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Eine ozielle Dreisprachigkeit, die indi-
viduelle Mehrsprachigkeit seiner Einwoh-
ner und der hohe Anteil an Ausländern
(45,9 %) kennzeichnen Luxemburg1.
Statistiken des Erziehungsministeriums
zeigen, dass 28,1 % der Vierjährigen
zweisprachig aufwachsen und 62,4 %
bei Schuleintritt kein Luxemburgisch zu
Hause sprechen2. Während das Wechseln
zwischen Sprachen innerhalb der Gesell-
schaft als natürlich oder gar als „Kunst,
welche die Luxemburger hervorragend be-
herrschen“ angesehen wird3, trennt man
die Sprachen oft streng in der Schule.
„Translanguaging“, der Einsatz des gesam-
ten sprachlichen Repertoires, kann aber
sowohl das Sprachenlernen als auch das
Lernen im Allgemeinen fördern. In die-
sem Artikel nutzen wir repräsentative Bei-
spiele aus einer Kindertagesstätte (kurz:
Kita) und einer Grundschulklasse, um
dies zu verbildlichen.
Spracherwerb, Mehrsprachigkeit und
Translanguaging
Kinder entwickeln Sprachen, indem sie
mit unterschiedlichen Menschen in be-
deutungsvollen, gesamtkörperlichen, ob-
jektgebundenen und kulturspezischen
Situationen interagieren. Sind Kinder
kognitiv und emotional in diese Dialoge
involviert, werden sie Aussagen imitieren
und transformieren, Hypothesen aufstel-
len und testen, Äußerungen analysieren
und über Sprache nachdenken. Erwach-
sene und ältere Kinder unterstützen den
Spracherwerb, indem sie viel mit kleinen
Kindern reden und sich dabei an ihren
kognitiven, sozialen und sprachlichen
Kompetenzen orientieren. Fachkräfte för-
dern die Sprachentwicklung, indem sie
Kindern interessiert zuhören, nachfragen,
Äußerungen ergänzen, Rückmeldung ge-
ben, oene Fragen stellen, Sprachanlässe
schaen und Geschichten vorlesen und
diskutieren4.
Mehrsprachige Kinder durchlaufen die
gleichen Etappen beim Spracherwerb wie
einsprachige Kinder und brauchen auch
ähnliche Unterstützung. Heute wissen
wir, dass sich ihre Sprachen in einem Re-
pertoire benden (d. h. nicht getrennt in
ihrem Kopf sind) und dass alle Sprachen
permanent aktivitert sind5. Dies erklärt,
wieso zweisprachige Personen mühelos
von einer Sprache in die andere wech-
seln können. Der dynamische Umgang
mit Sprachen ist ihr gelebter Alltag. Der
Begri „Translanguaging“ beschreibt den
Prozess, in dem Personen exibel und
strategisch auf ihr gesamtes sprachliches
und nicht-sprachliches Repertoire zurück-
greifen, um zu kommunizieren, Wissen
zu konstruieren, Verständnis zu erzeugen
und ihre sprachliche Identität auszudrück-
en. Somit geht „Translanguaging“ über
„code-switching“ (Sprachwechsel) hinaus.
Ausgangspunkt bei „Translanguaging“ ist
nämlich die kommunizierende Person mit
ihren vielfältigen Ressourcen. Wenn ein
18 Monate altes Kind, das Luxemburgisch
und Französisch sprechen lernt, auf den
Garten zeigt und „ech jardin“ sagt, be-
nutzt es Wörter aus seinem mehrsprachi-
gen Repertoire zuzüglich einer Geste, um
zu vermitteln, dass es in den Garten ge-
hen möchte. Ausgangspunkt beim „code-
switching“ sind hingegen die Sprachen
und die Art und Weise, wie sie gemischt
werden. In Bildungsinstitutionen werden
solche Mischungen oft negativ bewer-
tet. Es heißt dann, das Kind verwechsele
Wörter, mache Fehler oder, im schlimm-
sten Fall, es habe keine sprachlichen
Kompetenzen.
Translanguaging in einer Kita
Im folgenden Beispiel6 aus einer Kita be-
treut eine Erzieherin eine Gruppe von
Translanguaging
Claudine Kirsch und Simone Mortini
Claudine Kirsch lehrt und forscht in den Bereichen
Mehrsprachigkeit und Sprachendidaktik an der
Universität Luxemburg. Simone Mortini ist Lehrerin
und arbeitet als Doktorandin mit Kirsch am Projekt
„Developing multilingual pedagogies in early child-
hood“ (MuLiPEC).
Mehrsprachige Kinder durchlaufen
die gleichen Etappen beim
Spracherwerb wie einsprachige
Kinder und brauchen auch
ähnliche Unterstützung.
Sprachbildung September 2016
Eine innovative Lehr- und Lernstrategie
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3- bis 4-Jährigen mit unterschiedlichen
Familiensprachen. Die Kinder lernen
Sprachen mit- und voneinander. So ler-
nen luxemburgische Kinder sich zum Teil
auf Französisch auszudrücken und franzö-
sischsprachige auf Luxemburgisch.
Zu Beginn der Woche erzählte die Erzie-
herin den Kindern eine Geschichte. Die
Kleinen illustrierten diese und diktierten
der Fachkraft anschließend einen Text auf
Französisch. Die Erzieherin klebte die Bil-
der und den Text auf ein Poster. Ein paar
Tage später bat sie fünf Kinder die Ge-
schichte zu erzählen und lmte sie dabei.
Im folgenden Auszug liegt der Fokus auf
Lara und David (beide Luxemburger) und
Maria (Portugiesin).7
L: Den Af well de Mound huelen.
D: La tortue.
M: Non, la girafe.
Die Kinder benennen die einzelnen Tiere
auf dem Poster und wechseln dabei die
Sprache. Die Erzieherin (E) greift ein.
E: Wéi geet d’Geschicht dann?
M (zeigt auf den Fuchs): Eng Fuuss? (...)
E: Wéi geet eis Geschicht dann?
M: Fuuss, a klenge Maus. (...)
Die Kinder benennen die Tiere erneut
auf Luxemburgisch, Französisch und
Deutsch. Um die Handlung zu illustrie-
ren, zeigen sie auf die verschiedenen Bil-
der. Die Fachkraft fordert die Kinder ein
weiteres Mal zum Erzählen auf, wechselt
aber diesmal die Sprache.
E: Wat hunn se gemaach? Qu’est-ce qu’ils ont
fait?
M: Ils voulaient manger la lune. Mais
quand même, la petite souris, elle a rattrapé
en petits morceaux pour tous ses amis. Elle
voulait manger avec ses amis.
Das Beispiel zeigt, wie diese Dreijähri-
gen auf ihr sprachliches Repertoire und
Gesten zurückgrien, um die Geschichte
wiederzugeben. Maria hatte die narrativen
Kompetenzen und den Wortschatz in der
französischen Sprache. Ihr fehlte zu be-
nanntem Augenblick noch der Wortschatz
im Luxemburgischen. Dank „Translan-
guaging“ konnte sie ihr Verständnis der
Geschichte demonstrieren.
Die Rolle der Fachkräfte in
mehrsprachigen Kontexten
Orfelia García erklärt die Rollen der
Fachkräfte im Umgang mit Mehrspra-
chigkeit in Bildungsinstitutionen8. Zum
einen beobachten sie als „Detektive“ die
Kinder bei unterschiedlichen Tätigkeiten.
Bei der Beschreibung (und Wertung) der
kindlichen Kompetenzen müssen sie zwi-
schen generellen und sprachspezischen
Kompetenzen unterscheiden. Im vorigen
Beispiel erkennt die Erzieherin die Moti-
vation und die generellen Kompetenzen
der Kinder, merkt aber auch, dass es ih-
nen nicht gelingt, die Geschichte auf Lu-
xemburgisch zu erzählen. Zum anderen
sind Erzieher „Architekten“. Sie müssen
eine Umgebung schaen, in der die Spra-
chen und Kulturen der Kinder Raum ha-
ben, in der es mehrsprachige Materialien
gibt, Kinder zusammenarbeiten und sich
multimodal in einem für sie bedeutungs-
vollen Kontext ausdrücken können. Im
genannten Beispiel interagieren die Kin-
der und stützen sich auf authentisches
Material. Schlussendlich sollen Fach-
kräfte „Lifeguards“ (Rettunsgschwim-
mer) und „Transformers“ sein, die den
Kindern „translanguaging spaces“ und
„translanguaging rings“ anbieten. In un-
serem Beispiel versuchen die Kinder auf
Luxemburgisch zu erzählen und nutzen
die Gelegenheit, ihr ganzes Repertoire
einzusetzen. Nachdem sie nicht weiterer-
zählen können, wirft die Erzieherin ihnen
einen Rettungsring zu. Ihre französische
Frage ermutigt Maria, sich auf Französisch
auszudrücken und nun sprudelt die Ge-
schichte aus ihr heraus. Räume und Ringe
für „Translanguaging“ gibt es sowohl in
Institutionen der frühkindlichen Bildung
als in der Grundschule.
Translanguaging in einer Klasse des
Cycle 3.1
Die folgenden Situationen zeigen, wie
Kinder aus der Klasse von Mortini Por-
tugiesisch, Luxemburgisch und Deutsch
zum Verständnis, zur Konstruktion von
Wissen und zur Kommunikation nutzen.
Das erste Beispiel9 stammt aus dem Ma-
thematikunterricht, dessen Bildungsspra-
che Deutsch ist. Die Schüler arbeiten in-
dividuell an Rechenaufgaben, dürfen sich
aber untereinander in der Sprache ihrer
Wahl austauschen. Der Auszug stammt
aus einem Gespräch zwischen der Lehre-
rin (L) und zwei portugiesischen Schüle-
rinnen, Ana und Isa.
L: Ech hat iech héiere portugisesch
schwätzen?
A: D’Isa hat net verstane wéi den Exercice
geet. Du hunn ech him erkläert.
L: Has du et du verstanen Isa?
I: Jo direkt.
L: Duerch d’Portugisescht.
I: Jo mär erklären eis et ëmmer op portugi-
sesch wa mär eppes net verstinn.
L: Ëmmer just dat wat op däitsch do steet?
Also wéi den Exercice geet.
A: Nee, och wéi mär et ausrechnen a wa mär
zesumme verbesseren.
L: Ëmmer op portugisesch?
A: Nee, och mol op lëtzebuergesch.
Um die deutschen Angaben zu verstehen
und die Aufgaben zu lösen, arbeiten die
Mädchen zusammen und nutzen dabei
verschiedene Sprachen. Dies ist möglich,
weil die Lehrerin als „Architektin“ ihnen
einen Raum zum „translanguaging“ an-
bietet. Das folgende Beispiel illustriert
den Einsatz eines „Rettungsrings“. Ein
portugiesischer Schüler versteht den Be-
gri „Dierenz“ in der Aufgabe „Rechne
die Dierenz zwischen Zahlen“ nicht. Um
dem Jungen zu helfen, fordert Mortini ihn
auf, an ähnliche Wörter in anderen Spra-
chen zu denken. Er kommt auf diferente
(„anders“ in Portugiesisch), schlussfolgert,
dass es sich um die Dierenz von Zahlen
handelt, und erkennt, dass er subtrahieren
muss.
Auch im Sach- oder Sprachenunterricht
können Kinder „translanguagen“. Wäh-
rend des Lesens eines luxemburgischen
Buches nutzen die Kinder ihr gesamtes
Repertoire, um das Wort Sommersprossen
zu verstehen. An folgendem Gespräch10
beteiligen sich Marc (Luxemburgisch),
Enes (Serbokroatisch) sowie Tino, Ana,
Jana, Rita und Vany (alle Portugiesisch).
In Bildungsinstitutionen werden
solche Mischungen oft negativ
bewertet. Es heißt dann, das Kind
verwechsele Wörter, mache Fehler (...)
forum 365 Dossier
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L: Wat ass dat Speechelen?
M: Sommersprossen!
L: Jo, an aus wat r enger Sprooch kënnt
dat?
E: Aus dem Däitschen.
L: Majo, an op Lëtzebuergesch kann een och
Speechele soen.
J, R und V schauen sich fragend an, verste-
hen noch nicht was „Speechelen“ bedeutet.
A (tippt sich mit dem Finger auf ihre
Nase): Sardinhas.
T: Ma nee, et huet dach keng Sardinnen op
der Nues!
Einige Kinder lachen.
A: Dach dat seet een sou.
A wendet sich J, R und V zu und redet auf
Portugiesisch, um die Situation zu klären.
J: Ah, elo hunn ech verstanen. Sou wéi s du
och op der Nues hues Joer. Mä dat nennt
een awer net sardinhas.
Die Sprachoenheit der Lehrerin ermutigt
Marc an die deutsche Sprache zu denken
und Ana, das Wort auf Portugiesisch zu
benennen. Als Illustration zeigt sie außer-
dem auf ihre Nase. Verunsichert durch Ti-
nos Sprachvergleich (sardinhas – Sardinen)
entscheidet sie, ihren Mitschülerinnen ihre
Erklärung auf Portugiesisch mitzuteilen.
Schlussendlich verstehen die Mädchen das
Wort und sie selbst erkennt, dass sie ein an-
deres portugiesisches Wort als ihre Freun-
dinnen benutzt. Korrekt heißt es „sardas“.
Dieser gezielte Vergleich zwischen den
Sprachen fördert das Sprachenlernen und
das metalinguistische Bewusstsein.
„Translanguaging“ als Lehr- und
Lernstrategie
„Translanguaging“ ist sowohl eine Lern-
strategie, die mehrsprachige Kinder zur
Kommunikation und zur Konstruktion
von Wissen nutzen, als auch eine Lehr-
strategie, auf die Fachkräfte zurückgreifen,
um „translanguaging spaces“ und „trans-
languanging rings“ nach Bedarf anzubie-
ten. Kinder müssen lernen, sich korrekt in
den Schulsprachen auszudrücken und in
diesen Augenblicken ihre Familiensprache
zu unterdrücken. Kinder sollen aber auch
Räume haben, in denen sie ihr gesamtes
Repertoire beim und zum Lernen einset-
zen können. „Translanguaging“ kann ein
Weg zur Entwicklung der sprachlichen
Kompetenz sein. Da es oft falsch verstan-
den wird, etwa als ein buntes, zielloses
Mischen von Sprachen, sind Forschungs-
projekte und Weiterbildungen nötig, um
das Konzept zu klären und es in Bezie-
hung mit einer inklusiven, mehrsprachi-
gen und sozio-konstruktivistischen Päd-
agogik zu setzen. u
1 Statistical Office of the European Union-Eurostat,
„Migration and migrant population statistics”, 2016,
unter: http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explai-
ned/index.php/Migration_and_migrant_population_
statistics (Stand 19.07.16).
2 MENJE, Statistiques globales et Analyse des Résul-
tats Scolaires – Enseignement Fondamental – 2014-
2015, 2016, unter: http://www.men.public.lu/cata-
logue-publications/themes-transversaux/statistiques-
analyses/enseignement-chiffres/2014-2015-depliant/
en.pdf (Stand 19.07.16).
3 MEN, „Apropos Sprachen in Luxemburg”, 2008,
unter: http://www.luxembourg.public.lu/de/
publications/i/ap-langues/ap-langues-2008-DE.pdf
4 Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fach-
kräfte, „Sprachliche Bildung. Grundlagen für die kom-
petenzorientierte Weiterbildung“ in: WIFF (Hrsg.),
WiFF Wegweiser Weiterbildung Nr. 1, Verlag Deut-
sches Jugendinstitut, 2011.
5 Ofelia García, Li Wei, Translanguaging: Language,
Bilingualism and Education, New York, Palgrave Mac-
millan, 2014.
6 Dieses Beispiel wurde im Juni 2016 in einer Fortbil-
dung gefilmt, die im Rahmen des Forschungsprojekts
Developing multilingual pedagogies in early childhood
(MuLiPEC) stattfand. Letzteres wird von Kirsch an der
Universität Luxemburg geleitet.
7 Die Namen wurden geändert. In den Auszügen
werden die Anfangsbuchstaben benutzt.
8 Ofelia García, Argyoro Panagiotopoulou und Clau-
dine Kirsch, Translanguaging as a motor for the deve-
lopment of oral skills in early childhood, Scientific Con-
ference, Luxembourg, 2016.
9 Die Aufnahme wurde im Juli 2016 von Mortini
festgehalten.
10 Das Gespräch fand im Juli 2016 statt.
Sprachbildung September 2016