mit denen Studierende ihren Lernfortschritt überprüfen konnten. Dies umfasste wiederholbare,
unbenotete Single/Multiple-Choice-Fragen (z. B. Welche der folgenden Eigenschaften sind
Definitionsmerkmale internationaler Organisationen?), Zuordnungsfragen (z. B. Welche
Aussage passt zu welcher Theorie der IB?) sowie kurze Anwendungsaufgaben mit
Freitexteingabe (z. B. Warum ist globale Demokratie wünschenswert? Formulieren Sie einen
Slogan und eine kurze Marketingstrategie für eine NGO, die globale Demokratie unterstützt).
Studierende erhielten auf jede Aktivität Feedback, hauptsächlich über die Moodle-Funktionen
zur automatischen Bewertung von Single/Multiple-Choice-Aufgaben oder bei komplexeren
Aufgaben durch die Lehrenden.
Die Ergebnisse der Übungsaufgaben waren zudem ein wichtiger Indikator, ob die Studierenden
die Lernziele der Vorbereitungsphasen erreichten. Wurde eine Frage häufig falsch beantwortet,
war hier offensichtlich Bedarf zur Nacharbeit. Weiterhin hatten Studierende die Möglichkeit,
Klärungswünsche in einem anonymen Forum zu formulieren. Dieser Rücklauf wurde bei der
Planung der Präsenzphase aufgegriffen.
4.2 Präsenzphase
Die Präsenzphase bestand aus zwei Teilen. Der erste, kürzere Teil diente in 5-20 Minuten dem
Just-in-Time-Teaching (Watkins/Mazur 2010), d.h. dem gezielten Aufgreifen von Fragen und
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Problemen aus der Vorbereitungsphase. Schlecht beantwortete Aufgaben und Forumsfragen
wurden hier nochmals thematisiert, ggf. mit einer neuen Lernaktivität verknüpft und von den
Lehrenden oder Mitstudierenden geklärt.
Der Hauptteil der Präsenzphase war für Lernaktivitäten reserviert. Beispielsweise forderten wir
die Studierenden in einer Vorlesungssitzung auf, Hypothesen zur Erklärung des empirischen
Doppelbefunds des Demokratischen Friedens (DF) zu entwickeln (Geis 2001). Die
Studierenden überlegten sich zunächst in Einzelarbeit mögliche Erklärungen unter Rückgriff
auf ihre Vorkenntnisse zu IB-Theorien, Regierungslehre und Demokratietheorie. Danach
diskutierten sie ihre Ideen in Fünfergruppen und wählten die beste Hypothese aus. Diese
Hypothesen wurden in einem Word-Dokument gesammelt, an die Wand projiziert und von der
Lehrperson zur Diskussion der verschiedenen DF-Theorien verwendet. Mit dieser Lernaktivität
gelang es den Studierenden selbst ohne Vorkenntnisse, das Spektrum der Theorien sehr gut
abzubilden.
Eine andere Methode, die wir oft einsetzten, war Think-Pair-Share (Lyman 1981). Dabei
arbeiten Studierende zunächst alleine (Think) an einem Problem, diskutieren dies anschließend
mit ihren Nachbar_innen (Pair) und bringen die Ergebnisse schließlich in die Gesamtdiskussion
ein (Share). Ebenso häufig arbeiteten wir mit einem elektronischen Abstimmungssystem
(PINGO), um das Verständnis wichtiger Lerninhalte zu überprüfen und um Meinungsbilder zu
kontroversen Thesen zu erhalten (z. B. Stimmen Sie der Aussage zu, dass die Globalisierung
den Staat untergräbt?). Grundsätzlich ist hier der Kreativität der Lehrenden keine Grenzen
gesetzt: Gruppenarbeiten, Simulationen und Rollenspiele, Übungszettel oder Plenardebatten
sind alle möglich. Beachtet werden muss dabei jedoch, dass diese Aktivitäten auf die
Kompetenzziele abgestimmt sind.
Der zentralen Herausforderung, den Studierenden auch in großen Veranstaltungen für ihren
Lernerfolg unerlässliches Feedback zu geben (Hattie/Timperley 2007), begegneten wir teils
durch individuelles peer-Feedback, d.h. die gemeinschaftliche Diskussion von Resultaten mit
anderen Studierenden. Ansonsten gaben wir kollektives Feedback, indem die Lehrperson die
wichtigsten Punkte einer Diskussion zusammenfasste und mit dem Forschungsstand bzw. den
„richtigen Antworten“ kontrastierte.
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4.3 Nachbereitungsphase
In der Nachbereitungsphase sollen die erworbenen Kompetenzen gefestigt werden. Dazu
erhalten Studierende weitere anspruchsvolle Übungsaufgaben und Fragen, welche außerdem
zur Prüfungsvorbereitung verwendet werden können. Diese Phase findet in Einzelarbeit statt,
wobei auch kollaborative Tätigkeiten, z. B. durch elektronische Zusammenarbeit,
Kleingruppenarbeit oder im Rahmen von Tutorien denkbar sind. Aufgrund der
Aufgabenkomplexität ist in dieser Phase individuelles Feedback notwendig, aber für die
Lehrperson schwierig zu organisieren und zeitaufwändig. Sofern keine Tutor_innen zur
Verfügung stehen, stellt peer-Feedback die beste Alternative dar.
5. Erfahrungen und Empfehlungen
Nach dem mehrmaligen Einsatz des ICM halten wir die Methode für sehr hilfreich, um in einem
sozialwissenschaftlichen Studium systematisch den Erwerb höherwertiger Kompetenzen zu
ermöglichen. Nach unserem Eindruck und nach den Ergebnissen verschiedener
Kursevaluationen lernen die Studierenden mehr, sie sind engagiert und mehrheitlich vom
Nutzen der Methode überzeugt.
Einige Ratschläge wollen wir Kolleg_innen mitgeben, die darüber nachdenken, diese Methode
ebenfalls einzusetzen. Erstens ist der Zeitaufwand in der Vorbereitung nennenswert. Man kann
Zeit sparen, indem bereits vorhandene Materialien (Videos, Texte, Aufgaben) weiterverwendet
oder ein bereits traditionell konzipierter Kurs invertiert wird. Als Zwischenschritt ist es auch
möglich, zunächst nur wenige Sitzungen einer ansonsten traditionellen Lehrveranstaltung zu
invertieren, um mit dem Format zu experimentieren.
Zweitens verlangt das ICM eine inhaltliche Verschlankung. Aktives Lernen braucht Zeit,
belohnt aber durch tiefere und nachhaltigere Lernprozesse. Hier müssen Lehrende entscheiden,
welcher „Stoff“ wirklich notwendig ist, um die gesetzten Lernziele zu erreichen.
Drittens müssen sich auch die Studierenden an das Format gewöhnen. Zwar sind die
Evaluationen am Kursende mehrheitlich positiv, aber im Kursverlauf zeigen sich manchmal
Missverständnisse und Widerstände. Deshalb ist beidseitige Kommunikation nötig. Die
Lehrenden müssen den Sinn des ICM erläutern und zugleich auf Rückmeldungen von
Studierenden achten, ob sie mit den Anforderungen zurechtkommen. Eine qualitative
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Zwischenevaluation, z. B. über Methoden wie das Teaching Analysis Poll, gibt hier wertvolle
Informationen.
Viertens erfordert das ICM eine anderes Selbstverständnis der Lehrperson: man ist nicht mehr
der sage on the stage, sondern der guide on the side (Talbert 2012). Außerdem müssen
Präsenzphasen flexibel gestaltet und spontan an den Lernfortschritt der Studierenden angepasst
werden. Dies erfordert Souveränität und „Loslassen-können“. Damit soll nicht der Eindruck
erweckt werden, dass der ICM Traditionen der kritischen Pädagogik (z.B. offener Unterricht)
folgt, die sich an Prinzipien des forschenden Lernens und eines herrschaftsfreien Umgangs
zwischen Lehrenden und Lernen orientieren. Zwar bricht der ICM die klassische Hierarchie im
Hörsaal auf, dennoch bewahren die Lehrenden ein hohes Maß an Kontrolle. Die Lehrperson
definiert weiterhin die Lernziele, konzipiert Lehrmaterialien und Lernaktivitäten. Im
Unterschied zur Frontalpädagogik haben Lernende im ICM aber mehr Kontrolle über ihren
Lernprozess.
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