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"Dark Ages" nach dem Ende der Eiszeit: Warum wir mehr über die Mittelsteinzeit wissen wollen

Authors:

Abstract

Mesolithic Studies have always played a less pronounced role in German prehistory. Wrongly so: It w a s during this period that all geographica! regions were settled by human beings for the very first time; at a regional level the natural environment called for, and made possible, new subsistence strategies which led to technological and social innovations and, ultimately, to new forms of economy; substantial intrusions in the natural Vegetation opened landscapes to the needs of new life styles; the archaeological sources for the mesolithic period are numerous and there are thousands of Sites which could be considered in scientic investigations focusing on a variety of themes; in contrast to the preceeding palaeolithic periods and the following neolithic, a large number of wetland Sites can be expected in most regions of Germany with exceptionally well preserved organic artifacts. The high potential of known sources, which take the f o r m of material f r o m surveyed surface Sites and older excavations, has only been considered sporadically. A large number of landscapes still belong to a mesolithic noman's land. The absolute chronology of this period is based on only a handful of Sites which, with the exception of a very few Sites in northern Germany, are poorly dated. This article is to be regarded as a plea for the development of common investigation strategies within a functional archaeological network, in which amateurs, the State Offices for the protection of historic monuments , universities and museums alike can all contribute to the comprehensiveinvestigation of the mesolithic period in the future.
Die Mittelsteinzeit ist die am schlechtesten erforschte
steinzeitliche Periode in Deutschland, obwohl das
Quellenpotential sehr umfangreich und in vielerlei
Hinsicht facettenreicher ist als das der anderen Epo-
chen. Die allgemein vermittelten Informationen beru-
hen auf nur wenigen harten Fakten, wie im vorstehen-
den Artikel zum Stand der Mittelsteinzeit-Forschung
skizziert wurde.
Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse möchte
ich in meinem Beitrag vor allem die Möglichkeiten
der bisher ungenutzten Quellen aufzeigen und für eine
zielgerichtete Forschungsstrategie plädieren, die uns
mit vereinten Kräften in nur wenigen Jahren aus dieser
als desolat zu bezeichnenden Situation herausführen
könnte.
Von der Nichtexistenz zur Transformation. Erst etwa
50 Jahre nachdem die Existenz einer paläolithischen
und einer neolithischen Periode längst akzeptiert war,
konnte auch die Zeit zwischen diesen so unterschied-
lich erscheinenden Epochen zu Beginn des 20.
Jahrhunderts in archäologischen Funden erkannt wer-
den. Als “Zwischenzeit” wurde diese Periode also fol-
gerichtig Mittelsteinzeit genannt. Es hat zwar eine ge-
wisse Berechtigung diesen Horizont als Epilog der
Altsteinzeit und als Transformationsphase zwischen
Paläo- und Neolithikum aufzufassen, aber bei dieser
Sichtweise gesteht man der mittleren Steinzeit keinen
eigenständigen Charakter zu. Die kulturellen Ent-
wicklungen dieser je nach Lesart immerhin etwa
4000-5000 Jahre dauernden Periode sind so nur un-
deutlich zu erkennen. Gerade im diachronen Vergleich
offenbaren sich aber erst die tiefgreifenden ge-
sellschaftlichen Veränderungen, die seit dem Beginn
des Holozäns eingesetzt und den weiteren Fortgang
der Geschichte maßgeblich beeinflußt haben.
Klischee. Auch in den begleitenden Beiträgen der Ka-
taloge, die zur der uns hier besonders interessierenden
Ausstellung “Menschen – Zeiten – Räume. Archäo-
“Dark Ages” nach dem Ende der Eiszeit:
Warum wir mehr über die Mittelsteinzeit wissen wollen1
Birgit Gehlen
Zusammenfassung – Bisher spielt die Mittelsteinzeit-Forschung in der deutschen Urgeschichte eine untergeordnete Rolle. Zu Unrecht:
In dieser Zeit werden zum ersten Mal alle geographischen Räume von den Menschen besiedelt; die natürliche Umwelt hat regional
jeweils neue, angepaßte Subsistenzstrategien verlangt und ermöglicht, was zu technischen und sozialen Innovationen geführt hat,
wodurch letztendlich erst die Einführung neuer Wirtschaftsformen befördert werden konnte; durch substanzielle Eingriffe in die Vegetation
ist Landschaft für neue Lebensbedürfnisse nutzbar gemacht worden; die archäologischen Quellen zur Mittelsteinzeit sind facettenreich
und tausende Fundstellen stehen für wissenschaftliche Untersuchungen für verschiedene Fragestellungen zur Verfügung; anders als für
das vorausgehende Paläolithikum und das folgende Neolithikum sind Siedlungsplätze im Feuchtbodenmilieu mit ausgezeichneten
Erhaltungsbedingungen für organische Materialien in den meisten Regionen Deutschlands zu erwarten.
Das Potential der derzeit bekannten Quellen in Form von Materialien aus Oberflächenfundstellen und Altgrabungen wird bisher nur
sporadisch genutzt, ganze Regionen sind in Bezug auf die Mittelsteinzeit derzeit unbekannte Landschaften. Die absolute Chronologie
dieser Periode stützt sich auf nur wenige Fundstellen, die – von einigen Ausnahmen in Norddeutschland abgesehen – nur als schlecht
datiert bezeichnet werden können. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für die Entwicklung gemeinsamer Forschungsstrategien in einem funk-
tionierenden archäologischen Netzwerk, in dem Laien, Bodendenkmalpflege, Universitäten und Museen an verschiedenen Knoten-
punkten zukünftig ihren Beitrag zur umfassenden Erforschung der Mittelsteinzeit leisten könnten.
Schlüsselwörter – Mesolithikum, Forschungsstand, archäologische Quellen, Forschungslücken, Fragestellungen,
Forschungsstrategien, Netzwerk Mittelsteinzeit.
Abstract – Mesolithic Studies have always played a less pronounced role in German prehistory. Wrongly so: It was during this period
that all geographical regions were settled by human beings for the very first time; at a regional level the natural environment called for,
and made possible, new subsistence strategies which led to technological and social innovations and, ultimately, to new forms of eco-
nomy; substantial intrusions in the natural vegetation opened landscapes to the needs of new life styles; the archaeological sources for
the mesolithic period are numerous and there are thousands of sites which could be considered in scientic investigations focusing on a
variety of themes; in contrast to the preceeding palaeolithic periods and the following neolithic, a large number of wet-land sites can be
expected in most regions of Gemany with exceptionally well preserved organic artifacts.
The high potential of known sources, which take the form of material from surveyed surface sites and older excavations, has only been
considered sporadically. A large number of landscapes still belong to a mesolithic no-man´s land. The absolute chronology of this period
is based on only a handful of sites which, with the exception of a very few sites in northern Germany, are poorly dated. This article is to
be regarded as a plea for the development of common investigation strategies within a functional archaeological network, in which ama-
teurs, the state offices for the protection of historic monuments, universities and museums alike can all contribute to the comprehensive
investigation of the mesolithic period in the future.
Keywords – Mesolithic, state of research, archaeological sources, research gaps, research strategies, mesolithic network.
Archäologische Informationen 26/1, 2003, 63-70
aktuell: Deutsche Archäologie heute – vom Blick zurück nach vorn
logie in Deutschland” erschienen sind, spielt der allge-
mein gerne verwendete Topos Mesolithikum = “Leben
im Wald” eine große Rolle. Dieses größte Klischee in
Bezug auf die Mittelsteinzeit impliziert eine ganze
Menge an Assoziationen, deren Richtigkeit überwie-
gend nicht nachgewiesen werden kann. Selbst ein kur-
zer Überblick über verschiedene bewaldete Land-
schaften im heutigen Deutschland zeigt schon, daß das
“Leben im Wald” während der Mittelsteinzeit wohl je
nach geographischer Region, je nach topographischer
Situation und je nach Klimazone sehr unterschiedlich
gewesen sein muß. Wir dürfen außerdem davon aus-
gehen, daß es auch ein Leben außerhalb des Waldes
gegeben hat, wie neuere pollenanalytische Untersu-
chungen zeigen. Eine regionale Differenzierung muß
unbedingt zur Grundlage jedweder Mittelsteinzeit-
forschung gemacht werden, wenn wir herausfinden
wollen, unter welchen Umständen die Menschen die-
ser Zeit gelebt haben und warum bestimmte gesell-
schaftliche Prozesse zu erkennen sind.
Chronologien. Die zweite Grundlage jeglicher archäo-
logischer Forschung muß ein fundiertes chronologi-
sches Gerüst sein. Obwohl die Aufstellung eines sol-
chen jahrzehntelang den Schwerpunkt fast sämtlicher
Forschungen bildete, so können wir derzeit nur für
wenige Regionen eine grob abgesicherte absolute
Chronologie für die Mittelsteinzeit aufzeigen. Zahl-
reiche 14C-Datierungen sind für heutige Fragestel-
lungen unbrauchbar, da die Proben zu wenig quellen-
kritisch entnommen wurden. Ganze Großregionen
blieben bis heute ohne ein einziges absolutes Datum.
Probleme bereitet uns darüber hinaus die Paral-
lelisierung regional gültiger relativer Chronologien,
die vegetationsgeschichtlichen Untersuchungen beru-
hen.
Der unterschiedliche Forschungsstand und auch
die verschiedenen persönlichen Forschungsinteressen
einzelner Protagonisten ist verantwortlich dafür, daß
die meisten der früher verwendeten Kulturbegriffe
weitgehend nur noch forschungsgeschichtliche Be-
deutung haben. Die Erkenntnis, daß es zwar eine all-
gemein kontinuierliche kulturelle Entwicklung gege-
ben hat, aber daß die für uns sichtbaren Kultur-
äußerungen regional durchaus unterschiedlichen Cha-
rakter haben, macht es für in Schubladen denkenden
ArchäologInnen schwierig, den Überblick zu erhalten.
Dies führt dazu, daß man sich gerne auf das eigene
geographisch deutlich umgrenzte Forschungsgebiet
beschränkt und Erkenntnisse der KollegInnen aus
anderen Regionen, vor allem aus dem nicht Deutsch
sprechenden Ausland nicht oder nur sehr zögerlich zur
Kenntnis nimmt.
Zweifellos ist die Mittelsteinzeit, die irgendwann
am Ende der letzten Eiszeit beginnt, eine Periode mit
einer zwar kontinuierlichen, aber von deutlichen
Schwankungen gekennzeichneten Klimaentwicklung.
Diese Großwetterlagen haben sich selbstverständlich
regional unterschiedlich ausgewirkt. Bis heute können
wir nur ahnen, ob und inwieweit sich diese im Laufe
der Zeit auf die Lebensumstände der Menschen und
damit auf die kulturellen Prozesse ausgewirkt hat.
Modell Mittelsteinzeit. Auf Grundlage regionaler und
chronologischer Studien lassen sich verschiedene
Themenkomplexe bearbeiten, die auch heute noch
menschliches Leben bestimmen.
Erst seit der Mittelsteinzeit konnte der Mensch alle
ökologischen Räume bewohnen und nutzen. Die große
zeitliche Tiefe und die unterschiedlichen geographi-
schen Zonen lassen keinen Zweifel daran, daß wir es
bei den archäologischen Relikten der Mittelsteinzeit
mit Hinterlassenschaften unterschiedlicher sozialer
Gruppen zu tun haben. Diese zu identifzieren und zu
beschreiben ist nur im diachronen Vergleich verschie-
denster Kulturäußerungen zu erreichen. Vom Beu-
ronien in Süddeutschland abgesehen, ist keine der
älteren Kulturgruppenbezeichnungen, die im wesentli-
chen anhand der Steingerätinventare formuliert wur-
den, mehr in der Forschung akzeptiert. Dies ist sicher
zu Recht so geschehen. Auch der Begriff Beuronien,
den Wolfgang Taute noch für das Frühmesolithikum in
ganz Süddeutschland verwendete, müßte mit neuen
Inhalten gefüllt werden. Anhand der Mikrolithenfor-
men, dem Stil der Rohmaterialbehandlung (Tempern
oder nicht Tempern), den bevorzugen Rohstoffen, der
Herstellungstechniken und Verwendung von Stein-,
Knochen- und Geweihartefakten, Schmuckgegen-
ständen, Bestattungsformen und anderem mehr, wür-
den sich wahrscheinlich neue Kriterien für die Iden-
tifizierung sozialer Gruppen ergeben. Hier ist noch
eine Menge Forschungsbedarf.
Es ist unzweifelhaft, daß die mesolithischen Men-
schen innovativ gewesen sind. Nicht nur das Er-
schließen neuer Landschaften und die Entwicklung
neuer Jagdmethoden, auch die Aufnahme neuer hand-
werklicher Techniken und Ernährungsstrategien sind
Beweise dafür. Es deutet sich gleichfalls an, daß Neue-
rungen nicht überall und zur gleichen Zeit aufgegrif-
fen worden sind. Die Gründe für Stagnation, also für
konservatives Verhalten bestimmter Bevölkerungen,
kann man erst erforschen, wenn man diese mit archäo-
logischen Methoden erkennen kann. Da die
Beschäftigungen mit Innovationen interessanter er-
scheint, sind solche Überlegungen bisher nicht getätigt
worden.
Die Abhängigkeit der mittelsteinzeitlichen Men-
schen von der natürlichen Umwelt wird immer wieder
betont. Positiv ausgedrückt haben sich die Menschen
flexibel den verändernden Umweltbedingungen ange-
Birgit Gehlen
64
aktuell
paßt. Es mehren sich aber die Anzeichen dafür, daß sie
schon in der Mittelsteinzeit Einfluß auf die Gestalt
ihrer natürlichem Umwelt genommen haben. Insbe-
sondere das Boreal mit seinen unnatürlich erscheinen-
den großen Haselbeständen und lokalen Hinweisen
auf Brandhorizonte, wird seit längerem von Botani-
kern als von Menschen verursacht diskutiert. Human
impact ist hier das Stichwort. Wir müssen verstärkt
darüber nachdenken, wie sich die Manipulation der
Umwelt auch im archäologischen Artefaktmaterial
spiegeln könnte.
Daß man Steinartefakte unabhängig von der geo-
graphischen Region als mesolithisch erkennen kann,
spricht für weitreichende Kommunikationsnetze der
Bevölkerungen dieser Zeit über unterschiedliche
Landschaftsräume hinweg. Diese allgemein erkennba-
ren Ähnlichkeiten bedürfen aber der regionalen
Differenzierung, um einzelne soziale Gruppen oder
zumindest Traditionsräume zu erkennen und zu ver-
stehen, wer mit wem in welcher Intensität kommuni-
ziert hat und wo sich möglicherweise soziale Grenzen
erkennen lassen. Daß Kommunikation innerhalb von
Gruppen oder zwischen Gruppen nicht immer möglich
gewesen ist, dafür sprechen beispielsweise die an den
südwestdeutschen Kopfbestattungen erkennbare Ge-
waltanwendung.
Dies sind nur einige wenige Ansätze zu konkreten
Fragestellungen, die wir entwickeln müssen, wenn wir
verstehen wollen, wie das wirkliche Leben der Men-
schen der mittleren Steinzeit ausgesehen hat und wenn
wir erzählbare Geschichte daraus machen wollen.
La mode de vie: Quellenpotential. Zu den großen Kli-
schees über die Mittelsteinzeit gehört die Annahme,
daß sich die Menschen überwiegend von der Jagd auf
Rothirsch, Wildschwein und Reh ernährt haben und
ihr gesamtes Leben darauf ausgerichtet gewesen ist.
Bisher gibt es nur wenig ausgewertete Fauneninven-
tare, die zudem noch aus sehr unterschiedlichen geo-
graphischen Räumen und aus verschiedenen mittel-
steinzeitlichen Phasen stammen. Auch wenn anzuneh-
men ist, daß die holozäne mitteleuropäische Groß-
fauna eine wichtige Rolle bei der Ernährung gespielt
hat, können wir deren Anteil daran anhand der bisher
publizierten Daten kaum abschätzen. Darüber hinaus
werden Studien zum Verhalten des Wildes und der von
ihnen genutzten Biotope bisher nicht in archäologi-
sche Interpretationen einbezogen, obwohl dieses einen
enormen Einfluß auf die Lebensweise der Menschen
gehabt haben muß – vor allem, wenn sie sich tatsäch-
lich schwerpunktmäßig von den Großsäugern ernährt
haben sollten. Biotoprekonstruktion wurden bisher
selten versucht, über Jagdstrategien oder Ernäh-
rungspotential in Form z.B. von Kalorienberechnun-
gen gibt es bisher kaum Studien. Lediglich die Aufent-
haltssaison wird hier und da über die Bestimmung der
Faunenreste versucht.
Wurde schon wenig über die Großsäugerfauna ge-
forscht, so sind die Untersuchungen zu den Nahrungs-
quellen Fische und Vögel noch seltener. Dies hat
sicher auch mit den meist schlechten Erhaltungsbe-
dingungen zu tun. Um so wichtiger ist es, diese Fau-
nenreste bei Grabungen zu bekommen. Sind die Er-
haltungsbedingungen günstig, so erfährt man nicht nur
eine ganze Menge über die Ernährungsweise, sondern
auch über Biotope, saisonale Aktivitäten und Roh-
stoffe, die aus diesen Tieren gewonnen werden kön-
nen. Gerade für Frage nach der Mobilität der mesoli-
thischen Bevölkerungen ist die Identifikation fischrei-
cher Standorte, und Informationen über Laich-
verhalten und Wanderungen von größter Wichtigkeit.
Fischgewässer und Brutkolonien von Zugvögeln
haben saisonal sichere Nahrungsquellen geboten und
sind damit wichtige Faktoren im Leben der Menschen
gewesen.
Der Rothirsch kann sicher als die optimale tieri-
sche Nahrungsquelle des Frühholozäns gelten. Er hat
aber nicht nur als Nahrung, sondern auch als Roh-
stofflieferant eine große Bedeutung gehabt. Nicht um-
sonst ist er tatsächlich nach Aussage der bisherigen
Informationen das bevorzugte Jagdwild gewesen. Die-
se optimale tierische Ressource mag ein Grund dafür
sein, daß die Domestikation von Nahrungstieren spä-
ter erfolgt ist als der Anbau von Nutzpflanzen, wie die
pollenanalytischen Ergebnisse aus dem Schweizer
Mittelland im Kontext des europäischen Spätmeso-
lithikums nahelegen. Tierische Rohstoffquellen wur-
den bisher bei der Rekonstruktion von Lebensbildern
mittelsteinzeitlicher Bevölkerungen kaum berücksich-
tigt.
Seit einigen Jahren sind auch aus den deutschen
Alpen und Westösterreich mesolithische Fundstellen
bekannt. Einige davon liegen in größeren Höhen deut-
lich oberhalb der derzeitigen Baumgrenze. Solche
Regionen sind auch heute noch Steinbock-Reviere.
Der Steinbock gehört vor allem wegen seiner hervor-
ragenden Sehkraft und seiner Beweglichkeit im felsi-
gen Gelände als besonders schwer zu jagendes Tier.
Ökonomische Gründe können nicht primär für die
Jagd auf den Steinbock herangezogen werden, da der
Energieverbrauch bei der Jagdpartie deutlich höher
gewesen ist als der Gewinn durch die potentielle
Nahrungsressource. Hier müssen ganz andere Gründe
wie z.B. Prestige und/oder Kult eine Rolle gespielt
haben. Die Landschaft und ihre Komponenten sind
Teile komplexer Lebenskonzepte gewesen, über die
wir derzeit nur spekulieren könnten.
Es wird von niemand bezweifelt, daß Pflanzen als
Rohstoffquelle für die mittelsteinzeitlichen Menschen
von größter Bedeutung gewesen sind, obwohl gute
“Dark Ages” nach dem Ende der Eiszeit
65 aktuell
Erhaltungsbedingen für Objekte aus Holz, Rinde und
Fasern extrem selten sind. Über die Bedeutung, die
Pflanzen bei der Ernährung und als Heilmittel gehabt
haben müssen, spricht aber derzeit noch kaum jemand.
Bisher gelten nur Haselnüsse als allgemein anerkann-
tes mesolithisches Nahrungsmittel. Obwohl die
Haselnuß ein besonders wertvolles Lebensmittel ist,
ist es doch mehr als wahrscheinlich, daß eine Vielzahl
anderer Pflanzen ebenfalls genutzt worden ist. Bota-
nische Makroreste von anderen Nuß- und Frucht-
bäumen, Beerenfrüchten oder Blütenpflanzen sind bis-
her kaum bekannt – selbstverständlich auch deshalb,
weil nicht mit den richtigen Methoden danach gesucht
wurde. Auch Pollenanalysen, die zumindest einen
Hinweis auf die Pflanzenvielfalt im Umfeld mesolithi-
scher Fundstellen geben könnten, wurden bisher kaum
in Hinblick auf die potentiellen Nutzpflanzen unter-
sucht. Hier ist ein enormer Forschungsbedarf. Wollen
wir eine differenzierte Vorstellung von der Ernährung
der Menschen und ihren Umgang mit den Ressourcen
der natürlichen Umwelt erhalten, müssen wir in Zu-
kunft besonderen Wert auf botanische Untersuchun-
gen legen, denn es ist mehr als wahrscheinlich, daß
pflanzliche Nahrung eine weitaus größere Rolle ge-
spielt hat, als wir bisher annehmen.
Kaum etwas wissen wir über die Menschen des
Mesolithikums selber. Insgesamt sind bisher 15 siche-
re Bestattungsplätze bzw. Stellen mit umfangreicheren
Menschenresten aus ganz Deutschland registriert.
Einige davon wurden erst in den letzten Jahren durch
AMS-Datierungen von Altfunden bekannt. Die weni-
gen Gräber zeigen sehr unterschiedliche Bestattungs-
sitten. Es ist völlig klar, daß wir in Zukunft weiter
nach mesolithischen Menschenresten – gerade in alt-
gegrabenen Fundmaterialien – suchen müssen. Die
vorhandenen Materialien müssen weiteren Untersu-
chungen unterzogen werden (Isotopenanalyse, Spu-
renelementanalyse), die Aussagen über Herkunft und
Ernährungsweise der Menschen zulassen.
99,99% aller mesolithischen Funde machen Steinarte-
fakte aus. Bisher beschäftigt sich die archäologische
Forschung nahezu ausschließlich damit. Falls jemand
dies nach dem bisher Gelesenen als forschungshinder-
lich ansieht, liegt er/sie völlig falsch: Steinartefakte
sind schier unerschöpfliche Informationsquellen zur
Rekonstruktion menschlichen Verhaltens, die bei wei-
tem noch nicht ausgeschöpft sind. Bei unserer Un-
tersuchung im Wintersemester 2002/ 2003 (siehe vor-
angehenden Aufsatz) mußten wir feststellen, daß häu-
fig nicht einmal die Gesamtzahlen für Inventargrößen
zu finden, geschweige denn Angaben zu den Grund-
formen und Werkzeugtypen vorhanden sind. Ganz
problematisch scheint es zu sein, Inventare nach un-
terscheidbaren Rohmaterialien zu sortieren, obwohl
mittlerweile bekannt sein müßte, daß dieses die wich-
tigste Grundlage für weitere Untersuchungen zu
Aktivitäten auf dem Fundplatz und zur Nutzung des
geographischen Umfeldes ist. Es gibt aus den letzten
Jahren einige hochinteressante Studien aus Baden-
Württemberg und Bayern, die ich der Leserschaft zur
weiteren Vertiefung aktivitätspezifischer Fragestel-
lungen nahe lege (Zitate im vorangehenden Aufsatz).
Mikrogebrauchsspuren-Analysen an Steinartefak-
ten, die Hinweise auf ihre tatsächliche Funktion und
ihre Handhabung geben, sind bisher nur in Aus-
nahmefällen durchgeführt worden. Hier wird ein enor-
mes Informationspotential aus Kostengründen völlig
ignoriert.
Weitere Ansätze zur Differzierung sozialer Grup-
pen einerseits und zur Charakterisierung von Tradi-
tionsräumen andererseits sind stilistische Untersu-
chungen an Bewehrungen sowie Konzeptanalysen und
die Identifizierung bestimmter Schlagtechniken an
Kernsteinen und Zielprodukten. Auf spezifische Fra-
gestellungen ausgerichtete merkmalanalytische Unter-
suchungen und diachrone Vergleiche werden hier wei-
tere Erkenntnisse bringen.
Stein-Rohmaterialien stammen aus lokal veranker-
ten natürlichen Quellen oder Quellenregionen. Kann
man die Artefakte steinzeitlicher Inventare solchen
Quellen/Regionen zuweisen, was idealerweise mit
naturwissenschaftlichen Methoden geschehen sollte,
so hat man einen Punkt oder eine begrenzte Region, zu
der ein Siedlungsplatz in Bezug gesetzt werden kann.
Bewegungen von Menschen zwischen zwei Punkten
oder Räumen werden sichtbar. Ihren Charakter kann
man beschreiben und interpretieren. Überwiegend
sind nach derzeitigem Kenntnisstand im Mesolithikum
lokale oder im regionalen Umfeld verfügbare Rohma-
terialien verwendet worden. Diskutiert werden muß,
inwieweit Artefakte aus “exotischen” Rohmaterialien,
die aus weiter entfernten Gebieten stammen, soziale
Beziehungen zu entfernter lebenden Gruppen erken-
nen lassen. Bei einer besseren Datenbasis wird es ver-
mutlich möglich sein, über die Bevorzugung bestimm-
ter Rohstoffquellen die Territorien sozialer Gruppen/
Traditionsgruppen sichtbar zu machen. Die Bewe-
gungsrichtung der Menschen im Raum und die Ent-
fernungen, die sie überwunden haben, können durch
die Rohmaterialien in Zusammenhang mit den Arte-
faktformen bestimmte Mobilitätsmuster erkennbar
machen. Schon durch die Herkunftsbestimmung an
den wenigen bisher untersuchten Inventaren sind
unterschiedliche Muster zu erkennen, die Hinweise
auf die Richtung der Kulturbeziehungen und die
Mobilität der beteiligten Menschen geben können, wie
aus Abbildung 1 hervorgeht. Hier sind Gebiete mit
wenig oder gar keinem attraktiven Silex-Rohmaterial
besonders interessant. Dazu zählen z.B die Mittel-
Birgit Gehlen
66
aktuell
gebirbirgsräume wie die Eifel und das Siegerland. Die
Entfernung der Rohstoffquellen und die Pluralität der
genutzten Materialien sind auch ein Gradmesser für
die Kommunikationsfreudigkeit mesolithischer Be-
völkerungen. Selbstverständlich müßten derartige Un-
tersuchungen in weit mehr Räumen und vor allem
feinchronologisch und auf Fundplatzniveau differen-
ziert durchgeführt werden, um kulturelle Prozesse
deutlich zu machen.
Ein funktionierendes archäologisches Netzwerk ist
notwendig, um die skizzierten Fragestellungen in Be-
zug auf die Mittelsteinzeit möglichst großräumig in
verhältnismäßig kurzer Zeit effektiv zu verfolgen. Im
Gegensatz zu solchen aus anderen Perioden bieten
mittelsteinzeitliche Fundstellen und ihre Erforschung
große Vorteile: Sie sind verhältnismäßig häufig in
allen Landschaften Deutschlands anzutreffen, sie lie-
gen meist oberflächennah und sind daher gut aufzufin-
den und sie werden seit vielen Jahrzehnten besonders
intensiv von interessierten Heimatforschern beobach-
tet. Dies bedeutet, daß potentiell zahlreiche Inventare
aus verschiedenen Naturräumen zur Erforschung zur
Verfügung stehen, an denen man eine ganze Reihe
substanzieller Untersuchungen durchführen könnte.
Nicht nur die topographische Lage von Siedlungs-
plätzen, auch die Auswirkungen der Erosion auf Land-
schaftsteile, die Rohmaterialverfügbarkeit, die daran
erkennbaren überregionalen Beziehungen und die
Nutzungsintensität können anhand dieser Materialien
primär erforscht und für die Erstellung von Besied-
lungsmodellen im Sinne einer Landschaftsarchäologie
genutzt werden. Darüberhinaus bieten sorgfältig abge-
sammelte und dokumentierte umfangreichere Inven-
tare und Inventarcluster aus einer Kleinregion gute
Grundlagen für spezifische Untersuchungen der Arte-
fakte und ihrer Verteilungen.
Bisher lassen sich für die Mittelsteinzeit regionale
Forschungsschwerpunkte erkennen, die einerseits
durch Bereiche mit mehreren Grabungen, andererseits
aber auch durch solche mit zahlreichen gut dokumen-
tierten Aufsammlungen gekennzeichnet sind. Nicht
immer wurden bisher beide Strategien in einer Region
gleichzeitig angewendet, obwohl eine Zusammen-
arbeit von HeimatforscherInnen und ArchäologInnen,
die in einer gut bekannten Region wissenschaftliche
Grabungen durchführen, mit Sicherheit die facetten-
reichsten Ergebnisse bringen würden. Zur Erläuterung
der derzeitigen Situation dient die zweite Karte (Abb.
2). Hier sind bei den Regionalstudien nur umfangrei-
chere Arbeiten der letzten 30-40 Jahre berücksichtigt,
da ältere Zusammenstellungen nach modernen Maß-
stäben nur noch bedingt nützlich sein können. Obwohl
nicht alle einzelnen Grabungsplätze und alle Regio-
nen, in denen intensiver gesammelt wurde, kartiert
sind, fällt besonders die Forschungslücke im zentralen
Mittelgebirgsraum ins Auge. Gleichzeitig wird deut-
lich, daß die Grabungsplätze in weit auseinanderlie-
genden Gebieten liegen.
Die Mittelsteinzeit ist also ein geradezu klassi-
sches archäologisches Arbeitsgebiet, auf dem enga-
gierte Heimatforscher, die Ämter für Bodendenkmal-
pflege als verwaltende Behörden mit forschungsstrate-
gischen Aufgaben und die Universitäten mit ihrem
geistes- und naturwissenschaftlich ausgerichteten Me-
thodenpotential und zahlreichen forschungswilligen
Studierenden erfolgreich zusammenarbeiten könnten.
Den Museen käme dabei neben der Verwahrung der
Funde (was übrigens für viele Heimatforscher im Alter
zum Problem wird) die attraktive Vermittlung der
Arbeitsergebnisse zu, die wiederum neue Kapazitäten
unter Laien und Studierenden schaffen und dadurch
die Multiplikation wissenschaftlicher Erkenntnisse
fördern würde.
“Dark Ages” nach dem Ende der Eiszeit
67 aktuell
Abb. 1
Überregionale
Beziehungen
mesolithischer
Bevölkerungen, die
durch Silexroh-
materialien erkenn-
bar sind.
Abb. 2
Schwerpunkte der Mittelsteinzeit-Forschung in Deutschland.
Eine Umfrage bei den Ämtern für Bodendenkmal-
pflege in der Bundesrepublik Deutschland zur Anzahl
der registrierten mesolithischen Fundstellen und zu
ihrer Verteilung pro Landkreis brachte einen sehr
unterschiedlichen Erfassungsstand ans Licht (Tab. 1).
Einige Länder arbeiten mit einer vollständigen Daten-
bank ihrer Bodendenkmäler und archäologischen
Fundstellen, andere haben gar keine Datenbank, son-
dern nur Ortsakten (und geben dies auch bedauernd
zu), bei wieder anderen ist eine zentrale Datenbank im
Aufbau und das jeweils in sehr unterschiedlichen Sta-
dien.2Die hier vorgelegten Zahlen sind also nicht ein-
mal in Hinsicht auf die bei der Denkmalpflege regi-
strierten Fundstellen repräsentativ geschweige denn
vergleichbar. Sie sollten daher auch nicht als Grund-
lage für wissenschaftliche Fragestellungen herangezo-
gen werden, wie auch viele KollegInnen in Beant-
wortung meiner Anfrage betonten. Darüber hinaus
wiesen einige darauf hin, daß vor allem bei den älteren
Fundmeldungen eine Einordnung in das Mesolithikum
zweifelhaft ist und es meist keine Beurteilungskrite-
rien gibt, ob es sich bei den gemeldeten Plätzen um
einen oder mehrere handeln kann. Die in Tabelle 1 an-
gegebene Anzahl der Grabungen spiegelt die mehr
oder weniger lange und intensive Forschungstradition
wider. Dabei ist meist nicht zu überprüfen, inwieweit
die Grabungsergebnisse der älteren Untersuchungen
wirklich wissenschaftlich verwertbar sind. Auf dieser
Grundlage sind Berechnungen wie z.B. der Bezug von
Landesgröße zur Anzahl der registrierten Plätze, um
einen Hinweis auf die Fundstellendichte zu erhalten,
reine Milchmädchenrechnungen, die nicht als
Grundlage für weitergehende Interpretationen verwen-
det werden dürfen.
Ranking der Bundesländer. Um zu verdeutlichen, wie
groß die Bedeutung der Mittelsteinzeitforschung für
die wissenschaftlichen archäologischen Institutionen
in den einzelnen Bundesländern ist, wurden diese nach
den Kriterien ‘Anzahl und Güte der Grabungspubli-
kationen’, ‘Menge der registrierten Oberflächenauf-
sammlungen’ und ‘Anzahl der veröffentlichten Regio-
nalstudien’ eingestuft. Die Erfassung ist selbstver-
ständlich subjektiv, weil die Daten nicht direkt ver-
gleichbar sind. Das in Abbildung 3 dargestellte
Ergebnis mag provokant erscheinen, soll aber nur ver-
deutlichen, wie meiner Meinung nach derzeit das
Potential in den einzelnen Ländern einzuschätzen ist.
Dabei ist völlig klar, daß sich die Position eines jeden
Landes mit jeder umfangreichen Grabungspublikation
und/oder Regionalstudie sofort verbessern könnte.
Besonders wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, daß es
einige Länder gibt, aus denen bisher kaum etwas an
die Öffentlichkeit gelangte (Hessen, Saarland,
Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und die “Stadt-
staaten”) und andere, die eine große Zahl bekannter
Fundstellen aufweisen und durch verstärkte Grabungs-
tätigkeit und/oder Publikation schon erfolgter Grabun-
gen ihren Beitrag zur Mittelsteinzeitforschung in kür-
zerer Zeit enorm vergrößern könnten (Bayern, Bran-
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein).
Desiderat absolute Chronologie. Die Anzahl der 14C-
datierten Plätze pro geographischer Großregion und
Zeitscheibe unterstreicht noch einmal alles Gesagte:
Aus dem deutschen Alpenraum gibt es gar keine, aus
dem Bereich der Mittelgebirgsschwelle und dem
Alpenvorland kaum Informationen (Tab. 2). Sieht man
von den mehr als 70 Daten alleine aus ‘Friesack 4’ in
Brandenburg ab, so bleiben für den Rest von Deutsch-
Birgit Gehlen
68
aktuell
Abb. 3
Ranking der Bundesländer.
Bundesland
registrierte
mesolithische
Fundstellen
wiss.
verwertbare
Grabungen
Baden-Württemberg 698 65
Bayern 1732 51
Berlin 134 8
Brandenburg 377 51
Bremen ? ?
Hamburg ? ?
Hessen ? ?
Mecklenburg-Vorpommern ? ?
Nordrhein-Westfalen ca. 1000 22
Niedersachsen mind. 1263 25
Rheinland-Pfalz 264 2
Saarland 10 1
Sachsen 159 25
Sachsen-Anhalt 700 4
Schleswig-Holstein ? ?
Thüringen ? ?
Tab. 1
Anzahl der registrierten mesolithischen Fundstellen und
Grabungen nach Angaben der jeweiligen
Bodendenkmalpflege, eigenen Recherchen und freundlichen
Hinweisen von KollegInnen.
land und ca. 4000 Jahre Geschichte etwa 200 Daten
von ca. 88 Plätzen/Schichten. Dabei sind die frühen
und die späten Perioden deutlich schlechter datiert als
die 2500 Jahre dazwischen. Auch das ist als nur als
Hinweis auf den heterogenen Forschungsstand und
nicht auf eine irgendeine historische Realität zu wer-
ten. Dies wird noch durch die wenigen Daten für Be-
stattungen und vereinzelt aufgefundene Menschen-
reste unterstrichen.
Die Mittelsteinzeit – kein Thema in der Ausbildung.
Um den derzeitigen Stellenwert der Mittelsteinzeit-
forschung bei der Ausbildung an deutschsprachigen
Universitäten zu eruieren, wurden die Kleemann-
Zusammenstellungen der letzten 12 Semester (SS 97
bis WS 02/03) nach Lehrveranstaltungen zum Thema
Mesolithikum durchgesehen und zur besseren Be-
urteilung mit denen zum Thema Neolithikum vergli-
chen. Dabei wurden Veranstaltungen mit Titeln wie ...
Einführung in die Urgeschichte Deutschlands ... oder
... die Urgeschichte Europas.... nicht berücksichtigt.
Das Ergebnis ist in der Tabelle 3 dargestellt. Fazit ist,
daß eine ausreichende Ausbildung von Studierenden
in Bezug auf die Mittelsteinzeit in jüngerer Zeit nicht
stattgefunden hat. Aus der Seltenheit der Vorlesungen
zu diesem Themenbereich ist außerdem abzulesen,
daß die deutschsprachigen HochschullehrerInnen mit
venia legendi in diesem Bereich anscheinend große
Kenntnislücken aufzuweisen haben. Das dritte Ergeb-
nis besagt, daß fast ausschließlich an den Instituten mit
Paläolithikum-Forschung (Köln, Erlangen, Tübingen;
in den letzten Semestern auch Greifswald; singulär
auch Göttingen und Bern) auch Mesolithikum in spe-
ziellen Veranstaltungen gelehrt wird. Die Lehrenden
der traditionell eher dem Neolithikum verpflichteten
Häuser scheinen sich, entgegen der Erwartung, für die
Wurzeln jungsteinzeitlicher Gesellschaften auffallend
wenig zu interessieren – übrigens ein Phänomen, das
viele europäische NeolithikumforscherInnen mehr
oder weniger stark betrifft, wie ich bei eigenen Unter-
suchungen zum Spätmesolithikum feststellen mußte.
Projekte in einem archäologischen Netzwerk.Aus dem
bisher Gesagten ergeben sich zwangsläufig eine Reihe
von Projekten, die unbedingt in Angriff genommen
werden müssen, um die Forschungssituation und unse-
ren Wissensstand zur Mittelsteinzeit zu verbessern.
1. Regionale Erfassung mittelsteinzeitlicher Fund-
stellen aus Sammlungen und Altgrabungen sowie
die Evaluierung der bisher registrierten Daten. Daraus
ergeben sich Grundlagen für die Zusammenstellung
grabungswürdiger Plätze sowie für eine regionale
Landschaftsarchäologie, die nicht nur der Bodendenk-
malpflege als Entscheidungshilfe dienen kann, son-
dern auch für die regionale Heimatgeschichte und wis-
senschaftliche Interpretationen von unschätzbarem
Wert sind. Daran beteiligen sollten sich alle archäolo-
gisch arbeitenden Gruppen/Institutionen (Ehrenamt-
liche, Denkmalpflege, Universitäten, Museen).
2. Wissenschaftliche Grabungsprojekte in ökologi-
“Dark Ages” nach dem Ende der Eiszeit
69
Themenkomplexe
N Lehr-
veran-
staltungen
% Lehr-
veran-
staltungen
davon
Vor-
lesungen
%
Vor-
lesungen
davon
naturw.
Übungen
Lehr-
grabungen
Ex-
kursionen
nur Mesolithikum 9 3,2 2 2,4 - - -
Steinzeit inkl.
Mesolithikum 31 11,1 11 13,1 2 - 1
nur Neolithikum 198 71,0 55 65,5 7 2 2
Steinzeit/Bronzezeit
inkl. Neolithikum 41 14,7 16 19,0 3 - 1
Summen 279 100 84 30,1 12 2 4
aktuell
Tab. 3
Lehrveranstaltungen
zum Mesolithikum und
Neolithikum an
deutschsprachigen
Universitäten im
Vergleich (Grundlage:
Kleemann-Zusammen-
stellungen SS 97 bis
WS 02/03)
Zeitscheiben je 500 Jahre nach kalibrierten 14C-Daten
Geographische Region 9500-
9000
9000-
8500
8500-
8000
8000-
7500
7500-
7000
7000-
6500
6500-
6000
6000-
5500
5500-
5000
Summen
Norddeutsches Tiefland /
Küste 3 4 3 4 2 7 6 (2) 4 3 (2) 36
Deutsche
Mittelgebirgsschwelle --3222 (2)1-2
14
Süddeutsche
Schichtstufenlandschaft 2 5 (1) 4 (1) 3 5 (1) 7 (2) 3 (2) 1 1 32
Deutsches Alpenvorland - 1 3 2 1 1 - 2 1 10
Deutschlands Alpenanteil - - - - - - - - - 0
Summen 5 11 13 11 10 17 9 7 7 92
Tab. 2
14C-datierte
Fundstellen/Schichten
des Mesolithikums in
Deutschland. In
Klammern stehen die
datierten
Bestattungsplätze/
Menschenreste.
Insgesamt wurden 271
Daten von 92
Fundstellen/Schichten
gezählt
(Datenerfassung Birgit
Gehlen, Stand März
2003, Vollständigkeit
nicht garantiert).
schen Referenzgebieten. Schwerpunkte sollten vor
allem auch auf botanischen Untersuchungen und der
Materialbeschaffung für Gebrauchsspurenanalysen
liegen. Hierzu sind alle wissenschaftlichen Insitutio-
nen aufgerufen (Denkmalpflege, Universitäten, Mu-
seen)
3. Publikation von Regionalstudien. Vergleichende
landschaftsarchäologische Untersuchungen in ver-
schiedenen Naturräumen: Fundstellenverteilungen,
Fundstellentypen, Rohmaterialbestimmung, Material-
nutzung, Präsentation von Fundinventaren, bei denen
alle Gruppen zusammenarbeiten sollten (Ehrenamt-
liche, Denkmalpflege, Universitäten, Museen)
4. AMS(14C)-Datierung bereits gegrabener Befun-
de und Menschenreste aufgrund wissenschaftlicher
Kriterien, um die absolute Chronolgie zu verbessern.
5. Bearbeitung und Interpretation von vorhande-
nen Fauneninventaren.
6. Spezielle anthropologische Untersuchungen an
Skelettmaterial mit dem Ziel die Herkunft und Er-
nährungsweise der Menschen zu rekonstruieren.
7. Bearbeitung und Interpretation bereits gegrabe-
ner Funde und Befunde
An den Projekten 4 bis 7 müßten sich alle wissen-
schaftlichen Institutionen beteiligen.
Diese Projekte können nicht von Einzelnen getragen
werden, wie dies gerade in der Mesolithikumfor-
schung bisher üblich war. Bisher erfolgen Untersu-
chungen nur dann – und das sehr häufig außerhalb der
beruflichen Arbeitszeiten –, wenn Einzelne, seien es
Laien oder WisschaftlerInnen, sich in besonderem
Maße für dieses Arbeitsgebiet interessieren. Meist er-
folgt auch die wissenschaftliche Betreuung von
Sammlungen und HeimatforscherInnen nur ehrenamt-
lich. Wenn man die Mittelsteinzeitforschung weiterhin
dem Zufall überläßt, ist abzusehen, daß der allgemei-
ne Kenntnisstand in ein bis zwei Jahrzehnten auf das
Niveau des frühen 20. Jahrhunderts zurückfällt –
obwohl zahlreiche Quellen und Methoden zur Ver-
fügung stünden. Nicht nur die immer knapper werden-
den finanziellen Mittel, sondern auch die vielfältigen
Arbeitsansätze, die außerdem regional- und quel-
lenspezifische sowie methodische Schwerpunkte ver-
langen, machen es notwendig, daß hier möglichst viele
Interessierte gut koordiniert und effektiv zusammen-
arbeiten. Nur durch die Kooperation möglichst vieler
Beteiligter an unterschiedlichen Stellen sind in kürze-
rer Zeit echte Erfolge zu verbuchen. Die Mittelstein-
zeitforschung, an der traditionell sowohl Ehrenamt-
liche als auch Denkmalpflege, Universitäten und Mu-
seen mit unterschiedlichen Schwerpunkten beteiligt
waren und sind, kann zu einem Testfall für ein drin-
gend notwendiges “Netzwerk Archäologie” werden, in
der endlich einmal Wissensdrang und der Wunsch zur
Zusammenarbeit und gegenseitiger Inspiration im
Vordergrund stehen.3
A n m e r k u n g e n
1 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung meines während
der DGUF-Jahrestagung 2003 in Köln gehaltenen Vortrages.
2 Die freundlichen Angebote aus einigen Denkmalämtern,
die Ortsakten selber durchzusehen, konnte ich verständli-
cherweise nicht annehmen. Auch den Hinweisen, die Lite-
ratur selbst durchzuforsten, bin ich aus Zeitgründen nicht
weiter gefolgt, wenn klar wurde, daß die Fundmeldungen
nicht oder nur teilweise nach Epochen aufgeschlüsselt
waren. Da auch die konkreten Angaben aus den Denk-
malämtern nicht repräsentativ sind, wie mir viele Kolleg-
Innen versicherten, lassen sich die fehlenden Zahlenangaben
in Tabelle 1 wohl verschmerzen.
3 Für die gelungene Zusammenarbeit bei den Recherchen
danke ich ganz herzlich: Werner Schön (Kerpen-Loogh),
Anselm Drafehn, Anna Leena Fischer, Thomas Frank,
Tobias Frank, Lothar Giels, Marco Hocke, Daniela Holst,
Ulrike Kleinfeller, Carsten Mischka, Dirk Schimmelpfennig
& Julia Skalitz (Institut für Ur- und Frühgeschichte
Universität zu Köln), Jürgen Kunow & Dietmar-Wilfried
Buck (Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege
und Archäologisches Landesmuseum), Uwe Michas (Lan-
desdenkmalamt Berlin), Henning Haßmann, Hildegard
Nelson & Klaus Gerken (Niedersächsisches Landesamt für
Denkmalpflege), Heike Reimann (Archäologischer Dienst
der ostfriesischen Landschaft), Harald Koschik, Andje
Knaack & Petra Tutlies (Rheinisches Amt für Boden-
denkmalpflege), Gabriele Isenberg & Michael Baales (West-
fälisches Amt für Bodendenkmalpflege), Clemens Pasda
(Professur für Urgeschichte Universität Jena), Stefanie
Csincsura (Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität
Erlangen), Harald Meller (Landesamt für Archäologie
Sachsen-Anhalt, Landesmuseum für Vorgeschichte), Judith
Oexle & Ronald Heynowski (Landesamt für Archäologie
mit Landesmuseum für Vorgeschichte Sachsen), Claus-
Joachim Kind (Landesdenkmalamt Baden-Württemberg),
Doris Mischka (Institut für Ur- und Frühgeschichte Uni-
versität Freiburg), C. Sebastian Sommer & Timm Weski
(Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege).
Lee Clare (Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität
zu Köln) verdanke ich die Übersetzung der Zusammenfas-
sung.
Birgit Gehlen M.A.
An der Lay 4
D - 54578 Kerpen-Loogh
bgehlen.archgraph@t-online.de
Birgit Gehlen
70
aktuell
... The only attempt of a systematic classification of the Mesolithic sites in North Rhine-Westphalia to date (Arora, 1976; Idem, 1979) is therefore mainly based on finds from open air sites, but the validity of its chronological and cultural-historical interpretations is now disputable (Drafehn et al., 2003;). Although we can assume that the Mittelgebirge region was used intensively during the Mesolithic because of hundreds of open air sites (Drafehn et al., 2003; Gehlen, 2003), there have been hardly any modern excavations conducted in the whole region. There are no known cave stratigraphies in this region apart from the one that is expected in the Blätterhöhle and its rock shelter. ...
... In other parts of Germany there are only very few modern excavations of Mesolithic sites (e.g. Cziesla, 1992; Gerken, 2001a; Idem, 2001b; Heinen, 2001; Idem, 2005) and many excavation results have not yet been sufficiently published (Drafehn et al., 2003; Gehlen, 2003; Schönweiß & Graf, 1988). This applies particularly to the sites in Bavaria. ...
... The only attempt of a systematic classification of the Mesolithic sites in North Rhine-Westphalia to date (Arora, 1976; Idem, 1979) is therefore mainly based on finds from open air sites, but the validity of its chronological and cultural-historical interpretations is now disputable (Drafehn et al., 2003;). Although we can assume that the Mittelgebirge region was used intensively during the Mesolithic because of hundreds of open air sites (Drafehn et al., 2003; Gehlen, 2003), there have been hardly any modern excavations conducted in the whole region. There are no known cave stratigraphies in this region apart from the one that is expected in the Blätterhöhle and its rock shelter. ...
... In other parts of Germany there are only very few modern excavations of Mesolithic sites (e.g. Cziesla, 1992; Gerken, 2001a; Idem, 2001b; Heinen, 2001; Idem, 2005) and many excavation results have not yet been sufficiently published (Drafehn et al., 2003; Gehlen, 2003; Schönweiß & Graf, 1988). This applies particularly to the sites in Bavaria. ...
... 2007b, 54). Weder in Deutschland noch in den angrenzenden Gebieten wurden insgesamt viel mehr als eine Handvoll moderner Grabungen durchgeführt, bei denen auch systematisch nach botanischen Makroresten außer Holzkohlen und Haselnussschalen gesucht wurde(Kind 2003, 184 ff.; Drahfehn et al. 2003;Gehlen 2003). Und davon datieren die meisten ins Frühmesolithikum! ...
... In 'Bedburg­ K önigshoven' zeigen die unterschiedlichen Fund­ dichten den ufernahen Bereich (dicht) und den ufer­ fernen Bereich (locker) (STREET 1993), wo man nicht nur die Faunenreste selbst, sondern auch ihre räumliche Verteilungen analysierte, wurde die Sichtbarmachung latenter Strukturen bisher nicht an organischem Material versucht. Auch die Analysen lockerer Fundverteilungen sollten intensiver betrieben werden, wie die Aussagen zu 'Rottenburg­Siebenlin­ den F zeigen (K IND 2001;2003). Rohmaterialbe­ stimmungen und Werkstückanalysen an Steinartefak­ ten sind für die Sichtbarmachung von Siedlungs­ aktivitäten unverzichtbare Parameter. ...
Article
Full-text available
The following article serves as a summary of the present State of research on the mesolithic period in Germany based on the evaluation of 27 excavated sites and a total of 57 surveyed layers. Although not all published assemblages are included in the study, the results are still representative. The data were compiled by the authors within the framework of a seminar at the Institute of Prehistory at the University of Cologne. It forms the basis of a continuing project, "Edition Mesolithikum Mesolithic Edition", in which the fundamental knowledge of the mesolithic period is being collected and evaluated. A first analysis of the data presently available shows that the State of research in Germany is extremely heterogeneous. This can be partially explained by varying preservation conditions. The main Problem however lies in the fact that the mesolithic period is not investigated to the s a m e extent in all regions, and much material remains unpublished. Only a small number of mesolithic Sites have been investigated in the Central Upland Z o n e (Mittelgebirge) of Germany, and no excavations have as yet been conducted in the German Alps. The absolute dating of mesolithic settlement sites is, with only very few exceptions, totally insufficient. This also applies to botanical and faunal studies. Even the results from the analyses of silex assemblages, which comprise the core of the finds from mesolithic sites, are offen incomplete in the publications. The results of the evaluation presented here show, however, the enormous potential of mesolithic sites for prehistory. A fact that has, as yet, not been recognized by all researchers.
Chapter
The objective of this paper is to understand networks, contacts and transmission of knowledge during the Late Mesolithic in the western part of the Baltic region. At this time, around 6500–4000 cal BC, a specific lithic technology focused on blade production, known as the handle core technology, is implemented by mobile hunter-gatherer groups, resulting in a wide distribution of similar finds throughout the area. In this paper, the distribution of handle cores in Sweden, Denmark, Norway and Northern Germany will be used as a base for discussing mobility and interaction routes on a large spatial scale. The results show that contact networks in these areas have large spatial distributions, with cultural traditions possibly leading back to the early Mesolithic. Furthermore, several areas are defined that might reflect interaction centers and network corridors which have been extensively used during the Mesolithic.
Book
Das Bild der Neolithisierung Mitteleuropas hat in den letzten Jahren durch neue Ergebnisse, aber auch neue Interpretationsansätze eine Differenzierung erfahren. Das traditionelle territoriale Kulturverständnis behindert die Wahrnehmung unscharfer Übergangszonen und räumlicher Verzahnungen von Kulturen mit unterschiedlicher Lebens- und Wirtschaftsweise. Mit einem regionalen Fokus auf dem nordostdeutschen Raum greift der Band die Diskussion um die sich immer deutlicher abzeichnende regionale Parallelität von Gruppen mit wildbeuterischer und bäuerlicher Subsistenz auf. Dabei verfolgen die AutorInnen unterschiedliche disziplinäre Perspektiven, die von der materiellen Kultur (Keramik und Lithik) über die Archäobotanik bis zur Palaeogenetik und Rekonstruktion von Ernährung durch die Analyse stabiler Isotopen reicht. Neben regionalen Studien sind auch Ansätze mit methodischem Schwerpunkt und großräumigen Skalen vertreten. Der Band geht aus einem 2014 veranstalteten Workshop hervor. Die zwölf hier abgedruckten Beiträge wurden für die Publikation aktualisiert.
Chapter
Full-text available
Time and timing are essential to many archaeological questions, especially when dealing with archaeo-cultural borders or transitions. In this paper, we address the transition from the Final Palaeolithic to the Early Mesolithic on the North German Plain with respect to chronological evidence. Based on several well-dated sites from the area, we aim to discuss preconditions and consequences for the spreading of Early Mesolithic technocomplexes. Furthermore, we highlight which problems have to be approached when dealing with this timeframe. It is shown that the onset of the Mesolithic in the area under consideration currently appears to date not prior to the Middle Preboreal, i.e. from ca. 9200 calBC onwards. The short cold spell, the Preboreal Oscillation, seems to coincide with a seizure between the hunter-gatherers of the Ahrensburgian and the aforementioned Early Holocene societies. It is made clear that the Pleistocene/Holocene border should not generally be parallelised with the Ahrensburgian/Early Mesolithic in the respective area.
Universität zu Köln) verdanke ich die Übersetzung der Zusammenfassung
  • Lee Clare
Lee Clare (Institut für Ur-und Frühgeschichte, Universität zu Köln) verdanke ich die Übersetzung der Zusammenfassung.