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Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..................................................................................................... 9
1 Einleitung ............................................................................................... 11
2 Theorien und Methoden zur Analyse der Auswanderung ................ 17
2.1 Eine „neue Landkarte“ der Migration ..................................................... 18
2.2 Brain Drain – Brain Gain – Brain Circulation ........................................ 24
2.3 Neoklassische Theorien selektiver Migration......................................... 27
2.4 Alternative Erklärungsansätze selektiver Migration ............................... 31
2.5 Methoden und Daten zur Analyse der Auswanderung
in den Herkunftsländern der Migranten .................................................. 34
2.6 Methoden und Daten zur Analyse der Auswanderung
in den Zielländern der Migranten............................................................ 41
2.7 Fazit: Konzeptionelle und theoretische Grundlagen zur Analyse
der Auswanderung aus Deutschland ....................................................... 45
3 Deutschland: Ein Auswanderungsland? ............................................. 47
3.1 Auswanderung bis Mitte des 20. Jahrhunderts ....................................... 47
3.2 Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg ......................................... 54
3.3 Auswanderung aus anderen Industriestaaten .......................................... 58
3.4 Fazit: Auswanderungsland oder Rückkehr zur Normalität? ................... 65
4 Die Geographie der Auswanderung .................................................... 67
4.1 Forschungskonzeption und Datengrundlage ........................................... 68
4.2 Demographische Merkmale deutscher Auswanderer.............................. 70
4.3 Auswanderung aus den Städten: Räumliche Muster der Migration........ 74
4.4 Europäisierung der Auswanderung: Zielländer und Zielregionen .......... 76
4.6 Fazit: Auswanderung der Young Urban Male Professionals? ................ 81
6 Inhaltsverzeichnis
5 ‚Brain Drain’ oder ‚Brain Circulation’? Internationale
Migration hochqualifizierter Deutscher ............................................. 83
5.1 Forschungsstand: Qualifikationsniveau deutscher Auswanderer............ 86
5.2 Determinanten der Aus- und Rückwanderungsentscheidung ................. 96
5.3 Forschungskonzeption und Datengrundlage ........................................... 98
5.4 Selektivität international mobiler Deutscher......................................... 105
5.5 Multivariate Ergebnisse zu den Bestimmungsfaktoren
internationaler Migration ...................................................................... 114
5.6 Fazit: ‚Brain Drain’ hochqualifizierter Führungskräfte –
‚Brain Circulation’ in der Wissenschaft................................................ 118
6 ‚Brains keep on draining?’ Die Entwicklung der Auswanderung
hochqualifizierter Deutscher.............................................................. 121
6.1 Forschungskonzeption und Datengrundlagen ....................................... 124
6.2 Entwicklung der Bildungsselektivität ................................................... 127
6.3 Entwicklung der Arbeitsmarktpartizipation.......................................... 129
6.4 Entwicklung des Qualifikationsniveaus ................................................ 132
6.5 Fazit: Brains keep on draining! ............................................................. 136
7 Gegangen, um zu bleiben? Die Dauerhaftigkeit der
Auswanderung deutscher Staatsbürger ............................................ 139
(unter Mitarbeit von Rainer Unger)
7.1 Forschungsstand zur Dauerhaftigkeit der Auswanderung .................... 140
7.2 Forschungskonzeption und Datengrundlagen ....................................... 143
7.3 Alter der Rückwanderer – too old for a ‚brain gain’?........................... 146
7.4 Entwicklung der Dauerhaftigkeit der Auswanderung
im Periodenvergleich ............................................................................ 149
7.5 Entwicklung der Dauerhaftigkeit der Auswanderung
im Kohortenvergleich............................................................................ 154
7.6 Fazit: Gegangen, um zurückzukehren ................................................... 158
Inhaltsverzeichnis 7
8 ‚Kampf um die besten Köpfe’? Deutschland im
europäischen Vergleich....................................................................... 161
8.1 Forschungsüberblick zu intra-europäischen Wanderungen .................. 163
8.2 Forschungskonzeption und Datengrundlagen ....................................... 169
8.3 Entwicklung intra-europäischer Wanderungsbewegungen................... 175
8.4 ‚Brain Drain’ oder ‚Brain Gain’? Intra-europäische Wanderungen
Hochqualifizierter ................................................................................. 181
8.5 Fazit: Ungleichheiten im europäischen Migrationssystem ................... 188
9 Fazit: Deutschland ein Einwanderungsland! ................................... 191
Literaturverzeichnis............................................................................... 199
Abbildungsverzeichnis .......................................................................... 221
Tabellenverzeichnis............................................................................... 223
Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... 225
Vorwort
Das vorliegende Buch ist Ergebnis eines Forschungsprojektes, das in den ver-
gangenen Jahren am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) bearbeitet
wurde. Während dieser Zeit waren wir im Austausch mit vielen Menschen und
Institutionen, die uns bei unserer Arbeit unterstützt haben. An erster Stelle ist
das Bundesministerium des Innern zu nennen, das in Person von Hubertus Ry-
bak und Wolfgang Klitsch einen wichtigen Anstoß zur Bearbeitung des Themas
gegeben hat. Weiterhin möchten wir Charlotte Höhn und Norbert F. Schneider
danken, die in ihrer Funktion als Direktorin bzw. Direktor des Bundesinstituts
für Bevölkerungsforschung das Projekt wohlwollend und mit der nötigen Flexi-
bilität und Unterstützung begleitet haben.
Bei der Bearbeitung und Auswertung der unterschiedlichen Datenquellen
haben uns innerhalb und außerhalb des BiB eine große Zahl von Kollegen und
Freunden unterstützt. An erster Stelle ist Rainer Unger zu nennen, der uns wäh-
rend seiner Zeit am BiB und zwischenzeitlich in seiner neuen Funktion am Zen-
trum für Sozialpolitik der Universität Bremen als Mitautor von Kapitel 7 bei der
Auswertung der Daten der Deutschen Rentenversicherung zur Seite stand. Dank
gilt auch Philip Graze, der uns bei der Auswertung der Daten des Mikrozensus
stets mit Rat und Tat unterstützte sowie Georg Thiel, der uns während seiner
Zeit als Praktikant insbesondere bei der Aufbereitung und Auswertung der Da-
ten der OECD behilflich war.
Außerhalb des Instituts ist in erster Linie das Statistische Bundesamt als
uns immer wohl gesonnener Kooperationspartner zu nennen. Hier war es vor
allem Claire Grobecker, die uns bei der Bereitstellung von Sonderauswertungen
der deutschen Wanderungsstatistik und sowohl beim Verständnis ihrer Ergeb-
nisse als auch ihrer Lücken und Tücken zur Seite stand. Weiterhin bedanken wir
uns beim Europäischen Datenservice des Statistischen Bundesamts und hier
insbesondere bei Birgit Fischer und Daniel O’Donnell, die uns bei den Auswer-
tungen des European Union Labour Force Survey immer wieder schnell und
unbürokratisch unterstützt haben. Auch Robert Herter-Eschweiler, der uns bei
Fragen der Erhebungsmethodik des Mikrozensus und seinem Nutzen für die
Migrationsforschung zur Seite stand, möchten wir an dieser Stelle erwähnen,
sowie Tim Hochgürtel, Abier Qashgish und Hans-Peter Mast vom Forschungs-
datenzentrum des Bundes und der Länder, die uns bei der Auswertung der Wan-
derungsstatistik unterstützten.
10 Vorwort
Darüber hinaus wollen wir einigen Kollegen danken, die im Rahmen von
Vorträgen durch ihre Fragen und Kommentare das Projekt vorangebracht haben.
Zu nennen sind hier insbesondere die Teilnehmer der Mikrozensus-
Nutzerkonferenz 2007 in Mannheim, der European Population Conference 2008
in Barcelona sowie der IUSSP Konferenz 2009 in Marrakesch und hier insbe-
sondere Claudia Diehl, Kene Henkens, Mary Kritz, Michel Poulain und Hania
Zlotnik. Daneben stand uns Reinhard Pollak als Freund und interessierter Dis-
kussionspartner jederzeit bei.
Das Projekt wurde über die Jahre in enger Abstimmung und gegenseitiger
Unterstützung von Andreas Ette und Lenore Sauer bearbeitet. Innerhalb des
Buches gibt es wohl keine Seite, die nicht durch kritische Kommentare des
jeweils anderen maßgeblich überarbeitet oder sogar vollständig neu geschrieben
wurde, um im Ergebnis eine möglichst konsistente Veröffentlichung zu erhalten.
Dennoch haben auch wir uns spezialisiert und möchten einige Kapitel nennen,
in denen der eine oder die andere die Federführung übernommen hat: So basie-
ren die Analysen in Kapitel 6 zur Entwicklung der Auswanderung in die USA
und Schweiz insbesondere auf Auswertungen von Lenore Sauer und die Analy-
sen zur Dauerhaftigkeit der Auswanderung mit Hilfe der Wanderungsstatistik
und der Daten der deutschen Rentenversicherung für Kapitel 7 wurden vor al-
lem durch Lenore Sauer und Rainer Unger erstellt. Umgekehrt basieren die
Auswertungen des European Union Labour Force Survey, der Grundlage für
Kapitel 5 zur Auswanderung Deutscher innerhalb der Europäischen Union (EU)
und für Kapitel 8 zum Vergleich Deutschlands mit den anderen EU-
Mitgliedstaaten ist, auf den Arbeiten von Andreas Ette.
In der abschließenden Phase der Erstellung des Manuskriptes des Buches
waren es vor allem Tanja Banavas, Dominique Chasseriaud, Christian Fiedler,
Hans-Ludwig Friedrich, Evelyn Grünheid, Robert Naderi, Elias Naumann, Ker-
stin Ruckdeschel, Ina Sauer und Angelika Stein-Ette, die uns durch ihr kriti-
sches Lektorat und bei der Erstellung der Grafiken und Abbildungen maßgeb-
lich unterstützt und zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Auch gilt es
Cori Mackrodt vom VS Verlag zu danken, die mit viel Geduld die wiederholten
Verschiebungen des Abgabetermins akzeptiert hat.
Ein abschließendes Wort des Dankes gilt unseren Familien. Wir möchten
Jenna, Lotte, Insa und Michael sehr herzlich danken, die im Laufe der vergan-
genen Jahre wohl mehr über Auswanderung gelernt haben, als ihnen manchmal
lieb war. Mit Abschluss des Manuskripts gilt es für Jenna, Lotte, Insa und An-
dreas die intra-europäische Migration – wenn auch nur für einige Monate –
einmal selbst zu erkunden.
Wiesbaden, im April 2010 Andreas Ette und Lenore Sauer
1 Einleitung
In den vergangenen Jahren hat sich eine rege Debatte über die Auswanderung
aus Deutschland entwickelt. Mit der Veröffentlichung der Wanderungsstatistik
im Juli 2006 durch das Statistische Bundesamt erhielt diese Diskussion neuen
Auftrieb. Demnach kam es im Jahr 2005 zur höchsten registrierten Auswande-
rung Deutscher seit 1954 und erstmals seit Ende der 1960er Jahre zu einem
Netto-Wanderungsverlust, also einem Überschuss von auswandernden im
Vergleich zu einwandernden Deutschen. Seitdem ist das Thema aus den Medien
und der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. In den folgenden
Jahren vervierfachte sich der ursprünglich nur leicht negative Wanderungssaldo
auf bis zu -66.000 Personen im Jahr 2008. Zwischenzeitlich gibt es keinen
Monat mehr, in dem nicht in einer Zeitung oder einer Fernsehreportage das
Thema prominent aufgegriffen und diskutiert wird. Fernsehsendungen wie
„Umzug in ein neues Leben“ und „Goodbye Deutschland: die Auswanderer“
berichten im wöchentlichen Rhythmus über quotenträchtige Einzelschicksale
von Auswanderern, so dass sich der Eindruck Deutschlands als Auswanderungs-
land verfestigt.
Die öffentliche Diskussion begann vor wenigen Jahren mit einer allgemei-
nen und eher diffusen Sorge über die wachsende Zahl internationaler deutscher
Migranten. So argumentierte der „Economist“ angesichts dieses Trends bereits
im November 2006, dass die Deutschen die ungeliebten Gastarbeiter von mor-
gen sein werden. Und eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach
berichtete im Herbst 2007 den seit den 1950er Jahren höchsten Stand an Aus-
wanderungswünschen, wonach jeder Fünfte gerne Deutschland verlassen
möchte. Im weiteren Verlauf konzentrierte sich die Diskussion verstärkt auf
einzelne Berufsfelder, wobei die Situation an den Universitäten im Kontext der
Debatte über die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Deutschland die medial
größte Aufmerksamkeit erfuhr. Ein damaliger Höhepunkt der Diskussion war
die Meldung, deutschen Nobelpreisträgern bliebe nur die Auswanderung in die
USA, um nicht aufgrund der restriktiven Regelungen in Deutschland auf weitere
wissenschaftliche Forschung nach Erreichen des Ruhestandes verzichten zu
müssen. Auch in der Politik wurde die Frage der Auswanderung und insbeson-
dere der internationalen Mobilität der Höchstqualifizierten kontrovers diskutiert.
So gab es in den letzten Jahren zwei Große Anfragen, in denen die Opposition
12 Einleitung
die jeweilige Bundesregierung im Deutschen Bundestag um eine Einschätzung
der Situation und um eine Stellungnahme bezüglich der erwogenen politischen
Reaktionen bat (Deutscher Bundestag 2004; 2007). Zwischenzeitlich hat die
Debatte im Kontext des demographischen Wandels und des erwarteten Fach-
kräftemangels zu einer weitaus grundlegenderen Sorge geführt. Dabei beunruhi-
gen weniger die absoluten Zahlen, sondern die offensichtliche Tendenz einer
Auswanderung der qualifiziertesten Arbeitskräfte aus Deutschland (Sachver-
ständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2009), so dass
Brücker (2010) zu dem Schluss kommt, dass Deutschland unter einem ‚brain
drain’ leidet.
Die Migrationsforschung konzentrierte sich traditionell auf die Wanderun-
gen von weniger in höher entwickelte Staaten (für einen Überblick siehe Massey
et al. 1993). In den vergangenen Jahren wurde aber zunehmend deutlich, dass
gerade die internationale Migration zwischen den Industriestaaten und insbe-
sondere auch innerhalb Europas zugenommen hat und durch eine Vielzahl neuer
Formen und Motive gekennzeichnet ist (UNDP 2009; OECD 2009a; OECD
2009b). Zu nennen ist beispielsweise die wachsende Zahl im Rahmen ihrer
Bildungskarriere international mobiler Schüler und Studierender oder auch die
Ruhesitz- und Lifestyle-Migranten, die sich auf der Suche nach attraktiveren
Wohnumfeldern für eine Auswanderung oder eine transnationale Lebensform
entscheiden. Die in ihrer Bedeutung und öffentlichen Aufmerksamkeit wichtig-
ste Form der Migration ist aber sicherlich die zunehmende internationale Migra-
tion Hochqualifizierter. Aus ökonomischer Sicht wird diese meist als Ergebnis
der Transformation von Industriestaaten in heutige wissensbasierte Ökonomien
und einhergehend mit der zunehmenden Internationalisierung der Arbeitsmärkte
für hochqualifizierte Arbeitskräfte gesehen. Das Angebot an hochqualifizierten
Arbeitskräften hat sich somit zu einem entscheidenden Standortvorteil entwic-
kelt. Die Sorge über den „flight of the creative class“ (Florida 2007) ist wesent-
licher Bestandteil des globalen Wettbewerbs geworden. Im Laufe der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Diskussion über einen möglichen ‚brain
drain’ vor allem die Entwicklungsländer erfasst. Es bestand die begründete
Sorge, dass die dauerhafte Auswanderung der hochqualifizierten Bevölkerung
eines Landes zu gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen für die Herkunfts-
länder führen und sie an ihrer weiteren Entwicklung hindern würde (siehe z.B.
Adams 1968; Bhagwati 1976). Unter dem Druck des „Kampfes um die besten
Köpfe“ und dem „Wettbewerb um globale Talente“ (Kuptsch/Pang 2006) hat
sich diese Diskussion aber zunehmend aus dem Nexus zwischen Migration und
Entwicklung gelöst. Heute sind es nicht nur die Entwicklungsländer, die den
Verlust ihrer „best and brightest“ befürchten, sondern auch die hochentwickel-
ten westlichen Industriestaaten (siehe auch Straubhaar 2000).
Einleitung 13
Trotz der Bedeutung der internationalen Migration für die gesellschaftli-
chen und ökonomischen Entwicklungen in heutigen Industriestaaten ist die
Auswanderung aus höher entwickelten Staaten im Allgemeinen und die Aus-
wanderung aus Deutschland im Speziellen ein nach wie vor „von der Wissen-
schaft vernachlässigter Bereich der Migrationsforschung (und es) existieren nur
sehr wenige Untersuchungen zu den Formen und Motiven der Abwanderung“
(Lederer 2004: 38; für die internationale Diskussion siehe beispielsweise Da-
len/Henkens 2007). Die Migrationsforschung hat sich hingegen lange mit den
dominanten Migrantengruppen beschäftigt und sich meist für die vermeintlich
„problematischen“ Einwanderer und deren Integration interessiert. Der Grund
ist zum einen, dass die Themen der internationalen Wanderung Hochqualifizier-
ter und der Migration zwischen Industriestaaten lange Zeit als unproblematisch
angesehen wurden, und daher kaum wissenschaftliches und politisches Interesse
erweckt haben. In der Konsequenz liegen zum anderen nur unzureichende
statistische Informationen über diese Formen der Migration vor, was belastbare
Aussagen und umfassendere wissenschaftliche Analysen erschwert (vgl. Bils-
borrow et al. 1997).
Diese Diskrepanz zwischen der offensichtlichen gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Bedeutung der Auswanderung der Hochqualifizierten auf der
einen Seite und dem oftmals nahezu spekulativen Kenntnisstand auf der anderen
Seite erklärt die hitzige und konfuse öffentliche und politische Diskussion der
letzten Jahre in Deutschland. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich das
vorliegende Buch auf die Beschreibung und Erklärung der zunehmenden Aus-
wanderung aus Deutschland. Von besonderem Interesse ist dabei, ob sich die
Situation in Deutschland mit dem Begriff des ‚brain drain’ im Sinne einer
dauerhaften Auswanderung der Hochqualifizierten charakterisieren lässt. Für
die Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung konzentriert sich das
Buch auf die Bearbeitung mehrerer Aspekte der Auswanderung.
Zu Beginn des Buches stehen Fragen nach dem Umfang der Auswande-
rung: Wie viele Deutsche wandern aus und wie hat sich die Größenordnung der
Auswanderung aus Deutschland entwickelt? Kam es, wie in den Medien in den
vergangenen Jahren regelmäßig berichtet, zu einem substanziellen Anstieg der
Auswanderung und welche Bedeutung hat der seit vierzig Jahren erstmals
negative Wanderungssaldo Deutscher? Daneben stehen aber auch Fragen der
historischen und internationalen Einordnung der heutigen Auswanderung. Wie
hat sich die Auswanderung aus Deutschland historisch entwickelt? Stellt der
gegenwärtige Anstieg der Auswanderung ein weiteres Kapitel eines „Sonder-
wegs“ in der deutschen Migrationsgeschichte dar oder zeigt sich darin nicht eher
die Annäherung an Migrationmuster anderer Industriestaaten?
14 Einleitung
Ein zweiter Aspekt widmet sich der Struktur der Auswanderung und der
Frage, ‚wer’ sich für eine internationale Migration entscheidet. Auch wenn die
Größenordnung der Auswanderung bisher nicht außergewöhnlich hoch sein
sollte, wären die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht
unerheblich, wenn insbesondere Hochqualifizierte Deutschland verlassen
würden. Wie unterscheiden sich deutsche Migranten im Ausland von der inter-
national nicht mobilen Bevölkerung? Welche demographischen Charakteristika
– wie z.B. Geschlecht, Alter, Herkunftsregionen und Zielländer – kennzeichnen
die Migranten und die Auswanderung aus Deutschland? Sind die deutschen
Auswanderer eine hinsichtlich ihres Bildungsniveaus und ihrer Qualifikationen
positiv selektierte Gruppe? Und sind es insbesondere wissensintensive Wirt-
schaftszweige, die von der internationalen Migration betroffen sind?
Vorliegende Studien, die sich mit der Auswanderung und einem möglichen
‚brain drain’ aus Deutschland auseinandersetzen, beschränken sich meist auf die
Analyse des Umfangs und der sozio-ökonomischen Struktur der Migranten. Im
Rahmen des vorliegenden Buches werden diese Studien um drei wesentliche
Aspekte ergänzt, um zu belastbaren Aussagen über die Qualität der Auswande-
rung aus Deutschland zu gelangen. Ein erster Aspekt betrifft die Rückwande-
rung der Migranten. Die heutige internationale Migration zwischen Industrie-
staaten ist vorwiegend durch temporäre und zunehmend kürzere Auslandsauf-
enthalte geprägt. Der durch die Auswanderung ursprünglich bedingte ‚brain
drain’ kann durch die ebenfalls selektive Rückwanderung somit entweder
verstärkt oder vermindert werden. Welche sozio-ökonomischen Charakteristika
kennzeichnen die deutschen Rückwanderer? Sind es die besonders Hochqualifi-
zierten, die sich tendenziell für langfristigere Auslandsaufenthalte entscheiden
und damit die ursprünglich positive Selektivität der Auswanderung noch ver-
stärken oder sind es umgekehrt die Hochqualifizierten, bei denen sich die
höchsten Chancen für eine Rückwanderung zeigen und daher die ursprüngliche
Selektivität abgeschwächt wird? Ein zweiter Aspekt betrifft die zeitliche und
geographische Entwicklung der Selektivität der Auswanderung. Ein Großteil der
vorliegenden Studien konzentrierte sich bisher auf die USA als das für Jahr-
zehnte wichtigste Zielland Deutscher. Hier geht es zum einen um mögliche
Unterschiede zwischen der Auswanderung in die USA und in andere wichtige
Zielländer und -regionen und zum anderen um die zeitliche Entwicklung der
Selektivität der Auswanderung. Lässt sich die zunehmende Auswanderung aus
Deutschland durch die wachsende internationale Mobilität von Hochqualifizier-
ten erklären? Hier gilt es, die Selektivität der Auswanderung aus Deutschland
über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Ein letzter Aspekt, der in bisherigen
Studien häufig vernachlässigt wird, betrifft die Dauerhaftigkeit der Auswande-
rung. Vor dem Hintergrund zunehmend kürzerer Auslandsaufenthalte bedarf die
Einleitung 15
Frage nach einem ‚brain drain’ aus Deutschland einerseits Aussagen über den
Umfang an Personen, die dauerhaft im Ausland verbleiben. Andererseits gilt es
das Rückwanderungsalter zu berücksichtigen, denn zumindest unter ökonomi-
scher Perspektive wäre eine Rückwanderung in höherem Alter und vor allem
nach Eintritt des Ruhestands für den Arbeitsmarkt kaum mehr von Relevanz.
Wie viele Deutsche verlassen Deutschland dauerhaft? Welche altersstrukturellen
Unterschiede werden zwischen Aus- und Rückwanderern deutlich? Zeigen sich
ziellandspezifisch unterschiedliche Verbleibsquoten?
Die bisherigen Fragen konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Situa-
tion in Deutschland und auf die internationale Migration von Deutschen. Ein
letzter Fragenkomplex erweitert diese Perspektive daher einerseits um den
internationalen Vergleich und andererseits um die Zuwanderung von Auslän-
dern nach Deutschland. Wie ist die Auswanderung aus Deutschland im interna-
tionalen Vergleich zu bewerten? Ist sie ein singuläres, deutsches Phänomen oder
finden sich vergleichbare Tendenzen auch in anderen Industriestaaten? Unter
Einbezug der Zuwanderung stellen sich die bisherigen Fragen in einem anderen
Licht: Wird die Auswanderung hochqualifizierter Deutscher durch die Zuwan-
derung hochqualifizierter ausländischer Migranten ausgeglichen? Wie stellt sich
die Wanderungsbilanz Hochqualifizierter dar? Verliert Deutschland mehr gut
ausgebildete Personen als es durch Zuwanderung gewinnt? Und wo steht
Deutschland hinsichtlich dieser Frage im internationalen Wettbewerb?
Um diese Forschungsfragen zu beantworten, ist das Buch wie folgt geglie-
dert: Im Anschluss an diese Einleitung diskutiert Kapitel 2 die zentralen Begriff-
lichkeiten und liefert einen konzeptionellen und theoretischen Rahmen für die
weiteren Analysen. Das Kapitel konzentriert sich einerseits auf die Diskussion
der wichtigsten theoretischen Ansätze zur Erklärung selektiver Migrationspro-
zesse. Andererseits werden die vorhandenen Datengrundlagen zur Analyse der
internationalen Migration Deutscher vorgestellt, die Grundlage für die For-
schungskonzeptionen der weiteren Kapitel sind. Die folgenden Kapitel widmen
sich der empirischen Analyse der Auswanderung aus Deutschland. Im Mittel-
punkt von Kapitel 3 steht die Beschreibung der zeitlichen Entwicklung der
Auswanderung aus Deutschland. Zusätzlich wird sowohl durch die Diskussion
des historischen Hintergrunds der heutigen Auswanderung als auch durch den
internationalen Vergleich eine Einordnung der heutigen Entwicklungen ermög-
licht. Kapitel 4 widmet sich in einem ersten Schritt der Selektivität der Auswan-
derung und zwar insbesondere hinsichtlich der demographischen Charakteristika
der Migranten sowie der wichtigsten Herkunftsregionen und Zielländer. Die
Frage der Selektivität der Auswanderer wird in Kapitel 5 weiter vertieft. Wäh-
rend die in den Kapiteln zuvor herangezogene Wanderungsstatistik ausschließ-
lich die demographischen Merkmale der Migranten erfasst, ermöglicht die
16 Einleitung
Analyse des European Union Labour Force Survey (EULFS) sowohl Aussagen
über die Bildungs- und Qualifikationsstruktur der Auswanderer als auch der
Wirtschaftszweige, in denen sie beschäftigt sind. Auf gleicher methodischer
Grundlage werden in Kapitel 5 ebenfalls die sozio-ökonomischen Charakteristi-
ka der Rückwanderer nach Deutschland analysiert. Die zeitliche und geographi-
sche Differenzierung der Selektivität der Auswanderer steht im Mittelpunkt von
Kapitel 6. Während sich das vorherige Kapitel auf die Europäische Union als
wichtigste Zielregion Deutscher beschränkte, liegt der Fokus jetzt auf den zwei
wichtigsten Zielländern – den USA und der Schweiz. Weiterhin ermöglichen die
für diese beiden Staaten zur Verfügung stehenden Zensusdaten einen breiteren
zeitlichen Horizont der Analyse, weshalb sich das Kapitel neben dem Länder-
vergleich vor allem auf die Entwicklung der Bildungs- und Qualifikationsstruk-
tur der deutschen Auswanderer konzentriert. Im folgenden Kapitel 7 steht die
Dauerhaftigkeit der Auswanderung im Mittelpunkt. Mit den Daten der deut-
schen Rentenversicherung werden Aussagen sowohl über den Anteil von Deut-
schen mit internationaler Migrationserfahrung als auch über den Anteil der
Rückwanderer gewonnen, um die Ergebnisse zu einem möglichen ‚brain drain’
aus Deutschland weiter zu qualifizieren. Kapitel 8 ergänzt die bisherigen,
ausschließlich auf Deutschland konzentrierten Analysen um einen systemati-
scheren internationalen Vergleich. Ebenfalls auf Basis des EULFS wird das
Bildungs- und Qualifikationsniveau der deutschen Auswanderer mit dem der
europäischen Zuwanderer nach Deutschland verglichen, um die Frage des ‚brain
drain’ auch hinsichtlich einer Bilanz der Migration aus und nach Deutschland zu
diskutieren. Weiterhin ermöglicht der EULFS auch den Vergleich der interna-
tionalen Migration Hochqualifizierter zwischen den europäischen Mitgliedstaa-
ten, was Aussagen über die Stellung Deutschlands im europäischen Migrations-
system erlaubt. Kapitel 9 fasst zuletzt die zentralen empirischen Ergebnisse des
Buches vor der übergeordneten Frage nach einem möglichen ‚brain drain’ aus
Deutschland zusammen. Angesichts der voraussichtlich auch zukünftigen
internationalen Migration Deutscher wird dort abschließend die Notwendigkeit
betont, das ‚Einwanderungsland Deutschland’ weiter zu entwickeln.
2 Theorien und Methoden zur Analyse der
Auswanderung
Die Einleitung hat bereits deutlich gemacht, dass die Auswanderung aus Indus-
triestaaten ein in der Migrationsforschung bisher wenig bearbeitetes Thema
darstellt. Vor den eigentlichen empirischen Analysen des Buches ist es deshalb
das Ziel des folgenden Kapitels, einen konzeptionellen und theoretischen
Rahmen zur Bearbeitung der diesem Buch zugrunde liegenden Forschungsfra-
gen zu entwickeln. Dafür setzen wir uns in einem ersten Schritt mit dem tradi-
tionellen Migrationsbegriff auseinander. Die Forschungsfragen des Buches zu
internationalen Wanderungen insbesondere von höherqualifizierten Deutschen
berühren Themen, die in der Migrationsforschung bisher nur randständig be-
handelt wurden. Durch die Gegenüberstellung der Konzepte zu Migration und
räumlicher Mobilität als auch durch den Vergleich von Wanderungen von
Gering- gegenüber Hochqualifizierten lassen sich konzeptionelle Besonderhei-
ten heutiger Auswanderung aus Deutschland deutlich machen (Kapitel 2.1). In
einem nächsten Schritt wird der Aspekt der Qualifikation diskutiert. Im Kontext
der Migration zwischen Entwicklungs- und Industriestaaten hat sich der Begriff
des ‚brain drain’ etabliert, womit der dauerhafte und umfangreiche Verlust
höherqualifizierter Personen beschrieben wird. Auch innerhalb der Debatte zur
Auswanderung aus Industriestaaten wird auf diesen Begriff des Öfteren zurück-
gegriffen. Gemeinsam mit verwandten Konzepten wird seine Bedeutung im
Rahmen dieses Buches diskutiert (Kapitel 2.2). In den folgenden zwei Unterka-
piteln stehen unterschiedliche theoretische Ansätze zur Erklärung selektiver
Migration im Mittelpunkt. So ist ein ‚brain drain’ oft die Folge einer zu Gunsten
von meist jüngeren und höherqualifizierten Personen stark selektiven Wande-
rung. Diese Selbstselektionsmechanismen sind insbesondere in der Ökonomie
(Kapitel 2.3) aber auch innerhalb der soziologischen und politikwissenschaftli-
chen Migrationsforschung (Kapitel 2.4) Gegenstand unterschiedlicher Erklä-
rungsansätze geworden. Neben diesen begrifflichen und theoretischen Grundla-
gen zur Analyse der Auswanderung aus Deutschland ist der konzeptionelle
Rahmen des Buches des Weiteren durch die Verfügbarkeit von Daten zur
internationalen räumlichen Mobilität von Deutschen geprägt. Die Datengrund-
lage stellt ein generelles Problem in der Migrationsforschung dar, ist aber von
18 Theorien und Methoden
besonderer Relevanz bei der Analyse der Auswanderung aus Industriestaaten
und der sozio-ökonomischen Charakteristika der Migranten. In den beiden
letzten Unterkapiteln stellen wir mögliche Datengrundlagen vor, wobei dies
zuerst aus der Perspektive von Datenquellen in den Herkunftsländern (Kapi-
tel 2.5) und dann aus der Sicht der Zielländer (Kapitel 2.6) geschieht. Dabei
wird deutlich, dass sich aussagekräftige Antworten zur internationalen Migrati-
on Deutscher nur durch die Verwendung unterschiedlicher methodischer Zu-
gänge erzielen lassen.
2.1 Eine „neue Landkarte“ der Migration
Die Migrationsforschung war lange Zeit durch Annahmen über historische
Wanderungsbewegungen – wie zum Beispiel die Einwanderung in die USA
während des 19. Jahrhunderts oder die europäischen Gastarbeiterwanderungen
der 1950er und 60er Jahre – geprägt. Migration wurde dadurch meist automa-
tisch als ein zeitlich dauerhaftes und räumlich größere Distanzen sowie interna-
tionale Grenzen überschreitendes soziales Phänomen konzeptionalisiert. Auch
wurde Migration meist mit weniger privilegierten und ärmeren Personen assozi-
iert, die aus ökonomischen Gründen aus geringer in höher entwickelte Staaten
und – aus globaler Perspektive – meist von Süd nach Nord wanderten. Diese
Vorstellungen haben dazu geführt, dass sich die Migrationforschung erst in den
vergangenen zwei Jahrzehnten vermeintlich neueren Migrationsformen zuge-
wendet hat, die zwar teilweise alles andere als neu sind, aber doch erst in den
vergangenen Jahren größere Aufmerksamkeit erhalten haben (vgl. Koser/Lutz
1998). Zumindest aus europäischer Sicht lassen sich heutige Migrationsmuster
nur noch begrenzt innerhalb solch klassischer Konzepte zur Arbeitsmigration
interpretieren. Vor dem Hintergrund einer sich zunehmend globalisierenden
Wirtschaft (Held et al. 1999), der Segmentierung der Arbeitsmärkte in den
Industriestaaten (Sassen 1999) und der Transnationalisierung gesellschaftlicher
Beziehungen (Mau 2007; Pries 2008) haben sich völlig neue Migrationsformen
entwickelt, die heute auch rein quantitativ das Migrationsgeschehen in vielen
europäischen Staaten maßgeblich bestimmen. Zu nennen ist die räumliche
Mobilität von Schülern (z.B. Büchner 2004) und Studierenden (z.B. Altbach
1989; Findlay et al. 2006) im Kontext eines zunehmend internationalisierten
Bildungssystems, die Mobilität von älteren Menschen, die ihren Ruhestand ganz
oder teilweise im Ausland verleben (z.B. Kaiser/Friedrich 2002; Warnes 2009),
die Mobilität von Arbeitnehmern im Kontext multinationaler Unternehmen und
ihrer internen Arbeitsmärkte (z.B. Findlay 1990; Kolb et al. 2004; Peixoto
2001) oder auch einfach nur Personen, die auf Grund der Suche nach einem
Eine „neue Landkarte“ der Migration 19
urbanen, internationalen Lebensstil oder nach attraktiveren landschaftlichen und
klimatischen Bedingungen international mobil werden (z.B. Favell 2008).
Am deutlichsten hat King (2002) in einem viel zitierten Aufsatz eine solche
„new map of migration“ für den europäischen Raum entworfen. Zur Charakteri-
sierung der „Neuigkeit“ dieser Migrationsformen hat er dabei mehrere Begriffs-
paare einander gegenübergestellt. Im Kontext dieses Buches zur Auswanderung
aus Deutschland orientieren wir uns an diesem Vorgehen und konzentrieren uns
vor allem auf zwei dieser Begriffspaare, die zur Konzeptionalisierung der
internationalen Migration von Deutschen von besonderer Bedeutung sind.
Erstens, die Unterscheidung zwischen Migration und räumlicher Mobilität.
Hierbei diskutieren wir die zeitliche Dimension internationaler Wanderungen.
Zweitens, die Unterscheidung zwischen der Migration von Gering- und Hoch-
qualifizierten, wobei hier die zunehmende Bedeutung letzterer zur Erklärung
aktueller Entwicklungen der internationalen Migration im Mittelpunkt steht.
Um die Besonderheiten der Auswanderung aus Deutschland im Vergleich
zur internationalen Migration im Allgemeinen zu beschreiben, ließen sich einige
weitere Begriffspaare bilden. Eine naheliegende weitere Unterscheidung würde
mit Sicherheit den geographischen Kontext und vor allem die Zielländer deut-
scher Auswanderer aufgreifen. Während traditionell insbesondere die Süd-
Nord-Wanderungen im Mittelpunkt der Migrationsforschung standen, zeigt sich
heute sowohl eine deutlich größere Diversifizierung auf Seiten der Herkunfts-
länder als auch auf Seiten der Zielländer (vgl. Castles/Miller 2009). Ein weiteres
Begriffspaar könnte die Unterscheidung zwischen internationaler Migration und
Binnenmigration darstellen, also einer Staatsgrenzen überschreitenden Wande-
rung gegenüber dem Wohnortswechsel innerhalb eines Staates. Gerade im
Kontext der Europäischen Union und ihrem erklärten Ziel der Entwicklung
eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hat sich
die faktische Bedeutung internationaler Grenzen fundamental gewandelt. Mit
dem Abbau der Binnengrenzen in Europa verschwimmen die Grenzen zwischen
Außen- und Binnenwanderungen zusehends. Traditionell lässt sich zwischen
klassischen Migranten und Flüchtlingen auf der einen und internationalen
Reisenden wie z.B. Touristen oder Geschäftsleute auf der anderen Seite unter-
scheiden. Während die internationale Migration ersterer massiven staatlichen
Kontrollbemühungen unterworfen sind, sind letztere weitgehend ohne Reisebe-
schränkungen international mobil. Ob sich hinter diesen Entwicklungen tatsäch-
lich eine Abnahme staatlicher Souveränitätsansprüche verbirgt, ist zweifelhaft.
Für die Migrationsforschung stellt sich aber zumindest die Frage, ob die klassi-
sche Unterscheidung zwischen Binnen- und internationaler Migration weiter
aufrecht zu erhalten ist (vgl. Favell et al. 2006; King et al. 2008; Santacreu
Fernández et al. 2009: 71). Trotz dieser vielfältigen Dimensionen sind für die
20 Theorien und Methoden
weitere Struktur und Argumentation dieses Buches die beiden zuerst genannten
Differenzierungen zwischen Migration und räumlicher Mobilität sowie zwi-
schen der Wanderung von Gering- und Hochqualifizierten von besonderer
Relevanz. Aus diesem Grund werden wir im Folgenden diese beiden Begriffs-
paare noch etwas detaillierter diskutieren.
2.1.1 Migration versus Mobilität
Das erste hier zu diskutierende Begriffspaar bezieht sich auf das Spannungsver-
hältnis zwischen ‘Migration’ und ‘räumlicher Mobilität’. Auch wenn es keine
allgemein gültige Definition für beide Begrifflichkeiten gibt, beziehen sie sich
in der Regel auf die zeitliche Dimension und damit auf eine der zentralen
Komponenten jeder Definition von Migration. So wird Migration häufig als
Verlagerung des Wohnortes für einen signifikanten Zeitraum oder sogar als
dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunktes verstanden, während Mobilität
sich meist auf kurzzeitige Verlagerungen des Wohnortes z.B. im Kontext von
Tourismus oder Geschäftsreisen bezieht. Beispielsweise bezeichnet Schwarz
(1972: 225) Migranten als Personen, „die ihren Wohnsitz mit der Absicht
verändern, sich in der Wohnung für längere Zeit oder – soweit vorausschaubar –
ständig aufzuhalten, d.h. das Wanderungsziel als neuen Mittelpunkt ihres
Lebens zu betrachten“ (vgl. auch Bähr et al. 1992; King et al. 2006: 233f.).
Während diese definitorischen Abgrenzungen noch vergleichsweise klar und
nachvollziehbar sind, ist es dennoch schwierig, diese auf die empirische Realität
der vorfindbaren räumlichen Migrations- und Mobilitätsformen anzuwenden.
Aus Sicht aktueller theoretischer Debatten in der Soziologie scheint diese
Unterscheidung vielleicht von nebensächlicher Bedeutung. Wer fragt nach der
Dauer von Migration, wenn sich angesichts der Debatten in der Sozialtheorie
gesellschaftliche Strukturen durch eine Zunahme räumlicher Mobilität auflösen
oder zumindest neu konfigurieren? So stellt räumliche Mobilität im Rahmen der
„spaces of flows“ von Castells (2001) einen zentralen Ausgangspunkt in der
theoretischen Fassung der Netzwerkgesellschaft dar, Urry (2007) identifiziert in
heutigen Gesellschaften eine entstehende Mobilitätskultur und proklamiert ein
„new mobilities paradigm“ in den Sozialwissenschaften. Hannerz (1992) und
Appadurai (1991) machen Migration zum Ausgangspunkt ihrer kultursoziologi-
schen Ansätze. Aus Sicht dieser Überlegungen sind Migration und räumliche
Mobilität zu einem bestimmenden Faktor gegenwärtigen sozialen Wandels
geworden, für die empirische Migrationsforschung tragen sie aber wenig Klä-
rendes bei. Abgesehen von dem prinzipiellen Bedeutungszuwachs, den sie
räumlicher Mobilität im Allgemeinen zuschreiben, sind sie nicht in der Lage,
Eine „neue Landkarte“ der Migration 21
unterschiedliche Migrationsformen oder Mobilitätsverhalten zu erklären. Trotz
des gemeinsamen Ausgangspunktes finden sich kaum Verknüpfungen zwischen
diesen theoretischen Debatten und der empirischen Migrationsforschung (siehe
auch die Diskussionen in Favell et al. 2006; Limmer/Schneider 2008).
Wird die Diskussion zur zeitlichen Dimension von Migration hingegen aus
Sicht der empirischen Migrationsforschung betrachtet, ist es insbesondere der
Transnationalismusansatz, der zu einer Abkehr von klassischen Vorstellungen
über notwendigerweise einmalige oder zumindest langfristige Migrationsent-
scheidungen führte (vgl. Glick Schiller et al. 1992; Portes et al. 1999; Faist
2000). Danach lässt sich Migration schon konzeptionell nicht mehr als einmali-
ge Umzugsentscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben erfassen. Es
gilt vielmehr den ganzen Migrationsprozess im Auge zu behalten. Der Dualis-
mus zwischen Einwanderungs- und Auswanderungsländern bzw. zwischen
Herkunfts- und Zielländern verschwimmt aus dieser Perspektive und es entste-
hen weit komplexere Migrationsmuster als früher angenommen. Aus der Sicht
der Mobilitätsforschung beginnen sich die früher disziplinär weitgehend ge-
trennten Bereiche anzunähern. Bisher wurden am ehesten in der Geographie
beispielsweise Wanderungen und Pendelverhalten gemeinsam betrachtet; zwei
Bereiche, die sonst zwischen Ökonomie, Soziologie und den Verkehrwissen-
schaften streng getrennt waren. Danach wird räumliche Mobilität in einem
zunehmend umfassenderen Verständnis erfasst, das von täglichem Pendeln bis
zur residenziellen Mobilität im Sinne klassischer Migration reicht (vgl. Lim-
mer/Schneider 2008; Eliasson et al. 2003). Übertragen auf die internationale
Migration von Deutschen heißt das, dass diese weitgehend unabhängig von ihrer
zeitlichen Dimension Gegenstand der Analyse sein werden. Da heutige Migrati-
onsprozesse auch zeitlich kürzere Perioden umfassen, würde eine Einschrän-
kung auf langfristige oder dauerhafte Migration – z.B. im Sinne eines Auslands-
aufenthalts von mindestens zwölf Monaten oder im Verständnis von Auswande-
rung nur bei Nichtvorliegen einer Rückkehrintention – einen wesentlichen Teil
heutiger Wanderungen konzeptionell ausblenden. Unter dem Begriff der Migra-
tion wird für die weitere Verwendung im Rahmen des Buches eine Verlagerung
des Wohnortes jedoch ohne strenge zeitliche Begrenzung verstanden. Die
eigentlichen Beschränkungen für die folgenden empirischen Analysen finden
sich daher weniger in diesen theoretischen Konzeptionalisierungsversuchen von
Migration bzw. räumlicher Mobilität als vielmehr in der gewählten Operationa-
lisierung von Migration in den verwendeten Datengrundlagen. Die Möglichkeit,
auch vergleichsweise kurzzeitige Auslandsaufenthalte zu erfassen, ist daher ein
wichtiges Kriterium bei der späteren Wahl der zu verwendenden Daten.
22 Theorien und Methoden
2.1.2 Geringer versus höher qualifizierte Migranten
Das zweite Begriffspaar bezieht sich auf das Qualifikationsniveau der Migran-
ten. Traditionelle Darstellungen zu internationalen Wanderungsbewegungen
vermitteln häufig den Eindruck von unterdurchschnittlich gebildeten und ärme-
ren Migranten. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass Migranten
auf dem Arbeitsmarkt der Zielländer häufiger Berufe annehmen, die am unteren
Ende der sozialen Hierarchie der Berufe stehen. Erst seit den 1980er Jahren hat
die Migration von höher qualifizierten Personen langsam die Beachtung der
Migrationsforschung erreicht, die sich zunehmend der sozialen Heterogenität
der Migration bewusst wurde (Koser/Salt 1997: 285).
Die Gründe für die vergleichsweise späte Beachtung dieses Phänomens lie-
gen einerseits darin, dass aufgrund der Kurzzeitigkeit der internationalen Migra-
tion von Hochqualifizierten diese in der Migrationsforschung nicht als Migran-
ten verstanden wurden, andererseits aber auch darin, dass sich die Migrations-
forschung über lange Zeit in erster Linie mit dauerhafter Migration und den
Fragen der Integration beschäftigt hat, und es kein politisches Problembewusst-
sein für die Zu- bzw. Auswanderung von Hochqualifizierten gab. Dies ist umso
erstaunlicher, da hochqualifizierte Migranten einen zunehmend größeren Anteil
unter den internationalen Migranten darstellen. So geht die OECD davon aus,
dass zwischen den Jahren 1990 und 2000 in der Wanderungsbilanz zwischen
weniger und höher entwickelten Staaten über fünf Mio. Personen mit tertiärer
Bildung zu Gunsten der Industriestaaten migriert sind. Während des gleichen
Zeitraums hat sich die Zahl von Hochqualifizierten aus anderen Industriestaaten
in den OECD-Ländern um weitere zwei Mio. erhöht (OECD 2008a). Auch
wenn damit Hochqualifizierte am Bestand internationaler Migranten in den
OECD-Staaten einen noch immer vergleichsweise geringen Anteil darstellen, ist
ihr Anteil am aktuellen Wanderungsgeschehen bereits deutlich höher und
steigend.
Der gegenwärtige Stand der Theorie zur Migration von Hochqualifizierten
ist der wachsenden Bedeutung dieses Phänomens aber nicht annähernd ange-
messen (Iredale 2001: 7). Die Gründe dafür sind vielfältig, beginnen aber
bereits bei der Definition von Hochqualifizierten, die i.d.R. als Personen mit
Universitätsabschluss oder vergleichbarer Erfahrung und Expertise in einem
bestimmten Gebiet gefasst werden (Koser/Salt 1997). Diese definitorischen
Schwierigkeiten werden auch in der Verwendung unterschiedlicher Konzepte
wie der “migration of expertise” (Salt 1992) oder der „migration of talent”
(Solimano 2008) deutlich, die auf unterschiedlichen Operationalisierungen
basieren (siehe dazu auch Auriol/Sexton 2001). Für die Untersuchung der
Auswanderung Hochqualifizierter aus Deutschland liegt in diesem Buch eben-
Eine “neue Landkarte” der Migration 23
falls eine bildungsbezogene Definition zugrunde, wonach Personen mit einem
tertiären Bildungsabschluss (d.h. Personen mit entweder einer höheren berufs-
fachlichen Ausbildung, einem Fachhochschul- oder Hochschulabschluss oder
einer Promotion) hier als Hochqualifizierte verstanden werden. Um präzisere
Informationen über Hochqualifizierte und mögliche Unterschiede zwischen
Wirtschaftsbereichen zu erhalten, werden neben dem Bildungsabschluss auch
Informationen über die Berufsqualifikation und Wirtschaftssektoren hinzugezo-
gen (siehe hierzu auch Kapitel 5.3).
Im Gegensatz zu den Schwierigkeiten einer Definition von hochqualifizier-
ter Migration fällt es leicht, einige Trends zu benennen, die zur Erklärung des
zunehmenden Qualifikationsniveaus internationaler Migranten beitragen. Ein
erster Punkt bezieht sich auf die demographische Entwicklung in vielen Indus-
triestaaten. Im Kontext der Alterung dieser Gesellschaften und der Abnahme des
Erwerbspersonenpotenzials entsteht ein Bedarf an der Zuwanderung höher
qualifizierter Arbeitskräfte. Besonders betroffen ist der Bereich der Pflege und
der medizinischen Versorgung, was sich mit weiterer Zunahme der Alterung
auch in Zukunft verstärken wird. Eine zweite Entwicklung betrifft den wach-
senden Bedarf an besser qualifiziertem Personal im Hinblick auf den gegenwär-
tigen technologischen Fortschritt. Insbesondere die Informationstechnologien
stellen ständig neue Anforderungen an die Ausbildung der Belegschaften.
Allgemeiner lässt sich dieser Zusammenhang aus ökonomischer Perspektive mit
der neuen Wachstumstheorie begründen, die in heutigen Wissensgesellschaften
gut ausgebildete Arbeitskräfte als zentralen Standortvorteil im globalen Wett-
bewerb sehen. Vor dem Hintergrund der nur bedingten räumlichen Mobilität
von Wissen besteht ein wachsendes Interesse auf Seiten der Industriestaaten,
durch Zuwanderung von Hochqualifizierten wirtschaftliche Vorteile zu erlan-
gen. Ein letzter Trend bezieht sich auf die internationalisierten Produktions-
strukturen und Handelsbeziehungen. Mit der Liberalisierung der Handelspoliti-
ken entstanden zunehmend globale Zuliefererbeziehungen, die es transnationa-
len Unternehmen ermöglichen, ihre Produktion in die wirtschaftlichsten Regio-
nen zu verlagern. Daraus entsteht in der Folge ein wachsendes Bedürfnis an
räumlicher Mobilität auf Seiten von höherqualifizierten Fachkräften und Mana-
gementpersonal zwischen den verschiedenen Produktionsstandorten (vgl. Abella
2006; Kapur/McHale 2005; OECD 2008b).
Das neue ökonomische Mantra geht angesichts dieser Entwicklungen da-
von aus, dass Länder, die nicht in der Lage sind, Fachkräfte und hochqualifizier-
te Wissenschaftler in größerem Umfang aus dem Ausland anzuziehen, im
internationalen Wettbewerb um neue Produkte und Dienstleistungen unweiger-
lich zurückfallen werden. Daher überrascht es auch nicht, dass einige Autoren
von einer weiteren Zunahme der Migration Hochqualifizierter ausgehen (siehe
24 Theorien und Methoden
z.B. Mahroum 2002). Diese Entwicklungen lassen sich an den aktuellen Refor-
men der Zuwanderungspolitiken der Industriestaaten direkt nachvollziehen.
Abella (2006: 18ff.) unterscheidet vier verschiedene Ansätze, mit denen die
Zuwanderung von Hochqualifizierten ermöglicht werden soll. Der „human
capital“-Ansatz hat meist eine langfristige Perspektive und ermöglicht den
Zuwanderern einen dauerhaften Aufenthalt, während der “labour-market
needs“-Ansatz sich stärker an zeitlich befristeten Zuwanderungsoptionen für
Arbeitsmarktsektoren mit akutem Fachkräftemangel orientiert. Der „business
incentive“-Ansatz konzentriert sich auf die Schaffung attraktiver Bedingungen
für ausländische Investoren und der „academic gate“-Ansatz ermöglicht auslän-
dischen Studierenden nach Abschluss des Studiums eine Verlängerung des
Aufenthalts zum Zweck der Erwerbstätigkeit. In unterschiedlichen Ausprägun-
gen finden sich die verschiedenen Ansätze in mittlerweile einigen staatlichen
Zuwanderungspolitiken. Traditionelle Beispiele sind die H-1B Visa der USA
oder die punktesystembasierte Zuwanderungspolitik Kanadas (siehe z.B. Sha-
char 2006; Martin/Lowell 2002). Aber auch in europäischen und asiatischen
Staaten finden sich vergleichbare Entwicklungen. Zu nennen sind beispielsweise
die deutsche Green Card (Ette 2003), die Bestimmungen im neuen Zuwande-
rungsgesetz (Heß/Sauer 2007), die Diskussion über die europäische Blue Card
(Guild 2007) sowie die neue britische Arbeitsmigrationspolitik auf Basis eines
Punktesystems (Ruhs/Anderson 2010).
2.2 Brain Drain – Brain Gain – Brain Circulation
Ziel des vorherigen Unterkapitels war es, traditionelle Vorstellungen zur inter-
nationalen Migration im Licht aktuellerer Entwicklungen von neuen Formen
und Prozessen der Migration zu diskutieren. Neben der zeitlichen Dimension
wurde als ein wesentliches Kriterium für Wanderungen zwischen Industriestaa-
ten die zunehmende Zahl von hochqualifizierten Migranten dargestellt. Wird
jedoch die Debatte zur Migration zwischen weniger und höher entwickelten
Staaten betrachtet, erscheint diese Thematik weitaus weniger neu. Unter dem
Begriff des ‚brain drain’ wurde in der Entwicklungsländerforschung schon seit
Ende der 1960er Jahre die selektive Auswanderung der im Vergleich zur nicht
mobilen Bevölkerung besser qualifizierten Migranten thematisiert. Seit einigen
Jahren findet sich dieser Begriff auch zunehmend in den Debatten zur Auswan-
derung aus Industriestaaten – und zwar sowohl in der öffentlichen und politi-
schen Diskussion als auch in wissenschaftlichen Analysen. Im folgenden Kapi-
tel wird der Begriff des ‚brain drain’ gemeinsam mit verwandten Konzepten
Brain Drain – Brain Gain – Brain Circulation 25
dargestellt und für die weitere Verwendung im Rahmen dieses Buchs inhaltlich
näher bestimmt.
Während sich in der öffentlichen Diskussion der Begriff ‚brain drain’ häu-
fig auf die Auswanderung von höchstqualifizierten Fachkräften bezieht und
meist auf Ingenieure, Wissenschaftler oder Ärzte beschränkt ist, wird er in der
wissenschaftlichen Debatte in einem weiteren Sinne verstanden. Insbesondere
unter dem maßgeblichen Einfluss der Vereinten Nationen hat sich der Begriff
zur Kennzeichnung der Auswanderung von höher qualifizierten Personen aus
Entwicklungsländern etabliert. Eine aktuelle Definition versteht unter ‚brain
drain’ daher auch den „international transfer of human resources and mainly
applies to the migration of relatively highly educated individuals from develop-
ing to developed countries” (Docquier/Rapoport 2008). Für die zunehmende
Übertragung des Begriffs auf die Beschreibung von Wanderungsbewegungen
zwischen Industriestaaten gibt es dennoch einige Gründe. Bei Betrachtung der
Begriffsgeschichte zeigt sich, dass ‚brain drain’ ursprünglich zu Beginn der
1960er Jahre zur Beschreibung der Auswanderung britischer Wissenschaftler in
die USA entstand (Godwin et al. 2009). Der Begriff entwickelte sich somit im
Kontext der internationalen Migration zwischen höher entwickelten Staaten. Ein
weiterer Grund ist in der quantitativen Dimension zu sehen, dass nämlich der
Umfang der Migration höher qualifizierter Personen zwischen den Industriestaa-
ten größer ist als zwischen den Entwicklungs- und Industrieländern.
Für die Verwendung des Begriffs zur Beschreibung von Migrationsprozes-
sen zwischen Industriestaaten lohnt des Weiteren ein Blick auf die Entwicklung
der ‚brain drain’-Diskussion. Danach lassen sich drei Generationen von For-
schungen zum ‚brain drain’ unterscheiden, wobei in der ersten Generation die
Beschreibung des ‚brain drain’ selbst im Vordergrund stand, während die
Wohlfahrtseffekte der Auswanderung Hochqualifizierter in diesen Studien als
vernachlässigbar angesehen wurden (Adams 1968; Grubel/Scott 1977). Die
zweite Generation von Studien, insbesondere die Arbeiten von Bhagwati
(Bhagwati 1976; Bhagwati/Dellafar 1973; Bhagwati/Hamada 1974; Bhagwa-
ti/Hamada 1975) betonen die negativen Konsequenzen der Auswanderung für
die Herkunftsländer sowie den Einfluss des ‚brain drain’ auf wachsende Ent-
wicklungsungleichheiten zwischen den beteiligten Staaten. Aufgegriffen wurden
diese negativen Auswirkungen im Kontext der Ansätze der endogenen Wach-
stumstheorien seit Anfang der 1990er Jahre, die insbesondere die negativen
Konsequenzen auf die Akkumulation von Humankapital und damit die Generie-
rung von wirtschaftlichem Wachstum thematisierten (Haque/Kim 1995; Miya-
giwa 1991). Auch die räumlichen Ungleichheiten haben in den vergangenen
Jahren wieder vermehrt Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Kanbur/Rapoport 2005;
Williams et al. 2004). In der dritten Generation wurden die positiven Aspekte
26 Theorien und Methoden
des früheren Verlusts nun unter dem Begriff des ‚brain gain’ diskutiert. Die
ersten Arbeiten entstanden seit den 1990er Jahren und betonten die positiven
Aspekte des früheren ‚brain drain’ auf die steigende Bildungsbeteiligung in den
Herkunftsländern (Wong/Yip 1999). Weiterhin werden aus dieser Perspektive
die verschiedenen Feedback-Effekte in Form von Rücküberweisungen oder
Rückwanderungen von Migranten in ihre Herkunftsländer betont (Galor/Stark
1990; Galor/Stark 1991; Mountford 1997; für eine ähnliche Einteilung mehrerer
Forschungsgenerationen siehe auch Docquier/Rapoport 2007: 7f.). Eine weitere,
von der dritten Generation nicht ganz klar abgrenzbare Perspektive hat sich
unter dem Schlagwort ‚brain circulation’ entwickelt. Diese rückt die gegenseiti-
gen positiven Aspekte für Herkunfts- und Zielland in den Mittelpunkt. Im
Unterschied zu den anderen genannten Forschungsgenerationen betont dieses
Konzept den zunehmend zeitlich begrenzten Charakter der Auswanderung von
Studierenden, Wissenschaftlern und Fachkräften und stellt somit die regelmäßi-
gen Aus- und Rückwanderungen – ähnlich dem bereits erwähnten Transnationa-
lismusansatz – in den Mittelpunkt der Betrachtung (vgl. Ackers/Gill 2008;
Gaillard/Gaillard 1997). Das Konzept des daraus resultierenden gegenseitigen
Gewinns macht es attraktiv für verschiedene politische Initiativen, weshalb es
nicht verwundert, dass sich der Begriff in aktuellen Debatten der europäischen
Migrationspolitik oder auch der UN-Kommission für internationale Migration
regelmäßig wiederfindet (vgl. Zerger 2008; Castles 2006).
Im Rahmen des vorliegenden Buches werden die drei Begriffe ‚brain
drain’, ‚brain gain’ und ‚brain circulation’ ausschließlich zur Beschreibung und
Charakterisierung von Migrationsprozessen dienen. In Anlehnung an Salt (1997:
5) bezeichnen wir als ‚brain drain’ Wanderungsbewegungen, bei der die Mi-
granten im Vergleich zu der nicht mobilen Bevölkerung im Herkunftsland über
ein überproportional hohes Bildungs- und Qualifikationsniveau verfügen. Die
Frage der Dauerhaftigkeit dieser Form der Auswanderung ist davon erst einmal
unabhängig. Erst für eine weitergehende Charakterisierung dieses Migrati-
onsprozesses sind in einem weitergehenden Schritt zusätzliche Aussagen zur
Aufenthaltsdauer notwendig. ‚Brain circulation’ wäre gemäß dieser Begriffsbe-
stimmung eine Migrationsbeziehung, in der sich Migranten nur zeitlich befristet
in dem Zielland aufhalten und dann nach vergleichsweise kurzer Zeit wieder in
ihr Herkunftsland zurückkehren, während ‚brain drain’ – unter Einbeziehung
der Aufenthaltsdauer – zur Beschreibung tendenziell längerfristiger oder sogar
dauerhafter Auswanderungen genutzt wird. Auch die wechselseitigen Wande-
rungsbewegungen von qualifizierten Migranten zwischen Herkunfts- und
Zielland lassen sich mittels dieser Begriffe beschreiben. Für den Fall, dass die
Wanderungsbilanz stark zu Gunsten bzw. Ungunsten des einen Staates verscho-
ben ist, lassen sich – abhängig von der Perspektive – die Begriffe des ‚brain
Brain Drain – Brain Gain – Brain Circulation 27
gain’ oder des ‚brain drain’ zur Beschreibung der Migrationsbeziehung zwi-
schen den beiden Staaten nutzen. Grundlage für alle drei hier beschriebenen
Migrationsprozesse sind selektive Wanderungen, die sich durch ein erhöhtes
Niveau bestimmter Bildungs- und Qualifikationsgruppen kennzeichnen lassen.
Um ein besseres Verständnis der theoretischen Zusammenhänge zur Erklärung
von selektiven Migrationsprozessen zu erhalten, werden in den nächsten beiden
Kapiteln wesentliche theoretische Ansätze zur Erklärung bildungsselektiver
Wanderungen vorgestellt.
2.3 Neoklassische Theorien selektiver Migration
Die Debatte über die Theorien der Migration und die wesentlichen Bestim-
mungsfaktoren, die zur Erklärung von internationalen Wanderungsbewegungen
und ihrer Aufrechterhaltung beitragen, ist zwischenzeitlich weit entwickelt. Die
Theorien hierzu haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen
sozialwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt. Es kann dabei unterschieden
werden zwischen (1) mikrotheoretischen Ansätzen, die die individuellen Migra-
tionsentscheidungen erklären, (2) makrotheoretischen Ansätzen, die Migration
als Strukturmerkmal sozialer Systeme auffassen und versuchen, sie als Kollek-
tivphänomen zu analysieren und (3) mesotheoretischen Ansätzen, die auf die
Einbettung der Migrationsentscheidung in die institutionellen Kontexte und
sozialen Netzwerke abzielen (Faist 1997; Kalter 1997; Massey et al. 1993).
Makrotheoretische Ansätze interpretieren Migration als Ergebnis regionaler
Disparitäten. Neben Einkommensdisparitäten, unterschiedlichen Arbeitslosen-
quoten und ungleicher Siedlungsdichte sind dabei als weitere Faktoren zur
Erklärung von Migration die Attraktivität von Zentren, strukturelle Bedingun-
gen des Arbeitsmarktes, Globalisierung und multinationale Unternehmen sowie
die staatlichen Zuwanderungspolitiken zu nennen. Hingegen stellen mikrotheo-
retische Ansätze zur Erklärung der Migration die individuelle Wanderungsent-
scheidung als Ergebnis eines individuellen Such- und Optimierungsprozesses in
den Mittelpunkt. Diese Ansätze unterstellen, dass das Individuum als „homo
oeconomicus“ handelt, welcher seine Lebensumstände durch rationale Ent-
scheidungen so ordnet, dass gegebene unveränderliche Bedürfnisse in einem
Höchstmaß befriedigt werden. Die Theorien auf der Mesoebene greifen Ver-
säumnisse der zuvor vorgestellten Ansätze auf. So vernachlässigen makrotheo-
retische Modelle die handlungstheoretischen Annahmen und mikrotheoretische
Ansätze übersehen die Einbettung in institutionelle Kontexte, welche im Rah-
men von empirischen Studien zu Migrationsnetzwerken, transnationalen sozia-
len Räumen und sozialem Kapitel zusammengebracht werden. Diese knappe
28 Theorien und Methoden
Übersicht zeigt, dass die Frage nach dem ‚Warum’, nach den Determinanten der
Migrationsentscheidung, sowohl theoretisch als auch empirisch weit fortge-
schritten ist. Die Literatur ist dazu vergleichsweise gut aufgearbeitet, und es
liegt eine ganze Reihe von Übersichtsartikeln vor (Haug/Sauer 2006; Massey et
al. 1998; Kalter 2000; Kivisto/Faist 2010).
Zur Erklärung des zuvor diskutierten ‚brain drains’ – also der Auswande-
rung von im Vergleich zur nicht mobilen Bevölkerung hochqualifizierten
Personen – langt die Erklärung des Volumens der Migration nicht aus. Die
Frage nach dem ‚Wer’ – also den Trägern der internationalen räumlichen
Mobilität, d.h. nach der Selektivität der Migration – ist ein theoretisch hingegen
weit weniger gut bearbeitetes und erschlossenes Feld. Selektivität lässt sich nach
Gatzweiler als „die relativ einseitige demographische wie sozio-ökonomische
Zusammensetzung bestimmter […] Wanderungsströme“ bezeichnen (Gatzwei-
ler 1975: 15). Selektive Wanderungen sind somit dadurch charakterisiert, dass
der Anteil der Migranten, die ein bestimmtes Merkmal aufweisen, signifikant
höher ist als der Durchschnittswert in der Bevölkerung. Solche Merkmale
können unterschiedlicher Natur sein: demographisch, beruflich, politisch etc.
Während gerade in der Geographie und Demographie die Analyse der altersse-
lektiven Migration im Vordergrund stand (siehe z.B. Mai 2003; Schlömer 2009),
ist im Kontext der Auswanderung aus Deutschland weniger die Altersstruktur
von Interesse als vielmehr die Qualifikationsstruktur der Migranten. Hierzu sind
es in erster Linie ökonomische Theorien zur Selbstselektion von Migranten, die
aufbauend auf dem humankapitaltheoretischen Ansatz vorgestellt werden. In
Kapitel 2.4 stehen dann alternative theoretische Ansätze im Mittelpunkt, die
sich explizit mit der Erklärung der Migration von Hochqualifizierten beschäfti-
gen. Dazu zählen als eher betriebswirtschaftliche Theorie der Ansatz der unter-
nehmensinternen Arbeitsmärkte; aus politikwissenschaftlicher Sicht geht es um
die Rolle des Staates und die Funktion selektiver Migrationspolitik, und ab-
schließend werden die vor allem in der Soziologie diskutierten sozialen Netz-
werke und transnationalen sozialen Räume diskutiert.
Im Mittelpunkt theoretischer Arbeiten zur Erklärung von qualifikations-
bzw. bildungsstrukturell selektiver Migration stehen mikroökonomische Theori-
en, wie sie später in der Soziologie von handlungstheoretischen Ansätzen und
der Werterwartungstheorie aufgegriffen wurden (Kalter 1997; Huinink/Kley
2008). Dabei gehen die neoklassischen Migrationsansätze, zunächst formuliert
von Hicks (1932) und später von Sjaastad (1962) und Todaro (1969) erweitert,
davon aus, dass Wanderungsbewegungen vor allem ökonomisch motiviert sind
und daher das gegenwärtige und das in der Zukunft erwartete Einkommen die
entscheidenden Determinanten der Migrationsentscheidung darstellen. So
interpretiert Sjaastad Wanderungen als individuelle Investitionen in Humanka-
Neoklassische Theorien 29
pital und unterscheidet analog zu früheren Ansätzen zwischen Kosten und
Erträgen der Wanderung. Monetäre Kosten sind zum Beispiel die Ausgaben für
den Umzug, wohingegen beispielsweise psychische Kosten, die durch das
Verlassen der vertrauten Umgebung von Bekannten, Freunden und Familien-
mitgliedern entstehen, als nicht-monetäre Kosten gelten. Am wichtigsten sind
aber die monetären Gewinne der Wanderung, die aus einer Steigerung des
Realeinkommens bestehen. Dabei kann das mikroökonomische Humankapital-
modell berücksichtigen, dass sich solche Erträge gegebenenfalls erst nach einer
gewissen Zeit einstellen. Die Entscheidung der Individuen kann aus dieser
Perspektive als Optimierungsprozess interpretiert werden, bei dem rationale
Wirtschaftssubjekte versuchen, durch eine Migration ihren Nutzen zu maximie-
ren. In Abhängigkeit von der jeweiligen Humankapitalausstattung berechnen
Individuen den Gegenwartswert des erwarteten Einkommens im Heimatland
und in jedem potenziellen Zielland. Für eine Wanderung wird sich eine Person
dann entscheiden, wenn der Gegenwartswert des erwarteten Einkommens im
Zielland abzüglich der Kosten der Migration größer ist als der Gegenwartswert
der Einkommen im Heimatland (Sjaastad 1962: 83ff.). Die sonst gängige
Annahme der Homogenität der Individuen wird in diesen Ansätzen mit dem
Ziel, insbesondere die Differenzen in der Wanderungsentscheidung besser
erklären zu können, aufgegeben. Das Wanderungsverhalten ausgewählter
Personen ist somit generell erklärbar, da jedes Individuum die Erträge und
Kosten einer Wanderung in Abhängigkeit von seinen sozioökonomischen
Charakteristika unterschiedlich bewerten wird. Allgemein gilt: Je höher die
Einkünfte an einem anderen Ort über den derzeitigen liegen, je mehr Jahre noch
im Erwerbsleben verbracht werden und je kleiner die Kosten der Wanderung
sind, desto eher wird eine Person wandern. Selektives Wanderungsverhalten ist
also erfassbar, da die individuellen Einkünfte am Ziel- und Herkunftsort mit
sozialen Merkmalen (etwa Geschlecht oder Berufsqualifikation) zusammenhän-
gen können. Aus diesem Grund werden unterschiedliche Personen eine unter-
schiedliche Migrationswahrscheinlichkeit aufweisen und darüber hinaus in
unterschiedliche Zielländer streben. Je größer das Ungleichgewicht von Qualifi-
kationsniveau und aktueller Beschäftigung ist, desto eher wird eine Wanderung
wahrscheinlich.
Auf Grund dieser differierenden Bewertungen der Erträge und Kosten der
Migration stellen Migranten eine „selbstselektierte Gruppe“ dar und unterschei-
den sich in Bezug auf beobachtbare (z.B. Ausbildung oder Alter) und unbeob-
achtbare (z.B. Motivation oder Risikofreudigkeit) Charakteristika von denjeni-
gen, die sich gegen eine Wanderung entscheiden. In der Migrationstheorie wird
die Selbstselektion überwiegend unter Verwendung des sogenannten Roy-
Modells analysiert. Der Ansatz von Roy (1951) beschäftigt sich mit der Ver-
30 Theorien und Methoden
gleichbarkeit der Löhne einkommensmaximierender Personen. Er zeigt, dass
selbst wenn die Arbeitsproduktivitäten der Arbeitnehmer lognormalverteilt
wären, dies nicht für die Löhne gelten muss, wenn sich Arbeitskräfte für unter-
schiedliche Tätigkeiten unterschiedlich gut eignen und ihren Arbeitsplatz nach
ihren individuellen komparativen Vorteilen wählen. Der Grund liegt darin, dass
die Selbstselektion der Arbeitsplätze nach dem Prinzip des komparativen Vor-
teils zur Folge hat, dass die beobachtete Lohnverteilung die tatsächliche Vertei-
lung individueller Fähigkeiten verzerrt wiedergibt. Dieser Ansatz wurde von
Robinson und Tomes (1982) erstmals auf die Migration angewandt und von
Borjas (1987) und Borjas und Bratsberg (1996) auf die internationale Migration
übertragen. Ziel der Arbeiten von Borjas war die Erklärung des Qualifikations-
niveaus der Migranten in die USA. Gemäß dem Roy-Modell war seine Annah-
me, dass es sowohl zu einer positiven als auch einer negativen Selbstselektion
kommen kann. So liegt eine positive Selbstselektion vor, wenn die wandernden
Individuen in Bezug auf die beobachtbaren oder unbeobachtbaren Charakteristi-
ka ein höheres Niveau haben als der Durchschnitt der sesshaften Individuen im
Herkunftsland. Wenn die Charakteristika der Migranten ein geringeres Niveau
aufweisen als der Durchschnitt der verbliebenen Bevölkerung im Herkunftsland,
spricht man hingegen von einer negativen Selektion. Grundlegende Bedingung
ist, dass die unterschiedliche Bewertung der Kontextbedingungen im Ziel- und
im Herkunftsland zu unterschiedlichen Wanderungsentscheidungen zwischen
den potenziellen Migranten führt. Für die internationale Migration ist eine
weitere Voraussetzung entscheidend: So müssen die im Herkunftsland erworbe-
nen beobachtbaren und unbeobachtbaren Fähigkeiten auf die Erfordernisse des
Arbeitsmarktes im Aufnahmeland übertragbar sein.
Welche Form der Selbstselektion letzten Endes vorliegt, ist aus Sicht von
Borjas von der Entlohnung des Humankapitals in den Herkunfts- und Ziellän-
dern abhängig. (1) Danach findet hinsichtlich der beobachtbaren Charakteristika
der Migranten beispielsweise eine positive Selektion der Migranten und ihrer
Bildung dann statt, wenn das Humankapital der Migranten im Einwanderungs-
land höher entlohnt wird als im Herkunftsland, da dann der Wanderungsgewinn
für Personen mit hoher Bildung am größten ist. Die erwartete beobachtbare
positive Selektion zeigt sich beispielsweise darin, dass die durchschnittliche
Schulbildung der Migranten höher ist als die durchschnittliche Schulbildung der
Bevölkerung des Herkunftslandes. Wird im umgekehrten Fall eine bestimmte
Qualifikation im Einwanderungsland niedriger entlohnt als im Herkunftsland,
wird eine entsprechend negative Selektion der Migranten zu beobachten sein.
(2) Hinsichtlich der unbeobachtbaren Charakteristika findet sich eine positive
Selektion, wenn die Streuung des Einkommens im Zielland relativ zum Her-
kunftsland größer ist. Dieser Indikator wird in der Theorie als wesentliches
Neoklassische Theorien 31
Kriterium zur Erklärung der ungleichen Verteilung der unbeobachtbaren Cha-
rakteristika angesehen. Eine Einkommensstruktur, die die individuellen Produk-
tivitätsunterschiede stärker berücksichtigt, begünstigt leistungsstärkere Personen
(in der Regel Hochqualifizierte) und benachteiligt Leistungsschwächere. Ist die
Streuung der Einkommen im Zielland hingegen kleiner als im Herkunftsland,
findet eine negative Selektion der Migranten hinsichtlich unbeobachtbarer
Charakteristika statt (Borjas 1987: 534). Dies würde bedeuten, dass vor allem
Individuen mit geringen unbeobachtbaren Fähigkeiten einen hohen Migrations-
anreiz haben, da sie im Empfängerland vergleichsweise gut vor ungünstigen
Arbeitsmarktentwicklungen abgesichert werden. (3) Auch die nicht-monetären
Kosten tragen zur Selbstselektion der Migration bei. Diese sind laut Theorie
insbesondere für Hochqualifizierte geringer, da zum einen unterstellt wird, dass
diesen die Informationsbeschaffung im Vorfeld (durch beispielsweise bessere
Verfügbarkeit und Kenntnis technischer Hilfsmittel) leichter fällt. Zum anderen
wird angenommen, dass sich gut ausgebildete Personen schneller an Gegeben-
heiten im Zielland anpassen können und somit geringere Migrationskosten
aufweisen (Chiswick 1999).
2.4 Alternative Erklärungsansätze selektiver Migration
Die ökonomischen Theorien zur Selektivität internationaler Migration waren
und sind insbesondere für die empirische Forschung die einflussreichsten
Erklärungsansätze. Dennoch gerieten sie im Kontext aktueller Debatten um die
Migration Hochqualifizierter in die Kritik. Ein erster Kritikpunkt betrifft den
Ausgangspunkt der ökonomischen Ansätze – den freien Markt – bei dem staatli-
che Regulierungen nicht angemessen berücksichtigt werden (Favell et al. 2006:
10). Im Vergleich zur Ökonomie und Soziologie hat die Politikwissenschaft erst
vergleichsweise spät begonnen, sich des Themas Migration anzunehmen. Der
Staat und seine Rolle in der Erklärung der Migration im Allgemeinen und der
Selektivität von Wanderungsströmen im Speziellen blieben lange unterbelichtet.
Erst vor wenigen Jahren wurden die Rufe nach einem „bring the state back in“
lauter (Hollifield 2000; siehe auch Zolberg 1999). Aus historischer Sicht mag
das verwundern, haben doch Staaten während des 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts enorme Anstrengungen unternommen, um sich als Territorialstaaten zu
etablieren und ihre Bevölkerungen zu kontrollieren. Grenzen sind heute ein
konstitutiver Bestandteil moderner Staatlichkeit und die Regulierung und
Kontrolle grenzüberschreitender Migration und Mobilität gilt als Grundvoraus-
setzung staatlicher Handlungskapazität (siehe Mau et al. 2008; Torpey 1998).
Empirisch ist der Einfluss der Migrationspolitik sowohl auf den Umfang als
32 Theorien und Methoden
auch die Selektivität der Migration nicht unumstritten (vgl. Money 1999; Brüc-
ker/Ringer 2008; und für eine Übersicht siehe z.B. Massey 1999). Am ehesten
besteht noch ein Konsens darüber, dass es einen „gap“ gibt zwischen den
staatlichen Migrationspolitiken und ihren Ergebnissen (vgl. Cornelius et al.
1994). Dabei wird meist auf das Unvermögen demokratischer und liberaler
Rechtsstaaten verwiesen „ungewollte“ Zuwanderung zu verhindern (vgl. Holli-
field 1992; Joppke 1997). Im Kontext des „Kampfs um die besten Köpfe“
zwischen heutigen Wissensökonomien fallen darunter aber auch die nicht immer
erfolgreichen Versuche, für Migranten mit bestimmten Qualifikationen attrakti-
ve Aufnahmebedingungen zu schaffen. Gerade im Kontext der Zuwanderung
Hochqualifizierter bedarf es zukünftig einer vermehrten Berücksichtigung der
politischen Dimension von Migration. So spielen Formen der Global Governan-
ce, wie beispielsweise im Rahmen des Allgemeinen Abkommens der Welthan-
delsorganisation über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), eine zuneh-
mend wichtigere Rolle (Lavenex 2006). Und auch auf nationaler und europäi-
scher Ebene sollten die verschiedenen Interessenskonstellationen in der Unter-
suchung selektiver Migration verstärkt berücksichtigt werden, da sie für staatli-
ches Handeln und die resultierenden Zuwanderungspolitiken von entscheidender
Bedeutung sind (siehe z.B. Freeman 1995; Geddes et al. 2004).
Ein zweiter Schwachpunkt der neoklassischen Modelle ist die Nichtberück-
sichtigung weiterer institutioneller Rahmenbedingungen, wie z.B. unterneh-
mensinterner Arbeitsmärkte, die die internationale Migration von Hochqualifi-
zierten beeinflussen. Außerdem zu nennen sind soziale Netzwerke, welche die
Migrationsentscheidung ebenso, wenn auch weniger professionell, vorstruktu-
rieren. Der erste Punkt, die Bedeutung der unternehmensinternen Arbeitsmärkte,
steht im Zusammenhang mit der verstärkten Internationalisierung des Produkti-
onsprozesses multinationaler Unternehmen. So kam es parallel zur starken
Expansion des Welthandels in den letzten Jahrzehnten durch Investitions- und
Akquiseaktivitäten international agierender Unternehmen zu einer stärkeren
Verflechtung der Wirtschaftsbeziehungen. Aus Sicht dieser Unternehmen ist es
erforderlich, dass zur weltweiten Aufrechterhaltung firmenspezifischer Stan-
dards sowie zur Sicherung der Glaubwürdigkeit und der Reputation, der Aus-
tausch firmenspezifischen Wissens und Know-hows zwischen Stammsitz und
Niederlassungen gewährleistet ist. Dieser Prozess kann zum einen durch Daten-
übermittlung mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien
und zum anderen über die räumliche Mobilität von Fach- und Führungskräften
auf dem internen Arbeitsmarkt erfolgen (Straubhaar/Wolter 1997: 175). Das
theoretische Konzept der internen Arbeitsmärkte geht auf Doeringer und Piore
(1971) zurück und beschreibt allgemein die Motive, weshalb offene Stellen
intern durch bereits in dem Unternehmen beschäftigte Arbeitskräfte besetzt
Alternative Erklärungsansätze 33
werden. Die interne Rekrutierung von Personal trägt für das nachfragende
Unternehmen zur Verminderung der Transaktionskosten und Informationsa-
symmetrien sowie zum Aufbau firmenspezifischen Humankapitals und Vertrau-
ens bei. Neben diesen strukturellen Notwendigkeiten der internationalen Migra-
tion von Führungskräften und Hochqualifizierten aus Sicht des Arbeitgebers hat
diese Form der Migration auch Vorteile für den Arbeitnehmer selbst. So beste-
hen Vorteile der unternehmensinternen Bewegung in der Minimierung der stets
mit einem Arbeitgeberwechsel verbundenen Risiken und eröffnen dadurch ein
erhöhtes Potenzial für die eigene Karriereentwicklung (Findlay 1993: 153).
Weiterhin wird die internationale Mobilität für hochqualifizierte Personen
zunehmend zu einer Voraussetzung im Hinblick auf die Konkurrenzfähigkeit
um gut bezahlte und einflussreiche Positionen in Organisationen (Peixoto 2001:
1041; Senn et al. 2003: 113). In die Migrationsforschung wurde das Konzept
insbesondere durch die Arbeiten von Salt (1983; 1986) eingeführt. In seinen
Arbeiten, die zwischenzeitlich zu einer ganzen Reihe auch empirischer Studien
geführt haben, stellen unternehmensinterne Arbeitsmärkte den zentralen Koor-
dinationsmechanismus der Wanderung von hochqualifizierten Personen dar
(siehe z.B. Beaverstock 2004; Bozkurt 2006; Kolb et al. 2004).
Während unternehmensinterne Arbeitsmärkte durch ihre hohe institutionel-
le Einbettung die internationalen Migrationsentscheidungen stark vorstrukturie-
ren, tragen auf der mesotheoretischen Ebene auch soziale Netzwerke zu einer
Kanalisierung der Migration bei. Auf den Einfluss von sozialen Netzwerken,
Verwandtschaftsbeziehungen und sozialem Kapital auf Migrationsprozesse wird
schon seit längerem in der Migrationsforschung hingewiesen (vgl. Boyd 1989;
Fawcett 1989; Hugo 1981). Persönliche Beziehungen, die Migranten, ehemalige
Migranten und Nichtmigranten in Herkunfts- und Zielregionen miteinander
verbinden, erhöhen im Zusammenhang mit Migrationskreisläufen und Ketten-
migrationsprozessen die Wahrscheinlichkeit internationaler Arbeitsmigration
und halten Migrationsströme aufrecht (vgl. Fuller et al. 1990; Massey 1990).
Diese netzwerktheoretischen Ansätze finden ebenfalls im Ansatz der transnatio-
nalen sozialen Räume und der transnationalen Migration ihren Niederschlag
(Faist 2000; Glick Schiller et al. 1997; Pries 1997). Als Transmigranten werden
danach Personen bezeichnet, für die ein Wechsel zwischen unterschiedlichen
Ländern zum Normalzustand geworden ist. Sie bauen Beziehungen über natio-
nale Grenzen hinweg auf und halten diese aufrecht, indem sie eine dauerhafte
Verbindung zwischen ihrer Herkunfts- und der Einreisegesellschaft schaffen.
Sowohl soziale Kontakte im Rahmen von Netzwerken als auch transnationale
soziale Räume führen zu Selektionseffekten, indem frühere Migranten die
Informationen denjenigen zur Verfügung stellen, die sie direkt oder indirekt aus
ihrem Herkunftsland kennen. Dies sind entweder Personen aus der gleichen
34 Theorien und Methoden
Herkunftsregion und/oder einer ähnlichen beruflichen Orientierung. Auswande-
rer der ersten Generation bestimmen somit die qualitativen und räumlichen
Merkmale der nachfolgenden Emigranten, wobei es somit sowohl zu migrati-
onsfördernden als auch migrationshindernden Wirkungen kommen kann (vgl.
Parnreiter 2000: 36; Pohjola 1991; McKenzie/Rapoport 2007). Dieser Selekti-
onseffekt ist am stärksten zu Beginn von internationalen Wanderungen im
Kontext sozialer Netzwerke. Im weiteren Verlauf nimmt die Eigendynamik in
den Netzwerken zu, mit der Folge, dass die Selektivität abnimmt. In der Phase
der Konsolidierung migrieren nicht nur Erwerbstätige, sondern auch vermehrt
Kinder und Ältere mit weiter abnehmender Selektivität (Massey 1987; Faist
2007: 376).
2.5 Methoden und Daten zur Analyse der Auswanderung in den
Herkunftsländern der Migranten
Neben den begrifflichen und theoretischen Überlegungen stellt die Verfügbar-
keit und Qualität statistischer Informationen über die Auswanderung einen
dritten Aspekt dar, der die Konzeption der in diesem Buch erfolgenden Analy-
sen maßgeblich beeinflusst. Dabei wurde bereits bei den zu Beginn dieses
Kapitels angestellten Überlegungen zur internationalen Migration von höher
qualifizierten Personen deutlich, dass die in diesem Zusammenhang existieren-
den Formen von Migration und räumlicher Mobilität nur unzureichend durch
die bisherigen statistischen Erfassungssysteme registriert werden. Generell ist
davon auszugehen, dass die traditionell verwendeten Datengrundlagen zur
Analyse von internationaler Migration zwischen höher entwickelten Ländern –
wie beispielsweise die Daten von Eurostat oder der OECD – zunehmend weni-
ger in der Lage sind, die vielfältigen Formen räumlicher Mobilität zwischen den
Industriestaaten zu erfassen (vgl. King 2002: 101).
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der folgenden beiden Kapitel, einen
Überblick über die zur Analyse von Auswanderung prinzipiell zur Verfügung
stehenden Statistiken und Datenquellen zu geben. Grundsätzlich gilt es hierbei
zwischen ‚Migranten’ und ‚Migration’ zu unterscheiden bzw. zwischen Be-
standsdaten und Fluss- oder Stromgrößen. So argumentieren Raymer und
Willekens (2008: 5) in einem aktuellen Beitrag zur Methodik internationaler
Migration, dass sich der Begriff der ‚Migration’ auf das Ereignis der Wande-
rung von einem Land in das nächste bezieht, während ein ‚Migrant’ eine Person
ist, die ihren Wohnort zwischen zwei Zeitpunkten gewechselt hat. Bevölke-
rungsregister erfassen danach das Wanderungsereignis selbst und damit Fluss-
oder Stromgrößen der Migration. Zensen und Bevölkerungsumfragen erfassen
Methoden und Daten in den Herkunftsländern 35
hingegen Migranten und damit Bestandsdaten über die Migrantenbevölkerung
sowie ihre Statuswechsel.
Weiterhin kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Ver-
fügbarkeit und Qualität von Statistiken zur Auswanderung schlechter ist als die
Datenlage zur Einwanderung. Dieses Problem ist auf mindestens drei Punkte
zurückzuführen: Erstens hat die Auswanderung unter dem Eindruck der um-
fangreichen Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg in den meisten westli-
chen Industrienationen lange Zeit vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit
erhalten. Weiterhin gibt es eine generelle Tendenz, die als unproblematisch
betrachteten Wanderungsbewegungen nicht oder nur mit geringerem Aufwand
zu erfassen. Zweitens ist die Erfassung der Auswanderung im Vergleich zur
Einwanderung methodisch schwieriger, da sich per Definition Auswanderer
nach der Migration nicht mehr im Land aufhalten. Selbst wenn es im Herkunfts-
land eine Pflicht zur Abmeldung gibt, kann diese Pflicht von einem nicht mehr
anwesenden Menschen nicht mehr oder nur schwerlich eingefordert werden.
Drittens ist das Phänomen der Auswanderung aus höher entwickelten Ländern
ein quantitativ bisher zu vernachlässigendes Phänomen. In Bevölkerungsumfra-
gen finden sich daher wenige Auswanderer aus hochentwickelten Ländern und
diese gehen in anderen Migrantengruppen „unter“. In den vergleichsweise
kleinen Stichproben sind die Fallzahlen für die Analyse der Auswanderung
meist zu gering. Das Kapitel 2.5 stellt die Datenerfassungssysteme vor, die
prinzipiell im Herkunftsland der Auswanderer zur Verfügung stehen. Dabei
werden die verschiedenen Datenquellen zunächst in allgemeiner Form vorge-
stellt und, wenn vorhanden, anhand entsprechender Statistiken in Deutschland
diskutiert (für einen Überblick über die Datenlage im Bereich der Migrations-
forschung in Deutschland allgemein siehe z.B. Haug 2005; Haug 2009). Das
darauf folgende Kapitel 2.6 wendet sich den Aufenthaltsländern von Auswande-
rern zu. Hier werden die meist besser entwickelten statistischen Erfassungssy-
steme der Einwanderer dargestellt und erläutert.
Die Erfassung von Auswanderung im Herkunftsland stellt große methodi-
sche Herausforderungen an die statistischen Erfassungssysteme. Sieht man von
der Erfassung von Wanderungsintentionen ab, gibt es nur wenige Möglichkei-
ten, die Auswanderung statistisch festzuhalten. Dazu gehört einerseits die
Möglichkeit, Auswanderung bei der Abmeldung durch staatliche Behörden –
über die Bevölkerungsregister – zu erfassen (siehe Kapitel 2.5.1). Eine andere
Möglichkeit ist die Erfassung der Auswanderung beim Grenzübertritt, also
während der Wanderung selbst (siehe Kapitel 2.5.2). Andere Varianten, Aus-
wanderung zu registrieren, ergeben sich bei weiteren Verwaltungsabläufen und
fallen als prozessproduzierte Daten an. Dazu gehören beispielsweise Daten der
Steuerbehörden oder der Rentenversicherungen, die im Falle der Erwerbstätig-
36 Theorien und Methoden
keit im Ausland unter Umständen auch die Auswanderung registrieren (siehe
Kapitel 2.5.3). Weitere Möglichkeiten der Erfassung haben sich im Bereich der
empirischen Sozialforschung entwickelt. Im Kontext von umfangreichen Bevöl-
kerungsumfragen, die als Wiederholungsbefragungen konzeptioniert sind, wird
versucht, Interviewpartner, die bereits ein- oder mehrmals befragt wurden, auch
zukünftig befragen zu können. Für solche Paneluntersuchungen wurden ver-
schiedene Formen von Weiterverfolgungskonzepten entwickelt, mit denen es
prinzipiell möglich ist, ursprünglich im Herkunftsland befragte Personen nach
einer potenziellen Auswanderung auch im Ausland weiterzubefragen. Eine
zweite und weniger aufwändige Möglichkeit geht von der Annahme aus, dass
ein Großteil der Auswanderungen zeitlich befristet ist. Unter dieser Annahme
lässt sich Auswanderung in Form von Migrationsbiographien auch retrospektiv,
also nach Rückkehr aus dem Ausland, in Bevölkerungsumfragen erfassen (siehe
Kapitel 2.5.4).
2.5.1 Bevölkerungsregister
Die in den Industriestaaten wichtigste Datenquelle, die Informationen zur
jährlichen Auswanderung von Personen zur Verfügung stellt, sind Bevölke-
rungsregister. Sie stellen beispielsweise in zehn der EU-15 Staaten die grundle-
genden Informationen über die Auswanderung dar. Ganz allgemein stellen
Bevölkerungsregister ein Datensystem zur Verfügung, welches die kontinuierli-
che Beobachtung begrenzter Informationen bzgl. jeder Person der Wohnbevöl-
kerung des Staates ermöglicht. Bevölkerungsregister basieren dabei auf einer
Bestandsaufnahme aller Bewohner eines Gebiets und werden kontinuierlich
durch Informationen zu Geburten, Todesfällen, Wanderungen etc. aktualisiert
(vgl. Bilsborrow et al. 1997: 75ff.).
Dieses Konzept liegt der Wanderungsstatistik in Deutschland zu Grunde.
Hier sind die An- und Abmeldeformulare der Meldeämter die wesentliche
Erhebungsgrundlage. Anmeldungen von Ausländern oder Deutschen, die aus
dem Ausland zuziehen, gelten demnach als „Zuzüge aus dem Ausland“ und
Abmeldungen ins Ausland als „Fortzüge ins Ausland“. In den meisten Staaten,
die Wanderungsstatistiken über die Melderegister erstellen, weisen die Daten
drei grundsätzliche Probleme auf: Erstens sind die Wanderungsstatistiken
meistens Fall- und keine Personenstatistiken. Das bedeutet, dass jeder Zu- bzw.
Fortzug als unabhängiges Ereignis ausgewertet wird. Zieht eine Person einige
Male innerhalb eines Jahres um, werden diese Umzugsfälle einer Person mehr-
fach gezählt und fließen, falls sie sich ordnungsgemäß ummeldet, mehrmals in
diese Statistik ein. Zweites Problem von melderegistergestützten Wanderungs-
Methoden und Daten in den Herkunftsländern 37
statistiken sind fehlende An- und Abmeldungen. Gerade bei der Fortzugsstati-
stik ist das Hauptproblem die häufige Unterlassung der Abmeldung bei den
Meldebehörden. Die Gründe dafür sind vielfältig und umfassen die Unwissen-
heit über die Abmeldepflicht genauso wie die fehlende Voraussetzung der
Abmeldung für die Anmeldung im Zielland (Lederer 2004: 112). Für die Analy-
se besteht ein drittes Problem der amtlichen Wanderungsstatistik in den aus
wissenschaftlicher Sicht vergleichsweise wenigen sozio-ökonomischen Merk-
malen zu den Migranten. So werden in Deutschland neben den absoluten Zahlen
der Zu- und Fortzüge und der Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit
noch folgende personenbezogene Merkmale erfasst: Zielland, Herkunftsregion,
Geschlecht, Familienstand, Alter und Religionszugehörigkeit. Damit generiert
diese Statistik wichtige demographische und migrationssoziologische Indikato-
ren, spart aber Indikatoren zur Bildung oder zur Erwerbstätigkeit aus. Hinter-
grund ist, dass diese Statistik nicht primär statistischen oder wissenschaftlichen
Zwecken, sondern schwerpunktmäßig Verwaltungszwecken dient (Lederer
2004: 111f.). Auf Grund des Fallcharakters dieses Registers sind in vielen
Ländern keine Aussagen zur Dauer des Aufenthalts zwischen zwei Wande-
rungsbewegungen einer Person möglich. Die am deutschen Beispiel diskutierten
Probleme von melderegistergestützten Wanderungsstatistiken finden sich
prinzipiell in allen Ländern mit ähnlichen Verfahren wie z.B. Österreich, Italien,
der Schweiz oder auch Polen. Diese Einschränkungen gelten aber nicht für
sämtliche Staaten mit Wanderungsstatistiken auf Basis von Melderegistern. So
werden die skandinavischen Bevölkerungsregister von den dortigen Steuerbe-
hörden geführt. Größter Unterschied ist, dass die skandinavischen Melderegister
personenbezogen sind, da die Daten über eine einheitliche persönliche Regi-
strierungsnummer miteinander verbunden vorliegen. Sieht man von den daten-
schutzrechtlichen Fragen ab, liegen in den skandinavischen Ländern somit
sowohl Daten zum Alter, Geschlecht, Familienstand, zu Kindern, Geburtsland,
Staatsbürgerschaft und zum höchsten Bildungsabschluss als auch über interna-
tionale Aus- und Rückwanderungen vor (vgl. Neske/Currle 2004).
2.5.2 Grenzstatistiken
Grenzstatistiken stellen, vor allem in Inselstaaten, ein weiteres Instrument zur
Erfassung von Auswanderung dar. Informationen über ein- und ausreisende
Personen werden an den Grenzen eines Landes gesammelt, unabhängig davon,
ob diese tatsächlich an den territorialen Außengrenzen liegen oder – wie bei-
spielsweise Flughäfen – andere Orte darstellen, an denen Personen das Territo-
rium eines Staates verlassen oder betreten. Dabei kann entweder eine Vollerhe-
38 Theorien und Methoden
bung (z.B. Passenger Card System in Australien) erfolgen oder es wird eine
Stichprobe gezogen (z.B. Großbritannien). Vorteil dieser Form der Datenerfas-
sung ist die Genauigkeit, mit der Migration hinsichtlich Zeitpunkt und Ort
ausgewiesen wird und die zumindest in einigen Fällen im Vergleich zu den
bevölkerungsregisterbasierten Systemen ergänzenden sozio-ökonomischen
Informationen. Nachteil ist, dass auf Grund der hohen räumlichen Mobilität ein
vergleichsweise hoher Aufwand betrieben werden muss, um an allen Grenz-
punkten eine Vollerhebung leisten zu können oder eine repräsentative Stichpro-
be der internationalen Migranten sicherzustellen (Bilsborrow et al. 1997:
136ff.).
Grenzstatistiken spielen eine wichtige Rolle, vor allem in Ländern, die über
keine Melderegister verfügen (z.B. USA, Großbritannien). Das Vereinigte
Königreich erhebt beispielsweise das Einreise- und Ausreisegeschehen über den
International Passenger Survey, wobei an den Grenzen eine stichprobenbasierte,
freiwillige Befragung von Reisenden durchgeführt wird. Dabei gilt in den Daten
des International Passenger Survey als Auswanderer, wer sich für mehr als ein
Jahr in Großbritannien aufgehalten hat und bei der Abreise die Absicht äußert,
mehr als ein Jahr im Ausland zu verbringen. Die Schwierigkeit dieses Verfah-
rens liegt in der erklärten Intention, sich länger als ein Jahr im Ausland aufhal-
ten zu wollen. Die tatsächliche Auswanderung wird nach den bisherigen Erfah-
rungen dabei deutlich unterschätzt (Lederer/Currle 2004: 135).
2.5.3 Prozessproduzierte Daten
Prozessproduzierte Daten, die im Kontext von Verwaltungshandeln anfallen,
sind eine weitere Möglichkeit, um Informationen über Auswanderung zu erhal-
ten. Hier sind in erster Linie Statistiken über die Visavergabe zu nennen, die bei
der Datenerfassung über Auswanderung im Zielland näher erläutert werden
(vgl. Kapitel 2.6.2) (Bilsborrow et al. 1997: 114ff.). Es gibt jedoch auch Bei-
spiele für prozessproduzierte Daten, die im Herkunftsland anfallen und perso-
nenbezogene Aussagen über Auswanderer ermöglichen.
Ein erstes Beispiel betrifft Auswandererdatenbanken, welche, wie im ita-
lienischen Beispiel, im Zusammenhang mit der Zahlung der Einkommenssteuer
geführt werden. In Italien wird das „Register of Italians Resident Abroad (AI-
RE)“ vom Innenministerium koordiniert. Die Datenbank beinhaltet italienische
Staatsbürger, die nach 1989 aus Italien ausgewandert sind und sich noch immer
im Ausland aufhalten. Die Registrierung bei AIRE ist freiwillig. Da mit der
Registrierung die Verpflichtung zur Zahlung von Einkommenssteuern für im
Ausland erworbenes Einkommen entfällt, ist der Anreiz, sich bei AIRE zu
Methoden und Daten in den Herkunftsländern 39
melden, als sehr hoch anzusehen. Die Datenqualität ist somit als vergleichswei-
se gut einzuschätzen und stellt eine wichtige Datenquelle zur Untersuchung der
Auswanderung aus Italien dar (Becker et al. 2004).
In Deutschland können die Daten der Deutschen Rentenversicherung als
prozessproduzierte Statistiken herangezogen werden, um Informationen über
Auswanderung aus Deutschland zu gewinnen. Diese Mikrodaten fallen im
Zusammenhang mit der Berechnung der Rentenzahlbeträge an und stehen in
Form von Rentenzugangs- und Rentenbestandsstatistiken für verschiedene
Berichtsjahre zur Verfügung. Festgehalten werden neben demographischen
Angaben wichtige rentenrechtliche Tatbestände wie z.B. Rentenhöhe und
Komponenten des Rentenzahlbetrags, Rentenart, Entgeltpunkte, versicherungs-
rechtliche Zeiten sowie Migrationsmerkmale. D. h. über die heutigen Rentenzu-
gänge bzw. den Rentenbestand können abgeschlossene Erwerbsverläufe älterer
Geburtskohorten retrospektiv betrachtet werden, wobei sich das Migrations-
verhalten sowohl über die im Ausland erworbenen Rentenanwartschaften als
auch über den Auslandsrentenbezug analysieren lässt (Mika 2007).
Weitere Beispiele von prozessproduzierten Statistiken im deutschen Kon-
text stellen beispielsweise die Daten der Zentralen Auslands- und Fachvermitt-
lung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit oder die Daten des Raphaelswerks
über die Beratung von Auswanderern dar. Gleiches trifft auch auf die prozess-
produzierten Statistiken im Passregister des Auswärtigen Amtes zu, bei dem auf
Grund der registrierten Anträge von Passverlängerungen oder Neuausstellungen
bei Auslandsvertretungen die Zahl der im Ausland lebenden Deutschen ge-
schätzt wird (Lederer 2004: 39). Alle drei genannten Register sind aber mit
erheblichen Erfassungsmängeln behaftet – etwa durch „Karteileichen“ oder die
Untererfassungen von Deutschen, die über längere Zeit keine Ausweispapiere
beantragen –, so dass sich hieraus keine zuverlässigen Informationen über die
Größenordnung deutscher Staatsbürger im Ausland gewinnen lassen. Bei vielen
Auslandsvertretungen gibt es darüber hinaus so genannte „Deutschenlisten“.
Diese Listen werden für Krisenfälle vor Ort als Basis für das Krisenmanagement
geführt. Eine Eintragung erfolgt jedoch nur auf freiwilliger Basis. Erfahrungs-
gemäß lassen sich viele Personen nicht eintragen. Sie holen dies nur nach, wenn
sich die politische Situation im Lande verändert. In Nordamerika oder Australi-
en ist beispielsweise nur eine geringe Zahl von deutschen Staatsbürgern in
diesen Listen eingetragen. Außerdem vergessen die meisten Personen, sich
austragen zu lassen, wenn sie das Land wieder verlassen. Für eine flächendec-
kende Erfassung der Zahl deutscher Staatsbürger im Ausland sind diese Listen
daher ungeeignet. Darüber hinaus fallen beispielsweise prozessproduzierte
Daten bei Wissenschaftsförderorganisationen wie der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft (DFG) oder dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst
40 Theorien und Methoden
(DAAD) an, bei denen die Zahl der im Ausland geförderten Deutschen regi-
striert und nach diversen sozio-demographischen Merkmalen, aber auch nach
Studienrichtung oder Dauer des Auslandsaufenthaltes differenziert wird.
2.5.4 Allgemeine und spezielle Bevölkerungsumfragen
Statistische Informationen über Auswanderer im Herkunftsland können eben-
falls im Rahmen von allgemeinen und speziellen Bevölkerungsumfragen ge-
wonnen werden. Darunter fallen einerseits amtliche Erhebungen wie z.B. der
Mikrozensus in Deutschland, der European Union Labour Force Survey
(EULFS) auf europäischer Ebene oder in den USA der Current Population
Survey (CPS) oder der American Community Survey (ACS), welche jährlich
durchgeführt werden und auf einer Zufallsstichprobe der Bevölkerung basieren
(in Deutschland 1 % der Bevölkerung). Ähnlich wie Zensen bilden diese allge-
meinen Bevölkerungsumfragen in erster Linie den Bestand der Bevölkerung ab,
aber über Fragen zum früheren Wohnsitz oder zu früheren Auslandserfahrungen
können auch Aussagen zur Migration getroffen werden. Ausgehend von der
Tatsache, dass die meisten Auswanderungen nur temporär erfolgen, kann die
internationale Migration retrospektiv erfasst werden. Einige allgemeine Bevöl-
kerungsumfragen wie der CPS enthielten teilweise Fragen zu gegenwärtig sich
im Ausland aufhaltenden Familienmitgliedern, die zuvor in den USA lebten und
eröffnen damit die Möglichkeit, die Größenordnung der Auswanderung zu
erfassen (Woodrow-Lafield 1996).
Neben den amtlichen Bevölkerungsumfragen stellt auch die empirische So-
zialforschung Informationen über Auswanderung im Herkunftsland bereit. Ein
Beispiel für Deutschland ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das als
repräsentative Längsschnittstudie privater Haushalte jährlich seit 1984 in der
alten Bundesrepublik sowie seit Juni 1990 in Ostdeutschland durchgeführt wird.
Bei dieser Erhebung wird ein Weiterverfolgungskonzept angewendet. Bei
Umzügen von ganzen SOEP-Haushalten oder einzelnen SOEP-Teilnehmern
wird dabei versucht, die neue Adresse zu ermitteln, und umgezogene Personen
werden an ihrer neuen Adresse wieder befragt. Für den Fall, dass die Person im
Ausland nicht weiterbefragt werden kann, aber zumindest der Umzug ins
Ausland zweifelsfrei geklärt werden kann, besteht die Möglichkeit, für die
Auswertung dieser Fälle die sozio-demographischen Merkmale zu der entspre-
chenden Person aus dem letzten Jahr vor der Auswanderung zu verwenden (vgl.
Schupp et al. 2005; Schupp et al. 2008).
Nachteil dieser allgemeinen Bevölkerungsumfragen ist, dass sie meist sehr
geringe Fallzahlen international wandernder Menschen aufweisen und daher für
Methoden und Daten in den Herkunftsländern 41
die Auswertung hinsichtlich der Migrationserfahrungen nur eingeschränkt
geeignet sind. Weiterhin ist die hochmobile Bevölkerung bei dieser Art der
Datenerhebung häufig untererfasst. Zumindest ersteres Problem wird durch
spezielle Bevölkerungsumfragen umgangen, die unter bestimmten Subpopula-
tionen der Bevölkerung durchgeführt werden, womit aber Probleme der Reprä-
sentativität der Daten verbunden sind. Entweder werden dabei (meistens per
Online-Fragebogen) die im Ausland lebenden Staatsbürger interviewt – z.B. die
Studie „Brits abroad“ (Sriskandarajah/Drew 2006), der australische „Emigrati-
on Survey“ (Hugo 2006; Hugo et al. 2003) oder die Prognos-Studie zu den
Gründen der Auswanderung aus Deutschland (Prognos 2008). Die andere
Möglichkeit besteht in der Befragung einer Subpopulation zu ihren Auswande-
rungsintentionen (z.B. die Untersuchung des niederländischen Interdisciplinary
Demographic Institute, NIDI). Bei der niederländischen Umfrage wurde in den
Jahren 2004 und 2005 ein Auswanderersurvey durchgeführt, welcher nach der
Methode des „target sampling“ Besucher einer Auswanderermesse befragt hat.
Vorteil dieser Methode ist, dass durch einen vergleichsweise kleinen finanziel-
len und zeitlichen Aufwand Informationen über die Auswandererintentionen der
niederländischen Bevölkerung gewonnen werden konnten. Nachteil ist aller-
dings, dass durch die spezifische Gruppe von Messebesuchern eine nicht reprä-
sentative Stichprobe gezogen wurde und dadurch die Ergebnisse in ihrer Aussa-
gefähigkeit deutlich eingeschränkt sind (Dalen/Henkens 2007).
2.6 Methoden und Daten zur Analyse der Auswanderung in den
Zielländern der Migranten
Aus methodischer Sicht ist die Erfassung von Informationen über die Einwande-
rung im Aufenthaltsland der Auswanderer deutlich einfacher. Unter der An-
nahme, dass der Aufenthalt im Zielland nicht nur für eine sehr kurze Zeit
erfolgt, bieten sich prinzipiell mehrere Möglichkeiten, um über die gewonnenen
Informationen zur Einwanderung Rückschlüsse auf die Auswanderung zu
ziehen. Auch auf der Agenda der internationalen Organisationen und Institutio-
nen gewinnt diese Thematik zunehmend an Bedeutung. So haben beispielsweise
die Teilnehmer eines gemeinsamen Seminars der Statistikabteilung der Wirt-
schaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) und von
Eurostat zu dem Thema der internationalen Migration im Jahr 2005 beschlossen,
zu analysieren, ob sich aus den Immigrationsstatistiken der Zielländer nicht
Aussagen zur Auswanderung gewinnen lassen. Um dieses Ziel zu erreichen,
wurde ein Pilotprojekt durchgeführt, bei dem 19 UNECE-Staaten ihre jeweili-
gen Daten sammelten und miteinander verglichen (o.V. 2006). Auch die vor-
42 Theorien und Methoden
handene Literatur zur Methodik der Erfassung von Migration richtet sich meist
an den Bedürfnissen der Erfassung von Einwanderung aus, weshalb die Darstel-
lung der entsprechenden Datenquellen im Aufenthaltsland hier in gekürzter
Form erfolgen kann (vgl. Bilsborrow et al. 1997; Haug 2005; Lederer 2004).
Prinzipiell sind die Möglichkeiten der statistischen Erfassung ähnlich, im
Vergleich zur Situation im Herkunftsland aber um das breite Spektrum von
Bestandsdaten der Migrantenpopulation ergänzt. In Anlehnung an die Gliede-
rung des vorherigen Unterkapitels werden zuerst die Möglichkeiten der Erfas-
sung der Einwanderung – der Flussgrößen – vorgestellt, wobei hier Register
über die ausländische Bevölkerung (siehe Kapitel 2.6.1) und ebenfalls prozess-
produzierte Daten, meist in Form von Aufenthaltsbewilligungen, (siehe Kapi-
tel 2.6.2) im Vordergrund stehen. In Kapitel 2.6.3 wird auf die verschiedenen
Datenquellen zur Erfassung des Bestands der ausländischen Bevölkerung
eingegangen. Diese beinhalten sowohl Zensen als auch allgemeine und spezielle
Bevölkerungsumfragen im Rahmen der empirischen Sozialforschung.
2.6.1 Einwanderungsdaten
Unter Einwanderungsdaten werden hier sowohl Zuzugsstatistiken auf Basis von
Bevölkerungsregistern als auch Grenzstatistiken verstanden. Da beide Formen
bereits zuvor beschrieben wurden, wird an dieser Stelle nur kurz auf die Vorteile
der Ergänzung von Auswanderungs- durch Einwanderungsdaten eingegangen.
Die Zuzugsstatistiken anderer Länder können als Indikator für die Auswande-
rungen der eigenen Bevölkerung herangezogen werden, da eine Person, die von
dem Land, das sie verlässt, als Auswanderer und gleichzeitig von dem Staat, in
den sie zuzieht, als Zuwanderer gezählt wird. Problematisch ist, dass die Defini-
tionskriterien von Migranten international uneinheitlich sind und verschiedene
Zeiträume als Kriterium für die Dauerhaftigkeit der Migration herangezogen
werden. Die Folge ist, dass meist zwei unterschiedliche Zahlen für eine Wande-
rungsbewegung in den zwei daran beteiligten Staaten existieren, obwohl beide
Werte identisch sein müssten (Lederer 2004: 80). Eine internationale Gegen-
überstellung und Bilanzierung der Zu- und Abwanderung weist so erhebliche
Abweichungen und Inkonsistenzen auf. Mehrere aktuelle Studien zur Ver-
gleichbarkeit von Migrationsdaten innerhalb der Europäischen Union zeigen
erhebliche Differenzen zwischen den einzelnen nationalen statistischen Syste-
men hinsichtlich deren Angaben zu Ein- und Auswanderung auf (vgl. Kupis-
zewska/Nowok 2008; Poulain et al. 2006).
Vergleichbar mit den Bevölkerungsregistern sind Ausländerregister, die im
Unterschied zu ersteren ausschließlich Personen umfassen, die nicht die Staats-
Methoden und Daten in den Zielländern 43
angehörigkeit des Aufnahmelandes besitzen. Ähnlich wie die Bevölkerungsregi-
ster werden Ausländerregister regelmäßig modifiziert und sowohl um neue
Informationen betreffend Heirat, Staatsbürgerschaft, Adresse, Geburt als auch
um neue in das entsprechende Land einreisende Migranten ergänzt. Ausländer-
register gibt es beispielsweise in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Spanien
wie auch weiteren Staaten, wobei die Erfassung als Ausländer und die Definiti-
on von sich nicht nur vorübergehend aufhaltenden Migranten erheblich variiert
(Bilsborrow et al. 1997: 102ff.). So sind im Zentralen Ausländerregister der
Schweiz die Ausländer erfasst, die mindestens ein Jahr in der Schweiz wohnhaft
sind. Nicht enthalten sind Personen aus dem Asylbereich sowie internationale
Funktionäre und Diplomaten sowie deren Familien, während das Ausländerzen-
tralregister der Bundesrepublik Deutschland EU-Staatsangehörige nicht regi-
striert, dafür aber Asylantragsteller enthalten sind. Auch ist die Aufenthaltsdau-
er, ab der eine Registrierung erfolgt, mit über drei Monaten wesentlich geringer.
Die Angaben zu Ausländern werden entweder aus den Bevölkerungsregistern
und/oder den Statistiken über die Bewilligung von Aufenthaltstiteln generiert. Je
nach herangezogenen Quellen können aus den Ausländerregistern unterschiedli-
che Informationen zu sozio-demographischen Merkmalen, Aufenthaltsdauer und
Aufenthaltsmotiven gewonnen werden, die im Vergleich zu der Zuzugsstatistik
den Vorteil haben, personenbezogen zu sein. Mit den herangezogenen Quellen
gehen aber auch die zuvor beschriebenen spezifischen Nachteile einher, wobei
hier vor allem die mangelnden Abmeldungen bei Fortzug, Doppelzählungen
durch unterschiedliche Schreibweisen des Namens, verspätete Berücksichtigung
von Todesfällen und Eingebürgerte, die in dieser Statistik teilweise noch geführt
werden, zu nennen sind.
2.6.2 Prozessproduzierte Daten
Im Kapitel 2.5.3 wurden bereits prozessproduzierte Daten des Herkunftslandes
vorgestellt. An dieser Stelle wird daher nur auf die Möglichkeiten der entspre-
chenden Statistiken der Zielländer eingegangen. Hier bieten sich in erster Linie
Datensammlungen über ausgegebene Aufenthaltsbewilligungen an. Visastatisti-
ken ermöglichen die Gewinnung von Informationen bzgl. der Länge des Auf-
enthalts und durch die verschiedenen Visakategorien auch eine ungefähre
Einordnung der Motivation und der Qualifikation der Auswandernden. Auf
Grund seiner quantitativen Bedeutung für die meisten anderen westlichen
Industrieländer haben dabei insbesondere die Statistiken des ehemaligen US
Amerikanischen Immigration and Naturalization Service und jetzigen Depart-
ment of Homeland Security viel Aufmerksamkeit in verschiedenen wissen-
44 Theorien und Methoden
schaftlichen Publikationen erlangt (vgl. Diehl/Dixon 2005; Iqbal 2000). Pro-
blematisch bei dieser Datenquelle ist jedoch, dass in den meisten Fällen nur die
Zusicherungen von Visa erfasst werden und nicht deren tatsächliche Realisie-
rung. Auch beeinträchtigen frühzeitige Abreise und Statuswechsel eine korrekte
Erfassung der Auswanderer anhand der Statistiken über die Bewilligung von
Aufenthaltstiteln.
2.6.3 Zensen und Bevölkerungsumfragen
Eine weitere wichtige Datenquelle zur Erfassung von Auswanderung in den
Aufenthaltsländern sind Zensen und Bevölkerungsumfragen. Gerade Zensen
stellen hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit eine der weltweit besten Quellen zur
internationalen Migration dar, wobei ihre Stärke insbesondere aus der Tatsache
der Vollerhebung der Bevölkerung eines Landes und den über längere Zeitpha-
sen gleichbleibenden Erhebungskonzepten beruht (Bilsborrow et al. 1997: 64-
67). So fallen aus den i.d.R. in zehnjährigen Abständen durchgeführten Volks-
zählungen neben Basisinformationen auch Daten über sozio-demographische
Merkmale, den Erwerbsstatus sowie die Qualifikation der ausländischen Bevöl-
kerung an. In den vergangenen Jahren konnten in mehreren Projekten durch die
Aggregation der Ergebnisse der Zensen wichtiger Zielländer von Migranten
umfangreiche Informationen zu dem Bestand an Auswanderern anderer Natio-
nalitäten gewonnen werden. Ein solches Verfahren wenden u.a. Docquier und
Marfouk (2005; 2006) sowie Dumont und Lemaître (2008) an. Auch versuchen
die USA – vereinfachend ausgedrückt – über einen Vergleich von zwei aufein-
ander folgenden Zensen in den jeweils wichtigsten Zielländern die Anzahl US-
amerikanischer Auswanderer zu ermitteln (Fernandez 1995; Gibbs et al. 2001).
Neben den Zensen sind auch hier weitere allgemeine amtliche Bevölke-
rungsumfragen wie der bereits erwähnte Current Population Survey der USA,
der Mikrozensus in Deutschland oder der European Union Labour Force Survey
(EULFS) zu nennen. Letztgenannter Survey stellt beispielsweise weitgehend
vergleichbare Informationen über die Auswanderung bestimmter Nationalitäten
im europäischen Kontext zur Verfügung. Er ist eine in der EU, der EFTA und
den neuen Beitrittsstaaten regelmäßig durchgeführte Stichprobenbefragung von
Privathaushalten, wobei die Auswahlsätze zwischen den Mitgliedsländern
zwischen 0,2 % und 3,3 % variieren (Eurostat 2006a). Insgesamt umfasst der
EULFS somit eine große Stichprobe unter Erwerbstätigen, Arbeitslosen und
Nicht-Erwerbspersonen im Alter von 15 und mehr Jahren. Er enthält u.a. auch
Fragen zu Nationalität, Geburtsland, Wohnort vor zwölf Monaten und bisheriger
Methoden und Daten in den Zielländern 45
Aufenthaltsdauer, aus denen Informationen zur Migration und zum Bestand an
Migranten in den teilnehmenden Ländern gewonnen werden können.
Trotz der genannten Potenziale von Zensen und weiteren umfassenden
amtlichen Bevölkerungsumfragen bleiben erhebliche Mängel dieser Daten-
grundlagen bestehen. Im Vergleich zu den amtlichen Daten nennen Fawcett und
Arnold (1987) eine ganze Reihe von Vorteilen von spezielleren Migrationssur-
veys. Dazu zählen die weitaus größere Flexibilität solcher spezieller und nicht-
amtlicher Migrationssurveys, die weitaus größere Vielfalt an zusätzlichen
Informationen über die Migranten sowie die Möglichkeit von Wiederholungsbe-
fragungen. Daraus resultieren umfassendere Analysemöglichkeiten mit deutlich
engerer Anbindung an Theorien internationaler Migration. Diese Stärken spe-
zieller Migrationssurveys werden beispielsweise beim Mexican Migration
Project, das die Migrationsbewegungen zwischen ausgewählten mexikanischen
Dörfern und den USA erfasst (Massey et al. 2002; Munshi 2003) und insbeson-
dere im Rahmen von Neuzuwandererbefragungen genutzt, wie sie sich in den
klassischen Einwanderungsländern bereits etabliert haben, z.B. „The New
Immigrant Survey Pilot“ (NISP) in den USA (vgl. Jasso et al. 2000; Jasso
2009). Doch auch in einer Reihe europäischer Staaten gibt es mittlerweile erste
vergleichbare Studien. So wurde in Deutschland im Jahr 2005 eine Pilotstudie
für eine Neuzuwandererbefragung durchgeführt, mit der sich wichtige Informa-
tionen über die sozialstrukturelle Zusammensetzung und die frühen Eingliede-
rungsverläufe von Einwanderern bzw. Auswanderern gewinnen lassen (vgl.
Diehl 2007; für Spanien siehe Reher/Requena 2009). Für die Fragestellungen
dieses Buches lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt aber noch keine umfassenden
Informationen auf dieser Datenbasis gewinnen.
2.7 Fazit: Konzeptionelle und theoretische Grundlagen zur Analyse der
Auswanderung aus Deutschland
Ziel des Kapitels war es, einen konzeptionellen und theoretischen Rahmen für
die Analyse der Auswanderung aus Deutschland zu entwickeln. Dafür wurde
einerseits der Begriff der Migration kritisch diskutiert und sowohl angesichts
der zeitlichen Dauer internationaler Migration als auch der Qualifikation inter-
nationaler Migranten gegenüber früheren Vorstellungen erweitert. Andererseits
haben wir die meist im Entwicklungsländerdiskurs verwandten Begriffe des
‚brain drain’, ‚brain gain’ und der ‚brain circulation’ und ihr Potenzial zur
Beschreibung aktueller Migrationsmuster zwischen höher entwickelten Staaten
diskutiert. Theoretisch wurden die – in einem breiten Verständnis – wichtigsten
sozialwissenschaftlichen Theorien zur Erklärung selektiver internationaler
46 Theorien und Methoden
Migration dargestellt. Abschließend wurde aus methodischer Sicht die Verfüg-
barkeit von Daten zur Analyse von Auswanderung aus höher entwickelten
Staaten im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen vorgestellt.
Angesichts des Ziels dieses Buches, einen Überblick über die gegenwärtige
Auswanderung aus Deutschland zu erarbeiten und der Frage nach einem mögli-
chen ‚brain drain’ nachzugehen, lassen sich für die Analysen im weiteren
Verlauf des Buches folgende Schlussfolgerungen ziehen: Ein erster Punkt
betrifft die Heterogenität heutiger Migrationsformen. Gerade die Migration
zwischen höher entwickelten Staaten ist durch ganz unterschiedliche Motive
gekennzeichnet, bei denen Ruhestandsmigration neben klassischer Arbeitsmi-
gration, Bildungswanderungen und Migration zum Zweck der Familiengrün-
dung koexistieren. Dies gilt es zu beachten, wenn in den folgenden Analysen ein
besonderer Schwerpunkt auf die im Ausland Erwerbstätigen gelegt wird. Ein
zweiter Aspekt betrifft die zeitliche Dimension von Migration. Hier wird die
Langfristigkeit klassischer Migration durch zunehmend kurzfristigere Auslands-
aufenthalte ersetzt, die das heutige Migrationsgeschehen kennzeichnen und
daher verstärkt in den Analysen berücksichtigt werden müssen. Ein letzter
Aspekt betrifft die Datengrundlagen. Hier wurde deutlich, dass die Verfügbar-
keit von Daten zur Auswanderung aus höher entwickelten Staaten sehr einge-
schränkt ist. Die folgenden Untersuchungen werden daher auf unterschiedliche
Datenquellen zurückgreifen, um ein Gesamtbild der Auswanderung aus
Deutschland zu zeichnen. Neben dem Rückgriff auf die deutsche Wanderungs-
statistik werden sich die meisten Analysen auf weitere amtliche Bevölkerungs-
umfragen konzentrieren. Zu nennen sind die Zensen wichtiger Zielländer und
der European Union Labour Force Survey, aber auch weitere prozessproduzierte
Datensätze wie die Rentenbestandsstatistik der Deutschen Rentenversicherung,
auf deren Basis die Auswanderung Deutscher analysiert werden kann. Die Wahl
dieser Datengrundlagen ermöglicht es, repräsentative Aussagen zur internatio-
nalen Migration Deutscher und zur Selektivität dieser Wanderungen zu gewin-
nen.
3 Deutschland: Ein Auswanderungsland?
Die Einleitung hat bereits deutlich gemacht, dass es das Ziel dieses Buches ist,
der öffentlichen und politischen Debatte über die Auswanderung aus Deutsch-
land belastbare empirische Daten gegenüberzustellen. Im Rahmen dieses ersten
empirischen Kapitels werden die aktuellen Entwicklungen der internationalen
Migration Deutscher in einen größeren zeitlichen und geographischen Kontext
eingeordnet. Zu Beginn steht der historische Vergleich: Dem faktischen Ein-
wanderungsland, als das Deutschland seit Mitte des 20. Jahrhunderts gilt, ging
eine historisch vergleichsweise lange Geschichte der Auswanderung voraus.
Bereits im 19. Jahrhundert hat sich Deutschland vor allem durch die transatlan-
tische Migration zu einem Auswanderungsland entwickelt. Diesen historischen
Vorläufern der Auswanderung aus Deutschland gilt die Aufmerksamkeit von
Kapitel 3.1. Welche Parallelen und Unterschiede zeigen sich zwischen den
damaligen und heutigen Entwicklungen? Lässt sich die heutige Situation vor
dem Hintergrund damaliger Muster erklären? Anschließend erfolgt in Kapi-
tel 3.2 eine Beschreibung der Entwicklung des aktuellen Auswanderungsge-
schehens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Welchen Umfang hat die
gegenwärtige Auswanderung aus Deutschland? Kam es in den vergangenen
Jahren dabei zu einem spürbaren Anstieg? Ziel ist einerseits die Beschreibung
der Auswanderung. Andererseits wird die Rückwanderung Deutscher Gegen-
stand der Analyse sein, um auch die Bedeutung der erstmals seit 40 Jahren
negativen Wanderungsbilanz der internationalen Migration Deutscher bewerten
zu können. Drittens ordnet das Kapitel 3.3 die Auswanderung aus Deutschland
in den internationalen Kontext ein. Stellt der Anstieg der internationalen Migra-
tion Deutscher eine singuläre Entwicklung dar oder ist sie nicht vielmehr Aus-
druck eines weit verbreiteten Musters in heutigen Industriestaaten?
3.1 Auswanderung bis Mitte des 20. Jahrhunderts
Ziel dieses Unterkapitels ist die Beschreibung historischer Auswanderungswel-
len aus Deutschland, um sowohl historische Entwicklungslinien als auch neuere
Trends der gegenwärtigen internationalen Migration Deutscher erfassen zu
können. Die heutige Form internationaler Migration ist dabei eng an die Ent-
48 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
wicklung des modernen, territorialen Nationalstaats gebunden (vgl. Torpey
2000; Zürn/Leibfried 2005). Auf dem Gebiet des späteren deutschen Reiches
gab es eine Vielzahl an Einzelstaaten, die sich gegenseitig als Ausland betrach-
teten. Erst die Errichtung des Norddeutschen Bundes 1867 bzw. des deutschen
Reiches 1870/71 verfestigen die Grenzen eines mitteleuropäischen National-
staats (Bade/Oltmer 2008: 141f.).
In der folgenden Darstellung der internationalen Migration Deutscher ste-
hen die Entwicklungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt,
wobei ausschließlich die jeweils dominierenden Wanderungsbewegungen
betrachtet werden. Dazu zählen vor allem die Siedlungswanderungen nach Ost-,
Ostmittel- und Südosteuropa bis in das frühe 19. Jahrhundert, die beginnende
transatlantische Auswanderung seit dem späten 18. Jahrhundert, die in die
transatlantische Massenauswanderung bis zum späten 19. Jahrhundert mündete
sowie die Zwangs- und Flüchtlingswanderungen in der Zwischenkriegszeit und
nach dem Zweiten Weltkrieg. Parallel dazu gab es zahlreiche andere Wande-
rungsformen wie Gesellenwanderungen (Thamer 1992: 231ff.) oder eher land-
wirtschaftlich dominierte Arbeitswanderungen, z.B. im Nordseeraum (Bölsker-
Schlicht 1992: 255ff.), auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden
kann. Für diesen historischen Überblick wird zunächst der Verlauf und die
geschätzte Größenordnung der jeweiligen Migration vorgestellt, bevor anschlie-
ßend auf Ziel- und Herkunftsregionen sowie mögliche Bestimmungsgründe der
Wanderungen eingegangen wird. Auch werden – falls vorhanden – Informatio-
nen zur Sozialstruktur der Auswanderer und der Vergleich mit anderen europäi-
schen Regionen präsentiert, um mögliche Parallelen und Unterschiede zwischen
der damaligen und heutigen Entwicklung aufzeigen zu können.
3.1.1 Auswanderung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wuchs die Bevölkerung in
Deutschland stark an. In dieser Zeit dominierte bis zur Mitte des 18. Jahrhun-
derts nicht die Aus-, sondern die Einwanderung in deutsche Staaten. Die Aus-
wanderung aus Deutschland gewann erst während der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts an Bedeutung, wobei damals Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa
die wichtigsten Zielregionen darstellten (Brandes 1992: 89; Schödl 1992: 77).
Für das 18. Jahrhundert belaufen sich die Schätzungen über den Umfang dieser
Bewegungen auf 500.000 bis 700.000 Menschen (Oltmer 2010: 10). Zeitgleich
entwickelten sich auch erste transatlantische Wanderungsbewegungen, die
zahlenmäßig aber wesentlich weniger bedeutend waren. So wird geschätzt, dass
um das Jahr 1775 ca. 225.000 Menschen deutscher Herkunft in den britischen
Auswanderung bis Mitte des 20. Jahrhunderts 49
Kolonien Nordamerikas gelebt haben, die damit einen Anteil von 8,6 % an der
Gesamtbevölkerung stellten. Sie stammten insbesondere aus Baden, Württem-
berg, der Pfalz, Elsass-Lothringen und der deutschsprachigen Schweiz (Bretting
1992: 135). Siedlungsschwerpunkt war zunächst noch Pennsylvania, im Verlau-
fe des 18. Jahrhunderts dann immer mehr das westliche Maryland, North Caro-
lina und Virginia. Pennsylvania entwickelte sich zum Hauptziel religiöser
Dissidenten, deren Migration durch organisierte Gruppenwanderungen und
Gemeinschaftssiedlungen geprägt war. Insgesamt dominierten im 18. Jahrhun-
dert wirtschaftlich und sozial motivierte Gruppen- und Familienwanderungen.
Ab den 1830er Jahren nahm die transatlantische Migration aus dem
deutschsprachigen Raum zu und stieg zu einer Massenbewegung auf (Bade
1992). Es wird geschätzt, dass zwischen 1816 und 1914 ca. 5,5 Mio. Deutsche
nach Übersee emigrierten. Hochphasen mit jeweils mehr als 1 Mio. Auswande-
rern bildeten die Jahre 1846-57 und 1864-73. In der letzten großen Auswande-
rungsphase 1880-93 folgten weitere 1,8 Mio. Auswanderer (Mönckmeier 1912;
Burgdörfer 1930: 192). Das Jahr 1893 wird dabei häufig als Ende der Massen-
auswanderung bezeichnet. Auch wenn die Zahl der Überseeauswanderer in der
dritten Phase höher lag als in den beiden vorherigen, lag die Auswanderungsra-
te, als Verhältnis zwischen der Anzahl deutscher Auswanderer und der deut-
schen Wohnbevölkerung, aufgrund der mittlerweile größeren Bevölkerungszahl
mit durchschnittlich 2,7 von 1.000 Personen niedriger als in der ersten mit
durchschnittlich 6,6 ‰ und zweiten Phase mit durchschnittlich 3,3 ‰ (Mar-
schalck 1973: 35ff.). Von 1894 bis 1918 schließlich bewegten sich die in
Deutschland registrierten Auswanderungszahlen auf einem mit den frühen
1840er Jahren vergleichbaren Niveau. Hauptzielland deutscher Auswanderer
waren damals die USA, in die ca. 80-90 % der Auswanderer emigrierten. Die in
Deutschland geborene Bevölkerung der USA stellte 1820-60 mit rund 30 %
nach den Iren die zweitstärkste, 1861-90 sogar die stärkste Zuwanderergruppe
(Bade/Oltmer 2008: 147; Oltmer 2010: 10). Weitere wichtige überseeische
Auswanderungsziele waren Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien
(Burgdörfer 1930: 192ff.).
Obwohl die Überseeauswanderung das damalige Wanderungsgeschehen
dominierte, war auch die Emigration in das europäische Ausland von Bedeu-
tung. Um das Jahr 1900 wurden dort etwa 740.000 Deutsche registriert; Schät-
zungen gehen davon aus, dass bis zum Jahr 1910 diese Zahl auf rund 850.000
Personen angestiegen ist. Die größte Gruppe lebte zu dieser Zeit mit fast
220.000 Personen in der Schweiz. Weitere wichtige Zielländer mit großen
deutschen Bevölkerungsgruppen waren Russland, die österreichischen Länder,
Frankreich, Belgien und Großbritannien (Burgdörfer 1930: 545; Köllmann
1976: 32).
50 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
Als Gründe für die starke Zunahme der Auswanderung wird ein geringes
Wachstum in vielen Beschäftigungsbereichen bzw. die Stagnation des Erwerbs-
angebots bei zeitgleich starkem Bevölkerungszuwachs in den Herkunftsländern
angeführt. Diese wirtschaftliche Konstellation prägte sich regional sehr unter-
schiedlich aus, was zu Schwerpunktverlagerungen zwischen den einzelnen
Hauptausgangsräumen der überseeischen Auswanderung im 19. Jahrhundert
führte: zunächst Südwest-, dann Nordwest- und schließlich Nordostdeutschland.
Schon im 18. Jahrhundert war der deutsche Südwesten der wichtigste Her-
kunftsraum sowohl der kontinentalen Ost- als auch der transatlantischen West-
wanderungen gewesen. Schätzungen zufolge stellten Südwestdeutsche über
80 % der kontinentalen und überseeischen Auswanderer des deutschsprachigen
Raums vor dem Jahr 1815 (Burgdörfer 1930; Oltmer 2010: 10-11).
Im Nordosten und insbesondere in Mecklenburg und Brandenburg setzte
die Massenauswanderung in den späten 1840er und frühen 1850er Jahren ein,
während Pommern, Westpreußen und Posen erst ein Jahrzehnt später folgten
(Bade/Oltmer 2008: 149; Oltmer 2010: 14). Im Zeitraum von 1881 bis 1885
wanderten beispielsweise pro Jahr in Pommern durchschnittlich 12,3 oder in
Westpreußen 11,5 Personen pro Tausend der Wohnbevölkerung aus (Din-
kel/Lebok 1994: 129). Während die Agrarmodernisierung im Nordwesten die
Position der ländlichen Unterschichten in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts verbesserte, verschärfte sie sich im Nordosten seit den
1850/1860er Jahren durch die Saisonalisierung der Produktion. Das führte zu
einem Rückgang des Arbeitskräftebedarfs in den Wintermonaten, wodurch die
Beschäftigungsmöglichkeiten der Dauerarbeitskräfte mit und ohne Landnut-
zungsrechte beschränkt wurden (Oltmer 2010: 14). An ihre Stelle traten Saison-
arbeitskräfte, zunächst aus näheren, später auch aus weiter entfernten Regionen,
seit den 1880er Jahren immer häufiger aus dem östlichen und südöstlichen
Ausland, so dass Deutschland während des 19. Jahrhunderts nicht nur Aus-
sondern gleichzeitig auch Einwanderungsland war. Erst Ende des
19. Jahrhunderts bildete die erhebliche Ausweitung wirtschaftlicher Chancen,
die die Hochindustrialisierung und Agrarmodernisierung in Deutschland boten,
wesentliche Faktoren für den Rückgang der überseeischen Auswanderung.
Teilweise setzte sogar eine starke Rückwanderung ein, die aber wegen fehlender
Daten nicht genau beziffert werden kann (Schniedewind 1992: 181ff.). Dieser
Rückgang ging mit der wirtschaftlichen Krise in den USA 1890-96 einher.
Während 1893 das letzte Jahr starker transatlantischer Auswanderungen aus
Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg war, entwickelte sich seit den 1890er
Jahren die in den USA „New Immigration“ genannte ost-, ostmittel-, südost-
und südeuropäische Nordamerika-Wanderung zur Massenbewegung (Oltmer
2010: 15).
Auswanderung bis Mitte des 20. Jahrhunderts 51
Die Zunahme der Überseeauswanderung, insbesondere im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts, war nicht nur bestimmt durch ökonomische Disparitäten
zwischen Ziel- und Herkunftsländern, sondern auch durch die Erleichterungen
der Reise in die Zielgebiete: Die Reisekosten wurden niedriger, und die Reise-
dauer durch den Ausbau des Schienennetzes sowie die Einführung der
Dampfschifffahrt kürzer. Zudem verbesserte sich der transatlantische Informati-
onsaustausch: so gab es zunehmend Informationen über die Lage im Zielgebiet
(„Auswandererbriefe“), die Vorfinanzierung der Überseepassage („pre-paid
ticket“) bis hin zur Aufnahme der Neueingewanderten im Zielgebiet durch
vorausgewanderte Verwandte und Bekannte im Sinne von Kettenwanderungen
(Bade 2004: 312). Letztere führten zur Bildung von räumlich eng geschlossenen
Herkunftsgemeinschaften im Zielgebiet. Mit zunehmender Dauer und Intensität
der Kettenwanderungen entstand eine zunehmende Eigendynamik im Wande-
rungsgeschehen. Sie führte teilweise dazu, dass in den Herkunftsregionen die
transatlantische Auswanderung auch Jahrzehnte nach ihrem Einsetzen weiterhin
auf hohem Niveau blieb, obwohl die ursprünglich ausschlaggebende soziale und
wirtschaftliche Lage längst nicht mehr bestand (Oltmer 2010: 12).
Die Verlagerung des Hauptauswanderungsraums vom Südwesten zum
Nordosten verschob auch die Berufs- und Sozialstruktur der Auswanderer: Bis
in die 1860er Jahre stellten selbständige Kleinbauern, Kleingewerbetreibende
sowie Kleinhandwerker die wichtigsten Berufsgruppen der Auswanderer. Mit
der Verlagerung des Schwerpunktes nach Nordosten setzte sich die Gruppe der
Auswanderer zunehmend aus Tagelöhnern und nachgeborenen Bauernsöhnen
zusammen. Seit den 1890er Jahren wuchs der Anteil sekundärer und tertiärer
Erwerbsbereiche an der Überseeauswanderung stetig, blieb aber deutlich hinter
dem Wachstum der entsprechenden Beschäftigtenanteile auf dem Arbeitsmarkt
des Auswanderungslandes zurück (Burgdörfer 1930: 401ff.; Marschalck 1973:
77ff.; Bade 2004: 320). Bis zur Mitte der 1860er Jahre dominierte die Familien-
auswanderung. Auch in der dritten Auswanderungsphase war die Familienwan-
derung noch sehr bedeutsam, allerdings nahm die Einzelwanderung immer mehr
zu: 1881-90 wurden 57,8 % Auswanderer im Familienverbund und 42,2 %
Einzelauswanderer gezählt. 1911-20 war der Anteil der Familienmigration auf
39,4 % gesunken, derjenige der Einzelwanderung hingegen auf 60,6 % gestie-
gen (Burgdörfer 1930: 401ff.).
Die starken Auswanderungsbewegungen waren kein spezifisch deutsches
Phänomen, sondern fanden auch in vielen anderen europäischen Ländern statt.
Die Auswanderung erfasste die Länder Europas nicht gleichzeitig, sondern in
zeitlicher Abfolge, wobei die Auswanderung aus Großbritannien den Anfang
machte. Von dort wanderten schon im 18. Jahrhundert rund 1,5 Mio. Menschen
vorwiegend nach Amerika (Hatton 2004). Die Agrarkrise in Europa in den
52 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
1840er Jahren, die gescheiterten Revolutionen von 1848/49 und die Goldfunde
in Kalifornien und Australien in den 1850er Jahren ließen die Auswanderungs-
zahlen besonders in Nordwest- und Mitteleuropa ansteigen. Bis 1890 waren in
Deutschland – nach den Britischen Inseln – die größten Auswanderungszahlen
zu verzeichnen. Etwa ab 1875 gewann Italien bei der europäischen Auswande-
rung an Bedeutung und überholte in den 1880er Jahren die Deutschen und 1900
auch die Briten. Werden die absoluten Auswanderungszahlen ins Verhältnis zur
jeweiligen Bevölkerungszahl des Herkunftslandes gesetzt, zeigt sich, dass bis
zum Jahr 1880 neben den Britischen Inseln, es vor allem Norwegen, Schweden
und Irland sind, die die höchsten Anteile der Auswanderung an der Bevölke-
rungszahl hatten (Ferenczi/Willcox 1929-31: 200f.; Fischer 1985: 29). Insge-
samt wird geschätzt, dass in den Jahren von 1850 bis 1915 mehr als 40 Mio.
Europäer nach Übersee gewandert sind, davon 13,5 Mio. Briten, 8 Mio. Italie-
ner, 4,6 Mio. Spanier und Portugiesen, 4,3 Mio. Deutsche und 4,5 Mio. Ost- und
Südosteuropäer (Ferenczi/Willcox 1929-31: 230f.). Die internationalen Migra-
tionen im 19. Jahrhundert wurden eher als zeitlich langfristige individuelle
Entscheidungen getroffen, dennoch müssen auch die Rück- oder Weiterwande-
rungen in anderen europäischen Staaten von großer Bedeutung gewesen sein,
denn nach Schätzungen haben von den zwischen 1821 und 1924 in die USA
eingewanderten Personen 30 % das Land wieder verlassen. Für Argentinien –
als zweitgrößtes Aufnahmeland europäischer Auswanderung – wird im Zeit-
raum von 1857 bis 1924 der Anteil der Rückwanderer sogar auf 47 % geschätzt
(Fischer 1985: 25).
3.1.2 Auswanderung in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten
Weltkrieges
Auch in der Zwischenkriegszeit wanderten zahlreiche Deutsche ab, wenn auch
in geringerem Umfang als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. So wird ge-
schätzt, dass zwischen den Jahren 1919 und 1932 ca. 603.000 Deutsche nach
Übersee auswanderten. Zu Beginn der 1920er Jahre stieg die Auswanderung
stark an: von 24.000 Personen im Jahr 1921, 37.000 im Jahr 1922 auf ca.
115.000 Personen im Jahr 1923. Diese starke Zunahme war teilweise durch die
aufgeschobene Realisierung von Auswanderungswünschen bedingt, da ein
Großteil der überseeischen Einwanderungsländer, die im Krieg gegen Deutsch-
land verbündet waren, zunächst keine deutschen Auswanderer aufnahm oder
deren Zuzug kontingentierte. Ende der 1920er Jahre gewannen neben den USA
vor allem Kanada, Brasilien und Argentinien als weitere wichtige Zielländer
immer mehr an Bedeutung (Burgdörfer 1930: 389ff.).
Auswanderung bis Mitte des 20. Jahrhunderts 53
Mit dem Anstieg der überseeischen Auswanderung in den Anfangsjahren
der Weimarer Republik wuchs zugleich auch die kontinentale Aus- und Ar-
beitswanderung vor allem in die Schweiz, die Niederlande und die skandinavi-
schen Staaten (Köllmann 1976: 48). Nach der Stabilisierung der Währung Ende
des Jahres 1923 und den US-amerikanischen Einwanderungsbeschränkungen
1924 sank die Zahl deutscher Auswanderer bis Ende der 1920er Jahre auf etwa
die Hälfte des Wertes von 1923 und entsprach damit dem Trend europaweit
sinkender Auswanderungszahlen. Sie blieben bis zum Ende der 1920er Jahre auf
diesem Niveau, und sanken dann in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er
Jahre auf unter 10.000 bis 15.000 Personen pro Jahr ab. Gleichzeitig nahm die
Zahl der deutschen Rückwanderer zu (Oltmer 2010: 40; Marschalck 1973: 47).
Anschließend begann mit der politischen Emigration und der jüdischen
Fluchtwanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland ein neuer Ab-
schnitt der Auswanderungsgeschichte, der mit Blick auf die im Wanderungsge-
schehen wirkenden Bestimmungskräfte mit den vorausgegangenen hundert
Jahren deutscher Überseeauswanderung nicht zu vergleichen ist (Bade 2004:
314). Diese Emigration verlief schubweise und spiegelt die Phasen des Vertrei-
bungsdrucks von der Machtübernahme Hitlers und den frühen Maßnahmen zur
Bekämpfung innenpolitischer Gegner sowie den ersten antisemitischen Geset-
zen über die Periode der „schleichenden Verfolgung“ bis zu den Nürnberger
Gesetzen 1935 wider. Die letzte Auswanderungswelle setzte mit der offenen
Gewalt gegen Juden in der Reichspogromnacht ein. Sie endete mit Beginn des
Zweiten Weltkrieges, der die Möglichkeiten der Emigration drastisch reduzierte
und nach dem Abwanderungsverbot 1941 in den Völkermord an den deutschen
und europäischen Juden mündete (Röder 1992: 347; Oltmer 2010: 42). Die
Anzahl jüdischer Emigranten wird dabei auf ca. 450.000 bis 600.000 Personen
geschätzt (Röder 1992: 348). Diese Emigration konzentrierte sich im Jahr 1933
noch zu 75 % auf europäische Staaten, ab 1934 suchte die überwiegende Anzahl
an jüdischen Emigranten Zuflucht in nicht-europäischen Staaten, hier vor allem
in den USA, Palästina und Argentinien (Röder 1992: 348f.). Daneben verließen
zahlreiche Personen aus dem Kultur- und Wissenschaftsbereich Deutschland
sowie Personen, die wegen ihrer politischen Arbeit in Deutschland, Österreich
sowie den besetzten Gebieten der Tschechoslowakei verfolgt wurden. Letztere
Gruppe umfasste bis 1939 ca. 25.000 bis 30.000 Personen, überwiegend Sozial-
demokraten und Kommunisten. Viele der geflüchteten Regimegegner blieben in
Europa, vor allem Frankreich, Spanien, Großbritannien und der Sowjetunion
(Röder 1992: 351).
Auch in anderen europäischen Staaten war die Auswanderung zwischen
1920 und 1950 stark rückläufig. Waren zwischen 1911 und 1920 – trotz des
Ersten Weltkrieges – noch 7,8 Mio. Menschen nach Übersee ausgewandert, so
54 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
reduzierte sich diese Zahl zwischen 1921 und 1930 auf 6,9 Mio. und zwischen
1931 und 1940 auf 1,2 Mio. Erst zwischen 1941 und 1950 erhöhte sie sich
wieder leicht auf 2,3 Mio. Personen. Die wichtigsten Herkunftsstaaten waren
dabei die Britischen Inseln, Italien, Portugal, Spanien und Deutschland. Gleich-
zeitig veränderte sich die Bedeutung der Zielländer weg von den USA hin nach
Brasilien und Argentinien. Beide Entwicklungen werden mit den zunehmend
restriktiveren US-amerikanischen Einwanderungsgesetzen sowie den negativen
Folgen der Weltwirtschaftskrise in den USA und Kanada in Zusammenhang
gebracht (Woodruff 1966: 401f.; Fischer 1987: 37).
3.2 Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg
In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war das Wanderungsge-
schehen in Deutschland im Wesentlichen durch die große Zahl von ‚Displaced
Persons’ und Vertriebenen geprägt. Die Auswanderung von Deutschen spielte –
ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg – aufgrund der bereits erwähnten
restriktiveren Einwanderungsregelungen der alliierten Staaten eine nur unterge-
ordnete Rolle. Sie stand nur deutschen Ehepartnern und Kindern ausländischer
Staatsangehöriger, anerkannten Verfolgten des NS-Regimes und besonders
begehrten deutschen Wissenschaftlern und Hochqualifizierten offen (für einen
Überblick der damaligen Einwanderungsgesetzgebung der USA siehe z.B.
Nerger-Focke 1995: 105-140; und für Großbritannien siehe Steinert/Weber-
Newth 2000: 31-76). Eine weitere Ausnahme bildete die damalige Auswande-
rung von „Volksdeutschen“ mit Hilfe des ‚Canadian Council for Resettlement
of Refugees’ nach Kanada ab Ende der 1940er Jahre (Steinert 1992: 389). Erst
die Gründung der Bundesrepublik und die Akzeptanz der Einreise Deutscher
durch die damals wichtigsten Zielländer – USA, Kanada und Australien –, schuf
die Grundlage für einen starken Anstieg der Überseeauswanderung seit Anfang
der 1950er Jahre. So weist die auf Kontrollen an den Grenzübergangsstellen
beruhende „Besondere Aus- und Einwanderungsstatistik“ für den Zeitraum von
1946-61 insgesamt 780.000 nach Übersee auswandernde Deutsche nach. Davon
wanderte etwa die Hälfte in die USA, 234.000 Menschen nach Kanada und
weitere 80.000 nach Australien (Statistisches Bundesamt 1963: 191).
Neben der Auswanderung in die klassischen Einwanderungsländer spielte
auch die intra-europäische Migration eine wichtige Rolle. Nach Schätzungen
der OECD migrierten 180.000 Deutsche zwischen 1945 und 1952 in die westeu-
ropäischen Staaten, vor allem nach Frankreich (75.000 Personen) und Großbri-
tannien (52.000 Personen). Zuverlässigere statistische Daten stehen erst ab dem
Jahr 1954 und dem Beginn der auf den Einwohnermeldeämtern beruhenden
Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg 55
deutschen Wanderungsstatistik zur Verfügung. Ohne Berücksichtigung der
innerdeutschen Wanderungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Deutschen Demokratischen Republik wanderten zwischen 1954 und 1959
jährlich etwa 100.000 Personen aus Deutschland aus. Neben der Heiratsmigrati-
on durch in Deutschland stationierte Soldaten der Alliierten spielte zu dieser
Zeit auch die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften durch Anwerbekommis-
sionen westeuropäischer Staaten, Australiens und Kanadas zur Erklärung des
hohen Niveaus der Auswanderung eine wichtige Rolle (Steinert 1992: 389f.).
Noch während die Bundesregierung Anfang der 1950er Jahre mit verschiedenen
Aufnahmeländern und ihren Anwerbekommissionen über die finanzielle Unter-
stützung deutscher Auswanderer verhandelte, begannen im Zuge der Erholung
der deutschen Wirtschaft die eigenen Planungen und Vorbereitungen für die
Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte (Oltmer 2010: 51-52). Erst ab Anfang
der 1960er Jahre führte der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu einem
spürbaren Rückgang der Auswanderung Deutscher.
Verlässlichere Aussagen zur Auswanderung und Zuwanderung von Deut-
schen lassen sich aus der Wanderungsstatistik aufgrund verschiedener konzep-
tioneller und räumlicher Änderungen erst ab dem Jahr 1967 gewinnen. So
gingen West-Berlin und das Saarland beispielsweise erst ab 1953 bzw. 1957 als
Teil des Bundesgebietes in die Statistik ein, und Vertriebene aus den ehemali-
gen Ostgebieten werden erst seit 1967 ausgewiesen (Statistisches Bundesamt
2006a, zu Konzeption und Besonderheiten der Wanderungsstatistik für die
Analyse der Auswanderung aus Deutschland siehe auch Kapitel 4.1). Bei
Betrachtung der in Abbildung 3.1 dargestellten Entwicklung der Auswanderung
Deutscher seit 1967 zeigt sich, dass erst seit Ende der 1980er Jahre die interna-
tionale Migration Deutscher wieder spürbar ansteigt. Wanderten Mitte der
1970er Jahre im Durchschnitt gut 50.000 Personen pro Jahr aus, hat sich diese
Zahl bis in die vergangenen Jahre auf über das Dreifache erhöht und erreichte
mit etwa 175.000 Personen im Jahr 2008 den höchsten Wert seit Mitte des 20.
Jahrhunderts. Selbst unter Berücksichtigung der Auswanderungsrate zeigt sich
eine deutliche Zunahme: Während bis Mitte der 1980er Jahre die Auswande-
rungsrate bei etwa ein Promille lag, stieg sie bis heute auf ungefähr zwei Pro-
mille an. Somit sind heute in absoluten Zahlen als auch in Proportion zur Be-
völkerung insgesamt deutlich mehr Deutsche international mobil und halten sich
zumindest zeitweilig im Ausland auf als noch vor 30 Jahren.
56 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
Abbildung 3.1: Entwicklung der Auswanderung, Zuwanderung und des
Wanderungssaldos deutscher Staatsbürger, 1967-2008*,
in 1.000
* Die Angaben beziehen sich bis zum Jahr 1991 auf den Gebietsstand ohne die ehemalige DDR.
Angaben zu Aussiedlern insgesamt für die Jahre 1967-1992, ab 1993 nur (Spät-)Aussiedler mit
deutscher Staatsangehörigkeit. In den Jahren unmittelbar vor und nach der Wiedervereinigung im
Jahr 1990 kam es zu Unregelmäßigkeiten der Statistik. Der Zuzug von (Spät-)Aussiedlern führte
damals in einigen Fällen zu erhöhten Zuzugszahlen, da diese sowohl in den Aufnahmeeinrichtungen
als auch nach Umzug innerhalb Deutschlands zweimal als Zuzüge erfasst wurden. Zur Bereinigung
der Statistik wurden diese Fälle nachträglich durch Fortzüge ‚rückgebucht’, wodurch sich die
geringen bzw. im Jahr 1989 auch negativen Werte der Zuzüge von Deutschen erklären lassen.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesverwaltungsamt; eigene Berechnungen und Darstellung.
Zur Bewertung der internationalen Migration Deutscher und ihrer gesellschaftli-
chen und ökonomischen Konsequenzen reicht die Betrachtung der Auswande-
rung alleine nicht aus. Während internationale Migrationen noch im 19. Jahr-
hundert eher als zeitlich langfristige individuelle Entscheidungen getroffen
wurden, stellen Auslandsaufenthalte heute für viele Menschen in den Industrie-
nationen nur noch kurzfristige Lebensphasen dar. Daher gilt es, den Umfang der
Rückwanderung zu beachten. Analog zur Auswanderung Deutscher stellt die
deutsche Wanderungsstatistik auch die Zuwanderung Deutscher aus dem Aus-
Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg 57
land dar. Zu diesem Personenkreis gehören die Rückwanderer, die in diesem
Kontext von besonderem Interesse sind – also Deutsche, die nach einem zeit-
weiligen Aufenthalt im Ausland wieder nach Deutschland zurückkehren. Wei-
terhin erfasst die Statistik aber auch Nachkommen von Deutschen, die während
des Aufenthalts der Eltern im Ausland geboren wurden. Abschließend gehören
auch Aussiedler und (Spät-)Aussiedler zu der Gruppe der aus dem Ausland
zuziehenden Deutschen.
Da die Wanderungsstatistik zwischen diesen Gruppen nicht unterscheidet,
stellen die Zuwanderungszahlen nur einen sehr ungenauen Indikator für die
Rückkehrquote von international mobilen Deutschen dar. Aus den Geschäftssta-
tistiken des Bundesverwaltungsamtes stehen Angaben über die Aufnahme von
(Spät-)Aussiedlern zur Verfügung, so dass die Differenz zwischen den Zuzügen
von allen deutschen Staatsangehörigen und den Zuzügen der (Spät-)Aussiedler
eine relativ präzise Aussage über die Rückwanderung der Deutschen aus dem
Ausland erlaubt. In Abbildung 3.1 sind sowohl Zuzüge von Aussiedlern ausge-
wiesen, die bis Ende 1992 nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengeset-
zes (BVFG) in die Bundesrepublik eingereist sind, als auch die (Spät-)
Aussiedler, die nach §§ 4 und 7 des BVFG einreisten.1 Danach zeigt sich, dass
von den zwischen 1967 und 2008 erfassten 6,4 Mio. Zuzügen Deutscher unge-
fähr 3,8 Mio. als (Spät-)Aussiedler in die Statistik eingingen und bei etwa
2,6 Mio. Zuzügen von Deutschen auszugehen ist, die nach einem Auslandsauf-
enthalt nach Deutschland zurückkehren.
Gemäß dieser Unterscheidung von Zuwanderungen durch (Spät-)
Aussiedler und eigentlichen Rückwanderern wird auch der Wanderungssaldo
Deutscher differenziert ausgewiesen: Erstens als Saldo inklusive der (Spät-)
Aussiedler, der die gesamten Zuzüge abzüglich der Fortzüge ausweist. Hier
1 Durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2094)
wurden die Aufnahmevoraussetzungen grundlegend neu geregelt. Der bisherige Tatbestand des
„Aussiedlers“ nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG wurde mit dem Stichtag 31. Dezember 1992 abge-
schlossen. Für den Folgezeitraum wurde der Tatbestand des (Spät-)Aussiedlers in § 4 BVFG
neu geschaffen (BAMF 2006: 39). (Spät-)Aussiedler in eigener Person nach § 4 (1) BVFG und
Ehegatten und Abkömmlinge von (Spät-)Aussiedlern nach § 7 (2) BVFG gehen als deutsche
Staatsangehörige in die Wanderungsstatistik ein. Sonstige nichtdeutsche Staatsangehörige (z.B.
Schwieger- und Stiefkinder des (Spät-)Aussiedlers) können dagegen nur im Rahmen der aus-
länderrechtlichen Bestimmungen zum Familiennachzug zu Deutschen aussiedeln (§ 8 (2)
BVFG) und gehen als ausländische Staatsangehörige in die Wanderungsstatistik ein (Statisti-
sches Bundesamt 2006a). Diese Differenzierung ist jedoch erst mit den zuvor genannten gesetz-
lichen Änderungen ab dem Jahr 1993 möglich. Exakte Zahlen darüber, wie viele Aussiedler in
den Jahren zuvor in die Wanderungsstatistik als deutsche Staatsbürger eingingen, liegen nicht
vor. Aufgrund des Verhältnisses von (Spät-)Aussiedlern zu Miteinreisenden nicht-deutschen
Verwandten, wie es sich Mitte der 1990er Jahre zeigte, ist allerdings zu vermuten, dass vor
1993 nahezu alle Aussiedler als deutsche Staatsbürger erfasst wurden.
58 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
zeigt sich, dass mit Ausnahme des Jahres 1967 und den Jahren von 2005 bis
2008 ein über fast vier Jahrzehnte positiver Wanderungssaldo von Deutschen
vorlag, der insbesondere während der zahlenmäßig umfangreichen Zuwande-
rung von (Spät-)Aussiedlern in den 1990er Jahren zu einer hohen positiven
jährlichen Wanderungsbilanz führte. Zweitens als Saldo ohne (Spät-)Aussiedler,
der nur die Zuwanderung der eigentlichen Rückwanderer abzüglich aller Aus-
wanderer ausweist. Dieser zweite Saldo zeigt dagegen ein vollständig anderes
Bild, nachdem bereits während der gesamten letzten vier Jahrzehnte ein negati-
ver Wanderungssaldo bestand, der zu einer durchschnittlichen jährlichen negati-
ven Wanderungsbilanz von ca. -28.000 Deutschen führte. Auch wenn im Jahr
2008 ein negativer Saldo von -66.000 Personen den höchsten Wanderungsver-
lust von deutschen Personen seit 1950 darstellt (vgl. Grobecker et al. 2009),
lässt sich zum einen festhalten, dass nur durch die massive Zuwanderung von
Angehörigen deutscher Minderheiten aus Ost- und Mittelosteuropa ein in den
vergangenen Jahrzehnten positiver Wanderungssaldo zu verzeichnen war.
Zweitens zeigen diese Daten, dass die steigenden Auswanderungszahlen der
vergangenen Jahre zwar tatsächlich zu einer zunehmend negativen Wande-
rungsbilanz führten, diese Steigerungen vor dem Hintergrund der Auswande-
rungen während der letzten vier Jahrzehnte aber deutlich relativiert werden
müssen.
3.3 Auswanderung aus anderen Industriestaaten
Nachdem bisher die Entwicklung der Auswanderung aus Deutschland im
Mittelpunkt des Kapitels stand, ist es das Ziel dieses letzten Abschnitts, den
deutschen Fall in einen größeren, internationalen Kontext zu stellen. Wie ist es
in anderen europäischen und weiteren Industriestaaten um die Auswanderung
der eigenen Staatsbürger bestellt? Sind es vor allem Deutsche, die international
mobil sind oder finden sich vergleichbare Entwicklungen auch in anderen
hochentwickelten Staaten?
Bei einer Durchsicht der aktuellen Literatur überrascht es kaum, dass die
Auswanderung der eigenen Staatsbürger und die Sorge über einen ‚brain drain’
vor allem in solchen Industriestaaten eine wichtige Rolle spielt, die selbst noch
bis vor wenigen Jahren als Auswanderungsländer galten. Ein europäisches
Beispiel ist Italien, wo trotz der zunehmenden Einwanderung eine besondere
Sorge über die Auswanderung eigener Universitätsabsolventen besteht. Nord-
amerika, Großbritannien als auch andere Mitgliedstaaten der EU stellen beliebte
Zielländer für italienische Hochschulabsolventen dar und die internationale
Migration hat sich während der 1990er Jahre deutlich erhöht (vgl. Becker et al.
Auswanderung aus anderen Industriestaaten 59
2004; Constant/D'Agosto 2008; Foadi 2006). Die Sorge über eine zunehmende
Auswanderung der eigenen Staatsbürger findet sich aber auch in den skandina-
vischen Staaten, in denen beispielsweise das dänische Wissenschaftsministeri-
um eine Studie zu Humankapitalbilanzen der internationalen Migration und den
ökonomischen Konsequenzen der Auswanderung erstellen ließ (Jespersen et al.
2007). Auch in Großbritannien findet das Thema, spätestens seitdem die BBC
gemeinsam mit dem Institute for Public Policy Research im Jahr 2006 eine
Umfrage zur Auswanderung erstellte, zunehmende politische und öffentliche
Aufmerksamkeit (Sriskandarajah/Drew 2006). Selbst in den klassischen Ein-
wanderungsländern stellt sich zwischenzeitlich die Frage nach der Auswande-
rung der eigenen Bevölkerung. So brachten die Studien von Hugo (2006) in
Australien, Florida (2007) in den USA oder Iqbal (2000) für Kanada das Thema
erstmals auf die politische Tagesordnung in diesen Ländern. Die Bedeutung des
Themas zeigt sich aber auch an der zunehmenden Aufmerksamkeit, die der
Auswanderung aus Industriestaaten durch internationale Organisationen entge-
gengebracht wird. Vor dem Hintergrund der Bedeutung Hochqualifizierter für
die wirtschaftliche Entwicklung hat sich das Thema sowohl für die Internationa-
le Arbeitsorganisation (Kuptsch/Pang 2006) als auch die OECD (OECD 2002;
2008b) zu einem wichtigen Schwerpunkt ihrer Arbeit entwickelt.
Bereits dieser kurze Literaturüberblick zeigt, dass die Auswanderung der
eigenen Staatsbürger die Regierungen und die Öffentlichkeit in mehreren Indus-
triestaaten zunehmend beschäftigt. Ein umfassender und systematischer interna-
tionaler Vergleich der Größenordnung und der Entwicklung der Auswanderung
aus Industriestaaten wird durch die verfügbare Datenlage deutlich erschwert.
Dennoch ist eine erste Einordnung der aktuellen Entwicklungen auf der Grund-
lage von Bestandsdaten von Auswanderern aus OECD-Mitgliedstaaten sowie
zur Entwicklung der Auswanderung und des Wanderungssaldos für einige
europäische Staaten durchaus möglich.
Die umfassendste Datengrundlage zum Vergleich der Auswanderung aus
Industriestaaten stellt die „Database on Immigrants in OECD Countries
(DIOC)“ dar, die in den vergangenen Jahren von der OECD entwickelt und
aufgebaut wurde. Für die Datenbank wurden die Migrantenpopulationen der
OECD-Staaten auf Basis der im Ausland geborenen über 15-jährigen Personen
mit Hilfe der Zensen des Jahres 2000 ermittelt. Die auf diese Weise bestimmten
Populationen wurden über alle OECD-Staaten aggregiert, um so die Anzahl der
Auswanderer eines bestimmten OECD-Landes in die übrigen OECD-
Mitgliedstaaten zu berechnen. Damit wurde von der OECD ein methodisches
Vorgehen aufgegriffen, das im Verlauf der 1990er Jahre insbesondere zur
Analyse der Auswanderung aus Entwicklungsländern in die Industriestaaten
entwickelt wurde. Erste Studien stammen vom Ende der 1990er Jahre von
60 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
Carrington und Detragiache (1998) und später von Adams (2003) sowie Doc-
quier und Marfouk (2006) und Beine et al. (2006), die ursprünglich auf Grund-
lage der US-Zensen von 1990 bzw. 2000 und später auch unter Einbezug der
Zensen weiterer wichtiger Zielländer versucht haben, Auswanderungsraten zu
bestimmen. Schwerpunkt der im Kontext der Weltbank entstehenden Arbeiten
war von Beginn an die Analyse der Auswanderung aus Entwicklungsländern,
während im Mittelpunkt der DIOC in erster Linie die Migration zwischen den
OECD-Staaten steht. Vorteil dieser Datenbank und ihrer Methodik ist, dass
durch den Rückgriff auf Zensen und Mikrozensen eine verlässliche Datenquelle
zur Bestimmung der Migrantenpopulationen verwendet wird. Problematisch ist
jedoch, dass auch diese Statistiken nicht vollständig einheitlich sind, weshalb
für einige Länder mit Schätzverfahren Anpassungen vorgenommen werden
müssen (vergleiche zu den Schätzverfahren Lemaître et al. 2006). Ein weiteres
Problem betrifft die Definition der Auswanderer, wobei auf das Kriterium des
Geburtslandes und nicht auf die Staatsangehörigkeit zurückgegriffen wird. Dies
führt im deutschen Fall beispielsweise dazu, dass eine größere Zahl der Kinder
von in Deutschland stationierten US-Streitkräften fälschlicherweise als deutsche
Auswanderer gezählt wird. Weitere Schwierigkeiten der Studie betreffen die
Tatsache, dass die Zensen aus dem Jahr 2000 stammen, weshalb neuere Ent-
wicklungen auf dieser Datenbasis nicht erfasst werden können.
Ungeachtet dieser methodischen Probleme bietet die DIOC-Datenbank ei-
nen ersten Eindruck der Auswanderung aus Industriestaaten. So lebten im Jahr
2000 knapp 32 Mio. Auswanderer aus OECD-Mitgliedstaaten in einem der
jeweils anderen OECD-Staaten. Das entspricht insgesamt 4 % der Bevölkerung
über 15 Jahren, die damit außerhalb ihres Geburtslandes leben. Zwischen den
OECD-Staaten zeigen sich deutliche Differenzen. So stellen die Mexikaner mit
8,3 Mio. den weitaus größten Anteil der international mobilen Bevölkerung in
der OECD, wobei der weitaus größte Teil dieser Gruppe in den USA lebt. In
absoluten Zahlen folgen Großbritannien und Deutschland. In beiden Fällen
leben etwas über 3 Mio. Briten bzw. Deutsche in einem anderen OECD-Staat.
Auch für diese beiden Staaten stellen die USA mit einem Viertel bzw. einem
Drittel eines der wichtigsten Zielländer dar. Alle drei genannten Staaten gehören
zu den bevölkerungsreichsten Staaten der OECD, weshalb es nicht überrascht,
dass sie in absoluten Zahlen einen großen Anteil an dem Wanderungsgeschehen
zwischen den OECD-Staaten bestimmen. Ein anderes Bild bieten die USA und
Japan – die beiden Staaten mit der größten Bevölkerung in der OECD – die mit
840.000 bzw. 570.000 Auswanderern deutlich unterdurchschnittliche Werte
aufweisen. Diese Ergebnisse werden durch die Auswanderungsrate bestätigt.
Auf dieser Datenbasis sind es in erster Linie Staaten mit einer geringen Bevöl-
kerungszahl – z.B. Irland, Neuseeland, Portugal oder Luxemburg – bei denen im
Auswanderung aus anderen Industriestaaten 61
Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt die höchsten Anteile in anderen Staaten
der OECD leben. Aus dieser Perspektive rangiert Deutschland zwischen den 26
analysierten OECD-Staaten auf Platz 13 und damit im Mittelfeld, während wie
bereits erwähnt die US-Amerikaner und die Japaner die mit Abstand geringste
Rate internationaler Migranten zwischen den Industriestaaten stellen (vgl.
Abbildung 3.2).
Abbildung 3.2: Vergleich der Auswanderung und der Auswanderungsrate aus
Staaten der OECD, nach Geburtsland der Auswanderer, etwa
Jahr 2000*, in 1.000 bzw. Prozent
* Die Auswertung basiert ausschließlich auf Auswanderern der 26 dargestellten OECD-Staaten, die
sich in einem der übrigen 25 OECD-Staaten aufhalten.
Quelle: Database on Immigrants in OECD Countries (DIOC), OECD; file_a_2_t.csv; eigene
Berechnungen und Darstellung.
Neben dem Vergleich der Auswanderungsraten der OECD-Länder auf Basis
von Bestandsdaten wird in einem zweiten Schritt die zeitliche Entwicklung der
Auswanderung aus Deutschland mit der in anderen Staaten verglichen. Wie
bereits in Kapitel 3.1 gesehen, zeigt der historische Vergleich, dass sich für
einige der europäischen Staaten eine mit Deutschland vergleichbare Entwick-
62 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
lung für das 19. Jahrhundert und bis Mitte des 20. Jahrhunderts findet. Für einen
aktuellen systematischeren Vergleich liegen aufgrund der in Kapitel 2 beschrie-
benen Schwierigkeiten nur für relativ wenige Industrieländer konsistente Zeit-
reihen über die Auswanderung ihrer eigenen Staatsbürger vor. Ein erstes Bei-
spiel stammt aus Australien, das sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der
Zunahme der Auswanderung beschäftigt hat. Hier zeigen Hugo et al. (2001;
2003), dass es seit Mitte der 1980er und insbesondere seit Ende der 1990er
Jahre zu einer deutlichen Zunahme der Auswanderung von in Australien gebo-
renen Personen und der australischen Bevölkerung gekommen ist; ähnliche
Ergebnisse liegen auch für die USA vor (vgl. Woodrow-Lafield 1996). Auf-
grund der deutlichen Unterschiede hinsichtlich der Erhebungsmethodiken und
Erfassungskonzepte sind die meisten der vorliegenden Daten jedoch kaum
miteinander vergleichbar.
Für die europäischen Staaten gelten die genannten statistischen Probleme
in ähnlichem Maße, dennoch existieren hier zumindest für einige der EU-
Mitgliedstaaten längere Zeitreihen. Abbildung 3.3 vergleicht die Auswande-
rungsrate von fünf europäischen Mitgliedstaaten für die Jahre 1985 bis 2007.
Auch zwischen den europäischen Staaten bestehen deutliche Unterschiede in der
Erhebungsmethodik, weshalb weniger das Niveau als der Trend im Mittelpunkt
der Auswertungen steht. So basieren die Daten für Belgien, Deutschland, die
Niederlande und Schweden auf zentralen oder lokalen Einwohnermelderegi-
stern, wohingegen der Passengersurvey Grundlage der britischen Daten ist.
Auch das Verständnis von Auswanderung ist uneinheitlich – während in den
skandinavischen Staaten Auswanderung erst ab einem Aufenthalt im Ausland ab
zwölf Monaten erfasst wird, wird in den deutschen Daten jeder registrierte
Fortzug ins Ausland erfasst unabhängig von der Dauer des Auslandsaufenthal-
tes. Trotz dieser methodischen Schwierigkeiten ist das Ergebnis eindeutig: Im
Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte kam es in einer Reihe von europäi-
schen Staaten zu einem deutlichen Anstieg der Auswanderung ihrer eigenen
Staatsbürger. Am stärksten stieg die Auswanderung in Schweden an, wo sich
die Auswanderungsrate fast verdreifacht hat, aber auch in Deutschland kam es
insbesondere durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu einer Auswan-
derungsrate, die etwa 2,5fach höher liegt als noch Mitte der 1980er Jahre.
Geringere, aber nach wie vor substantielle Steigerungen finden sich in den
Niederlanden, Großbritannien und Belgien, die ebenfalls Auswanderungsraten
aufweisen, die heute bis zu 80 % höher liegen als noch zwei Jahrzehnte zuvor.
In anderen europäischen Staaten wie z.B. Dänemark, Finnland, Luxemburg,
Norwegen oder auch der Schweiz zeigen sich weniger eindeutige Trends. Doch
auch wenn die Entwicklung der Auswanderung aus diesen Staaten nicht so stark
steigt wie in den in Abbildung 3.3 analysierten Staaten, liegt auch für diese
Auswanderung aus anderen Industriestaaten 63
Länder die Zahl der Auswanderer im Jahr 2007 deutlich über den Werten aus
Mitte der 1980er Jahre. Für alle europäischen Staaten, in denen Statistiken über
die Auswanderung ihrer Staatsbürger über einen längeren Zeitraum vorliegen,
lässt sich somit von einer Zunahme der Bedeutung der Auswanderung der
eigenen Staatsangehörigen ausgehen.
Abbildung 3.3: Entwicklung der Auswanderungsrate der eigenen Staatsbürger
für ausgewählte Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1985-
2007, in Promille
Quelle: Eurostat Datenbanken „migr_emictz“ und „demo_ppavg“ sowie Daten aus Publikationen
von Eurostat (2000; 2001; 2002; 2004) und Statistics Belgium; eigene Berechnungen und Darstel-
lung.
In einem letzten Schritt wird die Entwicklung der Differenz zwischen der Aus-
und der Einwanderung der eigenen Staatsbürger – dem Wanderungssaldo –
zwischen Deutschland und den europäischen Staaten dargestellt. Wie bereits in
Kapitel 3.2 erwähnt, liegen für Deutschland erst seit dem Jahr 1993 Zahlen vor,
die nicht durch die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Wanderungs-
64 Deutschland: Ein Auswanderungsland ?
statistik und insbesondere die hohe Zahl der (Spät-)Aussiedler Ungenauigkeiten
aufweisen. Die Tabelle 3.1 vergleicht daher für die Jahre 1993 bis 2007 den
Wanderungssaldo von zehn europäischen Staaten. Aus den zuvor bereits ge-
schilderten Unterschieden hinsichtlich Erhebungsmethodik und -konzepten liegt
der Schwerpunkt wiederum weniger auf dem Vergleich zwischen den Ländern
als vielmehr auf dem Trend.
Tabelle 3.1: Entwicklung des Wanderungssaldos eigener Staatsbürger für
ausgewählte europäische Staaten, 1993-2007, in 1.000
BE
CH
DE*
DK
FI
GB
LU
NL
NO
SE
1993
-1,7
-5,4
-34,6
0,6
-1,0
-37,0
0,1
-5,4
1,0
-8,0
1994
-3,8
-7,1
-51,9
0,2
-3,2
10,0
0,1
-10,0
-0,8
-8,1
1995
-4,6
-7,1
-38,9
0,5
-2,6
-27,0
0,0
-12,5
-1,1
-8,8
1996
-5,0
-8,2
-38,9
-1,4
-1,8
-38,0
0,0
-11,3
-1,3
-8,8
1997
-6,2
-8,6
-13,0
-1,6
-2,9
-34,0
0,1
-7,2
-1,3
-11,8
1998
-5,8
-7,0
-16,8
-2,2
-3,3
0,1
0,2
1,5
-0,9
-10,7
1999
-6,2
-4,7
-11,8
-2,7
-3,2
0,7
-0,2
2,4
-0,5
-6,9
2000
-6,6
-4,7
-5,0
-4,8
-2,4
-57,2
-0,1
-6,4
-3,1
-5,5
2001
-6,2
-1,5
-2,2
-4,4
-3,1
-28,1
-0,1
-11,8
-2,2
-2,8
2002
-5,1
-2,6
-12,1
-3,6
-2,0
-70,2
-0,1
-10,9
-1,3
-2,3
2003
-5,3
-4,7
-21,8
-3,2
-1,4
-63,8
0,0
-16,1
-1,2
-4,1
2004
-4,7
-7,4
-22,5
-3,9
-0,6
-98,7
-0,1
-22,6
-0,8
-6,1
2005
-4,9
-8,5
-47,5
-3,8
-1,1
-85,2
-0,3
-30,5
-0,3
-8,3
2006
-5,5
-10,1
-59,0
-3,9
-0,8
-118,8
-0,7
-31,1
-1,2
-9,5
2007
-5,8
-7,7
-60,9
-1,7
-0,8
-87,9
-1,1
-25,7
-0,5
-9,0
* Der Wanderungssaldo für Deutschland ist abzüglich der (Spät-)Aussiedler dargestellt.
Quelle: Eurostat Datenbanken „migr_emictz“ und „migr_immictz“ sowie Daten aus Publikationen
von Euro stat (2000; 2001; 2002; 2004), Statistics Belgium. Die Werte für Deutschland sind
Sauer/Ette (2007) entnommen. Eigene Berechnungen.
Drei Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Tabelle ziehen: Erstens ist der
Wanderungssaldo in etwa 90 % aller Zeitpunkte negativ, d.h. die Auswanderung
eigener Staatsbürger übertrifft deren Zuwanderung. Zweitens nehmen die
Auswanderungsverluste über die betrachteten 15 Jahre deutlich zu. Während
sich zumindest in einigen Staaten noch Anfang der 1990er Jahre ein weitgehend
ausgeglichener Wanderungssaldo zeigt, überwiegt mittlerweile die Auswande-
rung die Zuwanderung deutlich. Dies gilt insbesondere für Großbritannien, die
Niederlande und auch Deutschland, während die skandinavischen Staaten noch
Auswanderung aus anderen Industriestaaten 65
immer weitgehend ausgeglichene Wanderungsbilanzen aufweisen. Der dritte
Punkt betrifft den Vergleich zwischen den Ländern hinsichtlich der Größenord-
nung des Wanderungssaldos. Berücksichtigt man hierbei wiederum die Bevöl-
kerungsgröße der jeweiligen Länder, sind es Großbritannien und die Niederlan-
de, die die größten proportionalen Wanderungsverluste zu verzeichnen haben.
Dagegen hat in den letzten Jahren Deutschland angesichts der Größe seiner
Bevölkerung geringere Wanderungsverluste zu verzeichnen als die Schweiz
oder auch Schweden. Selbst Luxemburg, das über den längsten Zeitraum hin-
weg einen kontinuierlich positiven Wanderungssaldo aufwies, erlebte innerhalb
der vergangenen zwei Jahre den im europäischen Vergleich größten Wande-
rungsverlust im Vergleich zu seiner Bevölkerungsgröße.
3.4 Fazit: Auswanderungsland oder Rückkehr zur Normalität?
Ziel dieses Kapitels war es, die Entwicklung der Auswanderung deutscher
Staatsbürger aus Deutschland zu beschreiben, in ihren historischen Kontext
einzuordnen und sie mit den Erfahrungen anderer Industriestaaten zu verglei-
chen. Bevor in den folgenden Kapiteln Fragen der Selektivität der Auswande-
rung und der Bewertung eines möglichen ‚brain drain’ im Vordergrund stehen,
können bereits auf Grundlage dieser ersten Analysen eine Reihe von wichtigen
Schlussfolgerungen festgehalten werden. Danach ist die Sorge über das „Aus-
wanderungsland Deutschland“ nicht neu, sondern prägte bereits das 19. und
frühe 20. Jahrhundert. Ein zweiter Aspekt betrifft das heutige Niveau der Aus-
wanderung. Während dieses im Vergleich mit den 1970er und 80er Jahren um
ein Vielfaches höher liegt, ist die heutige internationale Migration Deutscher im
historischen Vergleich noch immer gering. Ebenfalls wichtig ist die Besonder-
heit der Zuwanderung der (Spät-)Aussiedler. Der erstmals im Jahr 2005 negati-
ve Wanderungssaldo ist aus dieser Perspektive nicht als Kennzeichen eines
Auswanderungslandes zu interpretieren. Vielmehr zeigt sich darin das Ende
eines „Sonderweges“ der deutschen Migrationsgeschichte. Gerade im interna-
tionalen Vergleich stellt ein negativer Wanderungssaldo in heutigen Industrie-
staaten eine weitgehende Normalität dar. Der internationale Vergleich macht
des Weiteren deutlich, dass Deutsche zwar eine große Gruppe international
mobiler Personen stellen, in Relation zur Bevölkerungsgröße des Landes aber
nur einen durchschnittlichen Platz belegen. Abschließend zeigt sich, dass sich
auch in anderen europäischen Staaten ebenso wie in traditionellen Einwande-
rungsländern wie Australien ein ähnlicher Trend zu einem höheren Niveau der
internationalen Migration der eigenen Staatsbürger findet.