Im September 1803 schrieb Hölderlin in einem Brief an den Verleger seiner Sophokles-Übersetzungen: „Ich hoffe, die griechische Kunst […] dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere“ (Nr. 241, 28. 9. 1803, StA VI, 434). Welchen „Kunstfehler“ begingen die Griechen,
... [Show full abstract] und wie kann eine Übersetzung griechischer Tragödien ihn verbessern? Das Verhältnis zur griechischen Antike, in dessen Rahmen Hölderlin seine Aufgaben als Dichter und als Übersetzer begriff, hilft jener berühmte Brief klären, den er zwei Jahre zuvor an Böhlendorff schrieb (Nr. 236, 4. 12. 1801, StA VI, 425–428). Hier entwickelt Hölderlin in wenigen Worten die Grundzüge einer geschichtsphilosophisch begründeten Poetik, der seine Dichtung ebenso wie seine Übersetzungen folgen. Beide sollen eine Differenz zwischen Antike und Moderne ausgleichen, die Hölderlin als einen jeweils charakteristischen Gegensatz zwischen der Kunst und der Natur in der Antike wie in der Moderne denkt. Aus dieser Differenz in ihrem jeweiligen Selbstverhältnis entsteht ein komplementäres Verhältnis zwischen beiden Kulturen.1 Denn dem „heiligen Pathos“, dem „Feuer vom Himmel“, das den Griechen „angeboren“ und „natürlich“ ist, steht die nüchterne „Geistesgegenwart“ und klare „Darstellungsgaabe“ ihrer Kunst gegenüber.