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IKT-unterstütztes Toilettensystem für
ältere Menschen
Ein transdisziplinärer Ansatz verbunden mit partizipativem
Design in einem Tabubereich des Alltagslebens
P. Panek, P. Mayer
Technische Universität Wien, Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung,
Zentrum für Angewandte Assistierende Technologien
Favoritenstraße 11/187-2b, 1040 Wien
panek@fortec.tuwien.ac.at, mayer@fortec.tuwien.ac.at
Kurzzusammenfassung
Das Projekt iToilet hat die Entwicklung eines IKT unterstützten Toilettensystems zum Ziel, um
das selbständige und sichere Verwenden der Toilette durch zu Hause lebende ältere Menschen
besser zu ermöglichen. Ein transdisziplinärer Ansatz involviert verschiedene wissenschaftliche
Disziplinen sowie Akteure aus dem nicht wissenschaftlichen Bereich, die als spätere Nutzer der
Toilette relevantes Praxiswissen in das Projekt einbringen. Sogenannte User Research Bases
bilden den Rahmen für die Erhebung der Anwenderbedürfnisse und für die laufende Partizipa-
tion. Die Tabubereiche Toilette und Intimhygiene stellen besondere Anforderungen, besonders
auch im ethischen Bereich. Die bisherigen Ergebnisse lassen den für transdisziplinäre Metho-
den und Partizipative Design-Arbeit erhöhten Aufwand als gerechtfertigt erscheinen, zumal
eine höhere Anwenderakzeptanz und letztlich auch eine bessere Marktdurchdringung zu erwar-
ten sind.
Abstract
“ICT-assisted toilet system for older persons - A transdisciplinary approach combined
with participatory design in a taboo area of everyday life”
The iToilet project aims at the development of an ICT supported toilet system to target the
independent and safe use of the toilet by older persons living at home. A transdisciplinary ap-
proach involves various scientific disciplines and also actors from the non-academic field who
bring in relevant practical knowledge in the project. So-called User Research Bases establish
the framework for the collection of user needs and ongoing participation. The taboo areas toilets
and personal hygiene have special requirements, also in terms of ethics. Results so far seem to
justify the increased effort invested into the transdisciplinary methodology and into the partic-
ipatory design work especially since to reckon with a higher user acceptance and eventually a
better market penetration.
Keywords: ADL, Hygiene, Toilette, AAL, smart home
1 Einleitung und Ziel
Assistive Technologien (AT) und Ambient Assisted Living / Active Assisted Living (AAL)
Technologien bieten vielen Menschen mit Behinderungen und älteren Personen eine Reihe von
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„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2016
Möglichkeiten, die eigene Lebensqualität und Autonomie trotz etwaiger (altersbedingter) Be-
hinderungen zu bewahren und so auch das möglichst lange und sichere Leben zuhause zu för-
dern. Bei der Entwicklung und Anpassung von AT und AAL-Technologien sind jedoch meist
komplexe Situationen und vielschichtige Anforderungen zu berücksichtigen, um wirklich nach-
haltige Lösungen entwickeln zu können [1]. Das macht transdisziplinäre Herangehensweisen
nötig und meist auch unabdingbar. Im vorliegenden Aufsatz wollen wir einige unserer Erfah-
rungen anhand des konkreten Forschungsprojektes „iToilet“, das aufgrund des Tabubereiches
besondere Herausforderungen birgt, darstellen und diskutieren.
Die weitere Arbeit ist wie folgt gegliedert: Im Abschnitt 2 wird ein Überblick über das iToilet-
Projekt mit seinen Rahmenbedingungen, Aufgabenstellung und Herausforderungen gegeben.
Der darauffolgende Abschnitt 3 schildert einige der projektspezifischen transdisziplinären Per-
spektiven sowie Aspekte des Partizipatorischen Designs (PD). Erste Ergebnisse werden im Ab-
schnitt 4 diskutiert. Der Aufsatz schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick.
2 Projekt iToilet - IKT unterstütztes Toilettensystem
In diesem Abschnitt wird das Projekt „iToilet“ und die für diesen Aufsatz relevanten Aspekte
kurz umrissen.
2.1 Problemstellung, Zielsetzung und Herausforderungen
Die in der westlichen Welt meistverwendete Standardform der Toilette in Gestalt eines „Sitzes“
[2] berücksichtigt die Unterschiedlichkeit der Menschen und deren individuelle Bedürfnisse
und Vorlieben bei der persönlichen Hygiene zu wenig. Dadurch entstehen für bedeutende Grup-
pen alter Menschen und Personen mit eingeschränkter Mobilität schwerwiegende Hindernisse
[3, 4].
Abbildung 2.1: Mit Fokus auf den Nutzeranforderungen zielt das iToilet Projekt auf ein IKT-
unterstütztes Toilettensystem für ältere Menschen, die zu Hause ein möglichst unabhängiges
und aktives Leben führen wollen
Im internationalen AAL Forschungs- und Innovationsprojekt „iToilet“ [5] soll eine um IKT-
basierte Komponenten erweiterte Toilette entwickelt werden, die ältere Menschen bei einem
aktiven und sicheren Leben zu Hause, aber auch in Institutionen, individuell angepasst unter-
stützen kann (vgl. Abbildung 2.1). Ausgangsbasis sind die vorhandenen Sanitär-Produkte „Lift-
WC“ und „mobiler Toilettenstuhl“ [6], die im Zuge des Projektes mit IKT-Komponenten aus-
gestattet und funktional erweitert werden sollen. Dabei geht es um Themen wie Einstellung der
WC
Basismodul
Neue automatisierte
Verbesserungen:
Aufstehhilfe
Berührungslose
Steuerung
Notfallerkennung
Das neue Pro-
dukt bringt Vor-
teile:
Erhöhte
Unabhängigkeit
Sicherheit
Aktivität
Lebensqualität
Alter Mensch
zu Hause:
Tabu-Thema Toi-
lette
Bedarf an Unab-
hängigkeit
Sicherheit
Anleitung
iToilet System
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optimalen Sitzhöhe, dynamische Unterstützung beim Aufstehen und Niedersetzen, automati-
sche Erkennung der Anwenderpräferenzen, Sprachsteuerung, Sicherheit (Notfallerkennung,
Sturzerkennung u.ä.).
Das Konsortium verfolgt einen partizipativen Ansatz in transdisziplinärer Zusammenarbeit mit
Anwenderpartnern in Ungarn und Österreich (Rehabilitationsklinik in Budapest und Multiple
Sklerose (MS) Tageszentrum in Wien) und den Firmenpartnern Santis Kft. (Sanitärtechnik),
SmartCom d.o.o. (Sensorik und Vernetzung), Synthema srl (Sprachtechnologie) und CareCen-
ter GmbH (Pflegedokumentation). Die Projektkoordination liegt bei der TU Wien.
Nach der derzeit (Sommer 2016) laufenden Erhebung der Anforderungen und der Erstellung
einer Spezifikation werden zwei Prototypgenerationen entwickelt und erprobt, wobei über das
Projekt hinweg laufend partizipative Designaktivitäten vorgesehen sind. Der Schwerpunkt liegt
auf der Integration von neuen IKT basierten Teilmodulen, die je nach Bedarf zu einem der
konkreten Situation und den individuellen Wünschen angepassten Toiletten-Unterstützungs-
system kombiniert (bzw. auch weggelassen) werden können.
Besondere Herausforderungen liegen im Tabubereich Toilette und Intimhygiene, aber auch bei
der nicht möglichen direkten Beobachtung bei der Nutzung der Toilette und bei daraus erwach-
senden Anforderungen im Bereich der Ethik und des Partizipativen Designs.
2.2 Stand der Technik und Forschung
Produkte am Markt fokussieren in Nordamerika und Europa auf simple Toilettensitzerhöhun-
gen, zusätzliche Griffe, sowie mechanische (und teils motorisierte) Aufstehhilfen (z.B. LiftWC)
sowie Aufsätze zur Intimhygiene (DuschWC) und Sitzhygiene. In Japan gibt es des Weiteren
auch eine bereits bemerkenswert starke Verbreitung von zusätzlichen Toilettenfunktionen wie
Anal-Reinigung, Bidet, Sitzwärmer und Geruchsbeseitigung.
Eine überraschend geringe Anzahl von Forschungsprojekten beschäftigte sich bisher in Europa
mit technischen Verbesserungsmöglichkeiten im Bereich der Toilette für alte bzw. behinderte
Anwender und Anwenderinnen:
Das „Friendly Rest Room“-Projekt, koordiniert von der TU Delft (2002-2005), und teilfinan-
ziert von der EU im 5. Rahmenprogramm war ein anwenderzentriertes Forschungsprojekt, das
sich schwerpunktmäßig dem Design von adaptierbaren Toiletten und Toiletträumen widmete
[3]. Ein daraus hervorgegangenes Basisprodukt einer höhenverstellbaren und neigbaren Toi-
lette kam 2006 auf den Markt (LiftWC [6]).
Das Forschungsprojekt „The Future Bathroom“ (2008-2011) der Universität Sheffield führte
Studien zum anwenderzentrierten Design im Bereich Badezimmer für Menschen, die mit al-
tersbezogenen Behinderungen leben, durch. Das Projekt bemühte sich stark um die Einbindung
von alten Menschen in den Designprozess [7]. Forscher und Forscherinnen besuchten alte Men-
schen zuhause und befragten sie über ihre Erfahrungen, Herausforderungen und Probleme im
Bad. Einige der älteren Menschen wurden später auch trainiert um als Laien-Forscher/-innen
andere alte Menschen als Peers zu besuchen und Informationen sehr erfolgreich zu sammeln.
Das Endergebnis des Projektes “iToilette” der RWTH Aachen (2009-2011) dagegen war eine
Toilette, die in der Lage war, Messungen von Vitalparametern der Anwender automatisiert
durchzuführen [8, 9]. Das schafft Vorteile vor allem für Patienten mit dementiellen Erkrankun-
gen, die oft auf die Messung ihrer Vitalparameter vergessen würden, aber doch mehrmals täg-
lich die Toilette aufsuchen.
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Das 2015 begonnene EU Projekt I-Support entwickelt eine robotische Dusche, um unabhängi-
ges Leben für eine längere Zeit zu ermöglichen und damit die Lebensqualität gebrechlicher
Menschen zu verbessern [10]. Das System sieht einen motorisierten Duschsitz, einen roboti-
schen Duschkopf sowie einen flexiblen und weichen Roboterarm zur Körperpflege vor [11, 12].
3 Methodologie und Herangehensweise
In diesem Abschnitt werden einige der transdisziplinären Aspekte sowie die mit dem partizipa-
tiven Design in Zusammenhange stehenden Aspekte dargestellt.
3.1 Transdisziplinäre Aspekte
Anstelle einer nur technisch-naturwissenschaftlichen Herangehensweise an das Thema Toilette
werden bewusst verschiedene Disziplinen in einen Dialogprozess eingebunden und dieser Dia-
logprozess auch geöffnet für gesellschaftliche Akteure und Akteurinnen aus dem nicht wissen-
schaftlichen Bereich (vgl. Scherhaufer et al. [13]) Diese Herangehensweise ermöglicht es, Pra-
xiswissen mit wissenschaftlichem Wissen zu verbinden, der dafür notwendige Prozess ist je-
doch mit erheblichem Ressourcenaufwand verbunden.
Abbildung 3.1: Transdisziplinarität verbunden mit frühzeitiger und kontinuierlicher Anwen-
dereinbindung in einem mit Tabus behafteten Bereich im Projekt iToilet
Im Bereich von Assistiver Technologie (AT) und Ambient/Active Assisted Living (AAL)
Technologien besteht aufgrund des Settings und der Zielsetzung ein erhöhter Bedarf nach trans-
disziplinären Ansätzen. Ein Grund dafür ist die Komplexität der Entwicklung, die sich inner-
halb kultureller, sozialer und psychologischer Kontexte abspielen muss. Der Markt für die an-
gestrebten innovativen Produkte und Dienste ist dagegen meist fragmentiert, wie auch die Ver-
sorgungsmodelle [1]. Es bestehen oft Herausforderungen in den Bereichen der Technologie,
der Finanzierung, der Ethik, dem Sozialbereich etc. Daher ist es wichtig und unerlässlich, dass
verschiedene Expertise, Erfahrung, wissenschaftliche Disziplinen eingebracht werden, um ein
nützliches und verwendbares Produkt, System oder Service zu schaffen, das für die Anwender
und Anwenderinnen von Nutzen ist.
Im iToilet Projekt wurde daher ein Konsortium zusammengestellt, dessen Partner unterschied-
liche, einander ergänzende Disziplinen einbringen: Pflegeforschung, Rehabilitationsmedizin,
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Rehabilitationstechnik, Ethik, Businessdevelopment, Sanitärtechnik, Sprachtechnologien, Sen-
sor und Netzwerktechnologien, Pflegedokumentationstechnologien etc. (siehe Abbildung 3.1).
Im Sinne der Transdisziplinarität geht es nicht nur darum, diese unterschiedlichen Fachwis-
sensbereiche einzubringen und miteinander zu vernetzen, sondern auch darum, über die Dis-
ziplingrenzen hinaus an einem gemeinsamen Ganzen (konkrete Prototypen, Know-How) zu
arbeiten, welches qualitativ mehr ist, als die Summe der Beiträge der Disziplinen.
3.2 Transdisziplinarität und Partizipatives Design
Im Sinne der transdisziplinären Herangehensweise werden die Anwender und Anwenderinnen,
Betreuungspersonen (Angehörige und Professionalisten) sowie Vertreter von Organisationen
und Einrichtungen (Mobile Pflege, Tageszentren, Rehakliniken) aktiv und kontinuierlich in das
Projekt eingebunden.
Eine grundsätzliche methodische Erschwernis ist durch den tabubehafteten Einsatzkontext ge-
geben, was sich u.a. bei den partizipativen Design Aktivitäten auswirken kann. Hier verfügen
die Autoren jedoch bereits über positive Vorerfahrungen aus einem Vorprojekt [14] in dem
gezeigt werden konnte, dass bei intensiver Vorbereitung sehr wohl auch in diesem Tabubereich
gut akzeptierte Möglichkeiten der Anwendereinbindung und Partizipation im Entwicklungs-
und Designprozess geschaffen werden können. Als besonders hilfreich haben sich dabei eine
gute, ausführliche und kontinuierliche Informationsstrategie, die Schaffung einer Vertrauens-
basis sowie Toilettentests im Labor im bekleideten Zustand erwiesen.
Aufgrund des Tabubereiches und aufgrund des Zielpublikums von gebrechlichen bzw. erkrank-
ten Menschen kommt dem Thema der Ethik besondere Bedeutung zu [15]. Der Sicherheitsas-
pekt ist ebenfalls von Bedeutung, (z.B. dynamische Unterstützung beim Niedersetzen und Auf-
stehen).
Als Setting für die Realisierung der transdisziplinären Herangehensweise wurde bei den beiden
Testpartnern im iToilet Projekt je eine sogenannte „User Research Base“ (URB) etabliert. Eine
URB dient den Akteuren aus dem nicht wissenschaftlichen Bereich, die als Experten und Ex-
pertinnen für ihre eigene Lebenswirklichkeiten eingebunden sind, als Basis um ihr Alltagswis-
sen in die Wissensbasis des Projektes einzubringen. Weiters unterstützt die URB den aktiven
Austausch zwischen den verschiedenen Disziplinen und das gemeinsame iterative Ringen um
neue Einsichten, Ansätze und Ideen, die nicht durch bloßes Zusammensetzen verschiedener
Expertise-Bruchstücke entstehen, sondern prozesshaft durch Schaffung von qualitativ Neuem
basierend auf interaktiven, offenen, iterativen, bi- und multidirektionalen Austauschprozessen,
vgl. [1, 13].
In den beiden URBs fanden bereits (Sommer 2016) die Erhebung der Anwenderanforderungen
statt und im 2. Halbjahr 2016 wird die Einbindung von Anwendern und Anwenderinnen fort-
gesetzt mit Partizipativen Design (PD) Aktivitäten in folgenden Gebieten: Erprobung und Ge-
staltung früher Prototypen für die Sprachsteuerung der Toilette, Partizipatives Design der auto-
matischen Erkennung von Anwenderpräferenzen hinsichtlich der individuellen Toilettenvor-
einstellung, Bestimmung der individuell bevorzugten Sitzhöhe (anhand eines mobilen Stuhles,
der über die Toilettenschüssel gestellt werden kann) und die dynamische Unterstützung beim
Niedersetzen und Aufstehen.
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4 Erste Ergebnisse und Diskussion
4.1 Erste Erfahrungen mit den User Research Bases
In den beiden User Research Bases (URBs) bei den zwei Testpartnern wurde den Nutzergrup-
pen das iToilet Konzept vorgestellt, es wurde nach ihren individuellen Problemen auf der Toi-
lette gefragt, nach ihren Ideen und Wünschen und nach ihrer Einschätzung der Relevanz der im
iToilet Projekt vorgesehenen Entwicklungen und Lösungen. Es konnte gezeigt werden, dass
sich die gesammelten Anwenderwünsche und die geschilderten konkreten Problemstellungen
und Problemlagen im Umkreis der Toilette gut mit dem im Projektplan vorgesehenen Konzept
decken.
Diese initiale Befragung mag trivial erscheinen, es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese
zusätzlich auch den initialen Auftakt für eine kontinuierliche Einbindung von Anwendern und
Anwenderinnen in die Entwicklungstätigkeit darstellt. Die rasche und eindeutige Abklärung,
dass das im Projektplan Vorgesehene weiterhin als praxisrelevant angesehen wird, ist auch eine
wichtige Absicherung aus Sicht der Projektkoordination. Schließlich ist die intensive Anwen-
dereinbindung auch mit entsprechendem Ressourceneinsatz verbunden. In manch anderen Pro-
jekten besteht die Tendenz, eher rasch mit der Entwicklung zu beginnen und erst (zu) spät zu
untersuchen, ob die Probleme der Anwender mit dem Projektergebnis auch gelöst sind. Ände-
rungen sind dann kaum mehr, oder nur mit hohem Aufwand, möglich.
Eine weitere Erfahrung betrifft den Erkenntnisfluss im Alltag der Forschungsaktivitäten. Dieser
Erkenntnisfluss mag in der Theorie zwischen allen Beteiligten im Projektkonsortium stattfin-
den. In der Praxis kommt es unserer Beobachtung nach jedoch auch zu Subprozessen oder zu
internen Prozessen, in denen nur ein Teil der Beteiligten eingebunden ist, und die dennoch von
großer Bedeutung sein können. Ein Beispiel wäre, dass durch das Einbringen von Demonstra-
toren und Prototypen im Rahmen des Partizipativen Designs (PD) die primären Anwender und
die sekundären Anwender bzw. die Pflegeexperten und medizinischen Experten gemeinsam
neue Ideen und Erfahrungen machen, die nicht gleich zu anderen (z.B. den Technikern) vor-
dringen. Oft finden auch mehrere solcher Subprozesse parallel statt. Hier ist es Aufgabe der
Koordination zu moderieren und sicherzustellen, dass neue Erkenntnisse soweit relevant mit
allen geteilt werden und außerdem auch der Gefahr, dass die Projektziele durch zu viel unter-
schiedlichen Anwenderinput verwischt werden, entgegengewirkt wird.
Wenngleich die PD Aktivitäten mit einem Mehraufwand verbunden sind, so macht sich dieser
unserer Überzeugung nach letztlich sehr bezahlt. Mithilfe von PD werden parallel zur Entwick-
lung die Anwender und Anwenderinnen schon miteinbezogen und ihr Feedback kann bereits in
den laufenden Entwicklungsprozess (nicht erst am Ende) einfließen. PD erhöht die Wahrschein-
lichkeit, dass letztlich etwas entwickelt und produziert wird, was die Menschen wirklich wollen,
also nützlich ist und auch auf einfache Art im Alltag verwendet werden kann.
4.2 Exkurs - Ein Feldtest einer anpassbaren Toilette in einem Vorprojekt
Mit einer motorisch höhenverstellbaren und neigbaren Toilette wurde bereits in einem Vorpro-
jekt [16] ein Feldtest in einem Multiple Sklerose (MS) Tageszentrum unternommen, um zu
untersuchen, ob die technisch implementierten Funktionen (motorisierte Verstellbarkeit der
Sitzhöhe und Neigung, Spülung, Schwesternruf, jeweils über Handsteuerung auslösbar) von
den Anwendern wirklich gewollt und tatsächlich verwendet werden. An der Erprobung nahmen
29 MS Patienten und 12 Betreuungspersonen über einen Zeitraum von 2 Monaten teil. Es fan-
den 316 (reale) Toilettensitzungen statt und es konnte gezeigt werden, dass das Toilettensystem
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die Sicherheit und die Autonomie aus der Perspektive der primären und sekundären Anwender
verbesserte und dass die Toilette sehr gut in der Alltagspraxis akzeptiert wurde [16]. Das Sys-
tem befindet sich auch nach Ende des Forschungsprojektes immer noch im Einsatz. Die Ergeb-
nisse des Feldtests flossen in ein finales Produkt ein, das erfolgreich auf den Markt gebracht
wurde [6].
4.3 Verwertungsperspektiven
Das Positionspapier „AAL Vision Österreich“ nennt als einen der Hemmfaktoren für die noch
mangelnde Verbreitung von AAL die Involvierung vieler unterschiedlicher Disziplinen in den
Entwicklungsprozess und die noch geringe Vernetzung von Marktteilnehmern und Interessens-
vertretern und, damit verbunden, die noch kaum sichtbaren Wertschöpfungsketten in AAL [17,
S. 31]. Durch die transdisziplinäre Zusammenarbeit in iToilet wird unserer Meinung nach ein
guter Rahmen geboten, um, wie es AAL Austria vorschlägt, Akteurinnen und Akteure in neuen
Kombinationen zusammenfinden zu lassen, gut zu vernetzen und gemeinsam neue Wertschöp-
fungsketten bilden zu lassen. Durch die Einbindung von tertiären Anwendern (Einrichtungen,
Diensteanbieter und Kostenträger) können neuartige Service Angebote gemeinsam mit attrak-
tiven Finanzierungsmodellen entwickelt werden. [17, S. 31].
5 Zusammenfassung
Das EU Projektkonsortium iToilet entwickelt IKT-basierte Zusatzmodule für vorhandene Toi-
letten, um das selbstständige und sichere Leben älterer Menschen zu Hause zu unterstützen.
Um die Relevanz der Lösung für die Anwender und Anwenderinnen sicherzustellen und um
den transdisziplinären Herausforderungen zu entsprechen, wurden folgende Maßnahmen im
Projektplan vorgesehen: a) Einbindung der späteren Anwender und Anwenderinnen in den User
Research Bases (URBs), die eine praxisnahe Struktur für die zu Projektbeginn startende und
dann laufende Einbindung der Anwender darstellen und eine wichtige Basis für transdiszipli-
näre Arbeit bilden, b) Partizipatives Design, also das aktive Mitgestalten des Designs und der
Entwicklung durch die späteren Anwender und Anwenderinnen sowie das Ausprobieren von
frühen Teilprototypen und Rückmelden von Feedback an die Technologiepartner noch während
die Entwicklung im Laufen ist, und c) Labortests und längere Feldtests im Alltagsumfeld der
beiden Testpartner in Budapest und Wien.
Vor allem die Mischung von transdisziplinärem Ansatz und partizipativen Design erscheint uns
als methodisch optimale Herangehensweise. In einem Vorprojekt mit einer höhenverstellbaren
Toilette in einem Tageszentrum konnte bereits gezeigt werden, dass die erfolgreiche Einbin-
dung von Anwendern als im Projekt aktiv teilnehmende Partner trotz des bestehenden Tabube-
reiches beim Thema Toilette und Intimhygiene möglich ist und zu einem akzeptierten markt-
tauglichen Produkt geführt hat.
6 Danksagung
Das Projekt iToilet wird durch das AAL Programm (AAL-2015-1-084) und durch nationale
Forschungsförderungen in Österreich, Ungarn, Italien und Slowenien teilgefördert. Projekt-
partner: TU Wien (Koordinator), Santis Kft., Smart Com d.o.o., Carecenter Software GmbH,
CS Caritas Socialis GmbH, Országos Orvosi Rehabilitációs Intézet, Synthema srl. Web:
http://itoilet-project.eu
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